Der Täter ist gefasst, doch das Opfer bleibt verschwunden: Eine Studentin wurde entführt, bei der Polizei herrscht Ausnahmezustand. Sexualdelikt oder Terrorismus? Pal Palushi wird zum Strafverteidiger des Entführers ernannt und gerät zwischen die Fronten. Nur Ex-Polizistin Jasmin Meyer hält zu ihm. Sie findet eine tödliche Spur.
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Petra Ivanov verbrachte ihre Kindheit in New York. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz absolvierte sie die Dolmetscherschule und arbeitete als Übersetzerin, Sprachlehrerin sowie Journalistin. Ihr Werk umfasst zahlreiche Kriminalromane, Jugendbücher und Kurzgeschichten.
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Entführung
Kriminalroman
Meyer und Palushi ermitteln (4)
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Lektorat: Susanne Gretter
© by Petra Ivanov 2019
© by Unionsverlag, Zürich 2021
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Umschlag: jvphoto (Alamy Stock Photo)
Umschlaggestaltung: Peter Löffelholz
ISBN 978-3-293-31060-5
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Für Laura
Steinerne Mienen, steife Rücken, angespannte Stille. Im Büro der Staatsanwältin knisterte die Luft, sie war aufgeladen mit kaum verhohlener Wut. Pal Palushi sah seinem Klienten nach. Trotz Handschellen und Fußfesseln wirkte Mustafa Saifullah unbekümmert, als wolle er sich nur kurz die Beine vertreten, um es sich anschließend in seinem Wohnzimmer auf dem Sofa gemütlich zu machen. Ganz anders die Polizeigrenadiere, die ihn mit zackigem Schritt, die Hände an der Waffe, ins Gefängnis zurückbrachten. Pal wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Worauf warten Sie?«, fragte die Staatsanwältin kühl.
Sie stand nicht auf, um ihn zu verabschieden, nickte bloß dem Protokollführer zu, der neben ihr saß. Pal klemmte seine Aktenmappe unter den Arm und folgte dem jungen Polizisten aus dem Raum. Der Druck auf seiner Brust wollte nicht weichen, es fühlte sich an, als stecke er in einem Schraubstock. Es roch nach Papierstaub und Verwaltung, aus einem Büro drang eine monotone Stimme.
Vor dem Aufzug blieb der Protokollführer stehen. Er schien etwas sagen zu wollen, Pal aber wandte sich ab und starrte auf das Gussglas, hinter dem sich die Kabine quälend langsam nach oben bewegte. Endlich wurde die Tür entriegelt.
Im Aufzug lehnte Pal die Stirn gegen die Wand. Er verstand sie. Alle. Auch er war frustriert, die Zeit lief ihnen davon. Doch er war machtlos, er hatte getan, was er konnte. Der Aufzug hielt im Erdgeschoss, Pal atmete tief ein. Er durfte sich nicht von den Vorwürfen erdrücken lassen, Lara Blum wäre damit nicht gedient. Zielstrebig ging er auf den Ausgang zu.
Eine Kamera blitzte auf. Pal zuckte zusammen und hob schützend den Arm vor das Gesicht. Woher wussten die Journalisten von der Einvernahme?
»Lebt sie noch?«, rief jemand.
Pal senkte den Kopf und drängte sich an den Medienleuten vorbei, die sich vor dem Gebäude versammelt hatten.
»Wo hat er sie versteckt?« Eine Reporterin streckte Pal ein Mikrofon entgegen. »Wie fühlt es sich an, ein Monster zu verteidigen?«
Kurz war er versucht zu erklären, dass jeder das Recht auf eine Verteidigung hatte, doch er wusste, das wollte niemand hören.
»Ist Ihnen Lara egal?«, tönte es hinter ihm.
Pal ging schneller, bahnte sich einen Weg zwischen den voll besetzten Bistrotischen eines Cafés hindurch und bog um die Ecke. Die Stimmen hinter ihm wurden leiser, jetzt hörte er seinen eigenen schweren Atem.
Seine Ducati stand zwei Querstraßen entfernt. Pal verstaute seine Aktenmappe und das Armani-Jackett im Seitenkoffer und zog seine Lederjacke an. Als er das Visier des Helms herunterklappte, schloss er eine Tür zwischen sich und der Welt. Bald nahm er nur noch das tiefe Wummern des Superbikes wahr. Sein Herzschlag beruhigte sich, seine Gedanken kehrten zu seinem Klienten zurück. Auch heute hatte Mustafa Saifullah geschwiegen. Die Hoffnung, Lara Blum lebend zu finden, wurde mit jeder Stunde kleiner.
