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Inhaltsverzeichnis



























1. Warum waren die Mönche so dick?

Worin wir die 6.882-Kalorien-Diät kennen lernen.

Vom größten Mönch und Gottesgelehrten des Mittelalters, vom heiligen Thomas von Aquin, wird berichtet, dass seine Mitbrüder extra für ihn eine nierenförmige Bucht in den klösterlichen Esstisch gehobelt haben. Damit er überhaupt Platz nehmen konnte. So dick war der heilige Thomas von Aquin.

Er nahm das übrigens mit Humor. Wenn seine Mitbrüder ihn hänselten, pflegte er zu sagen: »Schon bei Aristoteles steht geschrieben: Dicke Männer sind intelligenter als dünne.«

Unter diesem Gesichtspunkt kommt den Forschungen des französischen Historikers Michel Rouche besondere Bedeutung zu. Sie beweisen, dass die meisten Mönche des Mittelalters dem heiligen Thomas von Aquin an Intelligenz und an Humor kaum nachstanden. Rouche hat nämlich mit geradezu mönchischem Fleiß alle verfügbaren Dokumente über die klösterlichen Küchen und Keller jener Zeit ausgewertet. Hier sein statistisch exakter Schluss: In der Abtei Saint-Germain-des-Prés vor den Toren von Paris verzehrte im 10. Jahrhundert ein ganz normaler Mönch an einem ganz normalen Wochentag genau 6.882 Kalorien.

Wir wollen das gar nicht erst in Joule umrechnen, sonst wird es noch mehr. Begnügen wir uns mit dem Hinweis, dass die berühmte Kalorientabelle von Barbara Lüdecke für einen vergleichbaren modernen Beruf, nämlich für Lehrer, weit weniger als die Hälfte gestattet: nicht 6.880, sondern 2.400 Kalorien. Was darüber ist, das ist vom Bösen. Besonders, wenn man bedenkt, dass die Menschen im Mittelalter wesentlich kleiner gewachsen waren als heute.

Gewiss, anderwärts ging es ein bisschen magerer zu als in Saint-Germain-des-Prés. Aber nur ein bisschen. Nirgendwo in Frankreich sank der normale tägliche Kalorienverbrauch pro Mönch unter 4.700. Und es sei gewarnt vor nationalen Vorurteilen. Zugegeben, französische Mönche aßen besser. Aber alle verfügbaren historischen Quellen deuten darauf hin: Deutsche Mönche – auch englische Mönche übrigens – aßen mehr. Wir werden noch sehen, warum.

Und auch dies sei betont: Michel Rouche ist keineswegs ein übelwollender Antiklerikaler, ein hämischer Linksintellektueller. Wie wohlwollend er im Gegenteil seine Rechnung aufgezogen hat, zeigt der Umstand, dass er nur die Rationen für einen ganz normalen klösterlichen Wochentag berechnet hat. Natürlich gab es auch die Fastenzeit, es gab die mageren Freitage. Vor allen Dingen aber gab es eine Unzahl von Festtagen. Und an Festtagen wurde in den Klöstern noch viel mehr gegessen als an normalen Tagen.

So ist denn das Ergebnis der wissenschaftlichen Diskussion, welche die Forschungen von Michel Rouche in Frankreich ausgelöst haben, zwar bestürzend, aber nicht überraschend. Andere französische Historiker, vor allem aber der belgische Soziologe Léo Moulin, haben inzwischen soviel zusätzliches Quellenmaterial zu Tage gefördert, dass zweifelsfrei feststeht: Michel Rouche hat sich verrechnet. Aber nicht nach oben, sondern nach unten. Die Mönche aßen und tranken in Wirklichkeit noch viel mehr als nur so zwischen 4.700 und 6.900 Kalorien. Waren es 7.000, 8.000, 9.000 oder gar 10.000 Kalorien? Schauen wir uns die klösterliche Speisekarte mit aller gebotenen wissenschaftlichen Nüchternheit im Detail an.

