Tim Winton
Atem
Roman
aus dem australischen Englisch von
Klaus Berr
TIM WINTON wurde 1960 in der Nähe von Perth, Westaustralien, geboren. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht und ist einer der erfolgreichsten Schriftsteller Australiens. Zweimal kam er auf die Shortlist des Man Booker Prize und dreimal erhielt er den Miles Franklin Award, den wichtigsten Literaturpreis Australiens. Seine Werke sind in zwölf Sprachen übersetzt. Tim Winton lebt in Westaustralien.
Mit Blaulicht und Sirene rasen wir den baumgesäumten Boulevard entlang, und als das GPS uns drängt, die nächste Straße links zu fahren, gehen wir so schnell in die Kurve, dass unsere Ausrüstung schwankt und gegen die Seitenwand knallt. Ich sage keinen Ton. Unten an der dunklen Vorstadtstraße sehe ich das Haus, erleuchtet wie ein Kreuzfahrtschiff.
Gefunden, sagt sie, bevor ich es ihr zeigen kann.
Von mir aus kannst du ruhig langsamer fahren.
Mache ich dich nervös, Bruce?
So was in der Richtung, murmle ich.
Tatsächlich aber fühle ich mich hervorragend. Genau in diesen Augenblicken fühle ich mich wohl, wenn die Nervenenden kribbeln, der Magen sich zusammenzieht vor Erwartung. Es war eine lange, eintönige Schicht, und Jodie und ich waren noch nie die allerbesten Freunde gewesen. Bei der Übergabe bekam ich ein Gespräch mit, das nicht für meine Ohren bestimmt war. Aber das ist Stunden her. Jetzt bin ich hellwach und zappelig vor ängstlicher Anspannung. Los geht’s.
Bei der Anruferadresse schaltet Jodie die Sirene aus und schlägt das Lenkrad ein, um rückwärts die steile Einfahrt hochzufahren. Auch sie steht unter Strom, vermute ich, und kommt sich ein bisschen wichtig vor. Kein übles Mädchen, nur noch etwas grün hinter den Ohren. Sie weiß nicht, dass ich Töchter in ihrem Alter habe.
Als sie die Handbremse anzieht und der Zentrale unser Eintreffen am Einsatzort meldet, springe ich aus dem Wagen, reiße die Seitentür auf und schnappe mir den Wiederbelebungskoffer. Auf dem taufeuchten Gras vor dem Vordertreppchen sitzt ein Mann mittleren Alters, der sich stumm die Schulter hält, und obwohl er sich offensichtlich das Schlüsselbein gebrochen hat, sehe ich sofort, dass es nicht unser Mann ist. Ich überlasse ihn Jodie, laufe die Stufen hoch und rufe in der offenen Haustür meinen Namen und meine Funktion.
Im Wohnzimmer sitzen an den entgegengesetzten Enden einer Ledercouch vornübergebeugt zwei Teenager-Mädchen.
Oben?, frage ich.
Ein Mädchen deutet, ohne den Kopf zu heben, und ich weiß sofort, dass dieser Einsatz nur noch Einpacken und Wegschaffen bedeutet. Normalerweise blitzt beim Anblick der Uniform Hoffnung in den Gesichtern auf, aber die beiden heben nicht einmal den Kopf.
Das fragliche Schlafzimmer ist nicht schwer zu finden. Eine kleine Kotzepfütze im Gang. Ein paar Holzsplitter. Ich steige über die aus den Angeln gerissene Tür und sehe die Mutter am Bett stehen, auf dem der Junge aufgebahrt liegt, und während ich mich leise vorstelle, verschaffe ich mir einen Eindruck. Das Zimmer riecht nach Hasch und Urin und Desinfektionsmittel, und ich sehe sofort, dass sie ihn abgeschnitten und angezogen und alles aufgeräumt hat.