Eigentlich hatte Pal in die Kanzlei zurückkehren wollen, stattdessen fuhr er zur Universität. Er parkte vor der Rechtswissenschaftlichen Fakultät und betrachtete den Altbau. Wie stolz er gewesen war, als er das Studium aufgenommen hatte! Begeistert hatte er Paragrafen auswendig gelernt, dicke Wälzer über Rechtsphilosophie und Ethik studiert, Grundsatzdebatten geführt. Damals ahnte er nicht, dass ein Strafverteidiger nicht nur Jurist, sondern auch Sozialarbeiter war. Seine Klienten legten ihr Schicksal in seine Hände, er war Vertrauensperson und Berater zugleich.
Er stieg vom Motorrad und ging um das Gebäude herum. Die Bibliothek versteckte sich im ehemaligen Innenhof. Pal betrat die Halle und sog den Geruch der hundertsiebzigtausend Bücher ein. Sie empfingen ihn wie eine schützende Hülle. Vor zwei Monaten hatte er beschlossen, sich einen Traum zu erfüllen und eine Dissertation zu verfassen. Beruflich würde ihn der Doktortitel nicht weiterbringen, er hatte sich bereits einen Namen als Anwalt gemacht. Er suchte die intellektuelle Herausforderung. Als Jahrgangsbester hatte er problemlos einen Doktorvater gefunden, der sein Projekt betreute, obschon neun Jahre vergangen waren, seit er das Studium abgeschlossen hatte. Schwerer hatte er sich mit der Wahl des Themas getan. Schließlich entschied er sich für eine Arbeit über die Funktion der Verteidigung bei der Wahrheitssuche. Für Pal war die Verteidigung keine moralische Instanz, sondern ein Garant für die Rechtsstaatlichkeit eines Verfahrens – das höchste politische Gut überhaupt. Er war im Kosovo aufgewachsen, er wusste, was es bedeutete, wenn Gesetze nicht eingehalten, die Rechte der Bürger nicht geschützt wurden. Das Recht eines Beschuldigten zu schweigen wurzelte in der Unschuldsvermutung und im Prinzip, dass man sich selbst nicht belasten musste. In den letzten Jahrzehnten hatte es immer häufiger Versuche gegeben, dieses Recht zu beschneiden.
Er nahm ein Buch mit dem vielversprechenden Titel »The Rise and Fall of the Right of Silence« vom Regal und vertiefte sich in eine Analyse.
Ist Ihnen Lara egal?
Pal versuchte, sich auf das Buch vor sich zu konzentrieren. Stattdessen dachte er an den Pädophilen Marc Dutroux, der in Belgien mehrere Mädchen gefangen gehalten hatte. Zwei waren verhungert, während Dutroux eine Gefängnisstrafe wegen Autodiebstahls verbüßte.
Lebt sie noch?
Er betrachtete die Glaskuppel über dem Lichthof. Die Sonne stand so weit im Westen, dass keine Strahlen mehr in die Bibliothek drangen. Sah Lara Blum den Himmel auch? Oder saß sie in einem fensterlosen Raum, verängstigt und allein? Pal rieb sich die Augen, versuchte, die Bilder zu vertreiben. Seine Aufgabe war es, Saifullah zu verteidigen. Er korrigierte sich: Seine Pflicht war es, Saifullah zu verteidigen. Alles andere war Sache der Polizei.
Als die Bibliothek um einundzwanzig Uhr schloss, hatte er nur einen Bruchteil der Texte gelesen, die er sich vorgenommen hatte. Er holte seine Sachen aus dem Schließfach, schaltete sein Handy ein und sah, dass Jasmin versucht hatte, ihn zu erreichen. Seine anfängliche Freude darüber wich Besorgnis. Normalerweise telefonierten sie am Wochenende miteinander. In Thailand war es jetzt zwei Uhr morgens. Er drückte auf die Skype-Funktion auf seinem Telefon. Wenn Jasmin noch wach war, würde sie sehen, dass er sich eingeloggt hatte. Keine Minute später klingelte es.
»Immer noch auf?«, fragte er. »Ist ein Bewohner abgehauen?« Vor einem Monat hatte ein an Demenz erkrankter Mann mitten in der Nacht die Altersresidenz verlassen, in der Jasmin arbeitete, weil er den Sonnenaufgang am Grand Canyon sehen wollte.
»Nein, alle liegen im Bett, hoffe ich wenigstens.«
Er meinte ein Lächeln in ihrer Stimme zu hören und wünschte, er könnte sie sehen. Die Internetverbindung war zu schwach, um die Videofunktion einzuschalten.
»Wo bist du?«, fragte sie. »Ist das Straßenlärm?«
»Vor der Bibliothek. Wie geht es dir?«
»Gut, erzähl mir lieber, wie es dir geht. Deshalb rufe ich nämlich an.«
»Mitten in der Nacht?«, fragte Pal verwundert.
»Ich habe die Schlagzeilen im Internet gelesen. Es tut mir leid, Pal, das hast du nicht verdient, auch wenn ich die Wut der Menschen verstehen kann.«
Er hatte ihr nichts von seinem Mandat erzählt. Vor drei Jahren war Jasmin selbst entführt worden, er hatte die Wunden, die erst langsam zu heilen begannen, nicht wieder aufreißen wollen.