»Panem nostrum quotidianum … Unser tägliches Brot gib uns heute«: Rouche geht davon aus, dass der mittelalterliche Mönch jeden Tag anderthalb bis zwei Kilo Brot aß. Also, nach Barbara Lüdeckes Kalorientabelle, etwa 3.000 Kalorien. Tatsächlich ist erwiesen, dass damals ganz allgemein viel mehr Brot gegessen wurde als heute. Die Kartoffel war ja noch nicht aus Amerika eingeführt. Auch besitzen wir schriftliche Belege dafür, dass zum Beispiel die Abtei Cluny für etwa 300 Mönche täglich 470 Kilo Mehl verbrauchte, was also, auf den ersten Blick, gut anderthalb Kilo Brot pro Mönch ergibt.

Aber halt! Der französische Historiker hat eines übersehen: Aus Mehl kann man nicht nur Brot machen! Die Mönche des Mittelalters waren Meister in der Herstellung von süßem Gebäck: »Frigodolae«, »crispelae«, »refelae«, »cratones«, »fladines«, »bracelli«, »oblatae«, »piperati«, »mellati«, »nebulae« – so hießen die raffinierten Makronen, Krapfen und Waffeln, Honig- und Pfefferkuchen, Und wissen wir auch nicht im einzelnen ganz genau, wie diese Plätzchen geschmeckt haben, so steht doch dies fest: Sie waren alle unbeschreiblich süß und fett. Auf Barbara Lüdeckes Kalorientabelle stünden sie alle viel weiter oben als das schlichte Brot.

Soll ich jetzt noch lange reden von den erlesenen Rezepten für orientalische Süßigkeiten, die die Mönche im Gefolge der Kreuzritter aus Damaskus heimbrachten? Soll ich die kleinen Aniskuchen beschreiben, die Ingwer-Bonbons, die eingelegten Früchte oder gar die Krapfen mit Rosenblättern und Blattgold, die der Ruhm der Karmeliter-Küche waren?

Die größte Weltfremdheit aber hat sich Michel Rouche geleistet, als er nur einen täglichen Verbrauch von 0,6 bis 1,1 Gramm Honig pro Mönch in seine Rechnung aufnahm. Die Klosterbrüder waren ja die großen Bienenzüchter des Mittelalters. Sie brauchten enorme Mengen Wachs für die Altarkerzen, und Wachs ist nur ein Nebenerzeugnis von Honig. Es gab fast nichts, was im Mittelalter nicht mit Honig gesüßt wurde. So wissen wir zum Beispiel vom heiligen Ludwig, dass er während der Fastenzeit zur besonderen Abtötung des Leibes statt Wein Bier trank. Allerdings fügt der Chronist hinzu, dass Sankt Ludwig das Bier der Buße mit Honig süßte.

Die feinsten Schleckereien in den Klöstern waren eine Kombination von Honig und Mandeln. Als Sankt Franziskus im Kloster zu Assisi im Sterben lag, hatte er einen letzten Wunsch. Ihn gelüstete nach dem süßen Mandelgebäck der »tartarae«. Das ist eine Todsünde nach Barbara Lüdeckes Kalorientabelle. Eine Todsünde war es auch nach den Gesetzen der katholischen Kirche, wenn eine Nonne ein Männerkloster betrat. Und doch hat niemand es gewagt, dem heiligen Franz seinen letzten Wunsch abzuschlagen: dass nämlich Schwester Jakobine ihm persönlich eine Schale voll Mandelgebäck ans Sterbebett bringe. Denn das wusste der heilige Franziskus ganz genau: Keine buk die Tartarae so süß wie Schwester Jakobine von Settesoli. Ganz ungeniert berichten die frühen Chronisten des Franziskaner-Ordens von dieser Szene. Und ebenso ungeniert feiern sie ein paar Zeilen später den heiligen Franz als »pauperculum et nudum«, als Musterbeispiel freiwilliger Armut und Kasteiung. Waren sie sich des Widerspruchs nicht bewusst?

