Von den masurischen Weiten durch die Hölle des Zweiten Weltkrieges in die Verbannung nach Sibirien:
Eine Frau erfährt mehr Schicksal, als sie ertragen kann. Doch das Ende ist nicht das Ende: Ein neues Leben erinnert sich an das vergangene...
Eine mitreißende Reise durch Zeiten der Verzweiflung, der Einsamkeit, aber auch der Heilung und des Ankommens.
Diana Dörr, geboren 1970, ist Heilpraktikerin mit eigener Praxis für Homöopathie, Rückführungstherapie und schamanische Heilweisen in Bad Homburg.
2011 veröffentlichte sie ihren ersten Roman mit dem Titel "Der Steg nach Tatarka" beim Paracelsus Verlag in Salzburg/ Österreich.
Die Autorin vereint durch ihre Bücher ihre Verbundenheit mit der Natur mit ihren beruflichen Interessen, der Heilung von Menschen und Mutter Erde.
Mehr über die Autorin erfahren Sie hier:
www.dianadoerr.de
Aurora in geheimer Mission
Aurora und der Wächter des Wassers
Auroras Erdheilungsfibel
Auroras Heilwasserfibel
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Diana Dörr, »Der Steg nach Tatarka «
4. überarbeitete Auflage, 2019
© 2019 Diana Dörr - alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Donna Dean
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt.
© 1. Auflage 2011 Diana Dörr
ISBN 978-3-7481-2442-9
Während der Geschehnisse, die zu diesem Buch führten, fragte ich mich, warum ich ausgerechnet eine Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg in Russland erzählen musste. Wer würde sich hierfür noch interessieren? Musste ein weiteres Buch über den Krieg im Osten geschrieben werden? War hierzu nicht bereits alles gesagt und geschrieben worden?
Aber das Schicksal schubste mich mitten in die weiß-russischen Sümpfe und in ein bis heute in Deutschland kaum bekanntes Kapitel der deutsch-russischen Geschichte. Die auf den folgenden Seiten beschriebenen Fügungen ließen mir keine andere Wahl, das Buch musste geschrieben werden. Dennoch ahnte ich nicht, wie aktuell das darin enthaltene Thema noch werden würde, als mein Roman schließlich 2011 in Erstauflage beim Paracelsus Verlag in Salzburg erschien.
Wenn man heute in die Welt schaut, bestätigt sich vieles von dem, was ich vor vierzehn Jahren für dieses Buch niedergeschrieben habe:
Die Spuren des Zweiten Weltkrieges sind vielerorts nur im Äußeren beseitigt worden, aber nicht in den Seelen der betroffenen Menschen. Möge dieser auf wahren Begebenheiten beruhende Roman zum dauerhaften Frieden in Europa und der Welt beitragen. Es ist an der Zeit diese alten Narben zu heilen, statt immer wieder neue Wunden zu schlagen.
»Der Weg ins Licht erscheint oftmals dunkel, der Weg nach vorn scheint oft nach hinten zu führen.«
Laotse – Tao te king
Taunus
Oktober 1970
Der Tunnel ist dunkel und eng. Dana hat Angst und fühlt die Schwere, die sie umgibt. Sie kann nicht zurück, sie muss zu dem hellen Licht am Ende des Tunnels. Dieses Licht hat sich Dana erst in den letzten Tagen deutlich gezeigt, obwohl sie seine Gegenwart schon lange gespürt und daraus Hoffnung geschöpft hat. Doch nun scheint es so weit entfernt und für Dana unerreichbar zu sein. Wenn sie nur wüsste, wie sie den Lichtschein erreichen und den Tunnel verlassen könnte. Es ist so eng und dunkel um sie herum und sie kommt nicht weiter.
Da hört Dana eine warmherzige Stimme, die sie zu beruhigen versucht. Dana kennt diese Stimme, sie weiß, dass sie zu Mutter Maria gehört, wenn sie sie auch nicht sehen kann.
»Du brauchst keine Angst zu haben, Dana. Du bist nicht allein«, sagt sie ihr.
Dennoch kann sie Dana nicht beruhigen, dafür sind die Stimmen außen zu laut.
Ich will zurück, ich will wieder zu ihnen, aber es geht nicht mehr. Ich wollte hierher und muss jetzt weiter, spricht sie sich selbst Mut zu. Sie sind noch immer an meiner Seite und gehen mit mir, ich kann sie hören und spüren.
Die Stimmen außerhalb ihrer werden immer lauter und übertönen die beruhigenden Worte in Danas Innerem. Da sind so viel Lärm und Aufregung, die Dana Angst machen.
Ich will hier weg, aber komme nicht weg, denkt sie immer verzweifelter und fürchtet sich aufgrund der Geräusche von außen. Nervosität überträgt sich auf sie und sie kann ihre innere Stimme nicht mehr hören. Sie hat Angst und in ihrem Kopf ist nur der eine Gedanke: Ich muss hier raus. Ich muss hier raus und weiter zu dem Licht.
Dann geht es plötzlich ganz schnell. Dana wird nach vorne gerissen. Sie rast auf das Licht zu und spürt, wie sie aus der Dunkelheit gezogen wird. Danas Angst nimmt immer mehr zu, während es immer Kälter um sie wird.
Warum ist das Licht so kalt, fragt sie sich. Das Licht kann nicht so kalt sein.
Die äußere Unruhe verstärkt Danas Angst und ihr ganzer Körper verkrampft sich.
Sie kriegt keine Luft und kann kaum atmen. Es ist so kalt. Warum ist das Licht so kalt? Sie will in das Licht, das wärmer ist. Sie versteht nicht, wo sie ist. Warum ist es hier so kalt?
Vergeblich wartet Dana auf eine beruhigende Stimme, auf ein Zeichen, doch nur Kälte, Unruhe und Entsetzen umgeben sie und sie bekommt keine Luft.
Ich will hier weg, denkt sie ohne Unterlass, während es dunkel um sie wird und sie das Bewusstsein verliert.
»Sie atmet nicht«, hört Dana eine weit entfernte Stimme. »Sie hat nicht einmal geschrien und atmet nicht.«
Es ist wieder warm und hell und Danas Angst hat nachgelassen. Sie betrachtet den winzigen Körper, der auf einem Behandlungstisch liegt und die weiß gekleideten Menschen, die sich über ihn beugen.
Da sind noch immer so viel Unruhe und Lärm, doch sie bleibt davon unberührt. Sie fühlt keine Schwere und Kälte mehr und beobachtet fast unbeteiligt die umhereilenden Menschen.
»Die Geburt ging zu schnell. Es liegt wahrscheinlich an der Infusion, die wir der Mutter gegeben haben und die das Kind narkotisiert hat. Wir müssen ihre Lungen absaugen und hoffen, dass sie dadurch schneller das Bewusstsein wiedererlangt. Gut, dass Sie mich gleich gerufen haben.«
Danas Aufmerksamkeit wird wieder abgelenkt und richtet sich auf das warme Licht und die beruhigenden Stimmen ihrer Engel und Geistführer. Sie fühlt sich frei und leicht und spürt die Gegenwart von Mutter Maria, die zu ihr spricht: »Du musst zurück, Dana. Es wird Zeit!«
In diesem Moment spürt Dana erneut die Schwere, die sie nach unten zieht. Während sie von dem kleinen Körper auf der Liege angezogen wird und ihre Seele mit ihm verschmilzt, begrüßt sie diese Welt mit einem Schrei.