»Ich habe die neusten Berichte noch nicht gelesen«, sagte er zögerlich. »Was haben sie über mich geschrieben?«
»Ist sie …« Jasmin räusperte sich. »Ist es möglich, dass sie noch lebt?«
Pal setzte sich auf die Treppe, die zum Haupteingang der Fakultät führte. Eine alte Yamaha mit dem typischen Geräusch des Zweitaktmotors fuhr an ihm vorbei, er hörte lautes Lachen. »Du weißt, dass ich nicht darüber reden darf«, wich er aus. »Was haben sie geschrieben?«
»Sie fragen sich, wie du dieses Monster verteidigen kannst. Ob du keine Skrupel hast.«
»Der Anwalt wird gern mit dem Beschuldigten gleichgesetzt. Daran habe ich mich längst gewöhnt.«
»Wer hat ihnen deinen Namen gesteckt? Sie haben sogar ein Foto von dir veröffentlicht. Woher wussten die Journalisten von der Einvernahme?«
»Das habe ich mich auch gefragt, als ich die Meute vor dem Eingang sah.«
»Du bedeckst dein Gesicht mit dem Arm, aber man sieht deutlich, dass du dich ärgerst.«
»Ich komme klar, erzähl mir lieber von dir. Was macht dein Thai? Verstehen dich die Angestellten?«
Jasmin erzählte, was sie in den letzten Tagen erlebt hatte, beschrieb einen Ausflug mit den Bewohnern, einen Einkauf auf dem Markt. Pal sah die Weite des Isan vor sich, Garküchen an den Straßenrändern, goldene Buddhastatuen, geschmückte Geisterhäuschen. Er stellte sich die Altersresidenz vor, die er im vergangenen Winter mit Jasmin besucht hatte, die Bungalows der Bewohner, die fremden Blumen, die schwüle Luft.
Es klickte, als Jasmin am anderen Ende eine Tür öffnete.
»Ich stehe jetzt auf der Terrasse«, sagte sie, »und schaue in den Sternenhimmel. Ich sehe den Mars. Du auch?«
»Hier geht die Sonne erst unter. Der Himmel ist tiefblau.«
»Ich freue mich auf den Sommer in der Schweiz.«
Pal lehnte sich erleichtert zurück. Jasmin erzählte immer so begeistert von ihrem Alltag in Thailand, dass ihm Zweifel gekommen waren, ob sie tatsächlich in die Schweiz zurückkehren würde.
»Ich habe mir viele Gedanken über die Zukunft gemacht«, fuhr sie fort. »Ich möchte dem Privatdetektiv-Verband beitreten.«
»Dem Fachverband?«
»Nein, dem Verband ehemaliger Polizei- und Kriminalbeamter, dem SPKK. Dem Fachverband vielleicht auch, aber ich möchte vor allem die Anforderungen des SPKK erfüllen. Sie sind höher.«
»Sie nehmen dich bestimmt auf, deine Erfahrung bei der Kripo ist kaum zu übertreffen. Ich helfe dir gern bei der Firmengründung.«
»Das habe ich gehofft.«
Pal freute sich über ihre Entschlossenheit. Seit sie die Polizei verlassen hatte, konnte sie ab und zu Privataufträge erledigen, psychisch war sie jedoch immer wieder an ihre Grenzen gestoßen. Die drei Monate in den Fängen eines Mörders hatten sie schwer traumatisiert.
»Nur noch zwanzig Tage«, sagte sie, »dann komme ich nach Hause.«
»Ich kann es kaum erwarten.«
»Du fehlst mir.« Sie zögerte. »Pal, wenn du reden möchtest, niemand wird etwas erfahren. Ich kann gut schweigen.«
»Ich weiß, danke. Wie gesagt, es ist nicht das erste Mal, dass ich beschimpft werde.«
»Aber das erste Mal, dass man dich für den Tod eines Menschen verantwortlich machen könnte.«
Lebt sie noch? Pal gab sein Handy am Empfang ab und passierte die Sicherheitskontrolle des provisorischen Polizeigefängnisses. Ein Polizist führte ihn durch einen Korridor, der nach Putzmittel roch. Lebt. Sie. Noch. Die Worte wiederholten sich im Takt von Pals Schritten. Er hatte nur zwei Stunden geschlafen, das war sogar für ihn wenig. Immer wieder sah er Lara Blum vor sich. Das Foto, das die Polizei veröffentlicht hatte, zeigte die Studentin in einem Tierheim, wo sie in ihrer Freizeit arbeitete. Ihre Hand lag auf dem Kopf eines Hundes, und sie schaute mit wachen, intelligenten Augen in die Kamera. Aber nicht dieses Bild war es, das die Bevölkerung in solchen Aufruhr versetzte. Mit ihrem blonden Haar und den Wangengrübchen wirkte Lara Blum wie der Inbegriff der Unschuld.
