Käpt’ns Dinner - Wenn Träume in Erfüllung gehen
Geschichten, die mein Leben schrieb
©Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
Umschlagmotiv: ©dpa Picture-Alliance / Horst Ossinger
ISBN (E-Book): 978-3-451-34631-6
ISBN (Buch): 978-3-451-30627-3
Hans Sigl
Siegfried Rauch – eine Zeitreise – eine Legende
Vorwort
Ein Leben wie im Paradies
Meine Kindheit und die Anfänge als Schauspieler
Unser Bauernhof und meine Kindheit
»Was ist denn der?«
Der »Bliemchen-Kaffee« und deutsche Grenzüberschreitung
Der Fliegenpilz zur Weihnachtszeit
Meine besten Rezepte aus aller Welt
Spezialitäten von Zuhause
»Kannst du reiten?«
Erste Abenteuer in Europa, Asien und Amerika
Im Kardinalsgewand
Aus dem zweiten Stock mit 60 km/h
Meeresfrüchte in Palermo
Schüsse aus der Bordkanone
Wahres chinesisches Essen
Cowboy und Rodeo
Die Zwiebelsuppe
Meine besten Rezepte aus aller Welt
Kulinarische Genüsse – international
»Du führst ein Leben, das ist einfach sagenhaft!«
Der Durchbruch mit »Patton« und »Le Mans«
Hollywoods bestes Team
Bayerische Volksweisen in Amerika
Steve McQueen, der Patenonkel
Ein bayerischer Weihnachtsbaum in L.A.
Meine besten Rezepte aus aller Welt
Weihnachten mit Steve McQueen
Ein Tedesco auf Reisen
Dr. med. Mark Wedman und Thomas Lieven unterwegs
Turbulentes Italien
Ein treuer und zuverlässiger Freund
Benedikt »Benedetto«
Skitour in der Wüste
Jugendträume
Ein weißer Smoking
Meine besten Rezepte aus aller Welt
Sizilianische Genüsse
»The Flying Kiwi«
Unterwegs zwischen Finnland, Neuseeland, Kolumbien
und Mexiko
Nordische Kälte
Hollywood Filmkulisse
In den Grachten von Amsterdam
Die immergrüne Insel am anderen Ende der Welt
Blind in Rom
Karneval im Gefängnis
Old Shatterhand und Bossa Nova
Meine besten Rezepte aus aller Welt
Gaumenfreuden aus Spanien, England und Frankreich
Stahlhelm und Marillenknödel
Von Lee Marvins Schwimmbecken auf Maria Theresias
Pferd
Eine Schlange in Lee Marvins Schwimmbecken
Zwei Stahlhelme nach Israel
Irische Gastfreundschaft
Ein Vorderlader, feuchte Pulver und Marillenknödel
Meine besten Rezepte aus aller Welt
Meine Frau Karin bittet zu Tisch
»Willkommen an Bord!«
Die vielen Berufe eines Serienstars
»Ah, der Papa, wie dahoam.«
Einmal mit C. C. drehen
Am seidenen Faden
Der Traumschiff-Käpt’n
Wo geht’s denn hier zur Brücke?
»Nee, nee, Herr Doktor«
Bergweihnacht
Meine besten Rezepte aus aller Welt
Bayerisch schmeckt’s am besten
Das Wichtigste im Leben
Die Liebe zu meiner Heimat
Hier gehöre ich hin
Ein ganz besonderer Bauernhof
Jacky, der Star der Familie
Im Buschenschank in Südtirol
Meine Kinder
Die Liebe zur Musik
Die Malerei
Die Zukunft
Meine besten Rezepte aus aller Welt
Köstlichkeiten aus der Heimat
Ich möchte Danke sagen
Bildteil
2007. Eigentlich ein Jahr wie jedes andere. Mit einer kleinen Ausnahme. Mir wurde eine Rolle zuteil, welche mein Leben verändern sollte. »Der Bergdoktor«. Gut, der Titel war bekannt und die Absicht, aus diesem Format ein »modernes« zu machen, war zumindest interessant. In den Vorbereitungen gab es Castings und Besprechungen, Proben und Gespräche. Eine interessante Familienkonstellation erwartete mich als »Dr. Martin Gruber«. Als väterlicher Freund Dr. Melchinger sollte mir in der Serie Siegfried Rauch begegnen. Siegfried Rauch. Ein Name, eine Geschichte. Eine deutsche TV-Legende. Warum der Traumschiffkapitän für die Rolle besetzt wurde, war mir zu diesem Zeitpunkt nicht klar. Der Mann der Quote. Die blauen Augen. Das Charisma. Zahlreiche Filme fielen mir ein. »Es muss nicht immer Kaviar sein« war mir nur noch schleierhaft (schemenhaft?) in Erinnerung. Auf Youtube gibt es alle Folgen, das nur am Rande. Eher die leichteren neueren Formate, in denen Siegfried Rauch »den Mann der Berge« gab, waren mir geläufig.
