Black Dragons
Wer holt die Küsse aus dem Feuer
Roman
Aus dem Amerikanischen übersetzt
von Theda Krohm-Linke
Nur wenige Stunden nach ihrer Hochzeit ist Sophea Long wieder allein – und bereits Witwe. Denn ihr frischgebackener Ehemann wurde durch einen tragischen Autounfall aus dem Leben gerissen. Um sich von ihrer Trauer abzulenken, nimmt Sophea den Auftrag an, die achtzigjährige Mrs Papadopoulos nach Ägypten zu begleiten. Von Anfang an war Sophea klar, dass es ein ganz besonderes Abenteuer wird. Doch dass Mrs P. sie schnurstracks in die Arme eines dunkelhaarigen Fremden führt, damit hat die junge Frau nicht gerechnet. Rowan Dakar ist attraktiv, kann traumhaft küssen … und behauptet ständig, Sophea sei ein Drache. Was ziemlich irritierend ist, zumal sich herausstellt, dass Rowan mit seiner Behauptung recht hat: Denn Sophea besitzt nicht nur die Gabe, Feuer zu beherrschen, sondern könnte auch eine große Hilfe bei Rowans Mission sein: Er muss eine jahrhundertealte Schuld begleichen und das Drachenvolk vor dem Untergang bewahren. Doch finstere Mächte wollen das verhindern – und bringen nicht nur Rowan, sondern auch Sopheas Leben in Gefahr …
Dieses Buch ist allen Eltern von Tierkindern da draußen gewidmet. Knuddelt die pelzigen kleinen Biester von mir!
»Tut mir leid, dass ich Sie geweckt habe. Ist das zufällig Ihr vibrierender Schmetterling?«
Der Mann, neben dem ich hockte, öffnete blinzelnd die Augen. Das Licht im Flugzeug war heruntergedimmt worden, damit die Passagiere schlafen konnten. Er verzog das Gesicht, als ich einen hellrosa Gegenstand in einer zerknitterten Plastikverpackung hochhielt, und antwortete schlaftrunken: »Wie bitte? Wer sind Sie?«
»Es tut mir wirklich leid, dass ich Sie geweckt habe«, entschuldigte ich mich noch einmal und verlagerte meine Position ein bisschen. Mein Wadenmuskel begann sich über die Tatsache zu beschweren, dass ich in den letzten zwanzig Minuten in der Hocke den Gang der ersten Klasse auf dem Flug von Los Angeles nach München entlanggewatschelt war. »Meiner Freundin – also sie ist eigentlich eher mein Schützling als meine Freundin – scheint auf geheimnisvolle Weise dieses Teil hier in die Finger geraten zu sein, das jemandem auf dieser Seite des Flugzeugs gehören muss, und ich habe mich gefragt, ob Sie vielleicht dieser Jemand sind.«
Seine Augen glitten zu dem Sex-Spielzeug. »Was soll das, bitteschön! Glauben Sie etwa, ich würde so etwas benutzen? Ich bin ein Mann!«
»Oh! Das gehört mir, George«, sagte seine Sitznachbarin leise kichernd. Sie lächelte ihn verlegen an und fügte hastig hinzu: »Ich dachte, wir könnten es im Hotel vielleicht ausprobieren. Zweite Flitterwochen und so.«
Dieser Teil des Satzes war vermutlich an mich gerichtet, und ich ließ das Spielzeug auch sofort mit einer gemurmelten Entschuldigung in ihre Hand fallen. Das Rascheln der Plastikverpackung klang übermäßig laut in der stillen Kabine.
»Allerdings weiß ich nicht, wie es aus meinem Koffer fallen konnte …« Sie blickte zu dem Gepäckfach über ihrem Kopf, als ob sie erwartete, dass ihre Sachen halb heraushängen würden.
Ich lächelte sie flüchtig an und richtete mich auf, wobei ich dankbar meine verkrampften Muskeln streckte. »Mein Schützling hat bestimmt Ihre Tasche mit seiner eigenen verwechselt. Entschuldigen Sie bitte nochmals die Störung.«
Der Mann murmelte seiner Frau leise etwas zu, aber ich wartete ihre Antwort nicht mehr ab – ich musste auf eine alte Dame aufpassen, und wie die letzten Stunden in diesem Flugzeug bewiesen hatten, musste ich sie scharf im Auge behalten.
Ich eilte zu der kleinen Bordküche zwischen der ersten Klasse und der Economy, wo die Flugbegleiter damit beschäftigt waren, Getränke für die wenigen noch wachen Passagiere bereitzustellen. Neben ihnen auf einem Notsitz saß eine kleine, alte Frau mit dichten weißen Locken und einem braunen Gesicht voller Falten. Sie wirkte sehr alt und zerbrechlich, aber es hatte nur eine halbe Stunde gedauert, bis ich gemerkt hatte, wie sehr dieser Eindruck trog. »Da bin ich wieder. Hat Ihnen der Besuch bei den Flugbegleitern gefallen?«
Die alte Dame hielt eine Dose Coke in der Hand und stopfte sich munter Cracker in den Mund. Sie warf mir einen Blick aus ihren hellblauen Augen zu. »Ich habe ihnen erzählt, dass Sie mir das hübsche, glänzende rosa Ding weggenommen haben, aber dass ich Ihnen das nicht weiter nachtrage, weil Sie mich zu meinem Beau bringen.«
Ich lächelte gequält – auch wenn mein Märtyrertum erst von kurzer Dauer war, fühlte ich mich schon ganz vertraut damit – und sagte sanft: »Dieses Sex-Spielzeug hat Ihnen nicht gehört, auch wenn es wirklich ein hübsches Pink war. Es freut mich, dass Sie mir verziehen haben, dass ich es der rechtmäßigen Besitzerin wiedergegeben habe. Dass Sie sich mit einem Freund in Kairo treffen wollten, habe ich allerdings nicht gewusst. Ihr Enkel … äh … wie hieß er doch gleich? Jedenfalls hat er nur gesagt, dass Sie eine Kreuzfahrt machen wollen.«
»Ich bin so lange von ihm getrennt gewesen«, sagte sie und spuckte ein paar Cracker-Krümel durch die Gegend. »Aber Sie werden mich zu ihm bringen. Und Sie werden sicher auch noch mehr glänzende Dinge für mich finden.«
Ich lächelte die Stewardess an, die sich vorhin meiner erbarmt und angeboten hatte, auf die alte Dame aufzupassen, während ich das Teil zurückbrachte. Es war schon die zweite Sache, die ich zurückgeben musste. Als ich meine Schutzbefohlene in L. A. in einem Hotel abholte, hatte ich gesehen, wie Mrs P eine Uhr aus der Reisetasche eines unachtsamen Mannes zog. »Vielen Danke für Ihre Hilfe.«
»Oh, kein Problem, Sophea«, sagte Adrienne, die Stewardess, mit einer Piepsstimme, die perfekt zu ihrem Äußerem passte. »Es war uns eine Freude, Mrs Papadom … Mrs Papadonal …«
»Mrs Papadopoulos«, kam ich ihr zu Hilfe. »Sie zieht es vor, Mrs P genannt zu werden.«
»Ja! Das ist aber auch ein schwieriger Name.« Ein entsetzter Ausdruck huschte über ihr Gesicht, als sie merkte, was sie gesagt hatte. Hastig fügte sie hinzu: »Aber interessant! Sehr interessant! Ich mag solche Namen.«
»Das ist nicht mein Name«, sagte Mrs P und ließ sich von mir hochziehen. »Es war noch nie mein Name. Er hat mir den Namen gegeben. Er fand ihn amüsant.«
»Ja, Mr Papadopoulos hatte sicher einen ganz ausgezeichneten Sinn für Humor«, sagte ich beschwichtigend und warf Adrienne einen vielsagenden Blick zu. Sie hatte mir zur Seite gestanden, seit ich ihr erklärt hatte, dass Mrs P meinen Gang zur Toilette dazu genutzt hatte, dreist die Taschen schlafender Passagiere zu durchwühlen. Ich führte meine Schutzbefohlene zur letzten Sitzreihe und sagte leise: »Möchten Sie jetzt vielleicht einen Film sehen oder wollen Sie ein bisschen ruhen? Ich glaube, ein Schläfchen wäre keine schlechte Idee. Wir haben noch fünf Stunden Flug vor uns, und Sie wollen doch sicher nicht müde sein, wenn wir in Deutschland landen, oder?«
Mrs P wandte mir ihre hellblauen Augen zu. »Ich mag Gold. Sie mögen es doch sicher auch. Ist es nicht hübsch, wenn es in der Sonne glänzt?«
»Äh … wie bitte?«
Sie lächelte mich glückselig an. »Ich kannte Ihren Mann schon, als er ein junger Drache war, der noch lernen musste, sein Feuer zu beherrschen.«
»Drache?« Ich starrte sie an. Hatte ich sie richtig verstanden?
»Ja. Er hat viel bessere Manieren als Sie. Er hätte mich nie so behandelt, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank.«
Ich war mir nicht sicher, wie ich darauf reagieren sollte. »Ich habe nicht … Entschuldigen Sie, wenn ich unhöflich war, Mrs P, aber mein Ehemann war definitiv kein Drache. Und zur Erinnerung, ich bin Witwe.«
Sie sagte nichts, schürzte nur die Lippen. Dann warf sie mir einen leicht enttäuschten Blick zu.
»Mein Mann ist vor drei Jahren gestorben. Und ja, er hatte wirklich gute Manieren, aber er ist nicht mehr da. Als ich ihn kennenlernte, war er das erste Mal in den Vereinigten Staaten. Er hatte den größten Teil seines Lebens in Asien verbracht, wo er ein Familienunternehmen leitete. Kommen Sie, setzen Sie sich wieder auf Ihren Platz. Hallo, Claudia, da sind wir wieder.«
Meine Worte galten einer Frau, die auf der anderen Seite des Gangs saß. Es war eine angenehme Frau in den Vierzigern, die ihre Familie in Deutschland besuchen wollte. Ich hatte mich zu Beginn der Reise mit ihr unterhalten und ihr kurz meine Notlage geschildert, dass Mrs P eine alte Dame war, die sich in meiner Obhut befand. Als wir jetzt bei unserer Reihe stehen blieben, hielt sie ein Buch in der Hand.
»Ah, Sie haben den Besitzer des rosa Sexspielzeugs gefunden?«, fragte sie mit einem kaum hörbaren deutschen Akzent. Fragend blickte sie mich an, während ich Mrs P auf ihren Platz half.
»Ja, Gott sei Dank. Es gehörte einer Dame auf der anderen Seite.« Erst als ich Mrs P den Sicherheitsgurt angelegt hatte, entspannte ich mich ein wenig.
»Ich werde mir einen Film anschauen«, lenkte Mrs P gnädigerweise ein. Ich steckte ihre Kopfhörer ein und blätterte durch die Filmauswahl, bis sie sich für einen entschied. »Diesen da«, sagte sie. »Nein, den Film mit dem Tänzer. Habe ich Ihnen schon erzählt, dass ich früher vor dem Präsidenten Hoochie-Coo getanzt habe?«
»Ja, das haben Sie erwähnt, als ich Sie in Ihrem Hotel abgeholt habe.«
»Ich war damals eine berühmte Hoochie-Coo-Tänzerin, wissen Sie? Ich habe viele Schmuckstücke für mein Tanzen bekommen, viele hübsche Dinge, die ich niemandem gezeigt habe. Die Männer konnten ihren Blick nicht von mir lassen, wenn ich tanzte, und anschließend gaben sie mir Dinge.« Sie kicherte leise. »Das ist lange her, sehr lange, aber ich erinnere mich noch gut daran. Ich erinnere mich zwar nicht mehr an alle Männer, aber an alle glänzenden Dinge, die sie mir geschenkt haben. Nur an ein paar Männer kann ich mich noch erinnern – das waren diejenigen, die mir die hübschesten und besten Sachen geschenkt haben. Den Namen des Präsidenten werde ich Ihnen nicht sagen, weil ich schon immer sehr diskret war, aber einmal sollte ich so tun, als sei er ein Walross – er hatte einen mächtigen Schnäuzer – und ich ein kleines, eingeborenes Mädchen, also zogen wir uns nackt aus, während er …«
»Sie waren sicher eine wundervolle Tänzerin«, unterbrach ich sie, um das Bild aus dem Kopf zu bekommen, das plötzlich vor meinem geistigen Auge aufstieg, »aber wie ich bereits in L. A. erwähnte, wenn Sie die … äh … Gefährtin dieses speziellen Präsidenten gewesen sein wollen, dann müssen Sie tatsächlich schon uralt sein.«
Sie schwelgte immer noch in ihren Erinnerungen und tätschelte mir mit ihrer gichtigen Hand das Knie. »Das Äußere kann täuschen. Denken Sie daran, und Sie werden überleben.«
Überleben? Ich wusste gar nicht, dass das irgendwie infrage stand. Ich warf ihr einen misstrauischen Blick zu, aber sie hatte sich entspannt zurückgelehnt, um ihren Film anzuschauen. Mrs P hatte so eine Art, unerwartete Dinge zu sagen, die mir unbehaglich war. Und dann hatte sie auch noch erwähnt, meinen verstorbenen Mann zu kennen …
»Sie ist schon eine Type, nicht wahr?« sagte unsere Sitznachbarin und bedachte Mrs P mit einem liebevollen Lächeln.
»Hmm? Oh ja, das kann man wohl sagen.«
»Und Sie wollen zusammen nach Ägypten fahren?«
»Ja, nach Kairo«, erwiderte ich. »Der Vetter meines Mannes … äh, ich vergesse immer wieder seinen Namen … hat mich gebeten, Mrs P bis zu dem Schiff für ihre Nilkreuzfahrt zu begleiten. Sie ist ein wenig gebrechlich und braucht jemanden, der sich um sie kümmert.«
»Oh, das klingt so exotisch«, sagte Claudia leise seufzend. »So eine Kreuzfahrt den Nil hinauf muss wundervoll sein.«
»Eigentlich eher den Nil hinunter.« Ich machte eine entschuldigende Geste. »Der Nil fließt nach Norden, also fährt das Schiff flussabwärts.«
»Wie spannend«, sagte sie höflich. Dann fügte sie hinzu: »Treffen Sie sich dort mit Ihrem Mann?«
Ich beugte mich vor und zog ein Buch aus der Tasche unter meinem Sitz, wobei ich die Zeit nutzte, um meine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle zu bekommen. »Mein Mann ist vor ein paar Jahren gestorben.«
»Oh, das tut mir leid«, sagte sie zerknirscht. »Da bin ich aber ordentlich ins Fettnäpfchen getreten. Entschuldigen Sie.«
»Keine Ursache. Jian … mein Mann … wir waren nicht sehr lange verheiratet.« Verständnisvoll blickte sie mich an, und unwillkürlich tat ich etwas, was ich sonst nie tue: Ich vertraute mich ihr an. »Er ist eine knappe Stunde nach unserer Eheschließung gestorben. Wir hatten noch nicht einmal eine gemeinsame Hochzeitsnacht. Es war … es war so schrecklich.«
»Sie armes Ding. Wie furchtbar tragisch!« Mitfühlend tätschelte sie mir den Arm. »Darf ich fragen, wie es passiert ist? Wenn Sie nicht darüber reden möchten …«
Ich warf Mrs P einen Blick zu, um mich davon zu überzeugen, dass sie beschäftigt war. Erleichtert stellte ich fest, dass sie die Augen geschlossen hatte. »Nein, es macht mir nichts aus, aber es gibt nicht viel zu erzählen. Wir haben uns kennengelernt, als ich in Chinatown als Tour-Guide gearbeitet habe. In Chinatown in San Francisco.«
»Wie interessant. Ich habe noch nie einen Tour-Guide kennengelernt.«
»Heute arbeite ich auch nicht mehr als solcher. Ich habe den Job auch nur bekommen, weil ich asiatisch aussehe – na ja, ich habe bestimmt asiatische Wurzeln, oder zumindest zum Teil. Das sagt jedenfalls das Waisenhaus, in dem ich als Baby abgegeben worden bin. Der Reiseunternehmer hat gemeint, Touristen mögen es authentisch.« Ich zuckte mit den Schultern, war mir jedoch nicht sicher, ob ich damit die acht Monate meinte, in denen ich Touristen herumgeführt hatte, oder die Tatsache, dass ich die Nationalität meiner Eltern nicht kannte. »Eines Tages begegnete ich vor einem der Läden, zu denen wir die Touristen führten, einem gut aussehenden Mann, und vier Tage später wurden wir im Standesamt getraut. Leider war zu dem Zeitpunkt ein betrunkener Autofahrer unterwegs, und als wir aus dem Standesamt kamen und die Straße überquerten, um zum Parkplatz zu gehen …« Ich schluckte und drängte die schweren Erinnerungen zurück. »Jian schubste mich zur Seite, damit mir nichts passierte, aber er … er hatte nicht so viel Glück.«
»Wie tragisch«, sagte meine Sitznachbarin. »Das tut mir leid für Sie.«
»Danke«, sagte ich. Erneut überkam mich ein Schuldgefühl. »Wenn er sich nicht die Zeit genommen hätte, mich zur Seite zu schubsen …«
Erneut streckte sie die Hand aus, als ob sie mir den Arm tätscheln wollte, aber dann hielt sie inne. »So dürfen Sie nicht denken. Ihr Mann hat ganz sicher das getan, was er für richtig hielt.«
»Ja«, sagte ich traurig. Ich war zwar sehr verliebt in Jian gewesen, aber insgeheim war ich mir nicht mehr sicher, ob ich um ihn trauerte oder nur um unser potenzielles gemeinsames Leben. »Ein paar Jahre lang war es schwer. Er war kein Amerikaner, und ich hatte keine Ahnung, wo in China seine Familie lebte, deshalb konnte ich auch keinen Kontakt zu ihr aufnehmen. Ich versuchte, es über die chinesische Botschaft herauszufinden, aber sie behaupteten, keine Unterlagen über ihn zu haben. Ich engagierte sogar einen Privatdetektiv, aber auch er fand nichts heraus und meinte sogar, dass Jian wohl illegal ins Land gekommen sein müsste.«
»Ach du liebe Güte! Das klingt nicht …« Sie ließ ihren Satz unvollendet, weil sie wohl selbst merkte, dass es nicht sehr höflich war.
»Nein, es war alles andere als gut. Da stand ich nun, als junge Witwe eines Mannes, den ich kaum gekannt hatte, ohne jede Ahnung, wo seine Familie war oder wie ich sie finden konnte. Ich hatte meinen Job aufgegeben, um ihn zu heiraten, und der Reiseveranstalter war so sauer auf mich, dass er sich weigerte, mich wieder einzustellen. Und alles wurde nur noch schlimmer, als die Polizei auf einmal wissen wollte, wer Jian überhaupt war und warum ich ihn so schnell geheiratet hatte.«
»Ach, Sie Ärmste, Sie haben wirklich eine Menge durchgemacht.« Erneut tätschelte Claudia mir mitfühlend den Arm.
Ich drängte die nur allzu vertrauten Erinnerungen zurück. »Ja, aber jetzt ist es an der Zeit, all das hinter mir zu lassen. Ich nehme diesen Job als Omen, dass sich die Dinge für mich ändern.« Ich schenkte ihr ein tapferes Lächeln. »Ich mache zwar die Nilkreuzfahrt nicht mit, aber ich lerne doch auf jeden Fall Kairo kennen. Ich habe einen Tag Aufenthalt dort, bevor ich zurückfliege.«
Zurück wohin?, fragte eine leise Stimme in meinem Kopf. Zurück zu der Couch, auf der deine beste Freundin dich schlafen lässt, weil du keinen Job, kein Geld und kein eigenes Leben hast?
Ich ignorierte die Stimme. Darin hatte ich seit Jians Tod viel Übung.
»Das wird sicher schön«, stimmte Claudia mir zu und griff zu ihrem Buch.
Ich blickte eine Zeit lang auf mein Buch. Ich sah die Wörter kaum, aber es war mir auch egal. Ich war viel zu müde. Erinnerungen an die Ereignisse der letzten zehn Stunden gingen mir durch den Kopf. Daran, wie ich mich mit Mrs P im Hotel getroffen hatte. Mir war von Anfang an klar gewesen, dass sie mehr Charakter im kleinen Finger hatte als die meisten Leute im ganzen Leib. Allerdings hatte ich auch schnell gemerkt, dass sie ihre Finger gerne nach fremdem Eigentum ausstreckte. Und auf der Fahrt zum Flughafen bedachte sie mich mit Geschichten aus ihrer wilden Jugend, vermutlich, um mich zu schockieren.
Das Dröhnen der Motoren und das weiße Rauschen der Luft um das Flugzeug herum machten mich schläfrig. Ich musste wohl eingeschlafen sein, denn auf einmal war Claudia verschwunden und ein fremder Mann beugte sich über mich, die Hand nach der schlafenden Mrs P ausgestreckt.
»Hey!«, keuchte ich und drückte mich instinktiv tiefer in meinen Sitz. »Was machen Sie da?«
Der Mann wandte den Kopf und kniff seine dunklen Augen zusammen. Etwas an seinem Gesicht war nicht … richtig. Ich glaube, es lag an seinen Augen. Die Pupillen waren länglich, wie bei einer Katze. Und er vermittelte ein Gefühl der Gefahr, das in mir sämtliche Alarmsirenen auslöste.
»Du hast uns genug Ärger gemacht«, zischte der Mann so leise, dass ich ihn kaum hören konnte. »Misch dich nicht schon wieder ein.«
In diesem Moment sah ich etwas Metallisches in seiner Hand schimmern. Ich verschwendete keinen Gedanken daran, wie es dem Mann gelungen sein mochte, ein Messer an Bord des Flugzeugs zu schmuggeln, ich reagierte lediglich darauf, dass eine ziemlich nette – wenn auch etwas verwirrte – alte Dame, die sich in meiner Obhut befand, bedroht wurde.
»Terrorist!«, schrie ich, zog die Knie hoch und drückte den Mann mit meinen Händen in den Sitz vor uns. »Hilfe! Luftpolizei! Hilfe!«
Er zischte erneut, wie ein wildes Tier, und wich zurück. Erst da merkte ich, dass plötzlich ein anderer Mann hinter ihm stand, der den Zischer anscheinend am Jackett gepackt und von uns weggezogen hatte.
Ich warf Mrs P rasch einen Blick zu, um mich zu vergewissern, dass sie nicht verletzt war, aber ihre Augen waren geschlossen. Ihr Mund stand ein wenig offen, und sie schnarchte leise. Wut stieg in mir hoch, und ich sprang auf.
»Der Mann hat versucht, die alte Dame hier zu erstechen!«, knurrte ich und stieß dem zischenden Mann meinen Zeigefinger gegen die Brust. Er stand mit dem Rücken zum Trennvorhang, den Kopf gesenkt, als wolle er angreifen, aber der andere Mann hielt ihn am Jackett fest. »Sind Sie ein Sicherheitsflugbegleiter? Ich hoffe, Sie nehmen ihn fest, denn er wollte gerade einen unschuldigen Passagier angreifen.«
Der zweite Mann drehte leicht den Kopf, sodass er mich ansehen konnte. Er war ein paar Zentimeter größer als ich, hatte kurze lockige, rötlich braune Haare und graugrüne Augen, die von den schwärzesten Wimpern eingerahmt wurden, die ich jemals gesehen hatte. Es sah so aus, als habe er seine Augen dick mit Kajal umrandet. »Ich halte das nicht für sehr wahrscheinlich, oder?«
»Wie meinen Sie das? Ich habe es doch gesehen!«
Der grünäugige Fremde musterte den anderen Mann einen Moment lang, dann wandte er sich wieder mir zu. »Warum sollte er sie erst im Flugzeug töten, wo er doch vorher reichlich Gelegenheit dazu gehabt hätte?«
»Was ist hier los?« Adrienne schob den Vorhang beiseite. Sie war in Begleitung von zwei männlichen Flugbegleitern. »Wer hat da geschrien? Ist Mrs P etwas zugestoßen?«
»Nein, aber nur, weil ich rechtzeitig aufgewacht bin. Dieser Mann hat versucht, sie zu erstechen. Und dann hat mich der Sicherheitsflugbegleiter hier gehört und ihn gepackt.«
»Erstechen?«, fragte Adrienne. Einer ihrer Begleiter sagte: »Sicherheitsbegleiter?«
»Ja. Er da.« Ich wies mit dem Kinn auf meinen grünäugigen Retter. »Und ja, erstechen. Er hatte ein Messer. Er hält es ja immer noch in der Hand.« Ich wies auf das glitzernde Stück Metall in der Hand des Mannes. Der hob den Kopf und warf mir einen so bösen Blick zu, dass ich das Gefühl hatte, seine dunkle Iris würde rot leuchten.
Der gut aussehende grünäugige Mann ließ das Jackett des Mannes los und schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, aber die Dame ist etwas durcheinander. Ich bin kein Sicherheitsflugbegleiter.«
»Nein, er ist ein Passagier«, sagte Adrienne stirnrunzelnd.
»Na ja, auf jeden Fall haben Sie diesen Mann daran gehindert, meine kleine alte Dame zu erstechen«, sagte ich zu ihm. An Adrienne gewandt fügte ich hinzu: »Ich hoffe, Sie haben für so einen Fall Handschellen an Bord.«
»Ich habe kein Messer«, sagte der Zischer und streckte seine Hand aus.
Verwirrt starrte ich auf das geschwungene Metallarmband in seiner Hand. Der Silberbogen schimmerte sogar im schwachen Licht des Flugzeugs. Das Armband sah aus wie ein geflochtener Zopf. Es war sehr hübsch, aber nicht im Mindesten tödlich.
»Warten Sie … das hatten Sie gar nicht in der Hand … ich hätte schwören können, es war ein Messer …« Stirnrunzelnd versuchte ich, mir einen Reim auf das Ganze zu machen. Hatte ich nun tatsächlich ein Messer gesehen, oder hatte ich nur angenommen, der Mann wollte Mrs P angreifen?
Adrienne wandte sich an den grünäugigen Mann. »Haben Sie eine Waffe gesehen, Sir?«
»Nein.« Sein Blick glitt kurz zu mir und gleich wieder weg. »Ich hörte, wie die Dame sich beschwerte, der Mann habe sie angegriffen, und wollte gerade fragen, ob ich ihr behilflich sein könne, als er sich schon zurückzog.«
»Ich dachte, es sei ein Messer …« Ich brach ab und lächelte schief. »Wahrscheinlich habe ich nur ein Stück Metall gesehen und angenommen, es sei ein Messer. Entschuldigen Sie, dass ich Sie beschuldigt habe, Mrs P angegriffen zu haben. Allerdings … warum haben Sie denn versucht, ihr ein Armband anzulegen?«
»Die Dame hat es fallen lassen, und ich habe es ihr einfach nur zurückgebracht«, sagte der Zischer glatt. Er reichte mir das Armband und verbeugte sich vor den Flugbegleitern. »Da Sie auf die Dame aufpassen, gebe ich es Ihnen, damit Sie es ihr zurückgeben. Darf ich jetzt zu meinem Platz zurückkehren …?«
»Verzeihen Sie die Unannehmlichkeiten …« Adrienne und einer ihrer Kollegen begleiteten den Mann zu seinem Platz, der einige Reihen weiter vorn lag.
»Es hatte so ausgesehen, als würde er sie angreifen«, erklärte ich dem Steward, der bei mir stehen geblieben war, und dem gut aussehenden Mann. »Er hat sich über mich gebeugt, um an sie heranzukommen. Was hätten Sie an meiner Stelle gedacht?«
»Ich hätte den Herrn gefragt«, sagte der Steward sanft. Dann schürzte er die Lippen und kehrte in seinen Bereich zurück.
Ich drehte mich zu dem Mann um, um mich bei ihm für seinen Beistand zu bedanken, schwieg aber erstaunt, als er mir das Armband aus der Hand nahm und mit undurchdringlicher Miene sagte: »Ich nehme das an mich. Es liegt sicher irgendein hässlicher Bindezauber darauf, und wir wollen doch nicht, dass es noch einen Unfall gibt, oder?«
Ohne ein weiteres Wort ging er davon. Ich starrte ihm ungläubig hinterher. Bindezauber? Ich öffnete und schloss den Mund ein paarmal, wollte ihm nachlaufen, besann mich dann aber eines Besseren. Vielleicht hatte ich ihn ja falsch verstanden, oder vielleicht war er auch nicht ganz richtig im Kopf … außerdem glaubte ich die Geschichte des merkwürdigen Mannes mit den schmalen Pupillen sowieso nicht – Mrs P hatte dieses Armband noch nie getragen. Ich beschloss, die Sache einfach auf sich beruhen zu lassen und das Ganze zu vergessen.
Das gelang mir natürlich nicht, und als Claudia von der Toilette zurückkehrte, erzählte ich ihr flüsternd von dem Vorfall. Sie fand es auch erschreckend, auf diese Weise geweckt zu werden, schien aber nicht der Ansicht zu sein, dass etwas Seltsames vor sich ging.
»Sie haben doch gesagt, Sie seien sich sicher, dass das Armband gar nicht Mrs Papadopoulos gehörte, dann spielt es doch auch keine Rolle, dass der andere Mann es an sich genommen hat, oder? Vielleicht war es von Anfang an seines, und der erste Mann hat sich geirrt, indem er glaubte, dass es Mrs P gehöre.«
»Aber warum hat er das dann nicht gesagt? Und was sollte das mit dem Bindezauber?«
»Sie haben sich bestimmt verhört.« Erneut nahm sie ihr Buch zur Hand. »Vielleicht hat er nur versucht, Sie vor einer weiteren peinlichen Situation zu bewahren.«
Danach schnitt ich das Thema nicht mehr an und schwieg für den Rest der Reise. Die letzten Stunden des Flugs blieb ich wach und passte auf. Was hatte dieser Mann, der sich über mich gebeugt hatte, vorgehabt? Warum war der gut aussehende Mann einfach so mit dem Armband weggegangen? Und war es paranoid von mir, mich zu fragen, ob Claudia absichtlich zur Toilette gegangen war, um die ideale Voraussetzung für einen Angriff auf Mrs P zu schaffen?
Übertreibe nicht, warnte mich meine innere Stimme. Du fängst schon an, überall Verschwörungen zu sehen.
Glücklicherweise schlief Mrs P den Rest des Flugs – wenigstens in dieser Hinsicht war mein Seelenfrieden nicht bedroht.
Du musst mit ihr nur in eine andere Maschine steigen und sie dann in Kairo auf ein Schiff bringen, meldete sich meine innere Stimme zu Wort. Das kann doch nicht so schwer sein. Dafür bekommst du zwei Riesen, mit denen du einen Neuanfang finanzieren kannst, weg von einer trüben Zukunft, von frustrierenden Gesprächen mit dem Arbeitsamt und einem trostlosen Dasein.
Unwillkürlich glitt mein Blick über die Reihen, bis er auf einen Hinterkopf mit kurzen, rötlich braunen Locken fiel.
Mein sogenannter Retter trug keine besonders elegante Kleidung, aber sie wirkte trotzdem auf subtile Art teuer. Einen dunkelblauen Blazer über einem hellblauen Hemd und schwarzen Chinos. Chinos mit scharfer Bügelfalte. Der Mann strahlte Selbstbewusstsein aus und schien sich in seiner Haut wohl zu fühlen.
Noch nicht einmal seine dunkelgrauen, abgetragenen Schnürstiefel konnten diesen Eindruck zunichtemachen. Was für ein Mann trug in einem Flugzeug solche Schuhe, die besser in ein Hochmoor gepasst hätten, überlegte ich. Anscheinend spürte er, dass mein Blick auf ihm ruhte, denn er drehte sich um und sah mich an.
Mir stockte der Atem. Mein erster Eindruck von ihm war kühles Desinteresse gewesen, aber als ich ihn jetzt anschaute, entzündete sich ein Funken in den Tiefen seiner ungestüm grünen Augen, ein kurzes amüsiertes Aufblitzen, bei dem es mir ganz warm wurde. Seine Mundwinkel zuckten, und er legte den Kopf leicht schief, als wisse er zu würdigen … ja, was eigentlich? Dass ich ihn so offensichtlich anstarrte? Oder hatte es etwas mit der Geschichte mit dem böse zischenden Mann zu tun?
Als er sich wieder seinem Buch zuwandte, fühlte ich mich seltsam beraubt.
Die Röte, die mir in die Wangen gestiegen war, verblasste, während ich seinen Hinterkopf betrachtete und mir eingestand, wie schade es war, dass ich den Armbanddieb nicht mehr wiedersehen würde. Diese kühlen graugrünen Augen und die geheimnisvolle Aura, die ihn umgab, brachten mich auf Gedanken, die nicht unbedingt keusch waren.