Pal nahm in dem kargen Besprechungszimmer seine Unterlagen aus der Mappe. Es waren nicht viele. Die Staatsanwältin gewährte ihm zwar Akteneinsicht, übergab ihm aber nur das Allernötigste. Pal war sich sicher, dass sie ihm auch diese Informationen vorenthalten hätte, wenn das Gesetz es zuließe. Theresa Hanisch mochte Strafverteidiger nicht. Sie betrachtete sie als Gegner, was eine gute Zusammenarbeit erschwerte. Hinzu kam, dass Pal die Staatsanwältin in einem früheren Fall vor Gericht bloßgestellt hatte. Das hatte sie ihm nie verziehen.
Pal blickte zu dem vergitterten Fenster hinüber. An Saifullahs Schuld bestand kein Zweifel. Eine Überwachungskamera hatte den Mann gefilmt, als er Lara Blum vor dem Tierheim gepackt und in einen gestohlenen Lieferwagen gezerrt hatte. Dank der schnellen Reaktion einer Tierpflegerin war das Fahrzeug sofort zur Fahndung ausgeschrieben worden. Drei Stunden später hatte die Polizei Saifullah an einer Tankstelle festgenommen. Seither waren einundvierzig Stunden vergangen. Von Lara Blum fehlte jede Spur.
Die Tür ging auf, Polizisten brachten Mustafa Saifullah herein. Er hob kaum die Füße beim Gehen, doch sein Blick zeugte von einer Entschlossenheit, die Pal beunruhigte. Den meisten seiner Klienten setzte die Untersuchungshaft zu. Es war ein beängstigendes Erlebnis, von einem Moment auf den anderen allein in einer Zelle eingesperrt zu sein, ohne zu wissen, wie es weiterging, ohne Kontakt zur Außenwelt. Viele sahen in ihrem Verteidiger den einzigen Verbündeten.
Nicht so Mustafa Saifullah. Wie schon bei der Hafteinvernahme ignorierte er Pals ausgestreckte Hand und setzte sich wortlos auf einen Stuhl. Pal nahm eine Quittung aus seiner Mappe und schob sie über den Tisch. Saifullah blickte kurz nach unten.
»Für Sie«, sagte Pal. »Ich habe zwanzig Franken auf Ihr Konto einbezahlt. Sie können sich damit am Kiosk kaufen, was Sie brauchen.« Es war ein Versuch, eine Verbindung zu ihm herzustellen. Bisher hatte Saifullah noch kein Wort gesagt, Pal wusste nicht einmal, ob er überhaupt Deutsch sprach. Ebenso wenig, ob er wirklich Mustafa Saifullah hieß. Der Name war in arabischer Schrift auf seine Brust tätowiert, genau über seinem Herz. Saifullah. Das Schwert Gottes.
Saifullah legte die Hände in den Schoß.
»Brauchen Sie sonst noch etwas?«, fragte Pal.
Saifullah schwieg.
»Herr Saifullah, können Sie mich verstehen?«
Wie ein Schwert sah der schmächtige Mann nicht aus, in diesem Moment aber hatte er mehr Macht als jeder Bewaffnete. Von ihm hing es ab, ob Lara Blum wieder nach Hause zurückkehrte. Ob sie nächsten Monat ihren zweiundzwanzigsten Geburtstag feiern, ob sie ihren Traum, Tierärztin zu werden, realisieren könnte. Falls sie noch lebte.
Mehr als hundert Polizisten waren im Einsatz. Sie durchleuchteten Lara Blums Leben, überprüften alle Personen, mit denen die Studentin in den letzten Monaten Kontakt gehabt hatte, alle Orte, an denen sie gewesen war. Dass Saifullah ihr vor dem Tierheim aufgelauert hatte, konnte Zufall sein. Vielleicht aber auch nicht. Über sein Motiv war so wenig bekannt wie über seine Person. Kannte er Lara Blum? Ihr Vater war ein wohlhabender Unternehmer, Forderungen waren jedoch keine eingegangen. Vielleicht war er ein Sexualtäter, der sich sein Opfer zufällig geschnappt hatte. Oder handelte er aus politischen Gründen? Als man ihn verhaftete, hatte er weder einen Ausweis noch ein Handy bei sich. Seine Fingerabdrücke waren in keiner Datenbank registriert.
Pal zog eine arabische und eine deutsche Ausgabe des Korans hervor und legte beide Bücher auf den Tisch. Saifullah griff nach der deutschen Übersetzung. Pal verzog keine Miene.
»Herr Saifullah, als Ihr Anwalt rate ich Ihnen zu kooperieren.« Jetzt, wo Pal wusste, dass sein Klient ihn verstand, holte er weit aus. Er erklärte, dass das Gericht ein Geständnis als strafmildernd werte, und dass es sich zu Saifullahs Gunsten auswirke, wenn er die Untersuchung vorantreibe.