Nein, denn dies ist des frommen Rätsels Lösung: Sowenig wie der Hinduismus hat auch das Christentum jemals verbindliche Fastenregeln für Süßigkeiten aufgestellt. Die Askese beider Religionen ist ja stark geprägt von der Angst vor der Sexualität. So haben die Theologen des Mittelalters leidenschaftlich darüber disputiert, ob, nebst Fleisch und Eiern, auch Fisch und Milch samt allen Milchprodukten zum klösterlichen Fastengebot gehörten. Allen diesen Lebensmitteln wurde ja nachgesagt, dass sie das Verlangen des Mannes nach dem Weib stärken. Dass aber Makronenplätzchen und Honigwaffeln zur Sünde des Fleisches verleiten könnten, auf diese Idee kam vernünftigerweise niemand.

Später, als Südamerika entdeckt wurde und die spanischen Nonnen dort, um die verschärften Fastengebote des Konzils von Trient zu umgehen, aus einem ungenießbaren indianischen Getränk unsere heutige Schokolade entwickelten, hat Papst Pius V. sogar ausdrücklich entschieden: Wer Schokolade schleckt, bricht keinerlei Fastengebote (»non frangit ieiunium«).

Wenn aber selbst eine soviel strengere Zeit wie die Gegenreformation nichts gegen Schokolade einzuwenden hatte, wie hätte da das Mittelalter Gewissensbisse empfinden sollen, wenn etwa in manchen Klöstern, gleich am Aschermittwoch, jedem Mönch ein ganzer Sack mit dreißig Pfund Mandeln ausgeteilt wurde, wenn dann, an jedem Tag der Fastenzeit neu, mitten im Refektorium, im klösterlichen Esssaal, ein riesiger Kuchen thronte?

Es ist jetzt leider zu berichten, dass zwar das Fleisch, anders als Gebäck und Süßigkeiten, in den Mönchsregeln des Mittelalters streng verboten war, dass aber selbst diese Vorschrift – die strikteste von allen – fast nirgendwo eingehalten wurde.

Ich wage nicht zu behaupten, dass das an der göttlichen Vorsehung gelegen habe, aber zumindest höhere Gewalt war schon im Spiel. Alle zwei, drei Jahrzehnte brach ja im Mittelalter eine Epidemie aus, und in jeder dieser Epidemien brach regelmäßig die klösterliche Disziplin zusammen. Es dauerte dann, vor allem nach den großen Pestzeiten des späteren Mittelalters, Jahrzehnte, bevor auch nur die elementare Ordnung in den Klöstern wiederhergestellt war.

Das war das eine. Im Vergleich dazu wirkt der zweite Grund lächerlich: Es ist ein winziger Satz in der Regel des heiligen Benedikt. Der große Mönchsvater des Abendlandes hat nämlich, als er seine Regel aufstellte, eine ganz banale Lebenserfahrung außer acht gelassen: Ausnahmen sind aller Laster Anfang.

Gewiss hat der heilige Benedikt in seiner Regel Fleisch streng verboten. Aber er lässt ein fatales Hintertürchen offen: »Für Schwerkranke«, schreibt Benedikt, sei Fleisch erlaubt.

Die Folge war, dass sich in den mittelalterlichen Klöstern niemand so richtig gesund fühlte.

Jeder Mönch wurde ja zwölfmal im Jahr, mancherorts sogar dreißigmal, zur Ader gelassen. Und alle klösterlichen Regelbücher stimmen darin überein:

Wer zur Ader gelassen wurde, hat an den folgenden Tagen als Kranker Anspruch auf Fleisch. Das war die Ausnahme Numero eins.

Ausnahme Numero zwei: Es steht geschrieben im Ersten Buch Moses, dass Gott der Herr das Geflügel nicht am gleichen Tag erschaffen hat wie die Vierbeiner, sondern zusammen mit den Fischen. Enten, Wachteln und Truthähne galten deshalb theologisch als Fisch und fielen überhaupt nicht unter das Fleischverbot des heiligen Benedikt.

Ausnahme Numero drei: An manchen Tagen waren am klösterlichen Tisch Gäste zu bewirten, Männer von Welt, denen man die Entsagungen des heiligen Benedikt nicht zumuten konnte. Daher war es in jenen ritterlichen Zeiten ein selbstverständliches Gebot der Höflichkeit, dass an solchen Tagen die ganze Mönchsgemeinde mit den Gästen zusammen Fleisch aß.