»Einsamkeit und das Gefühl, unerwünscht zu sein, ist die schlimmste Armut.«
Mutter Teresa
Masuren
Sommer 1932
Marie-Luises zierliche Gestalt wirft kaum Schatten, als sie die dicht bewachsene Birkenallee im Schein der untergehenden Sonne nach Hause hastet. Die Gedanken nehmen immer mehr von ihr Besitz und lassen sie den nicht enden wollenden Heimweg vorübergehend vergessen.
Sie fragt sich, warum sie Rose nicht besser angebunden hatte. Nun muss sie den ganzen Weg allein nach Hause laufen. Sie hofft, dass niemand ihren heimlichen Ausflug bemerkt und Rose vermisst hat, und biegt hastig in die eng bewachsene Ahornchaussee ein. In der Ferne erkennt sie die ersten schattenhaften Umrisse des mächtigen Herrenhauses, dessen schwarze Silhouette vom silbernen Licht des Mondes angestrahlt wird. Sie drängt die beängstigenden Vorahnungen aus ihrem Kopf, indem sie erneut über das gerade im Wald Vorgefallene nachdenkt und eine Erklärung dafür sucht. Während der Mond hinter einer Wolke verschwindet, taucht sie in die Eichenallee ein, die zu ihrem Elternhaus führt. Die Allee liegt nun in völliger Dunkelheit vor ihr, doch sie nimmt kaum davon Notiz, sondern läuft atemlos weiter. Endlich erreicht sie den elterlichen Hof und ist doch in Gedanken noch weit entfernt. Ich bilde mir das alles nicht ein, versichert sie sich. Rose hat es auch bemerkt.
Sie hastet die steinerne Eingangstreppe hinauf, öffnet die mächtige Eichentür und betritt erleichtert das düstere Gutshaus, während sie in Gedanken noch immer im Wald und bei dem gerade Erlebten ist. Rose bekam Angst. Darum scheute sie und stürmte verstört davon. Aber ich bin mir sicher, dass mir das wieder niemand glauben ...
»Wo kommst du her?« Mit der Kraft eines sich entladenden Gewittersturms reißt ihr Vater Marie-Luise in die Gegenwart zurück.
»Ich war spazieren.«
»Um diese Zeit?« Seine Stimme scheint die gesamte Empfangshalle auszufüllen, in der er auf Marie-Luise gewartet hat.
»Rose hat sich losgerissen. Ich wollte ...«
»Habe ich dir nicht gesagt, dass du nicht reiten sollst?«
»Es tut mir leid, aber ich ... «
»Keine Ausflüchte, ich sage es dir zum letzten Mal, für ein 12-jähriges Mädchen gehört es sich nicht zu reiten.«
»Aber ...«
»Kein Aber! Ich habe es dir oft genug gesagt. Und nun geh auf dein Zimmer.«
Marie-Luise steigt niedergeschlagen die Treppe hinauf und beschließt, alles für sich zu behalten, was sie gerade im Wald erlebt hat. Ihr Vater würde sie doch nicht verstehen.
Die abendliche Stille erfüllt das masurische Gutshaus, während Marie-Luise vorsichtig die Tür des kleinen Mansardenzimmers öffnet. Das flackernde Kerzenlicht in ihrer Hand kämpft tapfer gegen die Dunkelheit an, die vom Korridor Besitz ergriffen hat. Lautlos hastet sie den Gang entlang und gelangt über die knarrende Eichentreppe ins Erdgeschoss. Sie löscht die Kerze und läuft auf Zehenspitzen am Gartensalon vorbei, in dem ihre Mutter in ihre Stickarbeit vertieft ist, eilt weiter in den Westflügel und blickt vorsichtig in die Bibliothek ihres Vaters. Sie hat Glück. Ihr Vater ist nicht zu sehen, vermutlich ist er in seinem Arbeitszimmer. Sie betritt die Bibliothek, in der das Kaminfeuer einladend flackert, und bleibt vor dem gewaltigen Bücherregal stehen. Ehrfurchtsvoll nimmt sie ein Buch über Heilpflanzen aus dem Regal und streicht behutsam über das weiche Leder. Freudig lässt sie sich in einen Sessel fallen und genießt die behagliche Wärme des Kamins. Die interessanten Pflanzen- und Naturbeschreibungen und das knisternde Feuer lassen sie den Zorn ihres Vaters vergessen.
Sie hat jegliches Zeitgefühl verloren. Erst ein Blick zum Kamin und dem erlöschenden Feuer zeigt ihr, dass es Zeit wird zu gehen. Marie-Luise klappt ihr Buch zu und erhebt sich aus dem Sessel.
Sie würde so gerne Medizin studieren, doch sie weiß, dass ihr Vater es nie erlauben würde.
Warum beharrt er immer darauf, dass Mädchen nicht lesen sollen, fragt sie sich. Nur meine Schulbücher und die Familienbibel darf ich studieren. Nicht das, was mich wirklich interessiert.
Müde stellt sie das Buch ins Regal zurück. Er erlaubt mir einfach nichts. Und Mutter? Immer bekomme ich die gleiche Antwort: »Das tut man eben nicht.«
Doch auch heute regt sich ihr Widerstand gegen diese Konventionen, denen sie sich nicht unterordnen will. Trotzig nimmt sie ein kleines unscheinbares Buch aus dem Regal und verlässt die Bibliothek. Unbemerkt erreicht sie ihr Zimmer im Obergeschoss und versteckt ihre Lektüre hinter einem Wäschestapel in ihrem Wandschrank.
Die ersten Strahlen der Morgensonne wecken Marie-Luise sanft aus ihren Träumen. Das Sonnenlicht breitet sich immer mehr im Ostflügel aus und vertreibt die Schatten der Nacht. Schweigend betrachtet sie das wunderschöne Schattenspiel an ihrer Zimmerwand. Das Zimmer ist klein und mit einem Holzbett, schmalem Schrank und Waschtisch spärlich möbliert. Verschlafen öffnet sie das Fenster, blickt in den Park hinaus und saugt den kräftigen Duft von frisch gemähtem Gras in sich auf.
Nachdem sie sich an der Waschschüssel erfrischt hat, zieht sie sich ein leichtes Sommerkleid über, bändigt ihre dunklen, langen Haare zu zwei Zöpfen und läuft hungrig zum Speisezimmer hinunter, in dem ihre Eltern bereits am Frühstückstisch sitzen.
»Guten Morgen, Marie-Luise. So früh auf?«, wird sie von ihrer Mutter Katharina von Suttner begrüßt. Albert von Suttner murmelt etwas Unverständliches und versinkt in eisiges Schweigen. Marie-Luise setzt sich schweigend auf ihren Platz und schenkt sich eine Tasse Tee ein. Sie wundert sich, wie gewissenhaft auch heute die grauen Haare ihrer Mutter zu einem Knoten im Nacken festgesteckt sind. Jedes Haar verharrt fügsam an seinem Platz.
»Hast du gut geschlafen?«, fragt ihre Mutter.