Sein Klient reagierte nicht.
Pal beugte sich vor. »Sagen Sie mir, wo Lara ist.«
Es nutzte nichts. Eine halbe Stunde später packte Pal seine Sachen zusammen. Polizisten holten Saifullah ab, zusammen verließen sie das Besprechungszimmer. Jemand schob einen Wagen mit Essen vorbei, von draußen waren Polizeisirenen zu hören. Ein kräftig gebauter Gefangener kam ihnen entgegen, im Gegensatz zu Saifullah wurde er nur von einem Polizisten begleitet. Die markanten Gesichtszüge des Gefangenen wirkten vertraut. War Pal ihm schon einmal begegnet? Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie Saifullah zusammenzuckte und den Blick senkte. Kannte er den Mann? Pal glaubte schon, er habe sich Saifullahs Zucken nur eingebildet, als dieser zur Seite trat, um dem Gefangenen auszuweichen.
Pal sah ihm nach. Die dunklen Haare des Mannes waren kurz geschoren, seine Bewegungen geschmeidig. Da fiel Pal ein, bei welcher Gelegenheit er mit ihm zu tun gehabt hatte: Der Mann war als Auskunftsperson in einem Drogenfall befragt worden, an dem Pal allerdings nur am Rande beteiligt gewesen war.
Es war kurz vor zwölf, als er das Gefängnis verließ. Seine Schritte hallten im Hof, der die Militär- von der Polizeikaserne trennte. Er überlegte, ob er in der Nähe etwas essen oder sein Stammlokal aufsuchen sollte, entschied sich dann für sein Stammlokal, einen traditionellen Italiener zwei Querstraßen von seiner Kanzlei entfernt. Da Pal selten vor acht aus dem Büro kam, nahm er sich über Mittag in der Regel Zeit für eine ausgedehnte Mahlzeit. Eine Viertelstunde später begrüßte ihn ein Kellner in Weste und Fliege und empfahl das Fegato alla Veneziana. Pal setzte sich in eine ruhige Ecke und holte sein Tablet hervor. Sein Foto war nur von den Boulevardblättern veröffentlicht worden, doch eine konservative Zeitung hatte einen Artikel mit der Überschrift »Was weiß der Anwalt?« verfasst. Auf der gleichen Seite befand sich ein Artikel über eine islamische Konferenz, die abgesagt worden war. Zufall? Oder stand der Artikel dort, weil der Entführer von Lara Blum Muslim war? Auf der Medienkonferenz hatte die Polizei erklärt, es sei noch nichts über die Identität des Mannes bekannt. Von der Tätowierung wussten nur die beteiligten Ermittler.
»Gut, dass man durchgegriffen hat!« Der Patron reichte ihm die Hand, sichtlich bemüht, den Artikel über Pal zu ignorieren. »Friedenskonferenz«, fuhr er in spöttischem Tonfall fort und zeigte auf den Beitrag daneben, »da kann man nur lachen!«
Das Ereignis war als Großevent für den Frieden beworben worden. Als bekannt wurde, dass sich unter den eingeladenen Rednern auch umstrittene Islamisten befanden, hatte die Firma, die den Konferenzraum vermietete, den Vertrag mit den Veranstaltern gekündigt.
Pal schaltete das Tablet aus. »Wie geht es Ihrer Enkeltochter?«, fragte er, um das Thema zu wechseln. Vor fünf Monaten war der Patron Großvater geworden.
»Benissimo!« Jetzt strahlte der Mann. »Ihren Nonno kennt sie schon!«
Kurz darauf servierte der Kellner das Essen. Pal kaute mechanisch, seine Gedanken waren bei Lara Blum. Bis jetzt war der Juni eher kühl gewesen, doch zum Wochenende wurden Temperaturen von bis zu dreißig Grad erwartet. Hatte sie Wasser? Pal schob den halb vollen Teller beiseite und verlangte nach der Rechnung. In einer Stunde erwartete er einen neuen Klienten, einen Unternehmer, dem die Wettbewerbskommission eine Strafe wegen Missbrauchs der Marktmacht aufgebrummt hatte. Eigentlich liebte Pal komplexe Wirtschaftsfälle, jetzt aber fiel es ihm schwer, sich in einen anderen Fall zu vertiefen.
Er verabschiedete sich von dem Patron und machte sich auf den Weg in die Kanzlei, deren Räume er sich mit zwei weiteren Anwälten teilte. Schon von Weitem sah er die Journalisten, die vor dem renovierten Altbau warteten. Ein Wagen des Schweizer Fernsehens stand auf dem Besucherparkplatz, dahinter hatten sich neugierige Passanten versammelt. Am liebsten hätte Pal gewendet. Da entdeckte ihn eine Reporterin und rief: »Er kommt!« Die Masse setzte sich in Bewegung, wie ein Heer kam sie auf Pal zu. Er straffte die Schultern und stählte sich gegen die Speerspitzen.
