Dietmar Grieser

Wien

Wahlheimat der Genies

Mit 31 Abbildungen

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© 2019 by Amalthea Signum Verlag, Wien

Allen Zuzüglern gewidmet, die guten Willens sind

Inhalt

Vorwort

Wahlwiener in der Politik

Der Söldner aus Paris

Prinz Eugen von Savoyen

Eine gute Partie

Clemens Lothar Wenzel von Metternich

Der Kammerdiener Seiner Majestät

Jean Baptiste Cléry

Der Lichterbaum

Henriette von Nassau-Weilburg

Wundersame Verwandlung

Mitsuko Aoyama

Die Mutter Teresa von Wien

Hildegard Burjan

Wahlwiener in der Literatur

Geheime Niederkunft

Ottilie von Goethe

Das Wunder von Wien

Friedrich Hebbel

Wahlwiener am Theater

Auf stillen Praterpfaden

Adele Sandrock

»Ich werde bestimmt sehr berühmt!«

Raoul Aslan

Wie spielt man Mädel aus dem Volk?

Rosa Albach-Retty

Kein Heim wie jedes andere

Hilde Wagener

Schnitzel nein, Strudel ja

Samy Molcho

Wahlwiener in der Musik

Mozarts Geist aus Haydns Händen

Ludwig van Beethoven

Der Bösewicht vom Dienst

Antonio Salieri

Scheidung aus Liebe

Michiko Tanaka-Meinl

Viel unterwegs

Die Pianistin Elisabeth Leonskaja

»Kiss me, Olive!«

Olive Moorefield

Sprechen Sie Wienerisch?

Horst Winter

Wahlwiener in der Architektur

Heldenplatz

Anton Dominik Fernkorn

»Hier ruhet in Gott ein deutscher Steinmetz …«

Friedrich von Schmidt

Denkmal zu Lebzeiten

Theophil Hansen

Wahlwiener in der Medizin

Kaiserliche Halskrausen

Gerard van Swieten

An güldenen Ketten

Theodor Billroth

Wahlwiener im Sport

Wirtschaftsflüchtling anno dazumal

Matthias Sindelar

Wahlwiener in der Wirtschaft

Der Drei-Gulden-Sessel

Michael Thonet

»Mit den Fingern, Majestät!«

Johann Georg Lahner

Der Hummerkönig

Attila Doğudan

Waren aller Art

Alfred Gerngross

Zur rechten Zeit am rechten Ort

Fred Adlmüller

Text- und Bildnachweis

Namenregister

Vorwort

Als Römer, so sagen die Römer, muss man geboren sein. Berliner, so wissen wir seit Kennedy, wird man kraft Bekenntnisses.

Wie wird man Wiener?

Durch Übersiedlung?

Durch Anpassung?

Aus Überzeugung?

Am Ende gar aus Liebe?

In diesem Buch wird der Versuch unternommen, der Sache auf den Grund zu gehen – an ausgewählten Beispielen aus vergangener wie neuerer Zeit. Ihnen allen – dreißig von Tausenden und Abertausenden – ist Wien zur Wahlheimat geworden. Doch wie ist es dazu gekommen, wie hat es funktioniert? Was an dieser Stadt hat sie angezogen, wie hat sie sie aufgenommen, und womit haben sie – im Gegenzug – sich revanchiert?

Leicht ließe sich ein ganzes Lexikon mit ihren Namen füllen. Das Wiener Telefonbuch verrät es auf einen Blick: Die Hauptstadt der Republik Österreich ist in ethnischer Hinsicht ein Sammelbecken sondergleichen. Und in noch ungleich höherem Maße galt dies für die Zeit, da Wien die Metropole eines großen Reiches war: Europas Kulturgeschichte der Neuzeit ist zu einem Gutteil eine Geschichte der in Wien heimisch gewordenen Zuzügler.

Prinz Eugen kam aus Frankreich, Gerard van Swieten und Nikolaus von Jacquin aus den Niederlanden, Theophil Hansen aus Dänemark, Lorenzo Da Ponte und Antonio Salieri aus Venetien, Raoul Aslan aus Griechenland, der spanischstämmige Alfred Piccaver aus England. Beethoven und Brahms, Gluck und Schikaneder sind gebürtige Deutsche, desgleichen Metternich und Gentz, Fernkorn und Semper, Billroth, Thonet und Hebbel. Johann Ulrich Megerle, der sich in Wien Abraham a Sancta Clara nannte, stammte aus dem Badischen, Goethes Schwiegertochter Ottilie aus Westpreußen. Michiko Tanaka und Mitsuko Aoyama waren Japanerinnen, und Angelo Soliman, das vielleicht wunderlichste Exemplar in dieser Galerie der Wahlwiener, kam aus Afrika.

Kommen wir zu den Lebenden: Wander Bertoni, 1925 in der italienischen Provinz Reggio Emilia geboren, kam mit 18 als Zwangsarbeiter nach Österreich – zur »Wahlheimat« wurde es ihm erst mit den ersten großen Nachkriegserfolgen als Bildhauer. Der Pantomime Samy Molcho stammt aus Israel, die Pianistin Elisabeth Leonskaja aus Russland, die Sängerin Olive Moorefield aus den USA. Die Muttersprachen der Schriftsteller Ilja Trojanow und Radek Knapp sind Bulgarisch beziehungsweise Polnisch; die ersten Worte, die der Gastronom Attila Doğudan sprach, waren türkisch, die der Opernsängerin Mimi Coertse afrikaans. Dass Letztere, über drei Jahrzehnte einer der Lieblinge des Wiener Publikums, in späteren Jahren in ihre Heimat Südafrika zurückkehrte, haben manche nicht verstanden, so eng war Mimi Coertse mit Wien verbunden (wo sie nicht nur auf der Staatsopernbühne, sondern – man denke – auch mit Wienerliedabenden brillierte!).