Ich schiebe mich an ihr vorbei und tue, was zu tun ist, aber der Junge ist schon eine Weile hinüber. Er sieht aus wie etwa siebzehn. Am Hals sind frische Quetschspuren zu sehen und auch ältere darum herum. Während ich meine Arbeit mache, hört sie nicht auf, dem Jungen über die dunklen, lockigen Haare zu streichen. Ein netter Junge. Sie hat ihn gewaschen. Er riecht nach Pears-Seife und frisch gewaschener Wäsche. Ich frage sie nach ihrem Namen und dem ihres Sohns, und sie sagt, sie heißt June und ihr Sohn Aaron.
Tut mir leid, June, murmle ich, aber er ist tot.
Das weiß ich.
Sie haben ihn schon vor einer ganzen Weile gefunden. Lange bevor Sie angerufen haben.
Sie sagt nichts.
June, ich bin nicht die Polizei.
Die sind bereits unterwegs.
Darf ich den Kleiderschrank öffnen?, frage ich, während Jodie in die Tür tritt.
Wär mir lieber, wenn Sie es nicht tun würden, sagt June.
Okay. Aber Sie wissen, dass die Polizei es tun wird.
Müssen sie?
Jetzt sieht mich die Mutter zum ersten Mal richtig an. Sie ist eine attraktive Frau Ende vierzig mit kurzen, dunklen Haaren und kunsthandwerklichem Ohrgehänge, und ich kann mir vorstellen, dass sie noch vor einer Stunde, als ihr Lippenstift und ihr Leben noch in Ordnung waren, aufrecht und selbstbewusst, vielleicht sogar ein bisschen hochnäsig war.
Das ist ihre Pflicht, June.
Sie scheinen ja bereits gewisse ... Schlüsse gezogen zu haben.
June, sage ich und schaue zu Jodie hoch. Sagen wir einfach, ich habe in meinem Leben schon einiges gesehen. Ich wüsste gar nicht, wo ich da anfangen soll.
Dann sagen Sie mir, wie das passieren konnte, warum er sich das angetan hat.
Ich habe noch einen zweiten Wagen bestellt, sagt Jodie.
Ja, gut, murmle ich. June, das ist Jodie. Sie ist heute Abend meine Partnerin.
Jetzt sagen Sie mir schon, warum.
Weil Ihr Mann sich das Schlüsselbein gebrochen hat, sagte Jodie. Er hat die Tür aufgebrochen, nicht?
Also, was soll ich ihnen sagen?, fragt die Mutter, ohne Jodie zu beachten.
Das ist im Grunde genommen Ihre Entscheidung, sage ich. Aber die Wahrheit ist nie beschämend. Sie ist nur besser für alle.
Die Frau schaut mich wieder an. Ich kauere neben dem Bett vor ihr. Sie streicht sich den Rock über die Knie.
Bin ja wohl völlig durchsichtig für Sie, murmelt sie.
Ich versuche, sie freundlich anzulächeln, aber mein Gesicht fühlt sich steif an. Hinter ihr sehe ich die üblichen Poster an den Wänden: Surfer, Rockstars, Frauen in provokativen Posen. Auf dem Bücherregal über dem Schreibtisch stehen Sporttrophäen und Souvenirs aus Bali, und der Bildschirmschoner auf dem Computermonitor zeigt endlos einstürzende Twin Towers. Sie greift nach meiner Hand, und ich gebe sie ihr. Sie fühlt sich nicht wärmer an als ihr toter Sohn.
Kein Mensch wird das verstehen.
Nein, sage ich. Wahrscheinlich nicht.
Sie sind Vater.
Ja, das bin ich.
Von der Straße kommt Türenknallen.
June, wollen Sie noch einen Augenblick mit Aaron allein sein, bevor die Polizei kommt?
Das war ich schon, sagt sie, lässt meine Hand los und streicht sich abwesend über die Haare.
Jodie? Gehst du schnell runter und sagst der Polizei, wo wir sind?
Jodie verschränkt kurz die Arme, geht dann aber mit einem Schnellen ihres kurzen blonden Pferdeschwanzes davon.
Dieses Mädchen mag Sie nicht.
Nein, nicht sehr.
Also, was soll ich jetzt tun?
Da kann ich Ihnen keinen Rat geben, June.
Ich muss auch an meine anderen Kinder denken.
Ja.