»Hat er Ihnen gesagt, wo er sie versteckt?«
»Haben Sie gar keine Skrupel, dieses Schwein zu verteidigen?«
»Ist sie tot?«
»Wird die Familie erpresst?«
»Hat er sie vergewaltigt?«
Blitzlichter, Mikrofone, noch mehr Fragen. Endlich erreichte Pal die Eingangstür. Nur mit Mühe gelang es ihm, die Meute daran zu hindern, ihm ins Treppenhaus zu folgen.
Die Kanzlei befand sich im dritten Stock. Kühle Luft schlug Pal entgegen, als er eintrat. Lisa Stocker, die den Empfang besetzte, sah ihn mit undurchdringlichem Blick an. Sie folgte ihm in sein Büro und wartete, bis er sein Jackett an einen Bügel gehängt hatte.
»Dein neuer Klient hat seinen Termin abgesagt.« Lisa schloss die Tür. »Er will sich von einer Großkanzlei vertreten lassen.«
Pal brauchte einen Moment, um die Information zu verarbeiten. »Hat er gesagt, weshalb?«
»Das sei anonymer.«
Mit anderen Worten, er wollte nicht mit Pal in Verbindung gebracht werden. Pal setzte sich. Er verstand. Der Mann konnte sich keine schlechte Presse leisten. Der Verlust des Klienten führte Pal vor Augen, worauf er sich mit der Verteidigung Saifullahs eingelassen hatte.
Lisa nahm auf einem der ledernen Besuchersessel Platz und zupfte ihre Seidenbluse zurecht. »Willst du nicht öffentlich Stellung beziehen?«
»Soll ich mich dafür entschuldigen, dass ich meinen Beruf ausübe?«, fragte Pal scharf.
»Vielleicht könntest du erklären, dass du dir den Klienten nicht ausgesucht hast. Viele wissen nicht, dass es eine Pikettliste gibt. Auch nicht, wie schwierig es ist, ein amtliches Mandat wieder abzulegen.«
»Das käme einem Parteiverrat gleich.« Pal schüttelte den Kopf. »Meine Aufgabe ist es, meinen Klienten zu schützen, nicht, ihn ans Messer zu liefern.«
Lisa seufzte und stand auf. »Dann wünsche ich dir viel Glück, denn ich glaube kaum, dass sich in diesem Fall jemand für die Rechte deines Klienten interessiert.«
Sie verließ das Büro, und Pal schloss die Augen. Ob die Polizei schon Fortschritte erzielt hatte? Wusste man dort, dass Saifullah Deutsch sprach?
Pal griff nach einem Modellmotorrad, sein Neffe Rinor hatte es ihm vor zwei Jahren zum Opferfest geschenkt. Pal dachte daran, dass er Rinor versprochen hatte, ihn auf die Rennstrecke mitzunehmen. Supermotorennen fuhr Pal dieses Jahr zwar keine, er trainierte aber trotzdem, wenn er Zeit dazu fand. Mit dem Finger drehte er am Vorderrad des Superbikes. Ob er Anzeige erstatten sollte? Geschäftsschädigende Verleumdung durch die Zeitung musste er sich nicht gefallen lassen. Andererseits würde er damit erst recht Schlagzeilen machen. Er stellte das Motorrad an seinen Platz zurück und schaltete den Computer ein. Eigentlich sollte er ein Plädoyer überarbeiten, das er am nächsten Tag vor Gericht halten würde. Stattdessen suchte er nach dem alten Drogenfall.
Er fand den Namen des Gefangenen in einem Protokoll der Stadtpolizei. Claudio Klepic war vor vier Jahren als Auskunftsperson vorgeladen worden, hatte aber keine relevanten Aussagen gemacht. Eine Internetsuche ergab weitere Treffer. Der 38-Jährige war zweifacher Europameister im Thaiboxen, vor drei Jahren hatte man ihn wegen Drogendelikten zu einer Gefängnisstrafe auf Bewährung verurteilt. Jetzt saß er wieder in Untersuchungshaft, diesmal wurde ihm Körperverletzung vorgeworfen. Pal klickte sich durch die Einträge und erfuhr, dass Klepic in der Kampfsportschule Fight unterrichtete.
Hatte Mustafa Saifullah ihn dort kennengelernt? Boxte sein Klient? Besonders sportlich sah er nicht aus. Pal legte die Fingerkuppen aneinander. Je mehr die Polizei über Saifullah wusste, desto größer die Chance, Lara Blum lebend zu finden. Aber Pal war an das Berufsgeheimnis gebunden. Zwar hatte Saifullah kein Wort gesagt, doch Pal war im Rahmen seines Mandats auf die Information über Klepic gestoßen und durfte sie deshalb nicht weiterleiten.