Die Liste der prominenten Wahlwiener, ob lebend oder verstorben, ließe sich in jegliche Richtung fortsetzen. Aber sind sie deswegen auch schon allesamt Genies im klassischen, im strengen Wortsinn? Nicht erst die jüngste Ausgabe des Duden meidet alles Elitäre, lässt auch Meisterschaft und Ideenreichtum als »genial« gelten, Scharfsinn und Talent. Was unsere Kandidatinnen und Kandidaten – und mit ihnen eine Riesenzahl Namenloser, ob böhmischer Schneider oder Gottscheer Amme, ob bosnische Programmiererin oder persischer Kinderarzt – jedenfalls gemeinsam haben: Von fernher zugezogen, haben sie ihre weit über dem Durchschnitt liegende Lebensleistung allesamt in Wien erbracht. Und damit Wien um ebendiese bereichert. Fremdenfeindlichkeit ist eines der Schlagworte unserer Tage, und auch oder gerade Wien hat sich damit herumzuschlagen. Im vorliegenden Buch geht es um das Gegenteil: um Fremdenfreundlichkeit. Und um die Früchte, die diese Fremdenfreundlichkeit getragen hat und trägt.

Leser meiner Bücher haben mir, als sie von meinem neuen Buchprojekt erfuhren, zugeredet, bei dieser Gelegenheit auch einiges zu meiner eigenen Person zu sagen – ich sei doch ebenfalls ein gutes Beispiel dafür, wie ein Zugereister Teil dieser Stadt werden, in Wien zu beruflicher Erfüllung, ja zu seinem Lebensglück finden kann.

Also gut, ein paar Streiflichter aus jener Übergangsphase, da sich der Wunsch des Kennenlernens zum Entschluss des Dableibens verfestigte, will ich gern beisteuern. Wer sich davon freilich eine feierliche Deklaration, das große patriotische Credo erwartet, wird enttäuscht sein: Mehr als in jeder anderen Stadt sind es in Wien die kleinen Dinge des Alltags, die über Affinität (oder auch Abneigung) entscheiden. Ich hatte das Glück, vom ersten Tag an in Richtung Affinität punkten zu können.

In Hannover geboren, in Oberschlesien beziehungsweise der Saarpfalz aufgewachsen, war nach Lehrjahren in Münster wohl auch ein erster Auslandsaufenthalt fällig. Einer meiner Professoren, selbst in hohem Maße Wien-affin, schickte mich in die Stadt an der Donau. Das war damals, drei Jahre nach Abschluss des österreichischen Staatsvertrages, töricht bis tollkühn (an Vorsehung mag ich nicht glauben). Wenn, dann ging man zu jener Zeit den umgekehrten Weg: In Deutschland war mehr zu verdienen, die Leute waren besser gekleidet, undenkbar dort solche trödelnden Straßenbahnen, solche abscheulichen Wohnungen mit Stiegenhaus-Klo.

Ich kam mit dem Nachtzug auf dem Westbahnhof an, also auch noch zu einer unmöglichen Zeit: 6 Uhr früh. Und dann dieser missmutige Kleinbeamte am Gepäckschalter, der meinen Koffer in Verwahrung nahm, das fensterlose Hotelzimmer im Dunstkreis der Donaukanalratten, nur ein Masochist konnte solch geballter Unbill Reize abgewinnen. Es war wohl ein bisschen so, wie man später aus dem Westen in den Osten reiste – es deprimiert, aber es richtet zugleich auch auf: Da hat’s unsereins halt besser, schau dir das ein paar Tage an, dann nix wie wieder weg.

Ich aber blieb.

Es traten Ereignisse in mein neues Leben, die mich in eine Art permanentes Entzücken versetzten – und zugleich in Neugier, was denn wohl das Nächste sein werde. Eine Phase nicht enden wollender Prolongierungen.

Ich wohnte damals mitten im Warenhausviertel der Mariahilferstraße, in einer der weniger turbulenten Seitengassen kaufte ich meine täglichen Lebensmittel ein. Ich war Stammkunde, man kannte meine Präferenzen, die Frau am Wurststand rief, sobald sie meiner ansichtig wurde, schon von Weitem ihr fröhliches »Zehn Deka Baskische – wie immer?«, und ich bejahte ebenso fröhlich. Auch als ich der »Baskischen« längst überdrüssig war, blieb ich dabei – die Ärmste hätte sich’s zu Herzen genommen.

Dann, von einem bestimmten Tag an, blieb die Baskische aus, und so sehr sich die Händlerin auch bemühte, der Artikel war nicht wieder aufzutreiben. Mir kam es wie gerufen, nur sie schien damit nicht fertigzuwerden – immer wieder kam sie auf den wunden Punkt zurück, klagend das eine, zuversichtlich das andere Mal: Nur nicht verzagen, noch sei nicht alles verloren, sie werde schon wieder geliefert werden, die Baskische.

Es kam der Tag, an dem ich aus dem 7. in den 3. Bezirk umzog, natürlich ging ich nun in andere Geschäfte einkaufen, und so sehr ich es mir auch vorgenommen hatte: Nie wieder betrat ich meinen lieben alten Greißlerladen von einst.

Drei Jahre später kam ich an einem Sonntag, auf dem Weg zu einem Bekanntenbesuch, durch das bewusste Viertel. Eine Frau mittleren Alters, sonntäglich aufgeputzt, versperrte mir unter tausend Entschuldigungen den Weg: »Nicht bös’ sein, dass ich Sie mitten auf der Straße ansprech’, aber ich wollt’ Ihnen nur sagen, die Baskische wär’ wieder da.«

Es war die Frau vom Wurststand. Sie war fest davon überzeugt, dass ich nur ausgeblieben war, weil sie mit ihren Bemühungen um die Wiederbeschaffung der Baskischen gescheitert war. Nun endlich, nach Jahren, war die Sache aus der Welt geschafft.