Ich war gespannt. Es ist immer ein wenig seltsam, wenn man auf Kollegen trifft, die man als Jugendlicher schon gekannt hat, und plötzlich stehen sie vor einem.
Schnitt. Erster Drehtag mit Siegfried Rauch. Ich war nervös. Wer sollte dieser Mann sein, der mit Steve McQueen, Lee Marvin und vielen anderen internationalen Stars gearbeitet hat, die internationale Karriere gegen sein Glück zu Hause in Bayern eingetauscht hat. Der wohl etwas gefunden hat in diesem Beruf, dem viele andere verzweifelt nachlaufen. Zufriedenheit. Es war ein sehr herzliches, aber dennoch ein elegant distanziertes Treffen. Professionell bis in die letzte silbergraue Haarspitze. Alle jungen Kollegen können sich vom Mann mit dem stechenden Blick eine Scheibe abschneiden. Vorbereitet, herzlich und bestens gelaunt. Allen gegenüber. Respektvoll und klar in seiner Haltung. Er ist Schauspieler und kein Schaudenker. Siegfried spielt nicht, was in eine Rolle nicht hineingehört. Er spielt, was da steht und ist niemals künstlich. Weniger ist mehr. Und immer wenn man in einer Szene nichts mehr erwartet, weil es auch Szenen gibt, die vielleicht nicht unbedingt wichtig sind, veredelt er noch einmal und es kommt ein Blick. Bang. Den hatte man nicht erwartet. Bang. Einfach so.
Schnitt. Das erste Jahr ging vorüber. Ich werde seinen stets skeptischen Blick nicht vergessen. »Ob das aufgeht, was du da machst, Junge«, das glaubte ich immer in seinen Augen zu sehen.
Schnitt. Das zweite Jahr begann. Die erste herzliche Umarmung am Set. Wir waren uns näher gekommen, sprachen erstmals über private Dinge. Auch über Musik, Golf und seine Leidenschaften. Ich empfand es als eine Ehre, dass mich der weise Mann mit seinen Geschichten unterhielt, mir Dean Martin-Songs vorsang.
Schnitt. Wir lachten viel am Set, da wir uns mittlerweile blind verstanden, was die Interpretation der Szenen anging. Ein Blick, eine Handbewegung und wir beide wussten und wissen auch heute noch, wie wir uns den Text zuspielen.
Schnitt. Wir stehen an der Hauswand. Eines der Hauptmotive, der »Praxis«. Wir mussten warten, bis die Kamera einsatzbereit war, und er meinte trocken auf meine Frage, was es denn Neues gebe: »Ach ned vui, i hob mir an Porsche gekauft!« Ich dachte der Gute nähme mich auf den Arm, doch tatsächlich. Sein großer Traum, endlich wieder einen solchen Boliden zu fahren, den hat er sich nach langem Ringen erfüllt. Der Mann und sein Auto. Le Mans in den Bergen, Siegfried Rauch. Am Sonntag danach sehe ich ihn auf dem Traumschiff.
Schnitt. Wir stehen mit seiner Frau Karin in einer Hotelbar, und Karin meint, der Sigi drehe schon sehr viel und ihr komme vor, es würde immer mehr, je älter er wird. Siegfried tänzelt von hinten rein und meint mit seinem charmanten Witz: »Schatz, dir is doch klar, ich bin ein TV-Star, die müssen so viel arbeiten«.
Schnitt. Ja, er arbeitet viel und immer noch, obwohl er es sich schon längst gemütlich machen könnte, mit seiner Holzfällerhose in seinem Wald, bei sich zu Hause, aber er liebt seine Arbeit, er liebt die Menschen am Set. Er braucht es. Der Mann mit den silbernen Haaren. Es gab Szenen (irgendwann wird sich herausstellen, dass er in der Rolle des alten Melchinger der Vater des »Bergdoktors« ist, zumindest wünsche ich es mir), in denen wir uns in die Augen sahen, und ich sehe immer ein wenig mehr von diesem charismatischen Kollegen und Menschen Siegfried Rauch. Die Abenteuerlust vergangener Tage, das Charisma, seine Bodenständigkeit und sein Humor.