Er ging auf die Website der Kampfsportschule und klickte sich durch das Angebot. Dabei dachte er an Jasmin, die Schweizer Juniorenmeisterin im Jiu-Jitsu gewesen war. Auf einmal wünschte er sich nichts sehnlicher, als sie in den Armen zu halten, ihren durchtrainierten Körper an sich zu ziehen, ihre weichen Brüste zu streicheln, ihren Herzschlag zu spüren.
Er richtete sich auf und griff nach dem Telefonhörer. Er hatte die Nummer der Altersresidenz schon gewählt, als ihm einfiel, dass Jasmin um diese Zeit beschäftigt war. Nach dem Abendessen setzte sie sich immer zu den Bewohnern. Pal legte wieder auf. Er hatte sich den Samstag für den neuen Klienten reserviert, nun hatte er unerwartet frei. Für Lara Blum konnte er nichts tun, für Mustafa Saifullah genauso wenig. Wenn er sein Versprechen jetzt nicht einlöste, würde er es nie machen, dachte er und blickte auf das Motorradmodell.
Rinor meldete sich sofort.
»Keine Schule heute?«, fragte Pal.
»Schnuppertag.«
»Dann rufe ich später an, ich will dich nicht stören. Wann bist du fertig?«
»Ich bin schon fertig.«
»Um diese Zeit? Wo schnupperst du?«
»Teppichgeschäft.«
Pal war überrascht. Seit der vierten Klasse träumte Rinor davon, Motorradmechaniker zu werden. Pal fragte, wie ihm der Schnuppertag gefallen habe, sein sonst gesprächiger Neffe gab sich aber wortkarg.
»Magst du am Wochenende mit mir ins Elsass fahren?«, fragte Pal. »In Biltzheim gibt es eine neue Rennstrecke. Wir könnten Supermoto oder Cross trainieren.«
»Keine Zeit.«
Pal glaubte, sich verhört zu haben.
»Muss los. Man sieht sich.« Rinor legte auf.
Pal starrte das Telefon an, als könnte ihm das Gerät eine Erklärung für das seltsame Verhalten seines Neffen liefern. Hatte Rinor ein Mädchen kennengelernt? Pal wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Zwei Stunden später hatte er sein Plädoyer immer noch nicht überarbeitet. Dafür hatte er eine Ahnung, woher sich Mustafa Saifullah und Claudio Klepic kannten. In einem Zeitungsbeitrag war von einem Schweizer die Rede, der die Kampfsportschule Fight besucht hatte, vor einigen Jahren nach Syrien gereist war und sich der Terrororganisation Islamischer Staat angeschlossen hatte.
Das Schwert Gottes. Pal vermutete, dass sich auch Mustafa Saifullah im Fight praktische Kenntnisse im Kampf gegen sogenannte Ungläubige angeeignet hatte. Was aber hatte Lara Blum damit zu tun?
Die Fotoalben stehen auf dem obersten Brett im Wandschrank, ich muss mich auf die Zehenspitzen stellen, um sie zu greifen. Ich streiche mit der Hand über die sieben Buchrücken, spüre Samt, Pappe, Stoff, Kunststoff. Im Laufe der Jahre hat sich das Angebot in der Schreibwarenabteilung verändert, kein Album passt zum anderen. Ich hätte damals gleich mehrere kaufen sollen, das hätte Peter gefallen. Kann man von einer Mutter verlangen, dass sie bei der Geburt ihres Kindes an die Endlichkeit denkt?
Ich ziehe das erste Album heraus und setze mich damit auf den Boden. »Delia« steht in Goldbuchstaben auf dem hellblauen Umschlag. Peter hat die Stirn gerunzelt, damals. Hellblau für ein Mädchen? Dabei bin ich diejenige, die an Konventionen hängt. Peter wollte unsere Tochter weder taufen noch konfirmieren lassen, mir waren diese Rituale wichtig. Delia sollte wissen, wo sie hingehört, damit sie später ihre eigene Identität entwickeln konnte. Das Hellblau kam mir vor wie ein Versprechen: Sie wird ihren Weg finden, er mag unkonventionell sein, unerwartete Wendungen nehmen, doch es ist ihr eigener Weg, kein ausgetretener Pfad, dem sie folgt.
Ich schlage die erste Seite auf, und da ist sie. Mein Engel. Mein Ein und Alles. Die Hände zu Fäusten geballt, die Beinchen angezogen, das Gesicht dunkelrot. »Woher hat sie die schwarzen Haare?«, fragte Peter erstaunt.
Unter dem Bild, ein Fußabdruck. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Immer ist es der Fußabdruck, der mich aus der Fassung bringt. Die Fotos wecken Erinnerungen, die durch meine Wahrnehmung gefiltert wurden, der Fußabdruck aber ist nicht in meinem Kopf entstanden, er gehört Delia, ihr Fuß hat das Album berührt, dem trockenen Papier Leben eingehaucht. Ich küsse die Tinte, glaube, den zarten Duft meiner Tochter zu riechen. Als eine Träne meine Wange hinunterrinnt, wische ich sie rasch weg, damit sie nicht ins Album tropft.