»Danke, ja. Aber ich hatte wieder diesen eigenartigen Traum. Ich sehe mich auf einem großen, grünen Platz mit sonderbaren länglichen Gebäuden ...«
»Marie-Luise! Kannst du denn nicht aufhören, diesen Träumen so viel Bedeutung zu geben«, fährt Albert von Suttner dazwischen. Er schaut seine Tochter voller Unverständnis an. »Es reicht jetzt. Ich habe wirklich keinen Sinn für deine albernen Fantasiegeschichten.« Wütend erhebt er sich und verlässt schimpfend das Zimmer. Marie-Luise ist der Appetit vergangen und sie stellt scheppernd ihre Teetasse auf den Tisch zurück. Ihre Mutter zuckt zusammen, noch bevor sie etwas sagen kann, springt Marie-Luise auf und läuft aus dem Speisezimmer. Sie beschließt, Rose in ihrem Stall zu besuchen und zu sehen, wie es ihr geht.
Als sie aus der Haustür tritt, fällt ihr Blick auf die Kutsche ihres Vaters, die gerade in den Schatten der Eichenallee eintaucht und das Gutsgelände verlässt.
Vergnügt läuft Marie-Luise die alte Eichenallee entlang, biegt in die Ahornchaussee Richtung Ährenfeld ein und erreicht nach ein paar Minuten die Abzweigung zu den Stallungen des Gutshofes. Auf dem Fischteich tummeln sich ausgelassen ein halbes Dutzend Enten und aus der Ferne ertönt das Klappern des Storchenpaars, das auf einem der wuchtigen, rot bedachten Wirtschaftsgebäude nistet und stolz den Nachwuchs bewacht.
Marie-Luise betritt den lang gestreckten Stall, in dem die Reitpferde und Ponys untergebracht sind. Ein angenehmer Geruch von Heu und Leder schlägt ihr entgegen. Zielstrebig läuft sie zu Rose, die in ihrer geräumigen Box steht und freudig wiehert.
»Wie schön, dass es dir gut geht«, begrüßt Marie-Luise Rose und streicht sanft über ihr frisch gestriegeltes, hellbraunes Fell. »Es tut mir leid, dass du dich gestern so erschreckt hast. Aber es bestand wirklich kein Grund dazu. Gleich kommt Franz und bringt dich auf die Sommerweide.«
Beim Verlassen des Reitstalles kommt ihr der Stallbursche Franz entgegen. Er erwidert ihren Gruß und zwinkert ihr zu.
Gedankenversunken schlendert Marie-Luise zum Herrenhaus zurück. Natürlich weiß Franz, dass ich mich nicht in den Ställen aufhalten soll, aber er würde mich niemals verraten.
Die Ahornchaussee spendet angenehmen Schatten gegen die zunehmende Sommerhitze. Auch die Gänse haben sich inzwischen auf den Fischteich geflüchtet und kämpfen mit den Enten um die Vorherrschaft in dem kühlen Nass.
Nein, ich kann Rose nicht wieder auf die Lichtung mitnehmen. Sie ist zu sensibel und schreckhaft. Während Marie-Luise die breite Freitreppe des Herrenhauses erreicht, streift ihr Blick den Spruch, der drohend über dem Haupteingang unterhalb des Giebels mit dem Familienwappen zu lesen ist:
»Wer seinen Acker bauet, der wird Brod in Fülle haben; wer aber unnötigen Sachen nachgehet, der ist ein Narr.«
Sprüche 12, 11
Marie-Luise fröstelt, als sie das Haus betritt. Sie wundert sich, warum die Hitze des Sommertages auch heute nicht durch die Wände dringt, und beschließt, schwimmen zu gehen, um dieser Kälte zu entfliehen. Während sie ihre Badesachen zusammenpackt, fällt ihr Blick auf das Buch, das sie aus der Bibliothek mitgenommen hat, sie lässt es jedoch in seinem Versteck. Mit ihrer Badetasche bepackt saust sie die Treppe hinunter und stürmt aus dem Haus. Die Mahnung ihrer Mutter, nicht wieder zu spät zum Abendessen heimzukommen, erreicht gerade noch ihr Ohr, bevor ihr im Freien die heiße Sommerluft entgegenschlägt. Beschwingt läuft Marie-Luise über den Sommerweg der Schattenwälder-Chaussee Richtung Sonnenberg, biegt in die alte Birkenallee ein und erreicht endlich ihren Lieblingsbadesee. Dort legt sie ihre Decke unter eine einzeln stehende Birke, deren Krone sich sanft im Wind wiegt, und stürzt sich in den kühlen See. Sie genießt den freien Tag ohne Hauslehrer und Zwänge und verliert wieder einmal jegliches Zeitgefühl.
Ihr Hunger erinnert sie daran, dass es Zeit ist aufzubrechen, und während sie ans Ufer watet, versinken ihre Füße immer wieder in dem schwarzen Moorboden.
Auf dem Heimweg entdeckt sie ein schwarzes Kätzchen, das unter einer Bank kauert.
»Wo kommst du denn her? Hast du dich verlaufen?« Ängstlich blickt das Tier zu Marie-Luise auf. »Ich nehme dich erst einmal mit nach Hause. Du hast bestimmt auch Hunger.«
Marie-Luise versteckt das Kätzchen unter ihrem noch feuchten Badetuch und läuft weiter nach Hause. Leise betritt sie das Gutshaus und schleicht die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Sie setzt das Kätzchen auf ihr Bett und beobachtet, wie es neugierig mit seinen kleinen Äuglein das Zimmer erkundet.
Der Ruf zum Essen ertönt und sie erhebt sich widerwillig.
Eilig verlässt sie das Zimmer, um sich nicht schon wieder zu verspäten.
»Der Himmel ist genauso unter unseren Füßen wie über unserem Kopf.«
Henry David Thoreau
Taunus
Juni 1973
Dana sitzt barfuß im Gras und beobachtet ihren vier Jahre älteren Bruder Mike, der mit zwei Freunden Fußball spielt. Sie durfte eine Weile als Torwart mitspielen, bis er dagegen protestierte, da sie wieder einmal fast jeden Ball gehalten hatte. So hat sie sich nun zu ihren Puppen gesetzt, die im Schatten einer Fichte auf sie gewartet haben, und freut sich darauf, mit ihrer Mutter schwimmen zu gehen.
»Ich ziehe mich noch schnell um«, hört Dana ihre Mutter durch das weit geöffnete Wohnzimmerfenster rufen.
Dana läuft voller Vorfreude zum Schwimmbecken, das im vorderen Teil des Grundstücks liegt, um dort auf ihre Mutter zu warten. Sie klettert auf den Hang, in den das runde Becken an der Westseite eingelassen ist, und blickt von dort aus gebannt auf das ruhige Wasser.
»Meine Ente«, ruft sie erschrocken und starrt auf die gelbe Schwimmente, die in der Mitte des Schwimmbeckens treibt. »Meine Ente!«
Dana wundert sich, warum ihr Schwimmreif nicht wie gewohnt neben der Treppe auf sie wartet. Sie weiß, dass sie ohne die Ente nicht schwimmen kann. Zielstrebig betritt sie die Leiter, die ins Schwimmbecken führt, um ihre Ente aus dem Wasser zu holen. Vergessen sind die Mahnungen der Eltern, sich dem Wasser fernzuhalten und nicht allein ins Schwimmbad zu steigen.