Es mag schon sein, dass es in den großen Dingen sehr oft drunter und drüber geht in dieser Stadt – in der Art, wie sie sich in die kleinen verbeißt, im Bösen wie im Guten, stellt sie tagtäglich ihre eigenen Rekorde ein.

Als seinerzeit die Mode der schulterlangen Männerhaare auch Österreich (und mich) erreichte, kam das Wort auf: »In Wien drehen sich sogar die Langhaarigen nach den Langhaarigen um.« Na schön, anderswo laufen sie eben aneinander vorbei. Auch das Sich-Umdrehen aus Missgunst ist noch immer eine Art von Kommunikation.

Das Café H. im 3. Bezirk wurde mein erstes Stammquartier. Es lag günstig, nahm mich durch seinen unprätentiösen Gebrauchscharakter für sich ein und ließ sich vor allem in jeder gewünschten Weise nutzen. Ich weiß, es riecht nach Anekdote, doch es ist die reine Wahrheit: Wann immer ich eine heikle Situation zu bestehen, eine schwierige Verhandlung zu führen hatte, wählte ich dieses Lokal zum Austragungsort und gab den Besitzerinnen – zwei Schwestern, die sich den Tag- und Nachtdienst teilten – vorher die entsprechenden Direktiven: wie ich im gegebenen Fall anzureden, welche Aura um mich zu verbreiten, mit welchen Stichworten mir beizustehen sei. Es hat jedes Mal vorzüglich geklappt, und ich täusche mich nicht: Es hat den beiden auch noch Spaß gemacht.

So also wird man Wiener?

Es ist der Punkt gekommen, wo ich gestehen muss: Auch Erpressung war im Spiel. Es war zu einer Zeit, als ich ganz gut verdiente, eine mir befreundete Familie hatte einen momentanen finanziellen Engpass zu überwinden, ich sprang mit einem Darlehen ein. Schon wenige Monate später wäre ohne alle Mühe die Rückzahlung möglich gewesen, dennoch wurde sie von Jahr zu Jahr hinausgeschoben – und immer mit der Begründung: Du weißt, wie sehr wir an dir hängen, wir wollen nicht, dass du auf dumme Gedanken kommst, am Ende gehst du weg aus Wien, wir haben beschlossen, das Geld auf ein Sperrkonto zu legen. Am Tag, als ich im Wiener Rathaus mein frisches Staatsbürgerschaftsdekret in Händen hielt, wurde das Konto geöffnet – wohlverzinst.

Selbstverständlichkeiten darf ich hier beiseitelassen: dass es mir längst auch die Schönheit der Stadt angetan hatte, ihr kultureller Reichtum, das riesige Reservoir, aus dem ich schöpfen konnte, als ich begann, Bücher zu schreiben. Wien war und ist die ideale Bodenstation für meine literaturtopografischen Umtriebe. Alles an einem Ort, alles in Reichweite: Bibliotheken und Kunstsammlungen, Kulturinstitute und Botschaften, Verkehrsmittel und – die »richtigen Leut’«.

Bald kam auch das anheimelnde Echo aufs erste Österreich-Buch: die stolze Hausbesorgerin, die darauf bestand, das Ereignis mit einem wappengeschmückten Guglhupf zu feiern, der patriotische Ministerialrat, der sich zu der Wunschvorstellung verstieg, den schreibenden Neubürger (wortwörtlich) »in die österreichische Nationalflagge einzuwickeln«. Gleichzeitig konnte ich lässig auf totale Assimilierung verzichten. Niemand hinderte mich daran, weiterhin »hinten« zu sagen, wenn ich – wie ortsüblich – »rückwärts« in die Straßenbahn stieg; im Gegensatz zu Bayerns Preußen kam ich ohne alle Landestrachtanbiederung aus, und wenn man, einem hiesigen Hang zur Slawisierung folgend, meinen deutschen Familiennamen mitunter zum böhmischen »Krisa« verfremdete, wertete ich es als Zeichen gelungener Integration in meine Wahlheimat Wien.

Doch genug von mir. Wenden wir uns den anderen zu, den Großen, den Berühmten. Wie lief’s bei denen?

Wahlwiener in der Politik

Der Söldner aus Paris

Prinz Eugen von Savoyen

Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie und leidenschaftliche Sigmund-Freud-Antipode, hat dem Phänomen eines seiner Hauptwerke gewidmet: Studie über die Minderwertigkeit von Organen. Kernaussage: Jeder Mensch ist von seinem organischen Aufbau her unvollkommen. Aber ebendiese Minderwertigkeit ist es, die ihn zu außergewöhnlichen Kompensationsleistungen anspornen kann. Beispiel Clara Schumann: Weil sie von Kindheit an unter Sprechstörungen leidet, geht sie umso mehr in der Musik auf und wird zur meistgefeierten Klaviervirtuosin ihrer Zeit. Demosthenes, der größte Redner der griechischen Antike, ist von Haus aus ein Stotterer, der Komponist Friedrich Smetana leidet an einem Gehörfehler, der Maler Toulouse-Lautrec ist aufgrund einer Erbkrankheit kleinwüchsig und hinkt.

Auch Prinz Eugen ist ein »Zwerg«. Wenn man Alfred Adlers Theorie folgt, wird er nicht trotzdem, sondern eben deswegen der größte Feldherr seiner Zeit.

Kaiser Wilhelm II., dessen linker Arm verkümmert ist, legt sich ein besonders säbelrasselndes Gehabe zu – Schulbeispiel für Alfred Adlers zweite These: Organische Unzulänglichkeit stachelt nicht nur zu Kompensationsleistungen an, sondern begründet auch den Drang zur Macht. Um sich zu behaupten, versucht der scheinbar Unzulängliche umso vehementer, seine Mitmenschen zu beherrschen.