Und an meinen Mann.
Ich fürchte, er muss ins Krankenhaus.
Der Glückliche.
Ich stehe auf und packe meine Sachen zusammen. Sie erhebt sich ebenfalls, streicht den Rock glatt und schaut hinunter zu dem Jungen auf dem Bett.
Gibt es jemanden, den ich für Sie anrufen kann?
Jodie und zwei Polizisten tauchen in der Tür auf.
Anrufen?, fragt June. Rufen Sie lieber meinen Sohn zurück. Auf seine Mutter hört er ja nicht, wie Sie sehen.
Erst als wir schon fast wieder in der Zentrale sind, bricht Jodie das Schweigen.
Wann hattest du eigentlich vor, mir zu sagen, was das eben sollte?
Was was sollte?
Mit dieser armen Frau. Im ersten Augenblick dachte ich, du flirtest mit ihr.
Na ja, setz es einfach auf deine Beschwerdeliste.
Hör mal, es tut mir leid.
Arrogant, distanziert, sexistisch, unfähig zur Kommunikation, Einzelkämpfer. Offensichtlich habe ich ein paar Sachen verpasst, weil ich zu spät gekommen bin. Aber nur damit du’s weißt, Jodie, ich bin kein Vietnam-Veteran. Ob du es glaubst oder nicht, ich bin nicht alt genug dafür.
Ich fühle mich einfach beschissen, okay?
Dann lass dich in eine andere Schicht einteilen. Ich habe nichts dagegen. Aber wenn du schon meckern musst, dann mach’s nicht bei der Übergabe mitten in der Zentrale und mit dem Rücken zur Tür. Das ist unfreundlich und unprofessionell.
Hör mal, ich hab doch schon gesagt, dass es mir leidtut.
Als ich sie anschaue, sehe ich im Licht eines entgegenkommenden Lastwagens, dass sie beinahe weint. Sie klammert sich am Lenkrad fest, als sei es das Einzige, was sie noch zusammenhält.
Alles okay?
Sie nickt. Ich kurble das Fenster herunter. Die Stadt riecht nach feuchtem Rasen und Auspuffgasen.
Hätte nicht gedacht, dass mich das so mitnimmt.
Was?
Das war mein erster Selbstmord, murmelt sie.
Ja, das ist hart. Aber es war kein Selbstmord.
Mein Gott, Bruce, sie mussten die Tür aufbrechen und ihn eigenhändig runterschneiden. Der Junge hat sich aufgehängt.
Aus Versehen.
Und woher weißt du das, verdammt noch mal?
Ich bin ein Alleswisser. Schon vergessen?
Sie schneidet eine Grimasse, und ich lache.
Mein Gott, du bist vielleicht ein komischer Mensch.
Sieht so aus.
Du wirst es mir nicht sagen, oder? Ich kann einfach nicht glauben, dass du es mir nicht erzählen willst.
Einige Augenblicke denke ich nur an diese armen Leute, die vor unserem Eintreffen saubergemacht und desinfiziert haben. Wie die Mutter dasaß und sich überlegte, welche Schande die größere ist. Die beiden Mädchen unten kalt vor Schock. Der Vater draußen auf dem Rasen wie eine Statue.
Ein anderes Mal vielleicht, murmle ich.
Na gut, sagt sie. Dann will ich’s mal dabei belassen.
Schweigend fahren wir zur Zentrale zurück.
Viel zu lange taumle ich durch den prasselnden unterseeischen Dunst. Kopfüber, kopfunter in meinem Netz aus Blasen, bis die Turbulenz verebbt und ich schlaff in einem schwachen grünen Licht hänge, während alle Wärme aus meiner Brust weicht und das Leben aus mir heraussickert. Und dann ein weißer Blitz von oben. Jemand an der Oberfläche, der zu mir herunterschwimmt. Jemand, der mich hochzieht, an die Oberfläche zerrt, Luft in mich bläst, die heiß ist wie Blut. Er schießt auf mich zu und hält dann inne, und ich erkenne mein eigenes Gesicht, das durch Dämmerlicht späht, eine Armeslänge entfernt zögert, als wüsste ich nicht so recht, was ich tun soll. Ich sehe, wie mein Mund aufgeht. Eine Kette glänzender Blasen quillt heraus, aber ich verstehe nichts.