Dana springt von der Leiter ins Becken und bemerkt augenblicklich, dass sie keinen Boden unter den Füßen hat. Während es sie unaufhaltsam nach unten zieht, wird es immer dunkler um sie. Dana bekommt keine Luft und versucht voller Panik, an die Oberfläche zu gelangen. Vergeblich. Sie sinkt weiter nach unten und es wird immer düsterer und kälter um sie. Plötzlich sieht Dana rechts unter sich ein helles, strahlendes Licht, das ihre Aufmerksamkeit gefangen nimmt. Warum ist es hier so hell, fragt sie sich. Das Licht war doch bis eben noch über ihr. Während es sie unaufhaltsam zu dem warmen Licht zieht, spürt Dana, wie sie immer leichter und ruhiger wird und Kälte und Angst sie verlassen.
Kurz bevor sie das Licht erreicht, wird sie von ihm weggezogen und alles um sie herum versinkt in tiefer Dunkelheit.
»Dana!«
Langsam wird es hell um Dana und sie hört die Stimme ihrer Mutter, die weit entfernt zu sein scheint.
»Dana! Hörst du mich?«
Dana starrt ihre Mutter mit weit aufgerissenen Augen an und versucht, sich daran zu erinnern, was gerade geschehen ist. Ihre Unterschenkel kribbeln und es ist nass und kalt.
»Was ist mit dir?«
Dana antwortet noch immer nicht.
»Geht es dir gut? Ist alles in Ordnung?«
»Ja«, stammelt Dana.
»Wir fahren jetzt zum Arzt, er soll dich genauer untersuchen.«
Kurz entschlossen nimmt Danas Mutter sie auf den Arm und bringt sie ins Haus, um ihr etwas Trockenes anzuziehen. Dabei redet sie besorgt auf ihre Tochter ein.
»Warum warst du denn im Wasser? Wir haben dir doch gesagt, dass du nicht alleine in die Nähe des Schwimmbads gehen sollst. Du hast doch sonst immer darauf gehört.«
»Ich wollte meine Ente holen«, antwortet Dana.
»Deine Ente? Aber du hattest deine Ente doch gar nicht an. Du kannst ohne sie nicht ins Wasser gehen. Das ist viel zu tief für dich, da schaut dein Kopf nicht raus.«
»Sonst schaut mein Kopf doch auch raus.«
Danas Mutter schaut sie entsetzt an und sucht verzweifelt nach Worten. »Aber doch nur, wenn du deinen Schwimmreif angezogen hast, Dana. Du brauchst noch deine Ente zum Schwimmen, du darfst nicht ohne sie ins Wasser gehen.«
Danas große Augen füllen sich mit Tränen. Sie hatte doch nur ihre Ente holen wollen und versteht nicht, was geschehen ist.
»Sie haben Glück gehabt«, beruhigt der Kinderarzt Danas Mutter, nachdem er Dana gründlich untersucht hat. »Sie haben sie rechtzeitig aus dem Wasser gezogen. Es waren sicher keine drei Minuten.«
Danas Mutter zuckt zusammen. Drei Minuten, das hatte sie doch schon einmal gehört. Auch bei Danas Geburt hatte man sie mit diesen Worten beruhigt. Danas Bewusstlosigkeit nach der Geburt hatte auch keine drei Minuten gedauert und Dana nicht geschadet. Der Arzt hatte sie damals auch mit diesen Worten beruhigt. Zitternd setzt sie sich auf einen Stuhl und versucht, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen.
»Gut, dass Sie einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht haben, und wussten, was zu tun ist«, versucht der Arzt Danas Mutter, zu beruhigen. »Dana muss mit Wasser sehr vertraut sein. Kleinkinder haben einen Reflex, durch den sie unter Wasser nicht atmen. Dieser Reflex verliert sich normalerweise mit zwei Jahren, doch Dana hat ihn offensichtlich noch und dadurch unter Wasser nicht zu atmen versucht«, redet er weiter, während er Dana sorgsam abhört. »Das ist wirklich erstaunlich.«
»Dana liebt Wasser und wir gehen häufig mit ihr schwimmen. Nur hat sie es nicht verstanden, dass sie ohne ihre Schwimmente nicht schwimmen kann.«
Dana versucht, dem Gespräch zu folgen, doch versteht sie die Aufregung der Erwachsenen nicht.
»Ich war gerade dabei, mich im Haus umzuziehen, als ich plötzlich spürte, dass etwas nicht stimmte. Es war, als würde mich etwas nach draußen ziehen und warnen. Im Garten empfing mich eine Totenstille und ich wusste, dass etwas Geschehen war. Als ich zum Schwimmbad kam, sah ich Dana in der Mitte des Beckens wie leblos treiben. Nur ihre Haare waren zu sehen.«
Der Arzt hört dem Bericht schweigend zu, während er Danas Lunge abhört.
»Ich weiß auch nicht, wie ich so schnell in die Mitte des Schwimmbeckens gelangen konnte, um sie herauszuziehen. Ich bin bestimmt vier bis fünf Meter gesprungen, es war, als hätte mich jemand über die Brüstung des Beckens gehoben.«
Der Arzt schüttelt ungläubig den Kopf und legt schließlich das Stethoskop auf seinen Schreibtisch.
»Ich kann kein Wasser in der Lunge feststellen. Dana hat wirklich Glück gehabt. Das ist nicht vielen Kindern in dieser Situation vergönnt. Dennoch sollten Sie das Schwimmbad besser absperren, damit so etwas nicht mehr passiert.«
»Die besten Entdeckungsreisen macht man nicht in fremden Ländern, sondern indem man die Welt mit anderen Augen sieht.«
Marcel Proust
Masuren
Sommer 1935
Zielstrebig verlässt Marie-Luise die dicht bewachsene Hausmannallee und eilt über die angrenzende Wiese zu dem nah gelegenen Fichtenwald. Während sie weiterläuft, scheint es, als verschlinge der düstere Wald ihre Gestalt. Sie hat Rose wie geplant im Stall zurückgelassen. Ihr Schritt verlangsamt sich, als sie die kleine Lichtung betritt, die von jungen Birkenbäumen umgeben ist. Müde lässt sie sich auf das weiche Gras nieder und holt aus ihrer Tasche eine weiße Kerze hervor, die sie neben sich legt für den Fall, dass sie wieder von der Dunkelheit überrascht wird.
Sie genießt den Duft des Schatten spendenden Waldes und die Stille, die sie umgibt.
Dann holt sie das Buch mit den Geistergeschichten hervor, das sie heimlich in der Bibliothek mitgenommen hatte. Von jedem größeren masurischen Gut oder Schloss sind Spukgeschichten bekannt, doch durch ihre Eltern erfährt sie nichts davon. Sie würde zu gerne wissen, ob sich die früheren Bewohner Finsterwaldes solche Geschichten am Kamin erzählt haben oder was sich so alles Mystische in den alten Gemäuern ereignet hat.
