1

Brandyn ließ die dunkle Gasse hinter sich. Wie jeden Abend blieb er kurz stehen und sah noch einmal zurück auf das kleine Häuschen, in dem er lebte. Leben konnte man das wohl nicht nennen, es sei denn, man hatte eine Vorliebe für Ratten und Kakerlaken. Doch es war das, was er verdiente. Diese Unterkunft war so gut wie jede andere auch. Es gab niemanden, für den er sorgen musste, niemanden, der sich über die Zustände hätte beschweren können, also war es egal.

Für einen Moment überlegte Brandyn, heute mal eine andere Route für seinen nächtlichen Spaziergang zu nehmen. Doch allein der Gedanke daran erschreckte ihn zutiefst. Es war wichtig, die Reihenfolge einzuhalten; er war einfach nicht in der Lage, etwas zu verändern. Somit machte er sich auf den Weg zum Trafalgar Square.

Außerhalb seines Viertels wurde die Stadt von Laternen und den Lichtern der Autos und zahlreichen Leuchtreklamen erhellt. Fast taten ihm die Augen weh. Aber nur fast, er hatte gelernt, damit umzugehen. Es würde sowieso niemand merken, wenn seine Augen eine andere Form und eine unnatürliche Farbe annahmen.

Wie immer blieb er eine Weile am Denkmal mitten auf dem Trafalgar Square stehen. Es war von den Londoner Bürgern errichtet worden, um Admiral Lord Nelson für den Sieg der Engländer über die Franzosen und Spanier Ehre zu erweisen. Der Admiral war in der Schlacht von Trafalgar tödlich verwundet worden. So stand es zumindest in den Geschichtsbüchern. Das glaubten natürlich auch die Touristen und Einheimischen, die sich trotz der abendlichen Stunde hier herumtrieben. Brandyn wusste es besser. Mit dieser beschissenen Schlacht hatte sein eigenes Dilemma begonnen.

Nach einer Viertelstunde wurde er unruhig. Wie oft schon hatte er versucht seine Rituale zu durchbrechen, aber es gelang ihm nicht! Fast beneidete er die Menschen, die spontane Entscheidungen treffen konnten und einfach entschieden, vielleicht länger als geplant am Denkmal zu verweilen. Das, was ihn ausmachte, was tief in ihm brodelte, ließ keine Abweichung von der Routine zu.

Er setzte seinen Spaziergang fort und ging zur Oxford Street. Londons wichtigste Einkaufsstraße. Brandyn hatte sich oft gefragt, warum es ihn immer wieder genau hierhin zog. Es gab nur eine Erklärung: die Menschen. Hier waren sie glücklich. Was machte sie nur so happy, wenn sie ihre Einkaufstüten füllen konnten? Er versuchte sich zu erinnern, ob er einst ähnliche Gefühle gehabt hatte, doch Einkaufszentren hatte es damals nicht gegeben. Er hatte sich den Schneider in die Burg bestellt.

Mittlerweile fiel es ihm von Jahr zu Jahr schwerer, wie ein Mensch zu empfinden. Die Menschlichkeit entglitt ihm. Er betrachtete sich in einem der Schaufenster. Was, wenn ihn jemand sehen könnte? Derjenige würde einen ganz normalen Mann sehen, gekleidet in einer modernen tief sitzenden Jeans mit einem schwarzen T-Shirt und Boots. Seine Haare waren zu lang und schimmerten in unterschiedlichen Brauntönen, manchmal auch etwas rötlich. Doch hier in London würde er damit noch nicht einmal sonderlich auffallen. War da nicht gerade ein Typ mit einem lilafarbenen Irokesen an ihm vorbeigelaufen? Die Menschen kamen schon auf verrückte Ideen. Brandyns Augen waren keine menschlichen Augen, er zwang sich, sie wieder menschlich werden zu lassen, und die Lichter um ihn herum taten ihm weh. Doch er musste einfach die Gewissheit haben, dass er immer noch wie einer von ihnen aussah. Seine Augen schimmerten wie grüne Smaragde. Brandyns Mutter hatte immer gesagt, dass den Menschen so etwas gefiel, und als er zum Mann heranwuchs, da war ihm klar geworden, wie recht sie gehabt hatte. Schnell verdrängte er die Gedanken daran, was er in seiner Unerfahrenheit den menschlichen Frauen angetan hatte.

Immer noch betrachtete er sich im Schaufenster. Was nützte es ihm, menschlich auszusehen, wenn niemand ihn wahrnehmen konnte? Vielleicht war es besser so. Diese Strafe hatte er verdient. So konnte auch niemand sehen, was für eine Bestie unter dieser menschlichen Hülle steckte. Sie hatte schon immer dort gelauert.

Brandyn wollte sich gerade umdrehen, um seinen Weg fortzusetzen, als er durch das Schaufenster sie sah. Wie angewurzelt blieb er stehen. Sie lächelte die Verkäuferin an. Nein, sie lächelte eher das Kleid an, das die Frau hochhielt. Vor über zweihundert Jahren hatte ihm eine Frau zuletzt ein Lächeln geschenkt. Niemals wieder konnte ein weibliches Wesen so etwas für ihn tun – und das tat weh.

***

»Das Kleid steht Ihnen hervorragend. Sie haben die richtige Entscheidung getroffen.«

Zara konnte nur hoffen, dass die Verkäuferin recht hatte, denn der Preis überstieg ihr Budget bei Weitem. Noch einmal versuchte sie sich in Gedanken zur Ordnung zu rufen und doch ein günstigeres Modell auszuwählen, aber wozu gab es schließlich Kreditkarten? Der Anlass war einfach zu wichtig. Der Presseball, an dem sie zum ersten Mal teilnehmen durfte, musste ein Erfolg werden. Das war ihre Chance, die Karriereleiter beim Royal London Newswire nach oben zu klettern.

»Ich nehme es.«

Die Verkäuferin nickte zufrieden. »Der Rotton passt hervorragend zu Ihren braunen Haaren und Augen.«

Das hatte die Dame schon dreimal gesagt – und hey, sie nahm das Kleid doch, es gab keinen Grund mehr, es weiter anzupreisen. Die Frau entfernte sich von ihr in Richtung Kasse und gab den Blick auf das Schaufenster frei.

Zaras Herz setzte aus, ihr wurde heiß. In ihrem Inneren vibrierte es; verdammt, was war das denn? Ein Herzinfarkt? Und o Gott, wer war der Kerl da draußen, der sie ungeniert anstarrte?

Unfähig sich zu bewegen, blieb ihr nur, zurückzustarren. Der Typ sah gut aus. Überirdisch gut. Seine verwaschene Jeans trug er tief auf den Hüften. Das schwarze T-Shirt reichte gerade bis zum Bund und saß eng anliegend auf dem schlanken Oberkörper. Er hatte ausgetretene Boots an, aber es waren die coolsten Stiefel, die sie sich an einem Mann vorstellen konnte. Seine Haare waren total durcheinander – zu lang für eine ordentliche Frisur; ein paar Strähnen fielen ihm in die Stirn. Zaras Hand zitterte, sie wollte sie anheben und die Strähnen aus seinem Gesicht streichen. Doch da waren die Scheibe und ein paar Schaufensterpuppen zwischen ihnen. Seine Augen erschienen leicht mandelförmig, irgendwie sahen sie eigenartig aus. Grün, aber die Pupillen waren zu groß, wo war das Weiße? Im nächsten Moment sah sie es, so als hätte er seine Augen verändert, sie waren jetzt auch etwas runder.

Gott, sie war dabei, durchzudrehen! Niemand konnte seine Augen verändern!

»Miss?« Die Verkäuferin war wieder zu ihr getreten. »Geht es Ihnen gut? Sie sind so blass.«

»Der Mann da, kennen Sie den?«

Die Dame drehte sich um und sah dann wieder auf Zara. »Welcher Mann? Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht? Möchten Sie ein Glas Wasser?«

»Aber …« Er stand doch da. Warum sah die Verkäuferin ihn denn nicht? Zara löste sich endgültig aus ihrer Starre. »Warten Sie.« Sie drängte sich an der Bedienung vorbei zum Ausgang. Dadurch verlor sie ihn natürlich kurz aus den Augen. Als sie aus dem Geschäft trat, war er nicht mehr da. Sie blickte nach rechts und links, aber es waren einfach noch zu viele Menschen unterwegs, außerdem lag das Geschäft an einer Ecke; wahrscheinlich war er einfach abgebogen.

Sie unterdrückte den Impuls, den Bürgersteig entlangzustürmen. Wozu auch? Er hatte wahrscheinlich nur die Kleider im Fenster angesehen. Vielleicht suchte er etwas für seine Frau oder Freundin. Sicher hatte er nicht sie angestarrt. Und sicher hatte sie sich das mit seinen Augen nur eingebildet. Seufzend betrat sie wieder den Laden und zückte ihre Kreditkarte.

So viel Geld für ein Kleid auszugeben konnte einem schon mal das Hirn vernebeln.

***

Brandyn stolperte fast über seine eigenen Füße. Sie hatte ihn gesehen, anders ließ es sich nicht erklären. Er kannte die Blicke zur Genüge, die Menschen sahen einfach durch ihn hindurch. Er war unsichtbar, niemand konnte ihm in die Augen sehen. Doch eben hatte er das Gefühl gehabt, dass jene Frau genau das getan hatte. Er war in Panik geraten und weggerannt, als die Verkäuferin sich dann auch noch zu ihm umgedreht hatte, so als hätte die junge Dame sie auf ihn aufmerksam gemacht.

Auch wenn es ihm schwergefallen war zu verschwinden, denn jene Frau war wunderschön, es war nicht nur ihr Lächeln gewesen, sondern ihre gesamte Erscheinung. In den letzten zweihundert Jahren hatte die Damenwelt sich verändert. Es schien ihm, als gäbe es nur zwei Extreme; entweder waren sie fett oder mager. Wohlproportioniert, wie zu seiner Zeit, waren die wenigsten. Doch die Frau im Laden war es gewesen. Vielleicht einen Meter fünfundsechzig groß, mit wirklich großen Brüsten und einem kleinen Bauch. Er mochte so etwas. Verdammt, er hätte gern gewusst, ob ihr Hintern auch etwas fülliger war!

Wie vom Blitz getroffen blieb er stehen. Worüber dachte er nach? Er würde die Frau nie wiedersehen und sie hatte ihn auch nicht angeschaut. Das konnte nicht sein. Niemand konnte ihn sehen oder berühren, es war nicht möglich.

Brandyn blickte sich verwundert um, er hatte überhaupt nicht darauf geachtet, wohin er gelaufen war. Das war nicht gut, er brauchte die Routine. Sein Magen krampfte sich zusammen, der Hunger kam.

Der Hunger, den er nie vollständig stillen konnte. Eine weitere Strafe, die man ihm auferlegt hatte. Menschliches Blut war das Einzige, was ihn sättigte, doch er konnte keine Menschen berühren; nichts, was lebendig war, konnte er anfassen. Nicht, dass er es am Anfang nicht versucht hätte. Alles, was lebte, war für ihn nicht greifbar, seine Hände glitten einfach hindurch. Gegenstände oder tote Menschen konnte er dagegen berühren.

Er trank das Blut von toten Tieren, die er an Landstraßen oder Autobahnen fand. Armselig, aber seine einzige Möglichkeit, den Hunger zumindest im Ansatz zu stillen. Er hätte auch in ein Leichenhaus gehen können, doch der Rest Menschlichkeit, der ihm noch geblieben war, untersagte es ihm.

Seine Eckzähne verlängerten sich automatisch. Er musste raus aus der City, sich auf die Suche nach Aas begeben. Vielleicht waren ihm auch mal wieder ein paar Ratten in die Fallen gegangen, die er in seinem Haus aufgestellt hatte. Doch die Biester schienen immer schlauer zu werden. Schon seit Monaten hatte sich keine einzige mehr darin verirrt.

Die Frau … ging ihm nicht aus dem Kopf. Sie machte ihm wieder deutlich, was er alles verloren hatte. Wenn er doch nur sterben könnte!

***

Es war doch einfach verrückt, zu dieser späten Stunde einem Phantom hinterherzujagen. Aber es war auch verrückt, so viel Geld für ein Kleid auszugeben, also konnte Zara jetzt noch eins draufsetzen. Eine Stunde lang war sie rund um das Geschäft alle Straßen abgelaufen, aber den geheimnisvollen Typen hatte sie nicht mehr gesehen.

Zara ließ sich am Denkmal von Lord Nelson nieder, sie lehnte sich an eine der Löwenstatuen und schloss kurz die Augen. Immer noch waren viele Touristen unterwegs und sie war nicht die Einzige, die diesen Platz für eine Pause ausgewählt hatte. Die vier Statuen, die die Säule mit Lord Nelson umrahmten, dienten einigen als Sitzgelegenheit.

Es ging auf Mitternacht zu. Sie musste dringend nach Hause. Morgen früh war für acht Uhr eine Redaktionssitzung geplant. Sie hasste Redaktionssitzungen. Nein, die Sitzungen eigentlich nicht, eher ihre Kollegen beim Royal London Newswire. Ein Seufzer entfuhr ihr. Nein, sie hasste niemanden, die Kollegen hassten sie. Sie war das Küken. Frisch von der Uni gekommen und schon der Liebling des Chefredakteurs.

Auf so was fuhren sie nun mal nicht ab. Dabei hatte Zara es mit Sicherheit nicht darauf angelegt. Die Story, die sie direkt am zweiten Tag ihrer Tätigkeit in den Fokus gerückt hatte, war einfach eine Herzensangelegenheit gewesen. Sie hatte schon während ihres Studiums dafür recherchiert. Die Umwelt lag ihr am Herzen und dass ausgerechnet zu Beginn ihrer Tätigkeit eine Bohrinsel im Golf von Mexiko explodierte und die Sache wie die Faust aufs Auge zu ihren Recherchen passte, hatte sie doch nicht provoziert.

Also war sie nach einem kleinen Gespräch mit dem Chefredakteur und der Vorlage ihrer Unterlagen direkt mit dieser wichtigen und großen Story betraut worden.

Zara hatte ihre Sache hervorragend gemeistert. Das war vor drei Monaten gewesen. Jetzt auch noch die Einladung ihres Chefs, sie mit auf den Presseball zu nehmen. Auch das war nicht gerade förderlich, um sie bei den Kollegen beliebter zu machen.

»Scheiß drauf«, murmelte sie vor sich hin. Dann konnten die anderen sie halt nicht leiden. Wer brauchte schon Freunde unter den Kollegen?

Sie nahm den hübschen Karton, in dem die Verkäuferin ihr Kleid sorgfältig in Seidenpapier eingewickelt hatte, und stand auf. Als sie dabei kurz den liegenden Löwen berührte, schien die Luft um sie herum zu flimmern. Sie hörte ein Summen. Hastig sah sie nach links und rechts. Tausende blinkende Lichterfunken tanzten um sie herum, so wie feiner Staub, nur dass sie eben glitzerten. Das Summen hörte sich an wie ein Bienenschwarm.

Niemand schien es jedoch wahrzunehmen, die Menschen um sie herum unterhielten sich weiter. Zaras Herz begann wie wild zu klopfen. Was zum Teufel war los? Stimmte etwas nicht mit ihr? Sie umklammerte den Karton mit dem Kleid – und in dem Moment, als sie die Hand von der Statue nahm, wurde es sofort wieder still und die Glitzerpartikel verschwanden, als wären sie nie in der Luft gewesen.

Sie hätte wohl selbst eine Statue sein können; wie schon im Laden vermochte sie es für einen Moment nicht, sich zu rühren. Zara hatte keine Ahnung, wann genau diese seltsame Starre von ihr abfiel.

Sollte sie die Statue noch einmal berühren, um zu sehen, ob es daran lag und es wieder passierte? Nein, auf keinen Fall. Für diesen Abend hatte sie genug von seltsamen Ereignissen. Sie rannte schon fast zum nächsten Taxistand. Ein Taxi war zwar teuer, aber darauf kam es jetzt auch nicht mehr an. Mit der Londoner Tube hätte es zu lange gedauert; sie wollte nur noch nach Hause – in ihr Bett und sich die Decke bis über die Nase ziehen.

***

Zwei tote Katzen im Hinterhof einer Metzgerei konnten Brandyn nicht wirklich befriedigen, aber besser als nichts. Wahrscheinlich hatten sie vergiftete Ratten gefressen und waren daran verendet. Zumindest hatte es so geschmeckt. Ihm selbst konnte kein Gift der Welt etwas anhaben. Nichts konnte ihn umbringen.

Er hatte alles versucht. Sich erdolchen, erhängen, erschießen, Gift – und er hatte sogar aufgehört Blut zu trinken. Das Ergebnis war nicht Verhungern, sondern die Verwandlung in ein Monster. Für die meisten wäre er das bereits, weil er Blut trinken musste, aber die Verwandlung würde sich auch auf seinen Körper auswirken. Nicht, dass die Schwarze Hexe es ihm nicht erklärt hätte, als sie ihn verfluchte. Er hatte ihr nur nicht glauben wollen.

Wenn ein Mensch ihn hätte sehen können, dann wäre er als fünfundzwanzigjähriger Mann durchgegangen. Die Spuren des Versuchs zu verhungern waren nicht sichtbar; die konnte er unter der Kleidung verstecken. Noch! Die Haut an Bauch und Rücken war an einigen Stellen schwarz geworden und fühlte sich wie hartes Leder an. Die Form seiner Augen konnte er seitdem kaum noch kontrollieren.

Was hatte die Hexe ihm prophezeit? Tausend Jahre voller Hunger, die ihn zu einem schwarzen Monster machen würden. Nur das Trinken von frischem Menschenblut hätte es verhindern können, was unmöglich war. Ein Monster, das zu ewigem Leben verdammt sein würde, zu ewigen Schmerzen, zu ewigem Hunger.

Durch seine Versuche sich umzubringen hatte er die Verwandlung vielleicht ein bisschen beschleunigt, verhindern konnte er sie sowieso nicht. Wie würde es sein, das letzte bisschen Menschlichkeit zu verlieren? War das nicht vielleicht besser? Doch die Hexe hatte prophezeit, dass er dann immer noch fühlen konnte – als geflügeltes Monster – nur eben nichts Positives mehr.

Wieder einmal überlegte er, sich in sein Schicksal zu ergeben und es einfach geschehen zu lassen. Nicht tausend Jahre zu warten, sondern die menschliche Gestalt aufzugeben. Sein menschliches Denken und seine Gefühle abzustoßen. Er musste nur aufhören zu trinken – und aufgeben.

Es gab lediglich einen Grund, warum er es bisher nicht getan hatte. Einzig eine Hexe aus dem Geschlecht der Schwarzen Hexe konnte den Fluch rückgängig machen und das auch nur, solange er sich nicht vollständig in einen Savage verwandelt hatte. Solange noch etwas Menschliches in ihm war.

Vor hundert Jahren hatte er eine Hexe gefunden, eine Großcousine der Schwarzen Hexe, die ihn verflucht hatte, doch ihre Versuche, ihm zu helfen, waren fehlgeschlagen. Sie war daran gestorben. Noch mehr Schuld, die er auf sich geladen hatte.

Zum zweiten Mal zog es ihn an diesem Tag zum Trafalgar Square. Lord Nelson, das Denkmal, eine Touristenattraktion und sein persönliches Mahnmal.

Er sah sie sofort. Die Frau aus dem Laden! Was machte sie ausgerechnet an dieser Statue? Sie hielt sich an einem der Löwen fest. Es schien ihr nicht gut zu gehen.

Als er noch ein Mensch gewesen war, war er vielen Frauen zu Hilfe geeilt. Okay, er hatte immer Hintergedanken gehabt. Eine Frau zu retten hieß für ihn, dass er Gegenleistungen erwartete. Sexuelle Gefälligkeiten, aber auch andere Dienste, wie das Ausspionieren seiner Eltern und Brüder. Als jüngster Sohn in seiner Familie hätte er so gut wie nichts geerbt und mit seinen beiden älteren Brüdern hatte er sich nie verstanden.

Brandyn verscheuchte die Gedanken an sein menschliches Leben und verfolgte die Frau. Sie stieg in ein Taxi.

Einen Vorteil hatte seine stofflose Gestalt. Er lief nicht wirklich, er schwebte durch die Luft und war an keine natürliche »Geschwindigkeitsbegrenzung« durch Fleisch, Blut oder Atmung gebunden. Sie ließ sich zur Old Pye Street fahren. Nachdem sie bezahlt hatte, betrat sie ein Haus. Brandyn beobachtete das Gebäude. Im zweiten Stock ging das Licht an – und er setzte sich auf den entsprechenden Fenstersims.

Dichte Gardinen machten eine gute Sicht unmöglich, aber er konnte sie durch das Zimmer laufen sehen. Es war ihr Schlafzimmer. Die Schachtel, die sie mitgebracht hatte, legte sie vorsichtig auf einem Sessel ab, so als würde sich eine hochexplosive Bombe darin befinden.

Er kam sich vor wie ein Spanner, als sie ihren Zopf löste und sich ihr Oberteil über den Kopf zog. Okay, er benahm sich tatsächlich wie ein Spanner, denn ihr weißer BH verdeckte die prallen Spitzen ihrer Brüste nicht wirklich. Gut, dass ihn keiner sehen konnte, denn er presste förmlich die Nase gegen die Scheibe.

Es war zu lange her, dass er eine Frau hatte berühren können. Seine Finger zuckten. Zum ersten Mal seit zweihundert Jahren vergaß er seinen Hunger. Wie sie sich wohl anfühlte? Ob ihre Haut so weich und zart war, wie sie aussah?

Jetzt zog sie sich auch noch die Hose aus!

Dreh dich um.

Er musste unbedingt wissen, wie prall und fest ihr Hintern war.

Über sich selbst entsetzt stöhnte Brandyn auf. Er war erbärmlich. Armselig. Vor allem aber war er traurig. Wenn er hätte weinen können, dann hätte er jetzt den Tränen freien Lauf gelassen. Er wollte ihr nichts tun, er wollte sie zwar berühren, aber es ging gar nicht so sehr um Sexuelles. Die Einsamkeit war tausend Mal schlimmer als sein Hunger. Er lechzte danach, gehalten zu werden, mit jemandem reden zu können.

Verdammte Menschlichkeit, die immer noch in ihm steckte und an der er so verzweifelt festhielt.

Sie drehte sich um.

Bingo!

Ihr Hintern war prall und einfach nur zum Niederknien. Brandyn schloss die Augen. Er musste damit aufhören. Er versuchte sich zu zwingen, seinen Platz auf dem Sims zu verlassen, als ein Schrei ihn die Augen wieder aufschlagen ließ.

Oh. Mein. Gott.

Sie stand vor dem Fenster; wahrscheinlich hatte sie die Vorhänge zuziehen oder das Fenster öffnen wollen. Ihre Augen waren weit aufgerissen – und ihr Mund war von dem Schrei noch leicht geöffnet.

Sie sah ihn an!

2

Als Zara am nächsten Morgen aufwachte, blickte sie als Erstes zum Fenster. Der Wecker gab schrille Töne von sich und sie schlug einfach wahllos auf das piepende Teil.

Sie hatte vielleicht zwei Stunden geschlafen, nachdem sie das Gesicht des Mannes an ihrem Fenster gesehen hatte.

Für einen Moment war sie wie erstarrt gewesen, dann hatte sie zum Telefon gegriffen und die Nummer des Notrufs gewählt.

Als jemand abnahm, legte sie wieder auf, denn zum einen war das Gesicht verschwunden und zum anderen, was hätte sie denn sagen sollen?

Da hängt ein Mann vor meinem Fenster im zweiten Stock. Er schwebt.

Die hätten doch direkt einen Krankenwagen mit Freifahrt in die Psychiatrie geschickt.

Eine Weile saß sie einfach im Bademantel auf einem Sessel und beobachtete das Fenster, aber es passierte nichts mehr.

Sie war wohl heillos durcheinander – wegen des Presseballs, ihres Jobs; Stress konnte solche Trugbilder sicher hervorrufen.

Es kam ihr selbst wie ein Wunder vor, aber Zara schaffte es pünktlich in die Redaktion und sie sah auch noch einigermaßen frisch aus.

Die meisten hatten sich schon im Besprechungszimmer 1 versammelt. Keiner nahm Notiz von ihr, als sie den Raum betrat und sich an den großen ovalen Tisch setzte. Heute war also Ignorieren angesagt, in der letzten Woche waren es giftige Blicke gewesen.

In der Mitte des Tisches waren wie immer Kannen mit Kaffee und Gebäck aufgebaut. Zaras Magen knurrte lautstark. Mehr als einen Kaffee zu trinken hatte sie nach dem Aufstehen zeitlich einfach nicht geschafft. Als sie nach einem Stück Früchtekuchen greifen wollte, schob jemand die Platte mit den Leckereien zur Seite. Nach und nach wurden alle Nahrungsmittel und die Kaffeekannen aus ihrem Einzugsbereich geschoben, sodass sie hätte aufstehen oder jemanden bitten müssen ihr die Sachen anzureichen.

Okay, dann würde sie halt später etwas essen.

Graham Clarkson, Chefredakteur des Royal London Newswire, betrat den Raum. Er murmelte eine kurze Begrüßung und ließ sich dann auf den Bürostuhl am Kopf des Tisches fallen.

Betsy Conroy hastete sofort los, um ihm Gebäck und Kaffee zu servieren. Clarkson würdigte sie keines Blickes, sondern griff zur Teekanne. Zara musste ein kleines Lächeln unterdrücken. Betsy war eine einigermaßen gute Journalistin, aber sie konnte sich viele alltägliche Dinge nicht merken. Auch nicht, dass Graham ausschließlich Tee trank.

Der Royal London Newswire erschien einmal die Woche mit politischen und gesellschaftlichen Themen. Außerdem gab es eine Internetseite mit verschiedenen Sparten. Zara war beim Magazin angestellt, was ihr wesentlich besser gefiel. Sie recherchierte gern und jagte ungern irgendwelchen Schlagzeilen für die tägliche Berichterstattung im Netz hinterher. Bei einem Magazin, das jeden Freitag erschien, hatte man einfach mehr Möglichkeiten für große Storys.

»Unsere Verkaufszahlen sind etwas eingebrochen, wir brauchen eine wirklich gute Geschichte in den nächsten Wochen. Etwas, was die Menschen in Atem hält. Am besten in Serienform. Die Sommerflaute darf uns dieses Jahr nicht erwischen.« Graham sah in die Runde. »Vorschläge?«

Betsy hob wie in der Schule die Hand. Sie schien nicht mitzubekommen, dass ihr Chef darüber die Augen verdrehte. Niemand hob die Hand, man warf seine Vorschläge einfach in den Raum.

»Ja, Betsy?«

»Die steigenden Mieten …«

»Nein danke.« Graham hatte ihr sofort den Wind aus den Segeln genommen.

Er schmetterte noch weitere Vorschläge ab und als Schweigen herrschte, sah der Chefredakteur erwartungsvoll zu Zara rüber.

O nein! Bitte nicht. Sie hätte ein paar gute Ideen gehabt, aber sie wollte sie ihm lieber unter vier Augen präsentieren. Jetzt waren alle Blicke auf sie gerichtet und die Gesichter ihrer Kollegen sahen nicht gerade freundlich aus.

Zaras Wangen glühten, die Hände dagegen waren eiskalt und sie zitterten leicht. »Also ich denke, dass der Tod des Obdachlosen in der U-Bahn der Auftakt sein könnte. Ich habe mit einigen Obdachlosen gesprochen. Manche Lebensgeschichten sind faszinierend. Wir gehen täglich an ihnen vorbei und machen uns keine Gedanken. Der zu Tode geprügelte Mann war doch kein Abschaum.« Je mehr sie über ihre Idee erzählte, desto sicherer wurde ihre Stimme. Als sie fertig war, nickte Graham.

»Das gefällt mir. Das wird unsere große Sommerserie. Vielleicht können wir den Menschen die Menschlichkeit wieder näherbringen. Du hast die Story, Zara.«

Mehr als ein Lächeln erlaubte sich Zara nicht. Noch ein Grund mehr, dass die anderen sie hassen konnten. Weitere Storys wurden verteilt und nach zwei Stunden war das Meeting vorbei. Die meisten waren schon dabei, zu gehen, auch Zara, als Graham fragte: »Ein Kleid gefunden für den Presseball?«

Natürlich wussten die anderen, dass sie in diesem Jahr ausgewählt worden war, Graham zu begleiten, aber musste er es allen wieder in Erinnerung rufen? »Ja, ich bin bereit.«

Als sie den Besprechungsraum verließ, hörte sie Betsy zu John sagen: »Die ist doch sicher allzeit bereit. Graham scheint ja auf Flittchen zu stehen.«

Steven Ponder gesellte sich zu John Veneto und Betsy Conroy, er drehte sich zu Zara um, so als wollte er sichergehen, dass sie ihn auch hörte. »Mir war gleich klar, dass sie es Graham ordentlich besorgt. Ich hoffe für Graham, dass ihre Sexpraktiken besser sind als ihre Storys.«

Zara wollte nichts mehr hören. Sie schaffte es nicht, hocherhobenen Hauptes an ihnen vorbei zu ihrem Schreibtisch zu gehen, stattdessen nutzte sie den Notausgang und verließ die Redaktion.

***

Die Fahrt nach Berkshire dauerte aufgrund des hohen Verkehrs länger, als Zara gedacht hatte. Ihr alter Golf würde diese Abstecher zu ihrer Mutter nicht mehr lange mitmachen. Noch hatte sie nicht genug Geld zusammengespart, um sich ein neues Auto zu kaufen. Einen Kredit wollte sie nicht aufnehmen, sie hatte noch einige Möbel und ihr Studium abzubezahlen. Deshalb nutzte sie innerhalb Londons meistens die Tube.

Das kleine Häuschen lag versteckt am Rande eines Waldweges. Es sah aus, wie man sich ein Hexenhäuschen vorstellen würde, und das Schlimme war, ihre Mutter glaubte daran, eine Hexe zu sein.

Ihren Vater hatte Zara nie kennengelernt. Ihre Mutter hatte immer behauptet, es gäbe keinen, sie sei von einem göttlichen Wesen berührt worden. Die ersten Jahre ihres Lebens war Zara in einem Heim aufgewachsen, bis ihre Mutter als geheilt aus der Anstalt entlassen worden und ihr unter Aufsicht des Jugendamtes das Sorgerecht übertragen worden war.

Zara parkte das Auto direkt vor dem Gartentörchen. Sie atmete einmal tief durch und erst dann war sie in der Lage, aus dem Auto zu steigen. Heute hatte sie eindeutig den Hang dazu, sich selbst zu quälen. Erst die Redaktionssitzung und jetzt besuchte sie freiwillig ihre Mutter.

»Hi Mum!« Die alte Tür quietschte, egal wie oft ihre Mutter sie ölte, es änderte sich nichts. Genauso wenig wie am Glauben ihrer Mutter, eine Hexe zu sein, auch wenn sie so schlau war, es nicht mehr öffentlich zu sagen.

Auf dem Tisch standen zahlreiche Marmeladengläser. »Hallo, mein Schatz. Du kommst genau richtig, kannst du die Gläser auf dem Rückweg mit zu Sam's nehmen. Das ist seine Bestellung für diese Woche.«

»Aber klar.« Sie drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. Eines musste sie ihr lassen, sie machte verflixt gute Marmelade und alle kleineren Läden und auch viele Privatleute kauften bei ihr, sodass sie das Häuschen halten und einigermaßen davon leben konnte. Ihre Mutter lebte von den Dingen, die sie selbst anpflanzte. Egal wie verrückt sie war, man musste der Frau zugutehalten, dass sie sie beide über die Runden gebracht und Zara eine ausgezeichnete Ausbildung ermöglicht hatte.

»Wie läuft es bei der Zeitung?«

»Hervorragend.« Das tat es ja, zumindest was den Job an sich anging. Bei der Sache mit den Kollegen konnte ihre Mutter sowieso nicht helfen. Menschen waren nicht gerade das Spezialgebiet der Hexe Wakefield.

Die obligatorische Tasse Kräutertee wurde Zara vor die Nase gestellt. »Trink, du siehst müde aus.«

»Ich habe nicht gut geschlafen letzte Nacht.«

»Warte, ich gebe dir ein paar Kräuter …«

»Nein!« Beim verletzten Anblick ihrer Mutter beeilte sich Zara hinzuzufügen: »Danke, aber bitte, wir wollten doch dieses Thema vermeiden.«

Schon während ihrer Schulzeit hatten sie die Abmachung getroffen, dass Kräuter und das ganze Hexenthema tabu sein mussten. Nicht dass es wirklich funktioniert hätte, aber Zara glaubte fest daran, dass es sonst noch öfter zu Streit gekommen wäre. Hätte sie jemand nach dem Verhältnis zu ihrer Mutter gefragt, dann hätte sie ruhigen Gewissens mit »kompliziert« antworten können. Ein wirkliches Mutter-Tochter-Verhältnis hatte es nie gegeben, da sie erst mit zehn Jahren zu ihr gezogen war. Marsha Wakefield war ihr immer sonderbar vorgekommen. Am Anfang hatte sie ihr Angst bereitet, später hatte sie sich für sie geschämt und am Ende mit ihr arrangiert.

Sie machte der Frau keine Vorwürfe, diese gab ihr Bestes. Leider war das manchmal nicht genug. Bis heute hätte Zara gern gewusst, wer ihr Vater war. Sie bedauerte auch, dass sie nie Freunde gehabt hatte, denn niemand wollte sie besuchen, alle fanden sie und ihre Mutter eigenartig. Vielleicht war Zara das auch, denn auch an der Uni, als sie nicht mehr bei ihrer Mum lebte, war es ihr schwergefallen, Kontakte zu knüpfen, und wie sah es jetzt in der Redaktion aus? Schlimmer denn je.

»Was bedrückt dich, mein Kind?«

»Nichts.«

Marsha hatte sich zu ihr an den Tisch gesetzt. Die Marmelade war eine Barriere, die nicht zuließ, dass ihre Mutter über den Tisch hinweg ihre Hand nahm. Zara war froh darum.

Warum war sie bloß hergefahren? Sie musste dringend für ihre Serie recherchieren. Das Gesicht am Fenster, die Gestalt beim Einkaufen, die war schuld.

»Mum, wann wusstest du, dass du krank bist?«

»Ich verstehe nicht?«

»Ach Mum, ich wünschte, du würdest einmal ehrlich mit mir sein. Liegt es in der Familie? Könnte ich auch in der Psychiatrie landen?«

Marsha riss die Augen auf. Verletzt. Sie wollte ihre Mutter nicht verletzen, aber verstand sie denn nicht, dass Zara Angst hatte? Angst davor, so zu werden wie ihre Mutter?

»Es ist keine Krankheit.« Marshas Stimme war nur ein Flüstern. Ein trauriges Flüstern. »Nur leider ist für Menschen wie uns kein Platz mehr auf dieser Welt. Aber mach dir keine Sorgen, du bist nicht wie ich. Du bist keine Hexe. Dein Vater hat das verhindert. Seine Gene waren stärker als meine. Aber du hast ein kleines Feuer in dir. Das hast du von ihm.«

Am liebsten hätte Zara den Kopf in den Händen vergraben. So kam sie nicht weiter. »Wirst du mir eines Tages die Wahrheit über meinen Vater sagen?« Sie konnte nicht verhindern, dass Tränen in ihre Augen traten.

»Ich wünschte, du würdest dich öffnen, dann wären die Tränen nicht nötig, Zara.«

Zara stand auf. »Ich muss zurück. Ich weiß auch nicht, warum ich hergekommen bin.« Sie ließ die Marmelade absichtlich stehen.

Als sie den kurzen Weg zum Gartentor hinunterlief, hörte sie ihre Mutter hinter sich rufen. »Ich weiß, warum du heute hier bist. Dir ist etwas Ungewöhnliches passiert. Du willst es nicht wahrhaben. Aber du kannst nicht davor weglaufen!«

Zara wollte es nicht hören. Sie wollte auch das Gesicht des Mannes nicht mehr sehen. Sie wollte einfach nur ein normales Leben führen. War das denn zu viel verlangt?

***

Brandyn zitterte. Es war Sommer und ihm klapperten die Zähne. Der Hunger hatte ihn fest in seinen Klauen. Zwei tote Katzen waren nichts; er hätte mehr gebraucht, aber die Frau hatte ihn vollkommen aus der Bahn geworfen.

Eingerollt wie ein Embryo lag er auf dem Fußboden in der Dunkelheit. Die mit Holz verbarrikadierten Fenster seiner Bleibe ließen keinen Lichtstrahl ins Innere. Er tastete mit den Fingern den Bauch entlang. Die schwarze Stelle war größer geworden. Sie war jetzt handgroß, dazu musste er nicht in einen Spiegel sehen, die Haut fühlte sich wie Leder an.

Sie hatte ihn aus großen braunen Augen angesehen, Entsetzen darin, dennoch hatte der Blick ihn erwärmt. Sie war ein menschliches Wesen, wunderschön und gut. Er wusste es einfach.

Brandyn hatte die Menschen in den letzten zweihundert Jahren zur Genüge studiert, nur die wenigsten waren wirklich gut. Die meisten trugen einen Kern des Bösen in sich. So wie er einst und nur deshalb hatte die Schwarze Hexe ihn zu verfluchen vermocht.

Kein Wesen würde die junge Frau verfluchen können; ihr Kern war rein, ihre Seele war vollkommen. Allein aus diesem Grund sollte eine Kreatur, wie er selbst es jetzt war, sich von ihr fernhalten.

Er stöhnte auf bei dem Gedanken daran, sie nie wiederzusehen. Brandyn hätte sich einreden können, dass er nur zu ihr gehen wollte, um herauszufinden, ob sie ihn berühren konnte, doch eine Berührung war nicht alles, wonach er lechzte. Wenn er sie anfassen konnte, dann wäre es möglich, sich von ihr zu nähren. Zum ersten Mal in seinem unsterblichen Dasein satt zu werden.

Wieder stöhnte er laut auf. Er musste sich verdammt noch mal zusammenreißen; das konnte und würde er ihr nicht antun! Genug Schaden und Schmerz hatte er über andere Menschen gebracht.

Mühsam erhob er sich, ihm war schwindlig. Er brauchte kein Licht, um sich in seiner Baracke zurechtzufinden. Er wusch sich mit eiskaltem Wasser, denn Strom und warmes Wasser gab es nicht. Eine saubere Jeans lag noch auf einem alten Regal und ein sauberes T-Shirt fand er in einer der alten Kommoden.

Es war noch früh am Abend, normalerweise machte er sich später auf den Weg, doch es zog ihn zu ihrer Wohnung. Wie ein Sog, dem er absolut nichts entgegenzusetzen hatte.

Der laue Sommerabend hatte zahlreiche Pärchen herausgelockt. Viele vergnügten sich am London Eye. Brandyn verweilte einen Moment am Riesenrad und beobachtete die Menschen. Sein Herz schmerzte – kein Hunger, wehmütige Sehnsucht nach einem Leben, das er verloren hatte, ergriff ihn. Ein Leben, das er fortgeworfen hatte aus purem Neid. Nicht umsonst war Neid eine der Todsünden; er hatte diese Dinge niemals ernst genommen, jetzt wusste er es besser und es war zu spät.

In seiner unsichtbaren Gestalt brauchte er nicht lange, um zu ihrer Wohnung zu gelangen. Die Wärme hatte sie dazu gebracht, alle Fenster zu öffnen. Also musste sie zu Hause sein. Brandyn erhob sich in die Luft und betrat die Wohnung durch das Schlafzimmerfenster. Ein dezenter Duft nach Jasmin lag im Raum. Brandyn schloss die Augen und atmete tief ein. Da war noch etwas anderes außer Jasmin. Wenn man Reinheit eine bestimmte Duftessenz hätte zuordnen können, dann wäre es ebendieser Hauch in ihrem Schlafzimmer gewesen. Das musste der Eigengeruch der Frau sein.

Das Wasser in der Dusche wurde abgestellt, sie war also im Bad, das direkt ans Schlafzimmer angrenzte.

Ohne zu zögern, ging er hinein.

Ein Schrei.

Brandyns Reaktion war schnell genug, er konnte sie auffangen. Gerade als er das kleine Bad betreten hatte, war sie aus der Dusche gestiegen und wollte nach einem Handtuch greifen. Vor Schreck war sie ausgerutscht und hatte geschrien.

Jetzt lag sie nackt in seinen Armen.

Sie war nicht durch ihn hindurchgefallen.

Er berührte sie!

Haut an Haut.

Wärme, Geborgenheit, ein Kribbeln bis in die Zehenspitzen erfasste seinen Körper. Er musste die Augenlider ganz fest schließen, sonst hätte er geweint. Vor Glück, weil ein wohliger Schauder nach dem anderen seinen Körper erfasste. Mehr, er brauchte mehr davon. Automatisch legte er die Wange an ihre, das nasse Haar kühlte seine erhitzten Wangen. Ihre Halsschlagader war nah. Zu nah.

Erst jetzt wurde ihm klar, was er hier veranstaltete. Sie musste ihn ja für total durchgeknallt halten.

Seine Vermutung bestätigte sich, als sie ihm eine schallende Ohrfeige gab und ihn von sich stieß.

Sie war wohl überrascht, dass er sie losließ, dadurch verlor sie erneut den Halt und landete mit dem Hintern auf dem gefliesten Boden.

»Aua! Verdammt!«

***

Zara wusste überhaupt nicht, was sie zuerst tun sollte. Sich das Handtuch umschlingen, eine Waffe suchen? Allerdings war die Chance, im Badezimmer etwas Adäquates zu finden, ziemlich gering. Vielleicht konnte sie ihn mit einem Stück Seife an der Schläfe treffen? Wie war er überhaupt in ihre Wohnung gekommen?

»Nicht schreien.« Er musste sich räuspern, seine Stimme war rau wie Schleifpapier, so als hätte er jahrelang nicht gesprochen. »Bitte.«

Doch erst das Handtuch und dann versuchen so elegant wie möglich aufzustehen? Lag das nur an ihr oder war es ein Frauending? Sie hatte einerseits Todesangst, andererseits machte sie sich Gedanken darum, dass er sie nackt sah und es mit ihrem dicken Hintern und dem kleinen Bauch gar keine elegante Möglichkeit zum Aufstehen gab.

Er ging einen Schritt auf sie zu und hielt ihr die Hand hin; es war ein reiner Reflex, dass sie nach hinten krabbelte und sich dann auch noch den Rücken an der Duschtür stieß.

»Autsch!«

So als täte es ihm selbst weh, dass er ihr Schmerzen verursacht hatte, wich er wieder zurück.

»Handtuch.« Zara deutete mit der Hand auf ihr Badetuch, das durch ihr Zurückrutschen in unerreichbare Ferne gerückt war.

Sofort kam er dem Befehl nach. Okay, anscheinend wollte er ihr wirklich nichts tun. Zara wickelte sich in den flauschigen Stoff ein und stand langsam auf. Ihr Hintern tat verdammt weh.

»Wer sind Sie und wie sind Sie in meine Wohnung gekommen?«

»Durchs Schlafzimmerfenster. Das war offen.«

»Das ist aber keine Einladung, einfach reinzukommen.«

»Dann solltest du deine Fenster geschlossen halten.«

»Bei der Hitze?« Himmel noch mal, was war das denn für ein Gespräch? Irgendwas lief hier nicht so, wie es sollte.

»Ich bin Lord Brandyn Waltham der Zweite. Nenn mich doch einfach Brandyn.« Er verbeugte sich. Was bei jedem anderen Typen in Jeans und T-Shirt wahrscheinlich lächerlich gewirkt hätte, bei ihm aber nicht. Als er sie wieder ansah, waren ihm ein paar Haarsträhnen in die Stirn gefallen. Eine reichte bis zur Nase und er verzog sie ein wenig, weil die Strähne ihn zu kitzeln schien. Wie süß war das denn? Seine Nase war ein bisschen zu klein. Ansonsten war sein Gesicht einfach perfekt, selbst die leicht schräg stehenden Augen, die unnatürlich grün leuchteten. Unnatürlich, weil kaum Weiß in ihnen war.

»Ein Lord, der einfach durchs Fenster einsteigt?«

»Ich war eigentlich nicht der Erbe des Titels. Ich … meine Brüder sind gestorben und ich war übrig.«

Es schien ihm wichtig zu sein, ihr das mitzuteilen. Seine Stimme war mittlerweile fester geworden, so als hätte er sich ans Sprechen gewöhnt. Er betonte die Worte auf eine eigenartige Weise. Es klang ein wenig abgehackt, aber das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, wie schön tief seine Stimme war.

»Du kannst mich sehen.«

Natürlich konnte sie ihn sehen, sie war ja schließlich nicht blind und seine große imposante Gestalt füllte ihr kleines Bad nahezu aus.

Er schüttelte den Kopf, da war echtes Erstaunen in seinen Zügen. »Ich kann dich anfassen.«

Noch so ein Satz, auf den sie nichts zu erwidern wusste. Das wurde ja immer seltsamer.

»Äh, könntest du mich vielleicht allein lassen, damit ich mich anziehen kann? Ich sehe dann auch davon ab, die Polizei zu rufen.«

Er lachte. Ein angenehmes Geräusch, das tief aus dem Bauch drang. »Klar, ich warte …«, er sah sich um, »… draußen, ich warte einfach draußen.«

Tatsächlich ließ er sie allein. Auf einmal kam ihr das kleine Badezimmer seltsam groß und leer vor. Sie nahm kein Geräusch von nebenan wahr. Stand er einfach vor der Tür oder war er ins Wohnzimmer oder vielleicht sogar ins Schlafzimmer gegangen? Sie rubbelte ihr Haar notdürftig trocken und schlüpfte dann in die kurze Hose und das Top, die sie sich bereitgelegt hatte. Zara ertappte sich dabei, dass sie in den Spiegel sah und kurz überlegte, Make-up aufzutragen. Wie verrückt war das denn? Sie hatte einen Einbrecher in ihrer Wohnung, vielleicht sogar einen Serienmörder oder so was. Einen Verrückten, der sich für einen Lord hielt und angeblich durch ein Fenster im zweiten Stock eingestiegen war. Wie wollte er das denn bitte schön angestellt haben? Er konnte ja unmöglich geflogen sein.

Obwohl, hatte sie ihn nicht schon genau an diesem Fenster gesehen? Gestern Abend. Das war alles zu verrückt. Im Badezimmer verschanzen kam nicht infrage, dazu war sie letztendlich zu neugierig. Die Journalistin in ihr war ganz aufgeregt, vielleicht konnte der Typ ihre nächste Story werden?

***

Brandyn war für einen Moment in Versuchung gewesen, es sich in ihrem Bett gemütlich zu machen. Wie wundervoll war der Gedanke, dass sie sich neben ihn legen konnte und er sie die ganze Nacht spüren würde. Doch schnell verwarf er den Wunsch wieder. Er war nicht deswegen hier, auch nicht, um von ihr zu trinken. Mit aller Selbstbeherrschung, die er aufbringen konnte, drängte er die Eckzähne in ihrer normalen Form zu bleiben.

Er war hier, weil er herausfinden wollte, warum sie ihn sehen konnte. Das musste einen Grund haben, vielleicht konnte sie ihm helfen, sie stammte möglicherweise von dem Geschlecht der Schwarzen Hexe ab.

Bei dem Gedanken machte sich Aufregung in ihm breit. Er schlenderte ins Wohnzimmer. Es war nicht groß, ein Zweisitzer stand in der Ecke, auf dem Couchtisch davor der Fernseher. Den größten Teil des Raumes nahm ein riesiger Esstisch ein, auf dem ein Laptop, jede Menge Blöcke, Zettel, Stifte und ein Telefon lagen. Es gab nur noch ein weiteres Möbelstück, ein Regal, das vollgestopft war mit Büchern. Bei näherer Betrachtung stellte Brandyn verwundert fest, dass es keine Romane, sondern nur Sachbücher über die verschiedensten Themen gab.

»Was wollen Sie von mir? Sie sind sicher nicht hier, um sich ein Buch auszuleihen.«

Erschrocken drehte er sich um, er hatte sie gar nicht kommen hören. Ein Blick auf ihre Füße verriet ihm auch, warum. Sie trug keine Schuhe und der Teppich hatte ihre Schritte verschluckt.

Er nahm ihre Witterung auf, seine Sinne waren schon seit Ewigkeiten nicht mehr menschlich, sie waren sogar besser als die eines Tieres. Allerdings erforderte das ein Höchstmaß an Konzentration.

Sie starrte seine Nase an.

»Was schnuppern Sie denn da in der Luft rum?«

»Du bist keine Hexe.«

Sie verdrehte die Augen, was wirklich süß aussah; überhaupt war sie in den einfachen, aber sexy Klamotten eine echte Augenweide.

»Hat meine Mutter Sie geschickt? Das darf doch wohl nicht wahr sein!«

Ihr Tonfall war genervt. »Wieso hätte deine Mutter mich schicken sollen?« War ihre Mutter eine Hexe? Aber dann hätte sie auch eine sein müssen und dazu war ihr Duft zu rein. Er war sogar zu rein, um ein Mensch zu sein, aber was war sie dann?

»Weil sie sich für eine Hexe hält und mich davon überzeugen will, dass es die Wahrheit ist.«

»Du glaubst ihr nicht? Und bitte sag Du zu mir.«

Sie fuhr sich mit den Händen durch die nassen Haare. Als sie nichts sagte und ihn nur nachdenklich anstarrte, fühlte er sich auf einmal nackt.

»Äh, also, vielleicht sollten wir uns setzen?« Okay, es war ihre Wohnung, es stand ihm nicht zu, ihr einen Platz anzubieten, aber es stand ihm ja auch nicht zu, einfach in ihr Heim einzudringen, also war es ja wohl egal.

»Setzen? Ich will wissen, wie Sie … du hier hereingekommen bist und was du von mir willst.«

»Du kannst mich sehen.«

Wieder dieses süße Augenverdrehen. »Das ist doch keine Erklärung, kennst du meine Mutter aus der Anstalt?«

»Anstalt?«

»Na, warst du mit ihr zusammen in der Psychiatrie?«

»Nein. Und ich kenne deine Mutter nicht. Aber vielleicht sollte ich sie kennenlernen, wenn es stimmt, dass sie eine Hexe ist.« Obwohl die Wahrscheinlichkeit doch recht gering war. Sie schien fest entschlossen, ihm nichts zu glauben; wie also sollte er ihr erklären, was und wer er war? Außerdem hatte er seit gut zweihundert Jahren mit keinem Menschen mehr gesprochen. Er wusste, wie man sich heutzutage ausdrückte, wie man sich verhielt, aber das war die Theorie. Das, was er bei seinen Beobachtungen gelernt hatte. Es war ziemlich anstrengend, sich mit dieser wunderschönen Frau in einem Raum zu befinden, sich auf das Gespräch und gleichzeitig darauf zu konzentrieren, dass ihn der Blutdurst nicht übermannte.

»Wie heißt du?«

»Zara.«

»Ein schöner Name.«

»Ja, und du bist angeblich ein Lord. Warum habe ich noch nie von einem Adelsgeschlecht namens Waltham gehört?«

Wenn sie sich schon nicht setzen wollte, dann tat er es zumindest und ließ sich auf einem der Stühle am Tisch nieder. »Weil es uns nicht mehr gibt. Ich war der Letzte.«

Der fragende Ausdruck in ihrem Gesicht sprach Bände. »Aha. War? Du bist doch hier, kannst immer noch Kinder zeugen und euren mir unbekannten Adelstitel weiterführen.«

»Nein!« Verdammt, er hatte es rausgeschrien. »Entschuldige. Es ist nur eine lange, komplizierte Geschichte und meine Schande.«

»Hör zu, ich könnte mich selbst ohrfeigen, ich sollte dich rausschmeißen oder die Polizei rufen, aber leider bin ich eine neugierige Journalistin. Wärest du einverstanden, wenn ich ein Interview mit dir führe?«

»Ein Interview?« Sie nickte und kam endlich näher. Sie wollte nach einem Block und Stift vom Tisch greifen, das durfte er nicht zulassen. Brandyn packte sie am Handgelenk. »Nein, bitte nicht.« Ihr Puls war deutlich unter seiner Hand zu fühlen, er ging viel zu schnell. Seine Sicht verschwamm. Da war warmes köstliches Blut in ihrem Körper. Leben pulsierte in ihr. Leben, das er ihr nehmen konnte, um sich selbst zu stärken. Er ließ sie los und sprang auf. Er hatte doch geschworen, ihr nicht wehzutun. »Ich kann nicht.« Das Wohnzimmerfenster war auf und er machte einfach einen Satz hinaus.

»Warte!«

Sie konnte sehen, wie er durch die Luft flog, denn er hörte nur noch ein »Ach du Scheiße, der kann fliegen«.

3

»Zara? Alles in Ordnung?«

Sie musste blinzeln, sie hatte zu lang auf den Bildschirm gestarrt, sodass sie jetzt nur weiße Punkte sah, als ihr Chef Graham Clarkson vor ihrem Schreibtisch stand.

»Ja, alles wunderbar.«

»Ihre Finger fliegen doch sonst nur so über die Tastatur.«

»Ich habe einfach nur nachgedacht.«

Er nickte. »Die erste Folge der Obdachlosen-Serie ist doch Donnerstag druckreif, oder? Legen Sie sich ins Zeug, drücken Sie auf die Tränendrüse, dann werden Sie beim Presseball am Freitag sehr gefragt sein.«