Mit einem Ächzen wache ich auf dem Sofa in der leeren Wohnung auf. Durch die Schiebetür strömt die Nachmittagssonne. Noch in Uniform. Die Wohnung riecht nach Schweiß und Hühnchencurry. Ich stehe auf, schiebe die Balkontür ein Stück zur Seite und rieche den salzigen Südwind. Ich gehe pinkeln, setze den Kessel auf und schnappe mir das Didgeridoo von den Seegrasmatten auf dem Boden. Meine Kräuter draußen auf dem Balkon stehen grün und aufrecht da. Ich schmiere Bienenwachs auf das Mundstück und räuspere mich. Dann blase ich, bis die Kehle brennt. Ich blase gegen die brutalistischen Wohnblöcke an, die zwischen mir und dem Strand stehen. Ich blase gegen die Möwen an, die unten auf dem Parkplatz an Pizzaresten picken, und die Luft durchströmt mich in Kreisen, heiß und summend und trotzig. Heiß gegen den blassen Himmel. Heiß gegen die flache, strahlende Welt draußen.
Ich wuchs auf in einem Bretterhaus in einem Sägewerksort, und wie alle anderen lernte ich im Fluss schwimmen. Das Meer war meilenweit entfernt, aber während der großen Swells im Herbst wehte ein salziger Dunst in Höhe der Baumspitzen durch das Tal, und nachts lag ich wach, während in der Ferne die Brandung gegen die Küste donnerte. Die Erde unter uns schien zu summen. Ich stand dann oft auf und legte mich auf die Karri-Holzbretter des Bodens und spürte das Grollen in meinem Schädel. Das Geräusch hatte etwas beruhigend Monotones. Es sang in jedem Balken des Hauses, in meinen Knochen, und während der Winterstürme klang es dann eher wie Artillerie denn wie Wasser. Ich dachte an den Blitzkrieg und an die Geschichten meiner Mutter über die nächtlichen Bombenangriffe, wie sie danach mit ihren Eltern wieder an die Oberfläche kam und entdecken musste, dass ganze Straßenzüge verschwunden waren. An einigen Wintermorgen drehte ich beim Frühstück das Radio an, weil ich fast erwartete, in den Nachrichten zu hören, dass ganze Teile des Bezirks ans Meer verloren waren – Zäune, Straßen, Wälder und Felder, alles einfach abgebissen wie von einem Kuchen.
Mein Vater hatte Angst vor dem Meer, und meiner Mutter schien es gleichgültig zu sein, und in der Hinsicht waren sie typisch für den Ort. Als ich noch ein kleiner Junge war, empfanden die meisten Bewohner so, und was den Wald anging, der uns umgab, waren sie ähnlich ängstlich oder gespalten. In Sawyer hielt man sich an die Mühle, den Ort und den Fluss. An Sonntagen ruderten die Männer von der Sägemühle gern bis ganz hinunter ins breite Flachwasser der Mündung, um dort nach Weißlingen oder Plattköpfen zu angeln, und mein Vater fuhr mit ihnen. Ich weiß nicht einmal mehr, wem diese schweren Dories, die an Pflöcken am Flussufer festgemacht waren, gehörten – es sah eher so aus, als wären sie Gemeinschaftsbesitz, und wer als Erster hineinkletterte, wurde Ruderer und Skipper. Die Fahrt flussabwärts konnte eine Stunde oder mehr dauern, vor allem, wenn man an Baumstümpfen oder Brackwassertümpeln anhielt, um nach Brassen zu fischen. An den seltenen Vormittagen, wenn die Barriere passierbar und das Meer flach war, wagten sich einige Boote hinaus, um Snapper zu fangen, aber mein alter Herr verließ nie den Schutz der Mündung, und keiner, weder Mann noch Junge, konnte ihn dazu verleiten, weiter hinauszufahren.