Während sie in ihre Lektüre über Moorgestalten, Dünenhexen und Waldmenschen vertieft ist, hört sie plötzlich etwas neben sich rascheln. Sie versucht, es zu ignorieren, doch ihre Aufmerksamkeit wandert immer wieder zu der kleinen Birke, von der aus die Geräusche an ihr Ohr dringen. Doch sie kann nichts entdecken, und vertieft sich wieder in die fesselnde Sage über Wassergeister. Marie-Luises Gedanken entfernen sich immer weiter von ihrer Lektüre, aus den realen Gegebenheiten in eine andere Dimension. Sie spürt, dass der Wald etwas anderes, etwas Besonderes ist. Und auch heute verliert sie jedes Zeitgefühl und bemerkt plötzlich, dass die Dämmerung bereits eingesetzt hat. Sie packt das Buch und die Kerze in die Tasche, springt auf und läuft atemlos den langen Weg zum Gutshaus zurück. Erleichtert stellt sie fest, dass niemand ihre lange Abwesenheit bemerkt hat, und gelangt ungesehen in ihr Zimmer.
Kalt streicht der Fahrtwind durch Marie-Luises Haar, als die Familie an diesem Sonntagmorgen in aller Frühe das Gutsgelände mit der Kutsche verlässt. Sie fahren die Ahornchaussee Richtung Sonnenberg und biegen nach kurzer Zeit in die Hausmannallee Richtung Finsterwalde ein. Marie-Luise betrachtet verträumt die Insthäuser, in denen die Gutsangestellten wohnen, während der Zweispänner über das holprige Kopfsteinpflaster klappert und schließlich vor der roten Backsteinkirche zum Stehen kommt.
Die herbeiströmenden Einwohner mustern auf ihrem Weg in die Kirche verstohlen die Herrschaften aus dem Gutshaus. So, wie das im 18. Jahrhundert neu errichtete Herrenhaus abgelegen auf einer Anhöhe steht, betrachten sie auch die Familie von Suttner, als seien sie außerhalb ihrer Welt. Marie-Luise würde so gerne zu ihnen gehören, auch die Dorfschule besuchen, doch ihr Vater lässt dies nicht zu und hat angeordnet, dass sie von einem Hauslehrer auf dem Gut unterrichtet wird, wie es schon immer Tradition war. Er erlaubt ihr noch nicht einmal, mit den Kindern aus dem Dorf zu spielen.
Vater sagt nur immer, es seien nicht die richtigen Spielgefährten für mich. Aber andere habe ich doch nicht, denkt Marie-Luise.
»Marie-Luise! Trödel nicht so«, ertönt die Stimme ihres Vaters und reißt sie wieder einmal aus ihren Gedanken. »Der Gottesdienst beginnt gleich.«
Die Predigt ist auch heute wieder düster und drohend. Wie sehr sehnt sich Marie-Luise in den Wald, in dem sie sich so viel wohler fühlt als in dieser kalten Kirche unter den strengen Augen des Pfarrers.
Nachdem sie ins Gutshaus zurückgekehrt sind, läuft sie sofort zu ihrem neuen vierbeinigen Freund. Das Kätzchen hat schon auf sie gewartet und springt ihr freudig entgegen.
»Schau mal, was ich dir mitgebracht habe. Etwas Milch aus der Küche. Elsa wird sie bestimmt nicht vermissen.«
Die Katze stürzt sich ausgehungert darauf und schnurrt.
»Du kannst unmöglich hierbleiben. Man wird dich entdecken. Wir finden ein Versteck für dich auf dem Dachboden. Und tagsüber kannst du mit mir in den Wald kommen.«
Sie setzt das Tier vorsichtig in einen Wäschekorb und schleicht hinauf auf den Dachboden. Der Staub und die Spinnweben lassen erahnen, dass hier schon lange niemand war. Es sieht alles so aus wie bei ihrem letzten Besuch. Am Eingang steht noch immer die Kiste mit Briefen und Dokumenten von ihrem Großvater Georg. Daneben steht eine weitere Kiste, gefüllt mit Tagebüchern und Frontbriefen von ihrem Vater. Sie würde zu gerne die Briefe aus Russland lesen, doch ihr Vater hat sie mit einem Schloss gesichert. Er möchte nicht, dass jemand die Feldpost liest. Sie lenkt ihren Blick von den Briefen ab und schaut sich weiter auf dem Speicher um. In einer Ecke stapeln sich Kisten mit Geschirr, daneben steht ein altes, blaues Sofa von ihren Großeltern, auf dem sie häufig gesessen hat, als sie kleiner war. Sie hat sich oft auf den Speicher geschlichen, dort heimlich gespielt und neugierig herumgestöbert.
Nun fühlt sie sich im Wald wohler, dort kann sie am besten alle Sorgen und allen Kummer vergessen.
Sie stellt den Korb mit der Katze und das Milchschälchen auf die Erde und versucht, dem kleinen Tier zu erklären, dass es hier in Sicherheit sei und ungestört herumtollen könne.
Die Katze springt aus dem Korb und schaut sich neugierig um.
»Du brauchst noch einen Namen. Wie wäre es mit Minka?« Das Kätzchen dreht sich um und spitzt interessiert die Ohren. »Ja, der Name ist schön. Ich muss nun wirklich gehen, Minka. Komme aber bald wieder.«
Mit einem lauten Schlag fällt das Portrait von Marie-Luises Großmutter von der Wand und das Glas des Rahmens zerspringt auf dem Parkettfußboden des Gartensalons.
»Oh nein! Das Bild«, ruft Katharina von Suttner. »Es wird doch hoffentlich niemand gestorben ...«
»Katharina, bitte! Wie soll man sich da bei Marie-Luise noch wundern. Mit deinen abergläubischen Geschichten bestärkst du sie in ihren Fantastereien.«
»Das ist kein Aberglaube. Du weißt, wenn ein Bild von der Wand fällt, kann das ein Zeichen dafür sein, dass gerade jemand in der Familie oder im Freundeskreis verstorben ist. Genauso wie beim Tod deines Vaters, als die Uhr im Jagdzimmer plötzlich stehen blieb.«
»Du glaubst doch nicht immer noch an so einen Hokuspokus, Katharina?« Albert von Suttner schüttelt verständnislos den Kopf. »Das Bild ist nur heruntergefallen, da sich der Haken über die Jahre gelöst hat, mehr nicht. Und dass die Uhr damals stehen geblieben ist, war nicht mehr als ein Zufall.« Brummend verlässt er das Zimmer.
»Erzähle mir noch mehr von den masurischen Bräuchen«, bittet Marie-Luise ihre Mutter. »Stimmt es, dass auch jemand im Hause stirbt, wenn ein Maulwurf den Boden in oder vor dem Haus aufwühlt?«
»Ja. Das stimmt. Man sagt, wenn er die Waschküche aufwühlt, dann stirbt die Hausfrau, und wenn er einen Weg aufwühlt, wird bald ein Toter darüber getragen«, antwortet Katharina von Suttner. »Wenn ein Baum vor dem Hause verdorrt oder eine Uhr ohne Grund stehen bleibt, wird ebenso jemand im Haus sterben.«
»Und wie war das mit dem Klappern der Störche ...«
»Marie-Luise, lass es für heute genug sein.«
»Aber ...«
»Nein! Verstehe das bitte. Ich soll dich dies alles nicht lehren. Vater meint, das sei nur Aberglaube. Außerdem muss ich jetzt nach dem Personal schauen.« Katharina von Suttner erhebt sich müde und verlässt den Salon, ohne sich nochmals zu ihrer Tochter umzudrehen.