Als der knapp zwanzigjährige Eugen Franz von Savoyen-Carignan den Entschluss fasst, das Habit des Geistlichen, das ihm so gar nicht passen will, gegen den Militärrock zu tauschen, und König Ludwig XIV. seine Dienste anbietet, weist ihn dieser aufgrund seiner Kleinwüchsigkeit schroff zurück und treibt ihn so ins Lager Österreichs: Kaiser Leopold I. nimmt den verfemten Fremdling mit offenen Armen auf. Genau sechs Monate nach der demütigenden Audienz am Pariser Hof von Versailles betritt Eugen zum ersten Mal jene Stadt, die ihm fortan zur zweiten Heimat werden soll: Wien.

Der am 18. Oktober 1663 im Hôtel de Soissons zu Paris Geborene ist das fünfte Kind des Grafen Eugen Moritz von Savoyen-Carignan, der sich zwar verwandtschaftlicher Beziehungen mit drei der großen Herrscherhäuser Europas – den Bourbonen, den Habsburgern und den Wittelsbachern – rühmen darf, selbst aber, ein unbedeutender General der französischen Armee, am Spieltisch bessere Figur macht als auf dem Schlachtfeld. Die Mutter ist Italienerin: Olympia von Manzini, eine Nichte des Kardinals Mazarin, der bis zum Ablauf der Minderjährigkeit des späteren Sonnenkönigs die Geschicke Frankreichs lenkt, erfreut sich der Gunst des Hofes, solange Ludwig XIV. sich ihrer als Mätresse bedient – später, als Verstoßene, schlägt’s ins genaue Gegenteil um. Eugens Elternhaus, übrigens auch nicht mit materiellen Gütern gesegnet, könnte man also eine gute Familie mit schlechtem Ruf nennen.

Eugen ist noch keine zehn Jahre alt, da wird er Halbwaise: Ein mysteriöses Fieber beendet das Leben des erst 38-jährigen Vaters. Als sechs Jahre darauf in Paris eine Serie von Giftmorden aufgedeckt wird, für die man die Wahrsagerin und Quacksalberin Catherine Deshayes verantwortlich macht, droht auch Eugens Mutter Olympia ein Strafprozess: Die beiden Frauen, heißt es, hätten miteinander konspiriert. Und obwohl der Verdacht des Gattenmordes jeglicher Grundlage entbehrt, ist das schlimme Gerücht nicht zum Verstummen zu bringen, teuflische Intrigen bei Hof tun ein Übriges, und so bleibt der Vierzigjährigen keine andere Wahl, als den Weg in die Verbannung anzutreten: Sie flieht nach Brüssel.

Im Hôtel de Soissons übernimmt unterdessen Eugens Großmutter das Regiment: Für den 17-Jährigen brechen freudloskarge Zeiten an. Statt mit Leuten von Stand verkehrt er mit den Kammermädchen und Bediensteten; die tratschsüchtige Liselotte von der Pfalz, die in die Verhältnisse Einblick zu haben scheint, nennt den Prinzen in einem Brief an die Kurfürstin Sophie von Hannover einen »schmutzigen, gar liederlichen Buben, der zu nichts Rechtem Hoffnung gibt«. Auch seiner äußeren Erscheinung kann sie nur wenig abgewinnen: »Wenn Prinz Eugen nicht anders geworden ist, werden Euer Liebden ein kurz aufgeschnupftes Näschen, ein ziemlich langes Kinn und so kurze Oberlefzen sehen, daß er den Mund allzeit ein wenig offen hat und zwei breite Zähne sehen läßt …«

Was soll aus so einem verwachsenen »Gnom« werden? Die Familie denkt an Abschiebung, Mutter Kirche möge sich seiner annehmen; als Gegenleistung wird die Abtretung von Pfründen in Savoyen und Piemont erwogen. Kaum den Kinderschuhen entwachsen, wird Eugen also – es ist das Jahr 1681 – zum »Abbé« geweiht. Ihn selbst reizt die geistliche Laufbahn freilich kein bisschen – bereits als Halbwüchsiger hat er die Lektüre Cäsars und Alexanders des Großen dem Studium der Heiligen Schrift vorgezogen, und so legt er schon nach Kurzem – in einem beispiellosen Akt des Aufbegehrens – die geistlichen Gewänder ab und taucht, aus dem Elternhaus verstoßen, im Freundeskreis unter. Von einem ominösen Bader ist die Rede, der ihm Unterschlupf gewährt, von gutgestellten Mitgliedern der Pariser jeunesse dorée, die ihm zu Darlehen verhelfen, von »schönen Pagen«, mit denen es zu homoerotischen Ausschweifungen kommt. Wieder zeigt sich Liselotte von der Pfalz vortrefflich informiert, in einem Brief an eine ihrer Freundinnen schreibt sie: »Als er den geistlichen Habit quittierte, hießen ihn die jungen Leute nur Madame Simone und Madame Cansiene, denn man pretendierte, daß er oft bei jungen Leuten die Dame agierte. Da seht ihr wohl, daß ich den Prinzen Eugen gar wohl kenne.«

Unter seinen Vertrauten ist ein gewisser Louis-Armand Conti ein besonders enger Freund. Vermählt mit einer legitimierten Tochter Ludwigs XIV. aus dessen Liaison mit der Herzogin de la Vallière, verfügt dieser über beste Beziehungen zum Hof und kann für Eugen im März 1683 eine Audienz beim König erwirken. Der 19-Jährige möchte sich als Offizier bewähren, ersucht Seine Majestät um einen guten Platz in der Armee. Doch ob es nun seine wenig stattliche Erscheinung ist oder gar das Zerwürfnis seiner Mutter mit dem Monarchen, der die einstige Geliebte aus Frankreich verbannt hat – Ludwig XIV. weist den Petenten brüsk ab. In späteren Jahren auf diesen Vorfall angesprochen, wird der König laut Überlieferung antworten: »Die Bitte war bescheiden, aber der Bittsteller nicht. Noch nie nahm sich jemand heraus, mir so frech wie ein zorniger Sperber ins Gesicht zu starren.«

Der »zornige Sperber«, zutiefst enttäuscht und verletzt, fasst daraufhin den Entschluss, der Heimat, die seine Dienste so schnöde verschmäht, den Rücken zu kehren und sein Glück bei den Habsburgern zu versuchen, die gerade alle Hände voll zu tun haben, dem Vormarsch der Türken auf Wien Einhalt zu gebieten. Österreich braucht tüchtige Soldaten, fieberhaft ist Kaiser Leopold I. am Werk, ein Entsatzheer aufzustellen, das die Hauptstadt von ihrer Umklammerung durch die Osmanen befreien soll. Ist nicht auch schon Eugens älterer Bruder Ludwig Julius zu den Österreichern übergelaufen? Im Gefecht bei Petronell von den Türken verwundet, stirbt er in Wien und wird im Dom zu St. Stephan beigesetzt.