Schnitt. Eines Tages spielten wir Golf. Ich dachte, dass ich den betagten Kollegen doch leicht in die Tasche stecken würde, doch nach den ersten zwei Löchern war mir klar, dass Demut angesagt sei. Gut. Das fällt mir bei Siegfried Rauch nicht schwer. Demut und Dankbarkeit in jeder Sekunde, in der wir miteinander vor der Kamera stehen. Und nun war mir klar, warum er besetzt worden war. Nicht wegen Quote oder ähnlichen dummen Ideen, die ich einst hatte. Nein, er wurde besetzt, weil er der richtige Mann ist. Denn er hat einmal zu mir gesagt: »Die Rolle des Kapitäns ist sehr schwer, denn sie hat etwas, was man nicht spielen kann. Das muss man sein, da muss man die Leute abholen und mitnehmen, auf eine Reise.« Er strahlt eine Ruhe und Gelassenheit aus, die mich seit Jahren mitnimmt auf diese Reise. Eine Zeitreise.
Danke Siegfried, dass du mich an all diesen Dingen teilhaben lässt. Mögen noch viele solcher Momente geschehen.
»Die modernen Menschen werden nicht mit der
Peitsche, sondern mit Terminen geschlagen!«
Telly Savalas
Wir alle kennen sie, die Alltagshektik. Sie gibt es schon bei ganz banalen Dingen, wie dem Einkaufen im Supermarkt: Die Kassiererin hat keine Zeit mehr, steht ständig unter Druck. Hastig reißt sie einen Artikel nach dem anderen über ihren Scanner. Und während wir noch die passenden Münzen aus unserem Geldbeutel kramen, blickt sie einen wartend, fast vorwurfsvoll an, die Kasse steht offen, und der Hintermann schiebt sich bereits drängelnd in Position.
Viele Menschen haben kaum eine andere Wahl, sie müssen sich diesem Stress aussetzen: Sie haben eine Familie zu ernähren, stehen unter großem Druck. Sie wollen die Erwartungen so vieler anderer erfüllen oder sich selbst etwas beweisen. Und während sie darauf versessen sind, einen Erfolg nach dem anderen einzuheimsen und Termin um Termin abzuarbeiten, verlieren sie den Blick fürs Wesentliche. Sie beschäftigen sich nicht mehr mit anderen, kennen sich selber aber noch weniger.
Selbst wenn wir wollten: Dem Zeitdruck in unserer Gesellschaft können wir uns gar nicht mehr komplett entziehen. Er hat sich langsam, aber sicher bei jedem von uns eingeschlichen und weigert sich vehement, uns in Frieden zu lassen.
Gerade deshalb macht es mich so froh, in meiner Familie und meiner Heimat immer einen Rückhalt zu haben. Das Leben kann noch so übereilt sein. Wenn ich am Morgen neben meiner Karin aufwache, danach in meiner Galerie sitze und an meinen Bildern arbeite oder einfach nur die Berglandschaft ansehe, dann macht mir der Stress nichts mehr aus.
Ich glaube, jeder braucht manchmal einfach jemanden, der einen in der Hektik des Alltags unterstützt. Genauso bin ich mir aber auch sicher, dass wirklich jeder von uns das Leben anderer Menschen ein kleines bisschen versüßen kann.
Und genau das ist es, was ich mit diesem Buch, einer Sammlung vieler Anekdoten aus meinem Leben, erreichen möchte. Ich will Ihnen helfen, in hektischen Zeiten einmal für wenige Minuten die Gedanken schweifen zu lassen. Wenn Sie sich selber einmal ein paar wenige Minuten gönnen, sich in Ihren Sessel setzen und in diesem Buch blättern, dann habe ich mein Ziel schon erreicht.
Ich habe in meinem Leben viel erlebt, war an vielen Orten auf der ganzen Welt, durfte viele Menschen kennenlernen. Und selbst jetzt, mit achtzig Jahren, sind meine Reisen nicht vorbei. Ich konnte all das erleben, weil ich wusste, dass ich immer wieder nach Hause kommen werde, dass ich eine Heimat habe und eine Familie.
Käpt’ns Dinner – der bunten Folge von Geschichten aus meinem Leben würde etwas fehlen, würde sie nicht begleitet werden von einer Auswahl meiner Lieblingsrezepte aus aller Welt. Wenn ich mir all die Geschichten ins Gedächtnis zurückrufe, die ich erlebt habe, fällt mir auf, dass immer wieder bestimmte Gerichte und Speisen eine große Rolle gespielt haben. Und so werde ich es mir zwischen den Geschichten immer wieder mal erlauben, Ihnen eine kleine kulinarische Köstlichkeit aufzutischen, damit das Dinner nicht nur aus Lesegenuss besteht.