Er fing an, mich mitzunehmen, als ich sieben war. Ich mochte damals das Knarzen der Ruder auf den Dollen, die Schatten der Pelikane, die über die gesprenkelten Niederungen huschten. In jedem der großen, hölzernen Dories saßen drei oder vier Männer, und mit ihnen draußen auf dem Wasser war es sehr still. Die anderen Männer waren immer müde oder verkatert, aber mein Alter war einfach von Natur aus schweigsam. Wenn einer von ihnen etwas sagte, dann immer mit dem bellenden Tonfall der berufsbedingt Hörgeschädigten. Sie alle hatten Raucher- und Sägestaubhusten, diese Männer. Ihre kleinen Hüte stanken nach Krabben und Fischblut. Sie waren Junggesellen und heimgekehrte Soldaten und von der Bank geknechtete Farmer, die auf merkwürdige Art besorgt um meinen Vater zu sein schienen, auch wenn sie ihn wegen seines strikten Antialkoholismus aufzogen. Er war der Sohn eines Gemüsehändlers aus einem Dorf in Kent, erzählte mir aber nie Geschichten aus seinem alten Leben. Seinen Arbeitskollegen jedoch war er kein Rätsel. Er hatte, schlicht gesagt, eine ruhige Hand, und soweit ich das erkennen konnte, wurde auch nicht mehr von ihm verlangt.
Wir fischten mit Handleinen und Senkbleien, die die Männer aus alten Dachverkleidungen gossen, und während wir Rupfensäcke füllten und Schleim und Schuppen von den zerkratzten, hölzernen Ruderbänken wischten, krachte die Brandung gegen das hohe, weiße Felsengebilde der Barriere. Über der Flussmündung hingen Gischtmähnen, die vom Wind landeinwärts gebogen wurden. Wenn die Fische schlecht bissen und ich mich langweilte und zappelig wurde, ließ mein Alter sich dazu herab, mich ans Ufer zu rudern, wo ich aussteigen und auf den sandigen Wall klettern konnte, um von dort aus zu beobachten, wie die großen Wogen heranrollten.
Ich war ein Einzelkind und von Natur aus ein Eigenbrötler. Irgendwann wurde mir bewusst, dass meine Eltern alte Leute mit ebensolchen Interessen waren. Sie kümmerten sich um ihr Gemüse und ihr Geflügel. Sie räucherten Fisch selbst, reparierten und verschönerten. Abends hörten sie gern Radio oder den Funkempfänger, wie sie es nannten. Auch wenn sie noch nicht so alt wie Großeltern waren, gehörten sie doch zu einer anderen Gattung als die Eltern anderer Kinder, und ich hatte das Gefühl, dass ihre Einzigartigkeit auch mich irgendwie heraushob. Ich meinte, sie beschützen zu müssen, auch wenn sie mir, wenn ich ehrlich bin, ein wenig peinlich waren. Wie sie hatte ich nicht viel übrig für Rugby oder Kricket. Ich mied Mannschaften jeder Art, und der Gedanke an organisierten Sport war mir ein Gräuel. Ich wanderte und kletterte ganz gern, aber wirklich herausragend war ich nur beim Schwimmen, und das musste für meine Emigranteneltern eine ziemliche Überraschung gewesen sein, weil beide nicht einmal den Kopf über Wasser halten konnten.
Im Sommer trafen sich die Kinder des Ortes nach der Schule in der Nähe der Brücke am Flussufer, um von dem grob zusammengezimmerten Sprungbrett zu springen. Der Fluss war braun vor Tannin und verdammt kalt, aber die Strömung war sehr schwach, und man konnte gefahrlos darin schwimmen. Dort wurden Loonie und ich Freunde.
Ivan Loon war fast zwölf, ein ganzes Jahr älter als ich. Er war der Sohn des Wirts, und obwohl wir die Hälfte unseres Lebens in dieselbe Schule gegangen waren, hatten wir nicht das Geringste gemeinsam. Zumindest bis wir erkannten, dass wir unabhängig voneinander die Kunst perfektioniert hatten, am Flussufer Panik zu verursachen.