Marie-Luise starrt ihr enttäuscht nach.
Dann gehe ich eben wieder in den Wald auf meine Lichtung! Dort ist es geheimnisvoller und aufregender als in diesem Haus. Ich habe meinem Vater einmal erzählt, was ich dort erlebt habe, und werde nie vergessen, wie böse er wurde. Ich solle nicht solche Märchen erzählen. Für ihn existiert nichts, was er nicht sehen und anfassen kann. Entschlossen steht sie auf und verlässt voller Vorfreude den Salon.
Die Schwüle des Tages will nicht weichen, während Marie-Luise aus dem dichten Fichtenwald auf die kleine Lichtung tritt. Sie setzt sich auf einen kleinen Baumstumpf und genießt die friedliche Atmosphäre. Nach kurzer Zeit spürt sie, dass sie nicht allein ist.
Sie erblickt kleine, zwergenhafte Wesen, die hellblaue Glockenblumen umschwirren. Was für wunderschöne Geschöpfe. Sie erinnern sie an Schmetterlinge auf einer bunten Blumenwiese, nur leuchten sie heller. Geschäftig fliegen die Wesen von einer Blume zur anderen und beachten Marie-Luises Anwesenheit auch heute nicht.
Am Rande der Lichtung schwebt ein größeres Lichtwesen, das einen Holunderbusch umsorgt. Das muss eine Elfe sein. Wie groß sie ist.
Das Rascheln neben ihrem Baumstumpf lenkt Marie-Luise von dem wunderschönen Pflanzenwesen ab. Sie dreht sich um und sieht, wie drei Gestalten unter einer Wurzel hervorkriechen und sie neugierig mustern. Sie haben winzige, runde Gesichter und ihr Körper erinnert an bunte Blumen und Blätter, die auf zarten Füßchen stehen. Sie fuchteln mit ihren dünnen Ärmchen aufgeregt in der Luft herum, als wollten sie Marie-Luise etwas Wichtiges mitteilen.
»Oh, euch kenne ich noch nicht«, ruft sie. »Vielleicht habt ihr beim letzten Besuch schon so geraschelt. Was seid ihr denn für süße Gnome?«
Die Gnome kommen neugierig näher und setzen sich auf einen großen Stein neben sie. Sie lachen vergnügt und ziehen Grimassen.
»Lagluf«, ruft ihr eines dieser zutraulichen Naturwesen zu, das einen kleinen Kieselstein in seiner Hand hält.
»Ufla«, ertönt es von einem anderen Gnom, dessen Gestalt an ein Buchenblatt erinnert. Auch er zeigt Marie-Luise stolz einen glitzernden Stein. »Bilobik?«
»Wenn ich doch eure Gnomensprache verstehen könnte.«
Die kleinen Gestalten kichern laut und beginnen zu tanzen. Sie umschwirren dabei Marie-Luise frech und mustern sie neugierig.
»Iglap, iglap!«
Sie zuckt zusammen und starrt einen kleinen, runzeligen Wichtel mit blauer Mütze an, der sie immer wieder anstupst.
»Hast du mich erschreckt. Was willst du mir nur sagen? Ich kann dich doch leider nicht verstehen.«
Bald verlieren die Gnome das Interesse an dem Menschenwesen und spielen ausgelassen unter einer weit ausladenden Fichte am Rande der Lichtung.
Marie-Luise wartet ungeduldig darauf, dass Gnom Felsling auftaucht, der ihr oft auf ihren Wanderungen durch den Wald folgt und ihr einmal gezeigt hat, wie er für die Felsen und Steine sorgt.
Plötzlich ertönt ein Donnergrollen aus der Ferne. Marie-Luise schaut erschrocken in den dunklen Himmel. Sie hatte nicht bemerkt, dass ein Gewitter aufgezogen war, und springt auf. Eilig verlässt sie die Lichtung und durchquert den finsteren Fichtenwald. Als sie den steilen Hügel hinabläuft, beobachtet sie die Wolken, die sich bedrohlich auftürmen, und gerade als sie die schützende Hausmannallee erreicht, prasseln bereits die ersten Regentropfen auf die alten Alleebäume nieder. Endlich trifft sie auf dem elterlichen Gutshof ein, stürzt die Freitreppe hinauf und betritt erleichtert das Haus.
Im Schutze ihres Zimmers betrachtet Marie-Luise das Schauspiel über Schattenwalde und beobachtet, wie ein Blitz in Richtung der Stallungen auf die Erde fährt. Da erinnert sie sich plötzlich an Minka. Die Katze wird bestimmt Angst haben. Marie-Luise läuft aus ihrem Zimmer, den Ostflügel entlang und die Treppe zum Speicher hinauf. Besorgt betritt sie den Dachboden und späht in die Dunkelheit, die immer wieder für kurze Zeit durch helle Blitze erleuchtet wird. Das Kätzchen sitzt unter einem alten Sessel und schaut Marie-Luise verängstigt an.
»Minka, du brauchst keine Angst zu haben«, redet Marie-Luise auf das Tier ein. »Du bleibst heute Nacht in meinem Zimmer.«
Sie nimmt das verschreckte Kätzchen, verlässt den Dachboden und schleicht sich leise zurück in ihr Zimmer. Während sie sich mit Minka auf ihr Bett setzt, stürmt ihr Vater ins Zimmer.
»Marie-Luise! Was hast du diesmal angestellt? Warum schleichst du dich im Dunklen ...« Er verstummt und starrt auf Minka, die ihn ängstlich ansieht. »Wo kommt die Katze her?«
»Ich, ich habe sie gefunden«, stammelt Marie-Luise. »Sie war ganz verlassen und einsam, und jemand musste sich um sie kümmern.«
»Aber nicht du ... und nicht in diesem Haus. Und du weißt das!«
»Aber sie hat ...«
»Ruhe! Warum kannst du nicht einmal auf das hören, was man dir sagt. Du gehst heute ohne Abendbrot zu Bett.« Rasend vor Wut unterstreicht er seine Worte mit einer Ohrfeige, entreißt ihr das Kätzchen und verlässt mit dem verängstigten Tier das Zimmer. Marie-Luise bleibt weinend zurück.
Schluchzend zieht sie sich ihren Mantel an und schleicht lautlos die Treppe hinunter. Das Gewitter tobt noch über dem Gutswald östlich des Herrenhauses und riesige Regentropfen schlagen ihr entgegen, als sie die Haustür öffnet. Während sie die nasse Allee entlangläuft, fühlt sie sich einsamer und verlassener als je zuvor. Wie kann er mir meinen einzigen kleinen Freund wegnehmen, weint sie in sich hinein. Ich wollte Minka doch nur beschützen. Sie war mir so ein lieber Freund geworden. Ihr Herz schmerzt vor Kummer und Verlassenheit, sie hat nur den einen Gedanken, sich zu den Gnomen und Elfen in den Wald zu flüchten.