Prinz Eugen tritt die Flucht aus Frankreich nicht allein an: Auch der junge Louis-Armand Conti, der ihm die enttäuschende Audienz bei König Ludwig XIV. verschafft hat, ist mit von der Partie. Doch die Ausreißer, Eugen mit Frauenkleidern getarnt, kommen nur bis Frankfurt. Nach einem Gewaltritt über die Grenze gelingt es Joseph de Xaintrailles, dem Sonderbevollmächtigten des Königs von Frankreich, die beiden einzuholen, zu stellen und einen von ihnen sogar zu reumütiger Rückkehr zu bewegen: Conti. Eugen hingegen, weder durch Versprechungen noch durch Drohungen einzuschüchtern, setzt seine Reise ins Ungewisse fort, reitet allein weiter, nimmt in Regensburg Empfehlungsbriefe in Empfang, die ihm seine in der Verbannung lebende Mutter aus Brüssel hat zukommen lassen, und erreicht schließlich Passau, wo der österreichische Kaiserhof auf der Flucht vor den Türken eine provisorische Bleibe gefunden hat.

Eugen spricht kein Wort Deutsch. Neben der französischen Muttersprache beherrscht er Italienisch, und aus der Zeit, da er die geistliche Laufbahn einschlagen sollte, verfügt er selbstverständlich auch über gute Lateinkenntnisse. So wird er die Bittschrift, mit der er den Habsburgern seine Dienste offeriert, in lateinischer Sprache abfassen. Kaiser Leopold I., nun in den engen Mauern des Passauer Bischofspalastes residierend, nimmt das Papier persönlich entgegen – Marchese Borgomanero, der spanische Bevollmächtigte, vermittelt die Audienz. Eugen scheint auf den ebenso klugen wie einflussreichen Mann nachhaltigen Eindruck gemacht zu haben.

Kommt ohne ein Wort Deutsch nach Wien: Prinz Eugen

Ein eigenes Regiment erhält er dennoch nicht: Eugen muss sich mit der Rolle eines »Volontärs« begnügen, dient als Ordonnanzoffizier in der Brigade seines Vetters Ludwig Wilhelm von Baden. Aber er ist nun immerhin einer vom kaiserlichen Heer, und bei der Entscheidungsschlacht vor Wien, die am 12. September den Sieg über Kara Mustafas Truppen bringt, besteht der knapp Zwanzigjährige unter Herzog Karl Leopold von Lothringen seine Feuertaufe. Noch am Abend des nämlichen Tages – die Osmanen treten den Rückzug an, die befreite Stadt bricht in Jubel aus – betritt der junge Söldner aus Paris zum ersten Mal Wien. Und nur zwei Monate später, am 14. Dezember 1683, sieht er sich am Ziel seiner Träume: Eugen Franz von Savoyen Carignan wird zum Obersten befördert und erhält das Kommando über das Dragonerregiment »Khueffstein«.

Der Rest ist Weltgeschichte: ein Zugereister auf der ersten Stufe der Karriereleiter in der neuen Heimat, deren Ruhm er in den folgenden 52 Jahren als Feldherr, Staatsmann und kaiserlicher Berater, aber auch als Kunstsammler, Bauherr und Mäzen aufs Glanzvollste mehren wird. Prinz Eugen, der edle Ritter.

Eine gute Partie

Clemens Lothar Wenzel von Metternich

Durch die Revolution haben sie alle ihre linksrheinischen Besitzungen an die Franzosen verloren. Wenn sie also noch einmal einen Neuanfang wagen wollen, wäre Wien die ideale Wahl. Vor allem ihres Erstgeborenen wegen: Clemens, der brillantere der beiden Söhne, schon mit 17 (wenn ihn der Vater als Zeremonienmeister des Grafenkollegs zur Kaiserkrönung Leopolds II. nach Frankfurt mitnimmt) ein vollendeter Kavalier, soll als Diplomat Karriere machen. Und, wenn irgend möglich, reich heiraten.

Die Pläne der Familie Metternich gehen voll auf: Wien hält, was es verspricht. Ja, weit mehr als das: Durch die Eheschließung mit der Enkeltochter des weiland Staatskanzlers Kaunitz ist der 22-Jährige aus dem Rheingau ein gemachter Mann. Den »Rest« besorgt er selbst: Kein österreichischer Staatsmann vor ihm verfügte, als er das Amt des Kanzlers antrat, über eine solche Machtfülle wie er …

Die Metternichs residieren am Rhein, ihr Stammsitz ist unweit von Koblenz, der Hauptstadt des Kurfürstentums Trier. Hier kommt am 15. Mai 1773 Sohn Clemens Lothar Wenzel zur Welt. Der Vater, Reichsgraf Franz Georg zu Metternich-Winneburg, ist ganz auf die Habsburger eingeschworen, dient Maria Theresia, die gerade ihren 56. Geburtstag gefeiert hat und gemeinsam mit ihrem ältesten Sohn Joseph die Geschicke Österreichs, der Niederlande, der Lombardei, Parmas, Piacenzas und der Toskana lenkt, als außerordentlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister. Aber gar so toll, wie es klingt, ist ein solcher Posten auch wieder nicht: Graf Metternich setzt alle seine Hoffnungen auf den in der Tat vielversprechenden älteren Sohn.