Ich blättere um. Delia in Peters Armen. Delia an meiner Brust. Delia im Kinderwagen. Delia im Tragetuch. Ihr erstes Lächeln, ihr erster Zahn. Ich spüre ihn auf meiner Haut, höre Peter, der fragt, ob er ein Fläschchen kaufen soll. Die Vorstellung brachte ein Verlustgefühl in mir mit sich, das viel schwerer zu ertragen war als der körperliche Schmerz, den der Zahn verursachte. Eine Seite weiter steht Delia auf beiden Beinchen. Wann hat sie sitzen gelernt? Das Leben eines Kindes ist unberechenbar, manchmal füllen unbedeutende Momente ganze Seiten, manchmal fehlen wichtige Ereignisse. Ich habe kein Foto von ihr, als sie zum ersten Mal ohne fremde Hilfe sitzt, dafür habe ich Schritt für Schritt dokumentiert, wie sie aus Holzklötzchen einen Turm baut. Immer wieder hat sie Türme gebaut, nur, um sie niederzureißen. Mich hat das beunruhigt, Peter aber meinte, das sei normal. Woher wollte er wissen, was normal ist? Delia war auch sein erstes Kind. Aber ich glaubte ihm, ich glaubte alles, was er sagte. Jetzt frage ich mich, ob unser Leben harmonischer verlaufen wäre, wenn Delia gelernt hätte, ihre Zerstörungswut zu zügeln. War es ein Fehler gewesen, dass ich sie gewähren ließ? Wie gefestigt ist der Charakter eines Kindes? Niemand kann mir meine Fragen beantworten, damals nicht und heute nicht.
Ich höre, wie die Haustür aufgeht. Die Zeit ist mir zwischen den Fingern zerronnen, viel zu schnell kehre ich in die Gegenwart zurück. Wie eine Taucherin, die den Druckausgleich überspringt.
»Mama?« Tims Stimme ist unsicher.
Dieser Schmerz. In jeder Zelle meines Körpers. In Gedanken nehme ich die Gebrauchsanleitung hervor, die mir meine Therapeutin mitgegeben hat. Tief durchatmen. Den Blick auf einen Gegenstand richten, mich daran festhalten. Ich wähle das Kissen auf meinem Bett. Sandfarben, Rhomben in Eierschalenweiß. Ich stelle mir vor, wie sich die Baumwolle auf meiner Wange anfühlt, wie ich darin versinke. Der Stoff riecht muffig, ich muss die Bettwäsche waschen.
»Mama?«, wiederholt Tim.
»Hier bin ich, Schatz.«
Ja, ich bin hier. Ich stelle das Album zurück, schließe den Schrank. Die Tür zur Vergangenheit ist zu. Ich sehe Tims schmales Gesicht, die Haare stehen ihm am Hinterkopf ab, ein blondes Vogelnest. Habe ich vergessen, sie am Morgen zu bürsten?
»Ich darf die Hauptrolle im Schultheater spielen?« Er verkündet die Neuigkeit als Frage, wartet auf meine Erlaubnis, Freude zu zeigen. Seine Unsicherheit tut mir weh, da ist aber auch Wut. Tim richtet sich nach meiner Gemütsverfassung, als wäre ich ein Metronom, das ihm den Takt vorgibt. Wie anders Delia doch war! Sie gab immer den Ton an, sie ließ sich von niemandem beeinflussen. Ich sehe sie vor mir, wie sie die Arme vor der Brust verschränkt, das Kinn in die Höhe reckt und wartet, bis mir die Argumente ausgehen. Die dunklen Locken stehen ihr vom Kopf ab, die Augen blitzen.
Tim senkt den Blick.
Ich umarme ihn, drücke ihm einen Kuss auf den Kopf. »Das ist großartig, ich gratuliere!« Ich versuche, mich daran zu erinnern, wie das Stück heißt, das seine Klasse aufführt. »Bist du hungrig?«, frage ich, als es mir nicht einfallen will.
Er nickt.
Wir gehen zusammen in die Küche, meine Einkäufe stehen auf dem Tisch. Ich wühle in der Tüte, da müsste Pudding drin sein. Ich habe doch Pudding gekauft? Endlich finde ich ihn. Ich reiche Tim einen Becher und hole einen Löffel aus der Besteckschublade. Eine alltägliche Handlung, aber sie fühlt sich schwer an, kostet mich Kraft. Mein Körper muss wieder lernen, sich zu bewegen.
Ich spüre Tims Blick in meinem Rücken und drehe mich um. Er sieht mich ängstlich an, hat die Hände zwischen die Beine geklemmt. Ich lege den Löffel auf den Tisch, zögerlich greift er danach. Erst als ich ihn dazu auffordere, reißt er den Deckel vom Becher.