Wenigstens meine Freunde auf der Lichtung kann mir Vater nicht wegnehmen, da sie für ihn unsichtbar sind.
Schon biegt sie wieder in die alte Hausmannallee ein und erreicht schließlich völlig durchnässt die magische Waldlichtung.
»Felsling«, ruft Marie-Luise überrascht. »Mein Freund Felsling!
Wie schön, dich hier zu sehen.«
Gnom Felsling sitzt auf einem moosbewachsenen Stein und lächelt sie liebevoll an, als hätte er dort auf sie gewartet.
Er heitert das unglückliche Menschenwesen in dieser düsteren Nacht durch seine Späße vorübergehend auf, doch die tiefe Trauer um Minka senkt sich dennoch tief in Marie-Luises Seele.
»Man kann das Leben nur rückwärts verstehen, aber leben muss man es vorwärts.«
Pablo Picasso
Taunus
Juli 1975
An jenem Nachmittag waren sie wieder da.
Plötzlich, unerwartet, ohne sich anzukündigen, waren sie wieder da. Sie breiteten sich unaufhaltsam mit dem schwarzen Rauch in den Räumen der Gegenwart aus, als hätten sie auf diesen Augenblick gewartet.
Dana betritt verstört das Haus und begreift die Aufregung der Erwachsenen nicht. Es umgibt sie Unruhe und Angst und sie hat einen ekelhaften Geruch in ihrer Nase, der ihr eine unerträgliche Übelkeit bereitet. Sie muss unaufhörlich husten und hat das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Es schnürt ihr den Hals zu und immer mehr nimmt die Angst von ihrem Körper Besitz.
Plötzlich hört sie wieder die Schreie in ihrem Kopf und ihr gesamter Körper schmerzt. Sie kennt diese Schreie, sie sind nicht auszuhalten und sie will nur noch weg. Dana läuft aus dem Haus, sie will fortlaufen, irgendwohin, wo sie sicher ist. Sie hastet zu den hohen Bäumen am Zaun, der das elterliche Grundstück umgibt. Sie kauert sich unter die dichten Fichten und Tannen auf den Boden, um vor den schrecklichen Schreien und dem entsetzlichen Schmerz in ihrem Kopf Schutz zu finden. Da sind nur noch diese Schreie, der Schmerz und die Angst.
Nach einer Weile fühlt sie etwas in ihrer rechten Hand. Erleichtert spürt sie ihre Puppe Biene und drückt sie fest an sich. Dana fühlt etwas Feuchtes auf den Haaren ihrer Puppe und bemerkt, dass es sich um ihre Tränen handelt. Da ist auch ein Tropfen auf Bienes Gesicht und Dana weiß, dass sie mit ihr weint. Die Puppe versteht, dass sie nicht ins Haus zurück können, dorthin, wo dieser furchtbare Schmerz und diese Schreie wieder zu Dana gekommen sind. Nur hier, an den Wurzeln des starken Baumes, sind sie davor sicher. Seine Ruhe lässt nach und nach Danas Angst kleiner werden. Die Angst vor diesen schmerzvollen Gefühlen, die vorhin im Haus wieder Besitz von ihr ergriffen haben. Doch noch immer hat sie diesen ekelhaften Geruch in der Nase, der ihr Übelkeit bereitet.
In den Zweigen über ihr hat ein Vogel zu singen begonnen. Sein Lied bringt etwas mehr Ruhe in ihren aufgeregten Körper. Ihre Lippen sind trocken und Dana würde gerne etwas trinken, aber sie möchte ihr Versteck nicht verlassen.
Und schon wieder wüten die Bilder und Schreie in ihrem Kopf. Sie sieht den düsteren Wald, in dem so viel Angst und Lärm ist, und die vielen Mütter, die sich schützend vor ihre Kinder stellen oder sie verzweifelt in ihren Armen halten. Bei diesen Bildern dröhnen Schreie und Schüsse in Danas Kopf. Es ist kaum auszuhalten und sie kann nichts dagegen tun.
Die Schreie haben sich in ihrem Kopf festgebrannt, als wollten sie Dana nie mehr loslassen. Sie möchte auch schreien, doch ihre Tränen kullern lautlos über ihre Wangen. Traurig drückt sie ihre Puppe Biene an sich.
Plötzlich nimmt sie ein helles, weißes Licht über ihrem Kopf wahr, das von einer behaglichen Wärme begleitet wird. Es ist beruhigend und tröstend zugleich und sie spürt, wie die Schreie in ihrem Kopf und der Schmerz in ihrem Körper langsam nachlassen.
Dana verlässt ihr Versteck und wagt sich zu der hölzernen Schaukel, die im hintersten Winkel des Grundstücks unter einem Kirschbaum aufgehängt ist. Ihre kastanienbraunen Haare fallen locker auf ihre Schultern. Sie trägt noch immer das rote Sommerkleid, das sie am Morgen für die Fahrt nach Gelnhausen angezogen hatte. Sie haben dort für Danas Bruder Mike einen Schreibtisch gekauft, der in rotweißen Farben leuchtet und den er sich so lange gewünscht hatte.
»Magst du ihn dir noch einmal anschauen?« Mikes Stimme reißt Dana aus ihren Gedanken. Sie hat jedoch noch immer Angst, ins Haus zurückzukehren, und schüttelt verneinend den Kopf. Es schmerzt sie, wie enttäuscht Mike sie anschaut, doch sie kann nicht in dieses Haus zurückkehren. Sie hat Angst vor dem Geruch, durch den die Bilder wieder zu ihr zurückgekommen sind.
»Komme doch bitte endlich ins Haus!« Dana fährt erschrocken zusammen. Sie hat ihre Mutter nicht kommen hören. »Es ist nun wirklich Zeit, schlafen zu gehen.«
Dana sieht sie ängstlich an und weigert sich hartnäckig, ihr schützendes Versteck unter den Tannen zu verlassen. Nachdem die Sonne langsam untergegangen ist, hat sie sich wieder dorthin verkrochen, zu den Wurzeln der alten Bäume. So kehrt Danas Mutter ohne sie ins Haus zurück und Dana hofft, dass sie nicht so bald wiederkommen wird. Sobald sie außer Sichtweite ist, beginnt Dana damit, ihrer Puppe Biene aus Moos und Gras ein Bett zu bauen, da es auch für sie schon lange Zeit ist, schlafen zu gehen. Das silberne Licht des Vollmondes dringt bereits durch das Tannengeäst zu ihr durch und Dana versucht, die Bilder und Gefühle, die sie seit Stunden quälen, zu ignorieren, doch es gelingt ihr nicht. Sie sieht immer wieder die vielen angsterfüllten Menschen vor sich und hört erneut deren Schreie in ihrem Kopf. Sie spürt, wie sich die Schmerzen, die sie bei diesen Bildern empfindet, immer mehr in ihrem ganzen Körper ausbreiten.