Eines Nachmittags im Dezember fuhr ich mit meinem Rad zum Fluss hinunter, um von dem Brett zu springen, aber als ich dort ankam, rannten vier Mädchen und irgendjemands Mutter am Ufer auf und ab, rauften sich die Haare und schrien, da sei ein Junge im Wasser, der dort direkt unter ihnen ertrinke. Natürlich wussten sie nicht, welcher Junge das war, weil sie nicht aus dem Ort waren, aber sie wussten, dass da ein Junge war, weil er noch vor einer Minute da gewesen und nach seinem Sprung nicht mehr aufgetaucht war, und ob es Haie im Wasser gebe und ob ich nicht endlich aufhören könne, Fragen zu stellen, und einfach etwas unternehmen könne.
Die Sonne brannte in dicken Strahlen durch die großen, alten Eukalyptusbäume. In der Luft über uns schwirrten Libellen. Neben dem Sprungbrett lagen ein Handtuch und ein Paar schmuddelige Sandalen, deshalb hatte ich keinen Grund zu zweifeln, dass es wirklich einen Notfall gab. Nur sah das schlammige Wasser harmlos aus, und diese Weiberversammlung, die einen schrecklichen Lärm machte, wirkte völlig deplatziert. Ich hätte eigentlich kapieren müssen, was los war. Aber ihnen zuliebe trat ich in Aktion. Als ich auf das durchhängende Ende des Sprungbretts hinausrannte, fühlte sich das Holz unter meinen Füßen warm und vertraut an. Ich schaute hinunter auf die vom Wind gekräuselte Wasseroberfläche und überlegte. Dann dachte ich mir, dass es das Beste wäre, vom Ufer aus hineinzuwaten, mich langsam in Richtung Flussmitte vorzuarbeiten und immer wieder zu tauchen und zu tasten, ob ich etwas Menschliches unter meinen Fingern spürte. Zum Hilfeholen war keine Zeit. Ich war die Hilfe. Ich fühlte mich der Situation durchaus gewachsen – zwar irgendwie verarscht, aber plötzlich auch größer –, doch bevor ich zur Tat schreiten, bevor ich überhaupt mein T-Shirt ausziehen konnte, brach Ivan Loon durch die Wasseroberfläche. Er tauchte so dicht am Ufer und mit einem so barbarischen Schrei auf, dass die Frau rücklings in den Schlamm fiel wie angeschossen.
Ich stand wippend auf dem Brett, während sie in der Schlutze lag. Dann stützte sie sich auf die Ellbogen. Loonie fing an zu lachen, was ihre Laune nicht gerade besserte. Noch nie in meinem Leben hatte ich eine Frau so wütend gesehen. Sie rannte ins Wasser, stürzte sich auf Loonie und schlug nach ihm, doch der duckte sich nur und wich aus und kicherte. Er war ein sommersprossiger Junge, doch sein Gesicht wurde so rot vor Vergnügen und Anstrengung, dass die Sommersprossen völlig verschwanden. Die arme Frau erwischte ihn nie. Ihr Kleid blähte sich um sie herum. Sie machte kreischende Geräusche wie ein Baby. Loonie schwamm außer Reichweite, dümpelte eine Weile provokativ und kraulte dann in den Schatten am anderen Ufer. Als ich mit der Frau wieder allein war, wurde mir klar, dass es mehr Spaß machte, selbst solche Streiche zu spielen, als nur dabei zuzusehen. Doch dann empfand ich plötzlich mehr Schuldbewusstsein als Schadenfreude. Zwei Dr.-Scholl-Sandalen trieben mit der Brise flussabwärts, und ich schaute ihnen nach, bis ich es nicht mehr ertragen konnte und ihnen pflichtbewusst hinterherschwamm. Als ich sie eingefangen hatte und dann mit seitlichen Einarmzügen zurückschwamm, klapperten sie gegeneinander wie Feuerholz. Es war peinlich, diese Frau so stehen zu sehen in ihrem am Körper klebenden Kleid, mit ihren knubbeligen Knien und den stämmigen Beinen, die über und über voller Schlamm waren.
