Prolog
Entscheidend für die erfolgreiche Demontage der gesetzlichen Rentenversicherung war ein Ereignis, das in der Öffentlichkeit kaum bekannt ist. Und mit der Rente hatte es zunächst gar nichts zu tun. Als Oskar Lafontaine im Frühjahr 1999 seine berühmte »Giftliste« mit 70 zu streichenden Steuervergünstigungen auspackte, platzte dem Chef der Allianz AG, Henning Schulte-Noelle, der Kragen.1 Der damalige Bundesfinanzminister der rot-grünen Regierung unter Schröder wollte unter anderem die Rückstellungen für Versicherungsschäden begrenzen und forderte eine »realitätsnähere Bewertung«. Was den Allianzboss so erzürnte: Die Versicherungen sollten nur noch jene Summen steuerlich absetzen können, die sie realistischerweise benötigten, um Schäden zu bezahlen. Bis dahin durften sie kurioserweise mehr oder weniger selbst schätzen, wie hoch die nach einem Versicherungsfall anfallende Summe wohl sein würde, und diese voll von der Steuer absetzen. Das sparte den Versicherungskonzernen viele Milliarden Euro. Lafontaine wollte das ändern. Und Allianz-Boss Schulte-Noelle zog die Notbremse. Er ging direkt zu Kanzler Schröder und stellte ihn zur Rede.
Bei der nächsten Kabinettssitzung am 10. März sprach Schröder ein Machtwort. Sein Beitrag schloss mit den Worten, dass man »das Land nicht gegen die Wirtschaft regieren könne und dass eine Politik gegen die Wirtschaft mit ihm nicht zu machen sei.«2 Allen war klar: Schröder war es bitterernst.
Einen Tag später, am 11. März 1999, trat Oskar Lafontaine von all seinen Ämtern zurück. Jetzt war der Weg frei für die Politik der ›Neuen Mitte‹, für einen Sozialabbau unter dem Stichwort Agenda 2010. Es war auch der Anfang vom Ende einer solidarischen, umlagefinanzierten Altersversorgung und der Einstieg in die Privatisierung der Rentenversicherung. Auch wenn die Kameras einen Lafontaine zeigten, der vor seinem Haus in Saarbrücken den wartenden Reportern ein Gläschen Wein einschenkte. Gefeiert wurde in den Konzernzentralen: Der lästigste Bremsklotz war soeben beiseite geräumt worden.