Bis an die Grenze der Lächerlichkeit eitel, rühmt sich die Familie bedeutender Vorfahren: Seit Jahrhunderten im Rheinland ansässig, stammte ihr Ahnherr ursprünglich aus Preußen und sei Gaugraf unter Karl dem Großen gewesen. Metter habe er geheißen, und als die unbotmäßigen Sachsen sich wieder einmal weigerten, ihren heidnischen Sitten abzuschwören, gegen den Kaiser rebellierten und in diesem Zusammenhang auch Graf Metter der Untreue bezichtigt wurde, habe Karl bloß den Kopf geschüttelt und erwidert: »Nein, der Metter nicht!«

Das klingt nach Anekdote – und ist es wohl auch. Fest steht nur, dass sich die Metternichs seit Beginn des 14. Jahrhunderts nach einem Dorf gleichen Namens nennen, das noch heute in der Nähe von Euskirchen, einer Kreisstadt im Regierungsbezirk Köln, existiert. Die Winneburg hingegen, von der sich ihr zweiter Name ableitet, ist bloß noch (hoch über der Mosel unweit des Städtchens Cochem) als Ruine erhalten. Und die böhmischen Ländereien – in der legendären Schlacht auf dem Weißen Berg hat einer der Vorfahren Schloss Königswart bei Marienbad erkämpft – wird man erst wieder »aktivieren« müssen: Der später auch durch Besuche Goethes, Beethovens und Stifters zu Berühmtheit gelangende Stammsitz befindet sich zu der Zeit, da Clemens Metternich heranwächst, in den Händen gefinkelter Verwalter, die hinter dem Rücken der Herrschaft ein stattliches Vermögen anhäufen.

Vater Metternich hat unterdessen alle Mühe, sein kleines »Reich« an Rhein und Mosel zusammenzuhalten. Die Zeiten sind ungünstig, die »französische Gefahr« wird von Jahr zu Jahr größer, und auch der monströse Aufwand, den ihn die Teilnahme an den Frankfurter Krönungsfeierlichkeiten für Kaiser Leopold II. und Kaiser Franz II. kostet, reißt empfindliche Löcher in das Vermögen des Reichsgrafen, der sowieso in Geldsachen nicht der Geschickteste ist.

Da wiegt es umso schwerer, dass seine Gemahlin, die einem alten habsburgertreuen Breisgauer Geschlecht entstammende Beatrix von Kagenegg, ihrem Erstgeborenen ein anderes, nicht in Geldwert zu messendes und somit krisenfestes Erbteil auf dessen Lebensweg mitgibt: die attraktive äußere Erscheinung, das sinnliche Temperament. Die Gabe, seine Verführungskünste nicht nur zur persönlichen erotischen Befriedigung, sondern immer auch zur Erreichung seiner Karriereziele einzusetzen, hat er eindeutig von der Mutter, und sie ist es auch, die bei der Anbahnung seiner alles entscheidenden ersten Ehe die Fäden zieht …

Aber noch ist es nicht so weit. Zuerst einmal muss für die nötige Erziehung und Ausbildung gesorgt sein. Clemens kommt unter die Obhut vortrefflicher Hauslehrer und Hofmeister, und da man in den besseren Kreisen von Koblenz eher nach Paris als nach Wien blickt, ist auch bei den Metternichs nicht Deutsch, sondern Französisch die Umgangssprache. Mit 16 bezieht der »junge Herr aus großem Haus«, dem seine Biografen schon zu dieser Zeit »wählerischen Geschmack, sorgfältiges Auftreten und liebenswürdigste Eitelkeit« bescheinigen, die hochangesehene Universität von Straßburg, die ein anderer großer Ehrgeizling jener Zeit gerade eben verlassen hat: Napoleon Bonaparte. Dass ihn, den vier Jahre Jüngeren, in den Fächern Mathematik und Fechtkunst dieselben Professoren ausbilden wie Frankreichs künftigen Kaiser, wird eine der vielen Anekdoten sein, mit denen Metternich später seine Autobiografie ausschmücken kann.

Straßburg hält allerdings auch böse Überraschungen für den Jüngling aus Koblenz bereit: Hier erlebt er den Schock der Revolution, wird Zeuge, wie – eine Woche nach dem Sturm auf die Pariser Bastille – die aufgebrachte Volksmenge das Rathaus der Stadt besetzt und alles kurz und klein schlägt. »Meine Seele versank in Trübsal!«, wird er später das in diesen Tagen des Umbruchs Erlebte kommentieren und sein künftiges Weltbild zimmern, zu dem friedlicher Kompromiss und gewaltlose Geheimdiplomatie ebenso gehören wie starre Restauration und unerbittliche Unterdrückung.

Für die Metternichs bedeutet die Revolution zunächst einmal schlicht und einfach, dass sie aus ihrem Stammland vertrieben werden und unter dem Schutzmantel der Habsburger, denen sie dienen, Zuflucht suchen müssen. Doch statt den direkten Weg nach Wien zu wählen, nähern sie sich der Metropole schrittweise: Schloss Königswart, das Stammgut in Böhmen, erweist sich als die ideale Absprungbasis. Hier – es ist Oktober 1794 – kann der 21-jährige Clemens nach erfolgreichen Zwischenspielen in den Niederlanden und in London zeigen, wie man durchgreift. Nur zwei Monate braucht er, um das heruntergewirtschaftete Anwesen in Ordnung zu bringen, die betrügerische Administration zu entmachten, die Erträge zu mehren.