Sie spürt nochmals Tränen über ihre Wangen laufen und schaut besorgt zu Biene, die in ihrem Moosbett liegt. Doch die Tränen haben Biene dieses Mal nicht getroffen, denn eine kleine, hellgrüne Elfe hat sich zu Danas Puppe an das Moosbett gesetzt und die Tränen aufgefangen. Sie schaut Dana liebevoll an und Dana spürt diese wunderschöne Wärme, die nachmittags auch das weiße Licht begleitet hat. Während sie in das zarte Gesicht der Elfe schaut, spürt sie, wie Schreie und Schmerzen erträglicher werden und sich etwas Ruhe in ihrem Inneren ausbreitet.
Da bemerkt sie, dass ihre Mutter wieder neben ihr steht und sie erneut auffordert, endlich ins Haus zu kommen. Sie erklärt Dana dabei, dass sie seit Stunden gelüftet hätten und der Geruch des verbrannten Bratenfleisches, der von einem angesengten Schnellkochtopf ihrer Großmutter ausging, so gut wie weg sei. Die Elfe blickt Dana aufmunternd an. Mit einem müden Seufzer nimmt Dana Biene in ihren Arm und folgt ihrer Mutter ins Haus.
Dana sitzt an ihrem Tisch im Kindergarten und betrachtet das Bild, das sie während der letzten halben Stunde gemalt hat.
»Was ist denn das?«, ertönt in ihrem Rücken die schrille Stimme einer Kindergärtnerin.
Dana hat nicht bemerkt, dass jemand hinter ihr steht, und zuckt erschrocken zusammen.
»Warum ist dein Bild wieder schwarz? Wieso malst du seit Tagen nur tiefschwarze Bilder?«
Dana schweigt und starrt regungslos auf das Blatt, das vor ihr liegt.
»Ist alles in Ordnung? Ist irgendetwas geschehen, was du mir sagen möchtest?«
Dana schweigt noch immer und weicht dem Blick der Kindergärtnerin aus. Wie soll sie ihr auch erklären, was in ihrem Kopf vor sich geht.
»Dann werde ich wohl mit deiner Mutter reden müssen«, sagt die Erzieherin, während sie zum nächsten Tisch weitergeht.
Dana denkt nicht weiter über die drohenden Worte der Kindergärtnerin nach, da ihre Aufmerksamkeit inzwischen von etwas anderem gefangen genommen wird. Was ist das für ein Lärm, der von der Straße ins Haus dringt? Da war doch ein Schrei, denkt Dana. Irgendjemand hat eben geschrien. Während sie auf die Geräusche lauscht, hört sie wieder die verzweifelten Schreie in ihrem Kopf, die von undefinierbaren Schmerzen begleitet werden. Ich halte es nicht aus, denkt sie. Ich halte es hier nicht aus und will hier nicht sein. Dabei nimmt sie sich ein weiteres leeres Blatt Papier, greift entschlossen nach dem schwarzen Malstift und malt sich ihren Schmerz und ihre Verzweiflung von der Seele. So schwarz wie der Rauch des vergangenen Tages und so dunkel wie ihre Erinnerungen.
Die Erzieher verstehen sie nicht. Sie wissen nichts von den düsteren Wolken, die in Danas Leben gezogen sind und von denen sie sich verzweifelt zu befreien versucht.
»Die Natur ist ein unendlich geteilter Gott.«
Friedrich Schiller
Gut Schattenwalde
Winter 1936
Die masurischen Felder und Wälder versinken unter den großen, lockeren Flocken, die unaufhörlich vom Himmel fallen. Marie-Luise steht an ihrem Fenster und beobachtet das Flockenspiel und die friedliche Winterlandschaft. Sie ist voller Vorfreude auf die bevorstehenden gemütlichen Weihnachtstage und genießt es, dass Tante Martha und Onkel Paul aus Berlin zu Besuch kommen werden. Es ist die schönste Zeit im Gutshaus, wenn die Kaminfeuer und Kachelöfen gegen die Kälte des Hauses ankämpfen und die Zimmer vom Duft nach Gänsebraten und Weihnachtsplätzchen erfüllt sind.
Sie amüsiert sich immer über Tante Martha, die Masuren als Sibirien bezeichnet und nicht versteht, wie man in dieser rauen Landschaft leben kann.
»Marie-Luise! Es ist Zeit, den Baum zu schmücken«, reißt die Stimme ihrer Mutter sie aus ihren Gedanken.
Ich schmücke ja gerne den Baum, aber wieso muss man die Weihnachtsbäume so respektlos schlagen, denkt sie, während sie die Treppe hinunterläuft. In der Empfangshalle trifft sie auf ihren Vater Albert von Suttner.
»Ah, da bist du ja, Marie-Luise. Deine Mutter sucht nach dir. Der Weihnachtsbaum steht im Gartensalon bereit und du kannst nun deiner Mutter beim Schmücken helfen.«
»Hast du dieses Mal daran gedacht, die Baumgeister um Erlaubnis zu bitten, den Baum fällen zu dürfen?«, fragt Marie-Luise ihren Vater besorgt.
»Natürlich nicht! Was für ein Unfug. Ich habe diese Bäume gepflanzt, also werde ich sie wohl auch fällen dürfen«, erwidert Albert von Suttner verärgert. »Und höre bitte auf mit deinen Geistergeschichten.«
»Das ist kein Unsinn! Alle Bäume werden von alten Geistern überstrahlt und eingehüllt. Diese Baumwesen sind wunderschön. Es sind hellgrüne Geschöpfe mit strahlenden Augen.« Marie-Luise merkt in ihrer Begeisterung nicht das wütende Funkeln in den Augen ihres Vaters. »Sie können Menschen mit Lebenskraft versorgen, wenn sie spüren, dass man die Natur liebt. Aber es bringt Unglück, wenn man sie respektlos behandelt ...«
»Marie-Luise, vergiss diesen Irrsinn!«
»Aber erinnerst du dich denn nicht an Onkel Karl? Er hat auch nicht daran geglaubt und er wurde im Wald von einer alten Eiche erschlagen.«
»Das war ein Arbeitsunfall, mehr nicht!«
»Nein. Die Baumwesen sind mächtig und können furchterregend sein. Der Geist der Eichen hat sich damals für die gnadenlose und achtlose Abholzung gerächt.«
»Marie-Luise! Woher nimmst du nur immer diese Märchengeschichten? Hört das denn nicht irgendwann einmal auf?«
»Aber das sind keine ...«
»Ich dachte, wenn du älter wirst, legt sich das endlich. Aber ich habe das Gefühl, es wird immer schlimmer! Früher waren es kleine Zwerge und jetzt sind es riesige Baumgeister.« Albert unterstreicht seine Worte mit einer ausladenden Armbewegung. »So, wie du gewachsen bist, sind es auch deine Fantasiegestalten. Ich will davon nichts mehr hören!« Er verlässt schimpfend die Halle und seine Stimme wird kaum von der Haustür gedämpft, die hinter ihm laut ins Schloss fällt.
Marie-Luise schaut ihrem Vater schweigend nach, bevor auch sie die Halle verlässt, um ihrer Mutter im Gartensalon beim Schmücken des Baumes zu helfen.
»Marie-Luise! Bist du endlich fertig? Der Pfarrer wartet mit seiner Predigt nicht auf uns!« Die Stimme Albert von Suttners tönt durch die Halle. »Du trödelst wieder mal herum, obwohl du weißt, dass ich pünktlich in der Kirche sein möchte.«