Da unten sind Baumwurzeln, sagte ich ihr. Man taucht einfach auf den Grund und hält sich an ihnen fest. Ist ganz leicht.
Sie sagte keinen Ton, schnappte sich nur ihre Schuhe und kletterte zu den Mädchen weiter oben am Ufer, und während ich im Wasser lag und mir überlegte, was ich eigentlich von ihr halten sollte, fand sie ihre Fassung wieder und führte die anderen durch die Bäume und außer Sicht. Ich empfand zugleich Sympathie und Verachtung. Autotüren krachten, und das Stottern eines anspringenden Motors war zu hören.
Ganz leicht, was, sagte eine Stimme heiß und dicht an meinem Ohr.
Mit einem Aufschrei sprang ich zur Seite. Loonie brüllte vor Lachen.
Brucie Pike, sagte er. Du bist ein Maulheld.
Bin ich nicht.
Bist du schon.
Bin ich nicht.
Wenn das so ist, Pikelet, dann solltest du es besser beweisen.
Also zeigte ich ihm, was ich konnte. Den ganzen Rest dieses Tages tauchten wir, schwammen immer wieder in die opaken Tiefen des Sawyer River und hielten dort unten so lang den Atem an, dass unsere Köpfe voller Sterne waren, und als wir schließlich, erschöpft und mit Übelkeit im Bauch, aus dem Wasser stiegen, schwankte und kippelte das Ufer unter uns im abendlichen Zwielicht. Das war der erste von vielen solchen Tagen, und von da an waren wir Freunde und Rivalen. Es war der Anfang von etwas. Wir machten den Leuten Angst, stachelten uns gegenseitig an und trieben es immer toller, bis wir manchmal selber Angst bekamen.
MEINE ELTERN HIELTEN nicht sonderlich viel von Loonie. Er war ein vorlauter Bengel, der durch die Stadt streunerte, wie es ihm gefiel. Er wohnte im Pub, und meine Eltern waren keine Pub-Gänger. Dass Mrs Loon nicht Loonies leibliche Mutter war, schien meiner Mum ein gewisses Unbehagen zu bereiten, aber sie versuchte, sich das nicht anmerken zu lassen. Meine Eltern waren taktvolle und freundliche Leute. Loonie schien bei ihnen eher Angst als Antipathie hervorzurufen. Sie waren so still und ordentlich, dass schon wenige Jahre, nachdem sie beide tot und begraben waren, kaum ein Ortsansässiger sich an sie erinnern konnte. Loonie dagegen war von einem ganz anderen Schlag. Hin und wieder trifft man in Perth oder Kuta noch immer jemanden mit einer Geschichte über Loonies frühere Mätzchen, und obwohl die meisten dieser Geschichten nicht verbürgt sind, zeigen sie doch alle die wesentlichen Elemente seiner Wildheit. Bei jemandem, der so eigenbrötlerisch und ungezähmt war wie Loonie, würde man durchaus erwarten, dass er ein wenig einfältig und naiv wäre, aber Loonie war beides nicht. Schon mit zwölf war er weltgewandter als meine Eltern, und auf eine merkwürdige Art ließen sie sich von ihm einschüchtern. Am Anfang machte er sich über sie lustig. Er amüsierte sich über ihre Unschuld, ihre englische Kleidung und die derben Schuhe, die sie im Garten trugen. Er äffte den tapsigen Gang meines Vaters nach und rieb sich die Hände, wie meine Mutter es immer tat. Bevor ich je daran dachte, ihn mit nach Hause zu bringen, tauchte er aus eigenem Antrieb auf. Wie ein streunender Hund stand er dann am Vorderzaun, lungerte einfach am Ende der langen, furchigen Auffahrt herum, eine ruhelose Gestalt, die auf eine Einladung, die Kuhweide zu überqueren, zu warten oder sie sogar stumm zu verlangen schien. Wenn er dann in unserem Garten stand oder später am Mittagstisch saß, waren meine Alten nervös und schüchtern. Er zwinkerte mit seinen großen, grünen Augen und neckte sie sanft in seinem etwas aufgesetzten, spöttischen Tonfall, und dabei lächelte er, bis seine von der Sonne aufgerissene Unterlippe gegen die Zähne blutete.