So ging es weiter, aus einer Ausnahme ergab sich auch schon die nächste, bis zum Schluss in der wichtigsten Abtei, in Cluny, der Speisezettel nachweislich so aussah: An allen Tagen, außer mittwochs und freitags, zweimal Fleisch, und zwar mittags meist Rind, abends Schwein. Und als Vorspeise dazu jeweils Geflügel, Pastete oder Pökelfleisch.

Hätte uns so ein mittelalterlicher Klosterbraten geschmeckt? Mit Sicherheit nicht. Das Fleisch war nämlich völlig zerkocht. Schon die jüngeren Mönche hatten ja, wie die meisten Menschen des Mittelalters, keine Zähne mehr. Deshalb wurde auch, noch vor der Hauptspeise, auf jeden Fall ein »pulmentum« serviert, ein dicker Hafer oder Gerstenbrei, den auch der zahnloseste Jüngling problemlos hinunterschlingen konnte.

Viel raffinierter zubereitet als das Fleisch waren die Fischgerichte. Sie waren der eigentliche Ruhm der mittelalterlichen Klosterküche. Ja, es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass es den Mönchen durch höchste Verfeinerung der Fischküche gelang, den Sinn dieser Ernährungsregel, nämlich Armut und Verzicht, ins pure Gegenteil zu verkehren. Das zeigt der Vorwurf, den die schöne Heloise ihrem unglücklichen Abälard im Kloster Cluny machte: Er solle doch auf den Luxus des Fisch-Essens verzichten und zur Buße wieder mal mit Fleisch vorlieb nehmen. Als feinster Fisch galt den Mönchen übrigens der Barsch. Flusskrebse dagegen – heute eines der erlesensten und teuersten Gerichte – mochten sie nicht. Kein Wunder: Flusskrebse galten ja noch bis ins 19. Jahrhundert als Arme-Leute-Essen.

Und die Eier? Hier lesen wir von sechs Eiern täglich für den Abt, von zwölf Eiern täglich für die jüngeren Mönche, dort gar von 30 Eiern pro Tag für jeden Mönch. Spiegeleier, Rühreier, weiche Eier, pochierte Eier, Omeletts – eine süddeutsche Chronik berichtet gar von einem Mönch, der am übermäßigen Genuss von Ostereiern gestorben ist.

Was wurde dazu getrunken? Michel Rouche setzt in seine Kalorienrechnung anderthalb Liter Wein ein, pro Tag und pro Mönch. Nur anderthalb Liter? Das wäre gelacht. Inzwischen besitzen wir genauere Zahlen. Im Frankreich des 9. Jahrhunderts waren es nachweislich etwa dreieinhalb Liter pro Tag. Und nach den sehr gewissenhaften Forschungen von Pater Philibert Schmitz trank der normale süddeutsche Mönch im 14. Jahrhundert sogar vier Liter Wein pro Tag. Wie wählerisch die Mönche dabei waren, zeigt eine Bemerkung des heiligen Bernhard von Clairvaux. Er beklagt sich, dass zum Essen drei verschiedene Krüge mit Wein angeboten würden und dass die Mönche solange an den drei Krügen schnupperten, bis sie herausgefunden hätten, welches die bessere Sorte sei.

Der heilige Bernhard von Clairvaux war zweifellos der einzige, der dabei ein schlechtes Gewissen hatte. Anders als heute galt ja der Wein im Mittelalter als Medizin. So gab auch der heilige Thomas von Aquin eher eine medizinische als eine theologische Lehrmeinung wieder, als er im 13. Jahrhundert wörtlich schrieb: »Wenn einer sich so sehr des Weines enthielte, dass er dadurch an seiner Gesundheit Schaden nähme, so wäre er nicht frei von Schuld.« Man beachte den Konjunktiv: »Wenn einer sich so sehr des Weines enthielte …«: Offensichtlich kann sich das der heilige Thomas im Ernst gar nicht vorstellen.

Dabei gab es für den Wein durchaus gewisse Regeln und milde Einschränkungen. Nicht für das Bier. Selbst in den meisten deutschen Klöstern galt Bier als etwas so Gemeines, dass besondere Vorschriften nicht nötig schienen. In der Abtei Trier hieß es zum Beispiel nur, an Fastentagen sei die Mahlzeit statt mit Wein »cum aqua aut cerevisia« zu servieren: »mit Wasser oder Bier«.

Bier oder Wasser – eins wie das andere. Wobei zu beachten ist, dass »aqua« mit »Wasser« gar nicht richtig übersetzt ist. Reines Wasser galt in mittelalterlichen Klöstern als gesundheitsschädlich. Was in den Chroniken als »aqua« bezeichnet wird, war stets verdünnter Fruchtsaft oder Beerensaft.

Wenn es nicht etwas ganz anderes war. Nicht zu Unrecht gilt der Patron Irlands, der heilige Patrick, als Erfinder des Whiskey. Drei von vier großen irischen Whiskey-Destillerien stehen heute genau dort, wo zuvor eine große Abtei stand. Kirschwasser, Mirabellenwasser, Pflümliwasser – fast alle die erlesenen Schnäpse Oberdeutschlands sind klösterlichen Ursprungs. Ein Blick auf Barbara Lüdeckes Kalorientabelle: Auch davon können die Mönche nicht schlank geworden sein.

Ich wollte noch etwas über das Gemüse sagen, über das Grundnahrungsmittel der klösterlichen Küche, nämlich über die dicken Bohnen, und über den Spinat, der erst als Delikatesse galt, wenn er drei Tage auf dem Feuer gestanden hatte. Aber lassen wir das. Es ist Zeit für die Frage aller Fragen: Warum haben diese Männer Gottes, die doch ein so hohes Ideal der Enthaltsamkeit und der Entsagung hatten, warum haben sie – sit venia verbis – so maßlos gefressen und gesoffen?

Zwei Dinge kommen da zusammen. Zwei Dinge, die sich in jeder religiösen Fehlentwicklung wiederfinden: ein Ideal, das nicht zur Wirklichkeit passt, und eine Wirklichkeit, die nicht zum Ideal passt.

Das Ideal bekamen die Mönche jede Nacht um Mitternacht zu hören, wenn in der Matutin, wie heute noch, die Lebensgeschichten der großen Heiligen vorgelesen wurden. Da war die Geschichte vom heiligen Nikolaus von Myra, der schon als Säugling soviel vom Fasten hielt, dass er sich mittwochs und freitags weigerte, die Milch von der Brust der Mutter zu trinken. Da war der heilige Romuald, der täglich nur eine Handvoll Erbsen aß. Da war der heilige Coelestin, für den das Jahr nicht nur eine, sondern sechs Fastenzeiten hatte. Da waren vor allem die großen Wüstenväter, zum Beispiel Antonius der Einsiedler, der niemals vor Sonnenuntergang etwas aß oder trank, und dann auch nur ein paar Kräuter und einen Becher Wasser.

So sah das Ideal aus. Und jetzt die Wirklichkeit: Ob Mönche oder nicht Mönche, die Menschen des Mittelalters lebten alle in panischer Angst vor dem Hungertod. Mochte das Wetter schlecht ausfallen, mochte ein Krieg hereinbrechen, schon waren ganze Länder vom Hunger bedroht. Ähnlich wie heute älteren Menschen die Angst vor dem Krebs, so saß damals jung und alt die Angst vor dem Hunger in den Knochen. Im Grunde war es ein gesunder, ein natürlicher Instinkt der Selbsterhaltung, dass der mittelalterliche Mensch immer dann, wenn etwas da war, soviel hinunterschlang wie nur möglich.

Ein zweites kam hinzu: die Angst vor der Kälte. Bis ins 12. Jahrhundert waren die Klöster, von der Küche einmal abgesehen, überhaupt nicht geheizt. Später hatte ein einziger Raum, das »calefactorium«, ein Kaminfeuer. Es gab im Grunde nur einen wirklichen Schutz gegen Kälte: eine möglichst dicke Schicht Fett.

Das ist auch der Grund, warum die deutsche Klosterküche noch fetter war als die französische, warum die dicken Bohnen und das Fleisch bei uns, entgegen dem ausdrücklichen Verbot des heiligen Benedikt, nur so im Schweineschmalz schwammen. Noch war ja Barbara Lüdecke nicht geboren, noch wusste kein Mensch, was Kalorien sind. Aber was frieren heißt, das wussten die deutschen Mönche des Mittelalters sehr wohl.

Natürlich war der gemeine Mann nicht besser als der Mönch. Auch er war besessen von der Gier, sich den Bauch vollzuschlagen. Aber der gemeine Mann konnte sich das nicht leisten. Leisten konnten es sich nur Adel und Klerus. So fanden auch am Hofe von Burgund maßlose Fressereien statt, bei denen vier Tage und vier Nächte lang ununterbrochen ein Gang nach dem anderen serviert wurde. Man mag dabei an Karl Marx denken oder an Goethe: Adel und Klerus haben ganze Länder aufgefressen und nicht dabei sich übergessen.

Trotzdem war ein Unterschied zwischen Adel und Klerus. So ein dicker Ritter, der fraß einfach fröhlich drauflos. Mit den Mönchen war es ein bisschen anders. Die Geschichte des mittelalterlichen Mönchtums ist durch die Jahrhunderte eine Geschichte des schlechten Gewissens. Sie ist eine Geschichte von oft heroischen Versuchen der Rückkehr zu einem Leben der Selbstbeherrschung und Entsagung. Warum ist soviel guter Wille so oft gescheitert?

Vielleicht ist es wichtig zu wissen, woher das Ideal kam. Es stammte im wesentlichen von den Wüstenvätern, den ersten Einsiedlern und Mönchen im frühchristlichen Ägypten. Anders als heute war Ägypten damals ein reiches Land. Und es hatte ein paradiesisches Klima. Es mochte schon seinen Sinn haben, wenn der heilige Antonius oder der heilige Pachomius Abschied nahmen vom süßen Leben im alten Ägypten, um ein bisschen Buße zu tun und zu fasten. So wie es durchaus menschlich und sinnvoll ist, wenn wir heute ein bisschen fasten.

Im europäischen Mittelalter aber, in einer Zeit der drohenden Hungersnöte und der bitteren Kälte, war dieses Ideal unmenschlich und unchristlich. Schon der heilige Benedikt, ein Italiener der späten Antike, hat vor der Askese als Selbstzweck gewarnt. Hätte Benedikt im Mittelalter nördlich von den Alpen gelebt, er hätte wahrscheinlich seinen Mönchen nicht das Fleischessen, sondern im Gegenteil das Fasten von vornherein verboten und dafür gesorgt, dass sie alle eine zwar bescheidene, aber ausreichende und kräftige Nahrung bekämen.

Aber Benedikt mit seiner christlichen und menschlichen Vernunft war längst tot. Den Ton gab jetzt ein so verstiegener Idealist wie der heilige Bernhard von Clairvaux an, von dem es noch heute im mitternächtlichen Offizium der Mönche heißt: »Quoties sumendus ei cibus erat, toties tormentum se subire putabat – jedesmal, wenn er doch etwas essen musste, war es ihm, als würde er gefoltert.«

So kam es zu dem klassischen psychologischen Teufelskreis aller Suchtkrankheiten. Da knieten die Mönche in der Kirche und sangen voll tiefer, echter Frömmigkeit von Selbstbeherrschung und Entsagung. Ein paar Stunden später aber saßen sie zusammen in der Küche und sangen im besten Küchenlatein: »O beata viscera, nulla sit vobis mora – mögest du niemals darben, seliger Bauch.«

Auf diese Weise hin- und hergerissen zwischen einem unmenschlichen Ideal und einer unmenschlichen Wirklichkeit, wurde die Fresslust der Mönche des Mittelalters zum Gespött für die Welt. Sie wurden zum Exempel für das, was Blaise Pascal gemeint hat mit dem äußerst menschlichen, äußerst christlichen Satz: »Qui veut faire l’ange fait la bête – Wer den Engel spielen will, der sinkt herab zum Tier.«