Junger Herr aus großem Haus: Clemens Lothar Wenzel von Metternich

Unterdessen wirft Mutter Beatrix in Wien ihre Fangnetze aus, um für den Erstgeborenen die begehrte gute Partie auszumachen. Die Schwiegertochter des kurz zuvor verstorbenen Fürsten Kaunitz, Maria Theresias Staatskanzlers, ist eine Jugendfreundin: Die Kaunitz-Enkelin Maria Eleonore, gerade 19 geworden und Erbin eines gewaltigen Vermögens, ist genau die Frau, die der junge Metternich braucht, um in den Wiener Hochadel »einzusteigen« und sich zugleich finanziell zu sanieren. Dass sie weder eine Schönheit noch von anziehendem Wesen ist, nimmt der kühl berechnende Bräutigam still in Kauf, und was die Zeugung von Nachwuchs anlangt, so ersetzt Clemens Metternich zärtliche Liebe einfach durch Disziplin.

Schon in den ersten Ehejahren – die Hochzeit findet am 27. September 1795 auf der Burg von Austerlitz, dem böhmischen Stammsitz der Kaunitz, statt – leistet sich Metternich Seitensprünge, und sogar in französischen Zeitungen kann man Berichte wie diesen lesen: »Nicht selten sieht man ihn Frau und Kinder der Gesellschaft Fremder überlassen, um ein kleines Souper mit Schauspielerinnen abzuhalten.« Sein Biograf Humbert Fink sagt es so: »Er verführt und genießt, er lässt sich verführen und gewährt Genuss.«

Später – da hat er schon die ersten Stufen der Karriereleiter erklommen, liegen die Jahre als österreichischer Gesandter beim sächsischen Hof in Dresden, beim Königreich Preußen in Berlin sowie in Paris hinter ihm – wird er dem bloßen Sinnesgenuss noch das berufliche Kalkül hinzuzufügen wissen: »Die Frauen, die er liebte«, urteilt ein weiterer seiner Biografen, Heinrich Srbik, »waren ihm zugleich Quell politischer Information.«

Je älter Metternich wird, desto mehr lernt er das behagliche Leben in Wien schätzen: Auch in dieser Hinsicht ist aus dem gebürtigen Rheinländer längst ein überzeugter Österreicher geworden.

Sechs Jahre leitet er nun schon – als Nachfolger des Grafen Stadion – das Außenamt am Ballhausplatz, soeben hat er – als Krönung dieses Lebensabschnitts – den Wiener Kongress hinter sich gebracht, da kann er endlich das für ihn errichtete Palais am Rennweg beziehen. Die mit den erlesensten Kunstschätzen vollgestopfte »Villa Metternich« ist von weitläufigen Gärten umgeben, die ihm, wenn er mit seinen hohen Besuchern durch das Areal flaniert, zum Gedankenaustausch dienen. Den Sommer verbringt man entweder auf dem eigenen Landgut in Böhmen oder auf den mährischen Besitzungen seiner Frau.

Am 19. März 1825 – Clemens Lothar Wenzel von Metternich, vom dankbaren Kaiser Franz I. in den Fürstenstand erhoben, leitet seit knapp vier Jahren als Haus-, Hof- und Staatskanzler die österreichischen Regierungsgeschäfte – stirbt Gattin Maria Eleonore. Seine Witwerschaft währt nur kurz, noch im selben Jahr tritt Metternich ein zweites Mal vor den Traualtar. Doch auch Antoinette Freiin von Leykam verlässt ihn nach kurzer Ehedauer, stirbt 1829 im Kindbett. Selbst die junge Komtesse Melanie aus dem Hause Zichy-Ferraris, die er 1831 zur Frau nimmt, überlebt er um fünf Jahre: Sie stirbt an Krebs.

Metternich, nicht eben ein Ausbund an Fleiß, weiß seine Dienstpflichten so effizient wahrzunehmen, dass ihm ausreichend Zeit fürs Privatleben bleibt. Zwischen acht und neun steht er auf, um sich nach dem Frühstück seiner Familie zu widmen, die Erledigung der vormittäglichen Amtsgeschäfte nimmt für gewöhnlich drei Stunden ein. Lässt das Wetter es zu, so steht ein kurzer Ausritt auf dem Programm, am Nachmittag wird die Korrespondenz erledigt und die Spitze der ihm unterstellten Beamtenschaft zum Rapport empfangen. Der wichtigste Termin ist – regelmäßig um 19 Uhr – die Audienz beim Kaiser, die zwischen einer und anderthalb Stunden dauert. Mit kurzer Aktendurchsicht, der Entgegennahme der Berichte der aus allen Teilen des Reiches eintreffenden Kuriere und dem Empfang befreundeter Diplomaten klingt der Tag aus, gegen Mitternacht geht Metternich zu Bett.

1846 wird die Villa Metternich abgerissen, der dreigeschossige klassizistische Neubau, der an ihrer Stelle entsteht, folgt in seiner äußeren Gestalt Vorbildern des römischen Cinquecento (und beherbergt heute, um 1900 abermals erweitert, die italienische Botschaft). Doch kaum hat der inzwischen 75-Jährige die neuen Gemächer bezogen, da muss er sie auch schon wieder verlassen: Die März-Revolution von 1848, die das Haus Habsburg hinwegzufegen droht und nicht zuletzt ihm, dem als Tyrannen und Zensor verhassten »Fürsten Mitternacht«, gilt, zwingt ihn zur Flucht aus Wien, ehe der entfesselte Mob seinen Besitz stürmt und plündert.

Erst als er 1851 aus dem Exil zurückkehrt, ist es Metternich vergönnt, die Annehmlichkeiten seiner neuen Residenz in vollen Zügen zu genießen – und dies umso mehr, als er nun, aller offiziellen Funktionen entkleidet, nur mehr im Stillen wirkt: der hochdekorierte Pensionär, der sich in die Rolle des souveränen Ratgebers zurückzieht.