Zum Schluss mein Rat: Erlauben Sie sich ab und zu ein paar Minuten und stöbern Sie ein wenig in meinen Geschichten. Sie werden sehen: Es sind tatsächlich die kleinen Dinge, die das Leben lebenswerter machen.
Und eines möchte ich Ihnen noch mit auf den Weg geben: Rücken Sie Ihre Familie in Ihren Lebensmittelpunkt, bewahren Sie unsere Natur und unsere Heimat, achten Sie das Leben und versuchen Sie, jeden Tag zu genießen.
Ihr Siegfried Rauch
Meine Kindheit und die Anfänge als Schauspieler
Eigentlich wollte ich Architekt werden, und ich hatte auch schon angefangen, Architektur zu studieren. Doch dann kam mir die Schauspielerei dazwischen. Und eine aufregende Zeit begann. Aber irgendetwas vom Architekten muss ich mir wohl erhalten haben. Denn als ich unseren Bauernhof, in dem wir noch heute leben, das erste Mal sah, dachte ich mir sofort: »So ein altes Haus – da kannst du dir deine Architekturträume endlich verwirklichen.«
Allerdings hatte ich mir das damals ein wenig einfacher vorgestellt. Inzwischen leben wir fast vierzig Jahre hier, und noch immer sieht es überhaupt nicht danach aus, als wäre alles fertig, es bleibt noch so viel zu tun. Aber wahrscheinlich ist das auch gut so, denn ich bin fest davon überzeugt, dass es immer ein Ziel geben, dass der Weg nach vorne ein wenig offen bleiben muss. Er darf nicht einfach schon zu Ende sein.
Ein Multimillionär, der ich nicht bin, wäre vielleicht ganz anders an die Sache herangegangen. Ich glaube, er hätte einfach einen Innenarchitekten engagiert und ihn mit dem Aus- und Umbau des Hofs beauftragt und wäre zwischenzeitlich nach Puerto Rico oder anderswohin gefahren und erst dann zurückgekehrt, wenn alles fix und fertig gewesen wäre.
Sicher, das kann man so machen. Und ich bin auch viel in der Welt herumgekommen. Aber für mich wäre eine solche Einstellung nie in Frage gekommen! Wie frustrierend wäre es gewesen, diesen Bauernhof nicht selbst umzubauen, mit eigenen Händen. Und wie bedrückend, nicht zu spüren, dass immer noch etwas dazu kommt. Dass hier etwas wächst. Und dass wir mittendrin sind in diesem Prozess des Wachsens, dass wir etwas dazu beitragen können.
Denn wir haben alles selbst gemacht, und wir können mit Fug und Recht sagen: Das ist unser Bauernhof. Und wir sind sehr stolz auf ihn. Auf ihn und auf unsere Leistung.
Es kann ja gar nicht alles sofort fertig sein. Man muss eine Zeitlang hier leben, um zu sehen: »Ach, da könnte ich das noch machen und dort jenes.« Mein jetziges Mal-Zimmer etwa war früher einmal das Schlachthaus und die Waschküche. Wenn daraus etwas Neues erwächst, dann kommt das einer wunderbaren Verwandlung gleich. Die Dinge entwickeln sich, sie wachsen. Und so wird es immer weitergehen. Ein Leben ist hier möglich wie in einer Oase. Oder wie im Paradies. Denn das war unser Bauernhof mit Sicherheit für unsere Kinder, und noch heute kommen sie gerne mit ihren Enkelkindern vorbei.
Das erinnert mich an meine eigene Kindheit. Ich bin auch in einem Dorf groß geworden. Wir lebten damals zwar auf keinem Bauernhof, sondern nur in einer Mietswohnung, aber um uns herum gab es Natur – Natur ohne Ende. Und wir waren immer damit beschäftigt, die Dinger, die uns umgaben, neu zu gestalten. Ständig spielten wir im Wald und erlebten dort ein Abenteuer nach dem nächsten. Sicher, im Vergleich zu heute war unsere Kindheit viel schlichter, viel ärmlicher, aber vermissten wir etwas? Nein. Wieso auch? Wir kannten es ja nicht anders.
Der Vater war im Krieg, aber unsere Mutter war immer für uns da. Spielsachen, so wie sie heute in den Kaufhäusern angeboten werden und die Kinderzimmer füllen, gab es für uns nicht, wir mussten sie uns selber basteln. Ein Hammer, ein paar Bretter, Nägel – das reichte, und schon hatten wir uns auf einem Baum ein Lager gebaut. Und ich wette, dass das damals viel schöner war als vieles, was Kinder heute erleben. Denn heute, da sagt das Kind vielleicht zu seinem Vater: »Hey, Papa, lass doch mal von jemandem ein Lager bauen, und wenn es dann fertig ist, klettere ich dann vielleicht auch mal hoch.«
Not macht erfinderisch. Damals jedenfalls war das so. Und vielleicht gilt es auch heute noch. Jedenfalls forderte uns die Not zu Experimenten heraus. Und experimentiert haben wir sehr gern. Haben wir uns zum Beispiel einmal Fallschirme gebaut, dann mussten die selbstverständlich erprobt werden. Also musste unser jüngerer Bruder, der der Leichteste von uns allen war, mit einem solchen Fallschirm vom Stadeldach herabspringen, wir wollten ja sehen, ob der Fallschirm wirklich funktioniert. Wir hatten immer einen riesigen Spaß. Und unserem Bruder ist dabei auch nichts passiert.
Einfach und schlicht war unser Leben und auch von Armut geprägt, aber wir machten etwas aus den Dingen, die wir fanden, und wir waren glücklich damit. Und noch heute empfinde ich die damalige Zeit als wunderschön, und ich bin froh, dass ich all das erleben durfte.
Ich will aber nicht verschweigen, dass meine Kindheit auch eine Zeit der Not und Entbehrung war. Häufig hatte ich richtigen Hunger. Hunger, wie man ihn hierzulande mittlerweile überhaupt nicht mehr kennt. Und der uns zu ungewöhnlichen Mitteln greifen ließ. Wir hatten aus Hunger so viele Bucheckern gegessen, dass wir uns eine Blausäurevergiftung holten. Oder wir wurden beim Äpfelstehlen erwischt – und wer stiehlt heute noch Äpfel, weil er Hunger hat?
Ich war ein Kind, als der Krieg begann. Wir wussten überhaupt nicht, was das ist: Krieg. Wenn es richtig kracht, dann erschrickt man als Kind. Und wir stellten uns die Frage: Das also ist ein Krieg? Eigentlich begriffen wir erst am Ende, also um 1945, wie schrecklich dieser Krieg war. Als die Bomben in den Städten fielen. Wir sahen in der Nacht hinaus nach München und dachten: »Das gibt es doch nicht, dass da noch ein Mensch lebt.« Und es wollte kein Ende nehmen. Wir glaubten, das mit den Bomben hört überhaupt nicht mehr auf. Und immer wieder diese Explosionen.
Ich war um die zwölf Jahre alt, oder auch schon dreizehn. Und ich begann darüber nachzudenken, wie schrecklich all das war. Und wie wunderbar und unbegreiflich, dies alles heil zu überleben.
Und irgendwann kehrte unser Vater wieder aus Russland nach Hause zurück. Doch der, den wir ankommen sahen, war ein anderer geworden als der, der in den Krieg gezogen war. Das sollte unser Vater sein? Wir erkannten ihn nicht wieder, als er vor unserer Haustüre stand, so verhungert und entstellt sah er aus. Er war völlig verändert. Zu Fuß war er von Minsk bis nach Regensburg gelaufen. Und das bei vierzig Grad minus. Nichts zu essen, die Kleidung völlig ungeeignet für solche Temperaturen. Aber um nicht in russische Gefangenschaft zu geraten – denn das hätte Sibirien geheißen und wäre sein sicherer Tod gewesen –, ist er gelaufen, immer nur gelaufen. Und er hatte es geschafft, auch wenn er als ein anderer Mensch zurückkam, äußerlich wie auch in seinem Verhalten.
Ich weiß noch genau, wie meine Mutter das erste Essen nach seiner Heimkehr kochte. Es gab Pfannkuchen. Unser Vater nahm seinen Teller mit dem Essen und ging auf sein Zimmer, sperrte zu und aß dort. Er war es gewohnt, schnell zu sein, wenn es irgendetwas zu essen gab, denn sonst, so muss es sich bei ihm im Inneren festgebrannt haben, sonst wird es dir von den anderen weggenommen. Unvorstellbar aus heutiger Sicht.
Ich kann mich noch gut an die überwältigende Freude erinnern, an diese unheimliche Freude, die ich bei dem Gedanken empfand, dass mein Vater es doch geschafft hatte und zu uns zurück nach Hause gekommen war. Aber auch an dieses verstörende Gefühl, zu merken, dass er nicht mehr der Vater war, den wir von früher her kannten, der er gewesen war, bevor er uns verließ. Freude gepaart mit unglaublicher Ernüchterung und Traurigkeit. Aber wir liebten ihn noch immer.
Sein Zustand besserte sich im Lauf der Zeit ein wenig, und doch war er sehr oft krank. Vielleicht hing das auch mit der Erschöpfung zusammen, die immer mehr zutage trat. Die Erschöpfung nach dem langen Fußmarsch. Während des Marsches hat man noch alle Kräfte, aber danach … Als mein Vater nach seinem langen Marsch bei sehr schlechtem Wetter in Regensburg auf einer Wiese mit weiteren 70 000 Menschen angekommen war, viel alles in ihm zusammen. Und doch überlebte er. 15 000 Menschen starben noch vor Ort.
Wir Kinder waren froh, dass endlich die Kriegszeit vorbei war, denn wir hatten es gründlich satt. Und wir verstanden uns prächtig mit den Amerikanern. Von ihnen bekamen wir immer Schokolade, und ich muss gestehen, dass ich Schokolade noch heute sehr gerne esse. Wir hörten Radio AFN in München, und wir liebten den Freiheitsdrang der Amerikaner.
Mein Vater besaß eine alte Klampfe, auf der ich das Gitarrenspielen lernte. Als Abiturient spielte ich in einer Band, in der ich auch für die Verhältnisse damals sehr viel Geld verdiente. In den Jahren von 1945 bis 1949 herrschte großer Mangel, eine harte Zeit. Es gab einfach nichts mehr. Doch dann plötzlich der Augenblick, ab dem es alles gab. Alle Geschäfte waren voll mit Waren. Woher die so plötzlich kamen, wusste keiner zu sagen. Man hätte alles kaufen können, wenn man nur das Geld dazu gehabt hätte. Aber das hatten wir nicht.
Ich ging in Garmisch auf das Gymnasium, gegenüber lag eine Bar. Dort konnte ich mit meiner Musik 750 Mark im Monat verdienen. 750 Mark im Monat! Das war sehr viel Geld. Unser Schuldirektor verdiente ungefähr das gleiche. Sicher, bei dieser Bar handelte es sich mehr oder weniger um einen »Puff«. Aber die Amerikaner, die dort hingingen, hatten Geld wie Heu, und das wollten sie auch ausgeben. Und ich konnte das Geld sehr gut gebrauchen. Mein erstes selbstverdientes Geld.
Als man auf dem Gymnasium meine musikalischen Aktivitäten mitbekam, wollte man mich sofort von der Schule werfen. Was konnte ich tun? Zum einen klärte ich meinem Direktor darüber auf, wie viel ich dort verdiente. Als er die Summe hörte, war er sehr beeindruckt. Und zweitens erzählte ich ihm, dass mein Vater aus Russland zurückgekommen sei und ich mit diesem Geld meine Familie ernähren müsse. Man ließ Gnade vor Recht ergehen, und ich durfte weiter die Schule besuchen. Zu meinem großen Glück hatte ich einen Klassenlehrer, der es sowieso großartig fand, dass ich Musik machte. Er war ein enthusiastischer Jazzfan. Und beim Abitur half er mir sehr, zu meiner großen Freude.
In dieser Nachkriegszeit waren wir alle gleich, denn keiner hatte etwas. Es gab keinen Neid. Von daher war es auch eine schöne Zeit. Wir packten alle mit an und hielten zusammen.
Heute bin ich kein Kind mehr. Aber auch kein Architekt. Ich bin Schauspieler geworden. Ich mache etwas, und ich schenke den Leuten etwas. Nichts Materielles, ich schenke ihnen etwas mit meiner Person. Und das ist schon ein phantastisches Gefühl.
Von meinen Anfängen als Schauspieler will ich gleich erzählen. Doch zuerst vom wichtigsten Menschen in meinem Leben, von meiner Frau Karin.
Karin und ich waren sehr gute Skifahrer und beide Clubmeister in Murnau in Oberbayern. Mein jüngerer Bruder war mit Karins Schwester zusammen, wodurch wir uns kennenlernten. Von Anfang an gefiel mir Karin, und auch ihre Familie war sehr nett, was für mich sehr wichtig war.
Wir verliebten uns früh, und das hält bis heute an.
Man mag es in unseren Zeiten gar nicht für möglich halten, aber bis heute leben wir monogam. Und ich könnte mir nie vorstellen, eine andere Frau als Karin zu haben. Eine andere Frau, die in Karins Bett schläft und am Morgen »Guten Morgen Sigi« zu mir sagt? – Völlig undenkbar! Da würde ich nur sagen: »Moment mal, das geht nicht!«
Als wir uns kennenlernten, war ich gerade auf einer Schauspielschule, und ich spielte auch schon in ersten Filmen mit. Ich hatte bereits eine kleine Rolle. Ich steckte mittendrin in meinen Anfangsjahren.
Die meisten können sich sicher vorstellen, dass mein Beruf vielen nicht unbedingt als Garant gesellschaftlicher Integrität galt und mit Sicherheit für manch eine bürgerliche Familie ein kleines Problem darstellte. Zumal ich mich ja gerade erst auf der Startlinie befand. Und hin und wieder wird es Getuschel über mich gegeben haben wie:
»Was ist denn der?«
»Ja, der ist Schauspieler!«
»Ach du meine Güte!«
»Wo spielt er denn?«
»Nirgends!«
Für den Beginn unserer Beziehung bildete das keine geringe Hürde, aber wir liebten uns und haben solche Widerstände gemeistert. Und wir haben unser gemeinsames Leben auch gemeistert, als unsere kleine Familie langsam zu wachsen begann.
Die Verbindung der Ansprüche meiner beiden Rollen als Schauspieler und Familienvater war nicht immer einfach. Als wir schließlich Kinder hatten, musste ich einsehen, dass ich um Kompromisse nicht mehr herumkam. Man hatte mir einmal eine Rolle angeboten, die ich aufgrund ihres oberflächlichen Inhalts ablehnte. »Nein«, sagte ich, »das will ich nicht.« In der Nacht aber konnte ich nicht schlafen, ich dachte an unsere beiden Kinder, und am nächsten Morgen sagte ich meiner Agentin: »Halt, ich spiele doch!«
Denn mir war klar geworden: Man hat mit einer Familie auch eine gewisse Verantwortung. Und ich kann gar nicht anders, ich muss auch einmal Rollen annehmen, die ich künstlerisch eigentlich ablehnen würde. Ich lebe ja nicht mehr für mich alleine, sondern ich muss Entscheidungen zum Wohle meiner Familie fällen.
Natürlich hatte ich mir anfangs immer wieder die Frage gestellt, ob ich die richtige Berufswahl getroffen habe, schließlich hatte ich ja Abitur, und mir stand alles offen. Später aber dachte ich mir: »Sigi, jetzt warst du Arzt, Pfarrer, Kapitän, Architekt, Richter und so weiter, du hast alles gespielt und du weißt jetzt, wie diese Berufe sind.« Einen schöneren Beruf kann man sich gar nicht wünschen.
Ich liebe meinen Beruf, ich liebe meine Frau, und ich liebe meine Kinder.
Mein erstes Bühnen-Engagement hatte ich am Stadttheater Bremen. 350 Mark Monatsgage waren auch Ende der Fünfziger nicht viel Geld. Für Tafelfreuden jedenfalls blieb nichts übrig. Damals war Hunger für mich kein Fremdwort.
Mein Bruder Hermann tat seine ersten erfolgreichen Schritte im Geschäft mit der Mode und führte mich, wann immer er in Bremen aufkreuzte, ganz groß aus. Wir speisten nicht nur feudal, ich verdrückte auch ungeheure Mengen. »Du musst essen!«, befahl Hermann. Und musterte mich so besorgt, als hätte er gerade die ersten Hunger-Ödeme entdeckt.
Die Folgen waren schlimm. Reiste Hermann ab, durchlitt ich jedes Mal drei, vier schreckliche Hungertage. Denn mein Magen hatte sich blitzschnell an reichliche Nahrung gewöhnt und musste nun die nächste Schrumpfkur über sich ergehen lassen.
Die Bremer hatten seinerzeit einen Kulturaustausch mit Rostock. So kam ich zu meinen ersten Auftritten außerhalb der bundesdeutschen Grenzen.
Unsere Ostzonen-Kollegen (damals wurde »DDR« allenfalls in Gänsefüßchen geschrieben und gesprochen) waren glücklich über das Pfund Bohnenkaffee, Spende des Bremer Senats, und die kargen Westmark-Spesen.
Wir kriegten drüben reichliche Spesen. In Ostmark. Und wussten nicht, was wir damit anfangen sollten. Allenfalls in Bücher und Schallplatten ließ das Geld sich einigermaßen sinnvoll anlegen.
Das Grandhotel in Warnemünde, wo wir wohnten, war von außen die reinste Belle Epoque. Innen aber schimmerte der Sozialismus überall durch.
Wir spielten Ibsen und Strindberg. Nur Stücke, die in hanebüchener Manier auf sozialistische Unbedenklichkeit abgeklopft waren. Könige waren grundsätzlich nicht erlaubt, ganz gleich, aus welcher Epoche.
Die Nächte jedenfalls waren lang in Rostock und in Warnemünde. Und früh um sieben klopfte es, die sozialistische Ausführung eines Zimmermädchens kam ohne Umstände herein und sagte sehr nett und kameradschaftlich: »Na, was is denn das! Die Sonne scheint, und noch im Bett! Raus! Raus, Genossen! Ich will das Zimmer machen!« Und sie klatschte dabei in die Hände, dass es wie Gewehrschüsse knallte.
Ich schenkte mir den labbrigen »Bliemchen-Kaffee« und trollte mich zum Strand. Aus vielen großen Lautsprechern drang, mit Marschmusik garniert, Aufklärung über die Unübertrefflichkeit des Sozialismus. Es war deprimierend. Auch für einen jungen Schauspieler, dem es in Westdeutschland alles andere als glänzend ging.
Weihnachten hatte ich während meiner ersten fünfundzwanzig Lebensjahre immer im Familienkreis verbracht. Und so war es kein Wunder, dass mein Bruder Hermann es nicht verstehen wollte, dass wegen meines Engagements in Bremen diese Regel plötzlich durchbrochen werden sollte.
»Es lässt sich nicht ändern«, erklärte ich ihm. Wir unterhielten uns per Telefon, er im oberbayerischen Hagen bei Murnau, ich in Bremen.
»Weihnachten sind zwei Vorstellungen.« Ich spielte den bösen Fliegenpilz in einem Märchen und konnte ebenso wenig schwänzen, als wär’s die Titelrolle in »Don Carlos« gewesen.
»Du kommst nach Hause!«, sagte Hermann. »Ich weiß noch nicht, wie, aber irgendwie krieg ich’s hin.«
»Gib’s auf! Völlig ausgeschlossen, mich Weihnachten hier loszueisen.«
Hermann rief – ohne mein Wissen – den Intendanten an. Natürlich hatte er keinen Erfolg. Da telefonierte er mit Siebert, dem Regisseur des Märchenstücks. Er muss ihm furchtbar zugesetzt haben. Siebert kam mit hochrotem Kopf zu mir: »Ihr Bruder! Hat der noch alle Tassen im Schrank?«
»Wieso?«
»Der wollte, dass ich Ihre Rolle übernehme, damit Sie Weihnachten nach Hause können!«
»Tut mir leid, ich hab damit nichts zu tun. Vergessen Sie’s.«
»Leicht gesagt«, schnaubte er. »Ich hab mich überreden lassen.«
Offenbar tat ihm das schon wieder leid. Aber er war Hermann im Wort und stand dazu.
An der Fliegenpilz-Rolle war glücklicherweise nicht viel zu lernen, und er als Regisseur musste ja am besten wissen, wie er sie aufgefasst haben wollte.
Trotzdem drohte die ganze Vereinbarung im letzten Augenblick zu platzen. Wortwörtlich! Denn Siebert kam nicht ins Kostüm. Es war zu eng.
Ich machte mich klammheimlich davon und holte das Flugticket ab, das mein fürsorglicher Bruder längst hatte reservieren lassen. Ganz wohl war mir nicht bei dem Gedanken an die künftige Zusammenarbeit mit Siebert.
Hermann hatte aber auch daran gedacht. Der Regisseur erhielt ein dickes Paket mit modischen Pullis für sich und seine kleine Freundin. Er war glücklich. Und ich war erleichtert.
Weihnachten bei uns zu Haus: Dazu gehörten immer auch festliche Mahlzeiten. Doch spätestens am zweiten Feiertag brachte meine Mutter etwas Leichtes auf den Tisch, das pikant genug war, unseren Appetit wieder zu wecken und den von Gans oder Ente und all den Süßigkeiten malträtierten Magen nicht noch mehr belastete.
Auch möglichst geringer Arbeitsaufwand spielte eine Rolle, und das finde ich sehr vernünftig.
Weihnachten, das bedeutete für mich immer, zu Hause bei der Familie zu sein. Begonnen an Heiligabend und endend am Dreikönigstag. An Weihnachten war unser Wohnzimmer immer geheizt, das war Luxus. Wir legten keinen Wert auf Geld, das wir ohnehin nicht hatten. Wir schenkten uns selbstgebastelte, gestrickte, gemalte oder ausgesägte Geschenke.