Nach einer beträchtlichen Zeitspanne, in der mein alter Herr sich bemühte, seine Abneigung zu verbergen, erlaubte er mir schließlich, Loonie zu einer unserer Angeltouren mitzunehmen. Bei diesem ersten Mal war Loonie so leutselig und so voller Späße und anerkennender Geräusche, dass uns allen der Kopf brummte und sogar ich es als Barmherzigkeit seitens meines Vaters betrachtete, dass er bereit war, ihn wieder mitzunehmen. Ich glaube, er sah, wie sehr Loonie es liebte, wie gern er mithalf, mit welcher Freude er anderen zur Hand ging. Ich glaube, trotz ihrer Sprödigkeit erkannten meine Eltern in meinem neuen Freund eine große Einsamkeit, und sie spürten, dass er sie trotz seiner spöttischen Großspurigkeit auf seine Art respektierte und sogar liebte. Oft kauerte er neben meinem Vater vor dem Räucherofen, wenn die Fische eingehängt wurden, und er schnappte sich ein Geschirrtuch, wann immer er sich in die Küche meiner Mutter verirrte. In diesem Sommer, als wir uns ohne großes Palaver zusammentaten, war er den Großteil des Tages und bis weit in den Abend hinein bei uns. Er blieb immer zu lange, wusste aber auch, wann er zu gehen hatte, bevor irgendjemand schließlich eine Andeutung machte.
An Sonntagen fischten wir mit den Männern von der Mühle in der Flussmündung, und als dann die Ferien kamen, brachten wir die Wochentage damit zu, die Picknick-Ausflügler am Fluss nervös zu machen. Wir holten uns Schrottteile von der Müllkippe, damit wir unsere Fahrräder mit heftig verlängerten Gabeln und Lenkstangen verschönern konnten. Wir stellten unsere Bananensättel und Rückenlehnen so schräg, dass wir praktisch in jedem Gelände bergauf fuhren. Auf dem Highway foppte Loonie Holzlaster, tat so, als würde er mit dem Rad die Straße queren, während ich mich im Farn am Waldrand versteckte und einerseits hoffte, er würde es sein lassen, ihn aber andererseits anfeuerte. Wir hatten Fluchtrouten, die uns durch Wildwuchs und Brachland in den Ort zurückführten, so dass wir längst verschwunden waren, wenn irgendein geschockter Trucker am Straßenrand anhielt und mühsam zurückstieß. Es war eine Kindheit, die jetzt so weit weg scheint, dass ich die Leute verstehen kann, die bezweifeln, dass sie je existierte. Wenn man jetzt versuchte, darüber zu reden, würde man als Nostalgie-Freak verschrien und ein Lügner genannt werden, bevor man überhaupt richtig angefangen hätte. Deshalb rede ich nicht sehr oft darüber. Ich glaube, in dieser Hinsicht bin ich der Sohn meines Vaters, ein schlechter Kommunikator, ein geschlossenes Buch. Mit Schweigen habe ich Leute in Bars gelangweilt und meine Ehe zerstört. Ich will kein Mitglied werden in irgendjemands Elendsclub, will nicht unter Fittiche genommen werden als Opfer dieses oder jenes Syndroms, das diese Woche gerade die Runde macht. Ich rede, wenn niemand zuhört. Es ist, wie das Didgeridoo zu blasen, die Luft strömt in Kreisen durch den Körper, und man tut nicht mehr, als sich sich selber zu erklären, solange man noch so weit bei Verstand ist, dass man es tun kann. Ich bin kein nostalgischer Mensch. Ich schaffe es wochenlang, nicht an meine Kindheit oder Sawyer oder Loonie zu denken, aber bei meiner Arbeit sieht man irgendwann solche Sachen wie die Strangulierung von heute Abend, und man bekommt dann ein kaltes Gefühl, das man einem dieser Frischlinge in schneidiger Uniform eher nicht erklärt, nicht jemandem, der bereits entschieden hat, dass mit einem nicht gut Kirschen essen ist.