Wie haben wir uns den greisen Metternich vorzustellen? Einer seiner Besucher gibt darüber zu Protokoll: »Seine hohe, fast hagere Gestalt erschien noch ungebeugt von der Last des Alters, dessen Einflüssen er gleichwohl erliegen mußte. Sein schneeweißes, feines, doch volles Haar, die scharfen Falten im Gesicht, die außerordentliche Schwerhörigkeit beweisen dies zur Genüge. Des Fürsten Antlitz, vom Alter geklärt, zeigte die Spuren jener ehemaligen Schönheit, die Männer wie Frauen einst gleichmäßig bewundert hatten. Noch jetzt war es schön, adelig in allem, wenn auch gespitzt und abgemagert. Die edel gebogene, ziemlich starke Nase; der fein geschlitzte Mund mit roten Lippen; der weiße, zarte, wächserne Teint; zwei helle, große, blaue Augen unter einer stark gewölbten Stirn – nichts war unschön oder unfein geworden, der ganze Kopf war ein Meisterwerk der alternden Natur. Die Kleidung war einfach, schwarz, ein Oberrock. Das Zimmer, in dem der Fürst seine Besuche empfing, war geschmackvoll und traulich. Es war ein Wohnzimmer bester Art, hoch, hell und groß. Schwere Teppiche bedeckten den Boden. An den Wänden entlang standen Schränke, Tafeln und Tische von Nußbaumholz ohne steife Symmetrie, auf ihnen lagen Bücher. Hier stand eine Stutzuhr, dort ein Globus, darunter Kartons und, wie es schien, eine Mineraliensammlung.«

1859, im Todesjahr des vormals Allmächtigen (und wie man gleich sehen wird: nach wie vor Begehrten), kommt es in dessen Palais am Rennweg noch zu einer letzten spektakulären Begegnung, die, von der Enkelin des Hausherrn, Pauline Metternich, heimlich belauscht, in der Folge eine Menge Staub aufwirbeln wird: Kaiser Franz Joseph, von seinen außenpolitischen Einflüsterern in eine ausweglose Lage manövriert, sucht Rat, und er tut es zu ungewöhnlicher Stunde. Notorischer Frühaufsteher, der er ist, fährt er zwischen 5 und 6 Uhr beim Palais Metternich vor, im Morgengrauen kann man die beiden Gestalten, den knapp 86-Jährigen auf den Arm des 28-Jährigen gestützt, über die Parkwege schreiten sehen.

Zwei Monate darauf stirbt Metternich, vom Leibarzt Jäger, seinem langjährigen Vertrauten, bis zum letzten Atemzug umsorgt.

Der Kammerdiener Seiner Majestät

Jean Baptiste Cléry

Wien ist reich an ungewöhnlichen Friedhöfen. Und an ungewöhnlichen Gräbern. Dieses aber ist unter ihnen allen eines der ungewöhnlichsten: Es befindet sich in einer der älteren Abteilungen des Hietzinger Friedhofs, trägt die Nummer III/6 und ist, ansonsten schmucklos, mit einem Stein aus dunkelgrauem Granit ausgestattet, der dem Besucher nicht weiter auffiele, wäre da nicht, schon stark verwittert, die geheimnisvolle Inschrift: »Le fidèle Cléry, dernier serviteur de Louis XVI.«

Des Französischen Unkundige haben in den Sterbematrikeln aus dem Adjektiv »fidèle« den Vornamen »Fidèle« gemacht, doch einen Mann dieses Namens gab und gibt es nicht. Der hier seit dem 27. Mai 1809 unter der Erde ruht, heißt mit vollem Namen Jean Baptiste Cléry. Um seine irrtümlich verschleierte Identität zu klären, genügt es, die 1848 erneuerte Grabinschrift zu entziffern und mit Sorgfalt ins Deutsche zu übersetzen: »Der treue Cléry, letzter Kammerdiener Ludwigs XVI.«

Ludwig XVI. – das ist der mit der Österreicherin Marie Antoinette vermählte Franzosenkönig, der, neun Monate vor dieser, auf dem Schafott des Revolutionstribunals hingerichtet wird. Wie kommt sein Domestik nach Wien?

Ludwig XVI., König von Gottes Gnaden, ist 28 und seit acht Jahren auf Frankreichs Thron, als Jean Baptiste Cléry, aus der Gegend um Versailles stammend und fünf Jahre jünger als Seine Majestät, in dessen Dienste tritt. Als im Sommer 1792 die Tuilerien gestürmt und die königliche Familie im »Temple«, jener düsteren Zwingburg in der Gegend der heutigen Place de la République, festgesetzt wird, begleitet Cléry den König (den die Revolutionäre Louis Capet nennen), die Königin, den kleinen Dauphin, Tochter Marie Thérèse sowie Madame Elisabeth, die Schwester des Königs, auf deren Weg in die Gefangenschaft.

In den den königlichen Arrestanten zugewiesenen Räumlichkeiten im dritten und vierten Stock des im 13. Jahrhundert von den Tempelrittern errichteten und seit dem Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 leer stehenden Gebäudekomplexes außerhalb der Pariser Stadtmauern sorgt der seinem Herrn unterwürfig ergebene Cléry für das leibliche Wohlbefinden des Königs – bis zu dessen letztem Atemzug auf der Guillotine. Zwei Tätigkeiten sind es insbesondere, die dem sensiblen Mann nahegehen: Er soll Seiner Majestät die schon fadenscheinig werdende Kleidung in Ordnung halten, und er muss ihm, da im Temple strengstes Messer- und Gabelverbot besteht, das Essen vorschneiden.

Während dieser fünf Monate wird der inzwischen 33-Jährige – neben den Mitgliedern der königlichen Familie – zum engsten Vertrauten des todgeweihten Monarchen: Sein Bett steht neben dem des Königs. In seinem »Tagebuch über die Vorgänge im Temple während der Gefangenschaft von Louis XVI.«, das ihn später berühmt, ja sogar zu einem reichen Mann machen wird, wird er über den Alltag im Gefängnis aussagen: