Über dieses Buch:
Wenn aus rosa Wolken eine Sturmfront wird … Eigentlich läuft es super für die Schriftstellerin Sina: Sie soll als Ghostwriterin für die berühmte Schauspielerin Clarissa schreiben und könnte sich ihren Feierabend von Frizz, dem durchtrainierten Windsurfer, versüßen lassen. Dummerweise liegt die Betonung auf »könnte« – denn dem Sonnyboy sind seine Freiheit und die perfekte Welle wichtiger. Und als wäre das alles nicht schon anstrengend genug, sorgt auch Sinas charmanter Nachbar auf einmal für Gefühlschaos …
Über die Autorin:
Michaela Seul hat unter ihrem eigenen Namen, Pseudonymen und als Ghostwriterin rund 70 Bücher in den unterschiedlichsten Genres veröffentlicht: Romane, Krimis, Biografien und auch Sachbücher – darunter viele Bestseller. Zudem betreibt sie einen Blog, auf dem sie vom Leben mit ihrem Hund berichtet: www.flipper-privat.de
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Neuausgabe August 2017
Dieser Roman erschien bei dotbooks bereits 2015 unter dem Titel Viel Wind um Frizz
Copyright © der Originalausgabe 2015 dotbooks GmbH, München
Copyright © der Neuausgabe 2017 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/vulcano (Sandalen), Pairoj Sroyngern (Blüten), Alexandr Simonov (Muscheln)
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ml)
ISBN 978-3-96148-123-1
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Michaela Seul
Liebe mit Wellengang
Roman
dotbooks.
Schöne Menschen sind erholsam für die Augen, wenn man, so wie ich, täglich stundenlang auf einen Computerbildschirm starrt. Meine neue Kundin war die reinste Linsenwellness. Wallende blonde Mähne mit fruchtig-prallem Dekolleté in einem himmelblauen Kleid. »Kommen Sie doch nach Ammerland«, hatte sie mich am Telefon eingeladen, »das ist am Starnberger See. Ich habe da ein kleines Häuschen.« Clarissa Sandrine Lichtensteins Stimme klang hell und jung – sie war wohl Ende zwanzig, allerhöchstens Anfang dreißig. Das kleine Häuschen hatte sich als Villa im Landhausstil herausgestellt, die in einem parkähnlichen Garten prunkte, wo wir auf edlen Holzmöbeln saßen. Als ich die roten Fensterläden an der Natursteinhauswand entdeckte, wusste ich, dass ich den Auftrag als Ghostwriterin annehmen würde. Ich liebe rote Fensterläden – gerade weil sie selten sind in dieser fetten oberbayerischen Landschaft voller Holzbalkone und Geranien. Doch bayerisches Flair fehlte gänzlich, dafür gab es Spalierrosen und Palmen und Olivenbäumchen in schweren Holzfässern. Alter Obstbaumbestand, Äpfel, Mirabellen, Aprikosen, Zwetschgen, überwucherte Beete, eine Dornenhecke wie aus dem Märchen, an der leuchtend rote Himbeeren sanft im lauen Wind schaukelten, und sogar einen Glaspavillon mit einem Swimmingpool darin.
»Der ist schon lange nicht mehr in Betrieb«, lächelte Clarissa bedauernd. In ihrem rechten Mundwinkel prangte ein Schokoladenfleck, der ihr etwas Unbekümmertes verlieh.
Ich nickte. Ich wies sie nicht darauf hin, dass sie nur ein paar Schritte zum Starnberger See zu gehen hatte. Ich weiß, dass bei gewissen Leuten der Pool dazugehört, egal, wie nah der See sein mag. Im Vergleich zu diesem »Häuschen« hauste ich in einer Hundehütte. Was sind schon drei Zimmer in München, auch wenn sie direkt am Englischen Garten liegen, in der vielversprechenden Himmelreichstraße, solange sie gemietet sind und kein See in Sichtweite lockt. Deshalb empfange ich nur selten Kunden bei mir zu Hause. Und für das erste Treffen leihe ich mir manchmal den Porsche Carrera meines Nachbarn. Ich finde das witzig. Die Ghostwriterin verwischt ihre Spuren. Mein Nachbar leiht sich übrigens manchmal meinen Hund, wenn er sich einsam fühlt. Junge hübsche Frauen lieben große braune Hunde.
Ich hätte gewarnt sein müssen. Denn es gab schon bei unserem ersten Treffen Ungereimtheiten. Doch Clarissa Sandrine Lichtenstein bot mir Schokolade an, was mich für sie einnahm – und außerdem war sie schwanger. Das flößte mir Ehrfurcht ein, wahrscheinlich, weil ich selbst keine Kinder habe. Und ich wusste auch nicht, ob ich das ändern wollte. Ich hatte ja noch viel Zeit mit meinen Anfang dreißig. In dieser Frage war ich relativ blauäugig, wenn auch von Natur aus grünäugig. In der Abendsonne leuchten meine Augen smaragden wie Flaschenglas am Meeresstrand – Zitat meines ständigen Freundes und Exfreundes Frizz. »Grüne Augen, Froschnatur, von der Liebe keine Spur«, wurde ich früher gehänselt. Während ich mir die »blauen Augen, Himmelsstern, küssen und poussieren gern« wünschte oder wenigstens braune Augen, um meine Tugend und Treue unter Beweis zu stellen, denn wer küsst schon gern einen Frosch, bin ich heute zufrieden, auch mit dem ganzen Rest. Meine Nase könnte vielleicht ein bisschen kleiner sein, aber dafür habe ich einen guten Riecher. Meine Figur erscheint sportlicher, als ich es bin, und meine dunklen Locken sehen aus, als würde ich jeden Morgen fluchend vorm Spiegel stehen. Dabei lassen sie sich leicht kämmen. Ich komme gut mit mir zurecht. Das ist nebenbei bemerkt die beste Voraussetzung, um mit Männern zu leben: nicht auf sie angewiesen zu sein. Sie wie einen Luxusgegenstand zu behandeln. Schön, wenn er da ist, und wenn er weg ist, besinnt man sich auf das Wesentliche.
Ich fand Clarissa Sandrine Lichtenstein umwerfend. Bei ihr stimmte einfach alles, und obwohl sie viel und fast ununterbrochen redete, sagte sie keinen Unsinn und aß nebenbei eine dreiviertel Tafel Schokolade auf. Ratzeputz. Manchmal waren ihre Vorderzähne schmierig oder von groben schwarzen Punkten verunziert, aber bei ihr sah das reizend aus, und ich schloss sie sofort ins Herz. Beim ersten Treffen lasse ich meine Kunden drauflosreden. Später reden sie zwar auch viel, doch dann leite ich sie an. Ob sie sich führen lassen, das überprüfe ich gründlich beim ersten Kontakt. Kunden, die sich nicht führen lassen, lehne ich ab. Das sage ich ihnen ganz offen. Alle haben sich daraufhin gebessert. Sogar der berühmte Torwart, dem die Presse meistens mit offenem Mund bis zum Zäpfchen auf den Titelblättern schmeichelte. Denn sie wollten etwas von mir. Und sie wussten, dass sie bei mir an einer guten Adresse waren. An einer der besten.
Ich bin hauptberuflich unsichtbar. Im Auftrag von Verlagen schreibe ich als Ghostwriterin Bücher für Prominente in ihrem Namen. Als ich vor vielen Jahren eher aus Versehen denn aus Absicht mit diesem Job begann, dachte ich, es handle sich um eine vorübergehende Möglichkeit, Geld zu verdienen, denn meine Gedichte fanden keinen Verlag. Damals arbeitete ich halbtags als Online-Redakteurin und verdiente gerade genug, um mir ein Einzimmerapartment in der Peripherie Münchens sowie hochwertiges Hundefutter für meinen Hund und Discountfood für mich zu leisten. Man muss Prioritäten setzen. Eines Abends stellte mir mein damaliger Chef einen Bekannten vor, dessen Frau einst eine berühmte Operndiva gewesen war: Ihr Leben wurde zu meinem ersten – und auch gleich erfolgsgekrönten – Ghostwriting-Projekt, denn die Operndiva massakrierte kurz vor dem Erscheinungstermin des Buches ihren Gatten mit dreiunddreißig Messerstichen. Sie hatte bei dieser dramatischen Handlung übrigens Wert darauf gelegt, jedes seiner Prunkstücke – vom Einhand- zum Jagdmesser über den Hirschfänger zur Saufeder, vom Leatherman zum Rosendamastmesser seiner Bestimmung zuzuführen – also es einmal an ihrem Gatten zu erproben. Die Zahl der Stiche entsprach in etwa der seiner Freundinnen, in erster Linie Blondwild. So etwas hätte ich der Operndiva anfangs gar nicht zugetraut, und erst recht nicht, dass sie die fette Beute schlussendlich ausweidete, zerstückelte und ihren Gästen als Hirschragout vorsetzte, was meines Wissens zum Rotwild zählt.
Ich selbst habe bei der Operndiva nie gespeist, ließ das aber offen – die Agentin, die ich mir zulegen musste, weil das Buch zum Bestseller wurde und ich mich nicht um die internationale Vermarktung kümmern wollte, sondern lieber weiterhin Gedichte schrieb, riet mir dazu. Der Jagderfolg der Operndiva bescherte mir schlussendlich sogar einen Anruf meiner Bank, die mir beflissentlich anbot, die Zinsen auf meinem Cashkonto zu erhöhen. Ich kam mir vor, als hätte ich die Bank gewechselt, dabei war ich lediglich von der Soll- auf die Habenseite in der Kundenbetreuung geglitten. Was ich damit sagen will, ist, dass ich der Operndiva doch einiges verdanke und gern an sie denke. Nicht wegen des Rummels um das Hirschragout. Sondern weil sie eine sehr sympathische und aufmerksame Frau war. Bei jedem unserer Treffen hatte sie einen Kuchen gebacken, und als sie herausfand, dass ich eine Schwäche für Mango-Lassi habe, stand stets ein antiker Steinkrug mit diesem eisgekühlten Getränk auf dem Rokokotischchen neben dem altrosa bezogenen Sofa mit Kissen voller Kordeln und Borten und Troddeln. So wie die Kissen aussahen, hatte ihre Stimme früher geklungen. Die Operndiva hatte mir angeboten, bei den Honoraren halbe-halbe zu machen. Geld hatte sie nicht nötig, und sie glaubte auch nicht an einen Erfolg des Buches, bis sie dann selbst dafür sorgte mit ihrem Hirschragout.
Heute kommt es nur selten vor, dass sich Auftraggeber direkt bei mir melden, ohne Verlag oder Agenten. So wie Clarissa Sandrine Lichtenstein. Beziehungsweise ihre persönliche Assistentin. Ich hätte nein sagen sollen, denn ich fühlte mich urlaubsreif. Doch ich fand die Frau ziemlich heiß. Ein echter Feger. Nicht, dass ich auf Frauen stehe. Aber ich schätze Frauen, die es im Leben ohne Mann zu etwas gebracht haben. Also machte ich mir keine Gedanken, wie genau sie oder ihre Assistentin mich gefunden hatte. Nicht, dass es unmöglich wäre, aber Leute ohne Kenntnis der Verlagsbranche benötigen schon etwas Einfallsreichtum, einen Ghost aufzuspüren. Den hatte sie bewiesen, und das gefiel mir. Außerdem habe ich eine Schwäche für Menschen, die ganz anders sind als ich. Ich selbst käme nie auf die Idee, mir um achtzehn Uhr abends eine Tafel Schokolade auf der Zunge zergehen zu lassen. Wären da nicht eher Cracker angebracht? Das alles ließ mich ahnen – und darin sollte ich recht behalten –, dass Clarissa Sandrine Lichtenstein wirklich ganz anders war als ich. Die Schokolade war nur die Spitze des Kalorienbergs. Ich fand Clarissa interessant. Und attraktiv. Ich bin gern in Gesellschaft schöner Menschen. Das hat etwas Entspannendes. Es beruhigt meine Augen, und da ich täglich stundenlang auf den Laptop starre, brauche ich das. Clarissa Sandrine Lichtenstein war die reinste Augenweide, und ich genoss es, meine Blicke grasen zu lassen. Den Busen habe ich schon erwähnt. Voll und drall und fruchtig. Und rund. Sehr rund. Vielleicht kam das von der Schwangerschaft. Am Bauch zeichnete sich noch nichts ab oder kaum etwas, unter Umständen eine kleine Wölbung. Sie hatte erst vor einer Woche den Test gemacht. Ich war natürlich neugierig, wer der Vater war, aber ich fragte nicht nach. Beizeiten würde sie mir alles erzählen. Freiwillig. So wie sie mir schon im dritten Satz von ihrer Schwangerschaft berichtet hatte. Bald würde sie wie ein offenes Buch vor mir liegen, weil sie genau das werden wollte: ein Buch. Ich könnte sie alles fragen. Auch Dinge, die man andere Leute normalerweise nie fragt. Wenn sie einwenden würde, dass dies doch nichts mit dem Buch zu tun habe, würde ich freundlich erklären, dass alles mit dem Buch zu tun habe, denn um ein gutes sichtbares Buch zu schreiben, müsste ich auch alles Unsichtbare wissen. Das ist natürlich Quatsch. Eine gute Autorin ahnt das Unsichtbare, ohne es erzählt zu bekommen. Aber ein bisschen Spaß muss schon sein, und da ich Freude an indiskreten Fragen habe, stellte ich sie auch.
»Und wie war Ihr erstes Mal?«, fragte ich den berühmten Torwart, der sich noch nie im Leben gefürchtet hat, der sich nicht mal vor Elfmetern fürchtete. »Hatten Sie Angst beim ersten Mal?«
»Was hat das mit dem Buch zu tun?«, wollte er wissen.
»Nichts«, sagte ich. »Also, nicht direkt. Es wird nicht im Buch stehen. Aber für mich ist es wichtig als Hintergrundinformation.«
Er erzählte. Zögernd. Er quälte sich. Er hatte Angst gehabt. Große Angst. Versagerängste. Ich genoss sie und sein Winden, seine hektisch dribbelnden Ausfallschritte um den Pfosten und staunte, wie klein der Mund des Torwarts werden konnte, so klein, dass nicht mal mehr ein Tischfußball hineingepasst hätte.
Alles an Clarissa Sandrine Lichtenstein strahlte. Das habe ich schon öfter bemerkt: Werdende Mütter sind schön. So rund und drall. Befruchtet, mit einem Wort. Clarissas große blaue Augen blickten ein wenig staunend in die Welt, immer bereit, eine Wunderkerze aus Begeisterung anzuzünden. Ihre Nase war fein modelliert und der Mund voll und perfekt geschwungen. Sie war sehr groß, fast 1,80 Meter, und sehr schlank und sehr blond. Wahrscheinlich kein echtes Blond. Aber ansehnlich. Mir ist ein falsches Blond lieber als ein strohiges Gelb. Insofern sprach auch die äußere Erscheinung für eine Zusammenarbeit mit der Schauspielerin. Ich war bereit, meinen Urlaub zu verschieben, denn die Geschichte, die Clarissa Sandrine Lichtenstein mir am Telefon kurz erläutert hatte und nun ausführlich erzählte, war sensationell. Um genau zu sein, war es exakt das Buch, das ich mir zu schreiben wünschte. Keine langweilige Selbstdarstellung eines langweiligen Möchtegerns oder Pseudosupermanns. Diese Frau hatte wirklich etwas zu sagen. Und sie hatte ein Anliegen, eine Message, wie ich es später im Exposé ausdrücken würde, das ich parallel zu meinem Gespräch mit Clarissa Sandrine Lichtenstein in Gedanken verfasste. In Steno. Im Kopf habe ich immer einen Stenoblock und einen Bleistiftstummel. Manchmal bin ich ein bisschen altmodisch.
Clarissa Sandrine Lichtenstein war eine faszinierende Persönlichkeit. Sie war nicht nur klug und schön, sie war auch noch mutig und außerdem eine Kämpferin. Was sie allein im letzten Jahr erlebt hatte, erleben manche in einem ganzen Leben nicht, oder – wie meine Oma zu sagen pflegte: Das geht auf keine Kuhhaut –, und wer eine Kuhhaut einmal vor sich ausgebreitet hat, weiß, dass auf einer Kuhhaut viel Platz ist.
Am liebsten wäre es mir gewesen, ich hätte zuerst in den Urlaub fahren und das Buch über Clarissa Sandrine Lichtensteins Abenteuer danach schreiben können. Doch das war nicht möglich, wir mussten uns beeilen. Das Buch sollte im Frühjahr erscheinen, dann würde der Pilotfilm zu der Serie laufen, in der Clarissa mitspielte. Diese zusätzliche Werbung sollten wir nutzen, drängte Frau Pepper, meine Agentin, nach ihrem Telefonat mit Clarissa. Ich hatte Frau Pepper gebeten, die Chancen des Projekts zu beurteilen. Sie rief mich eine Stunde nach ihrem Gespräch mit Clarissa an, was sehr ungewöhnlich war. Frau Pepper lässt prinzipiell vierundzwanzig Stunden verstreichen. So behält man den Überblick, pflegt sie zu sagen. Mir fiel fast das Telefon aus der Hand, als ich ihre Stimme hörte, mit der ich erst am nächsten Tag gerechnet hatte. Ihre Stimme klang anders als sonst. So, als würde sie leuchten. War Frau Pepper jetzt auch schwanger?
»Das würde ich mir an Ihrer Stelle nicht entgehen lassen, Frau Valentin«, sagte Frau Pepper zu mir. »Das klingt nicht nur wahnsinnig interessant, sondern auch noch außerordentlich lukrativ. Ich bin sicher, ich werde das Buch sehr schnell verkaufen. Das Thema liegt voll im Trend, Naturvölker, Zivilcourage, Klima, soziales Engagement, Globalisierung, Spiritualität, Kapitalismus – und das alles verbunden mit der jungen, attraktiven, talentierten Protagonistin und einer wunderbaren hochromantischen Liebesgeschichte. Die Story hat alles, was das Publikum liebt. Dafür werden die Verlage tief in die Tasche greifen. Vielleicht werden wir preemptet.«
Preempten war Frau Peppers Lieblingswort. Ich war erst einmal preemptet worden und hatte damals nicht mal gewusst, was da eigentlich geschah. Dabei geschieht gar nicht viel. Zwei Verlage oder mehrere möchten ein bestimmtes Buch veröffentlichen, einer bietet an zu preempten, indem er eine sehr hohe Summe in Aussicht stellt, woraufhin der Autor oder seine Agentur die Verhandlungen mit den anderen abbricht. Frau Pepper wäre gern permanent preemptet worden, und das verstand ich. Schließlich war es eine Alliteration. Wenn ich an dieser Stelle Frau Peppers Vornamen verraten darf: Penelope. Den ich im Übrigen noch nie ausgesprochen, nur heimlich vor mich hingesagt habe. In ganzer Länge. Penelope Pepper, permanent preempted. Da spürt man doch die schwarzen Körner auf der Zunge prickeln. Leider kann ich mich dabei nicht mehr bei Frau Peppers Mutter bedanken, sie ist tot.
Ansonsten weiß ich nicht viel über Frau Peppers Privatleben, und das ist gut so. Dafür weiß sie ein bisschen mehr über meines, und vor allem weiß sie, wie sie mich behandeln muss. Ich habe nun mal ein paar Macken, und Frau Pepper weiß, wie sie diese Macken packen kann. Beispielsweise sagte sie einmal: »Was glauben Sie, wie sich Ihr Hund freuen wird, wenn Sie diesen Auftrag annehmen. Sagten Sie nicht kürzlich, Ihr Hund schwimmt so gern? Und außerdem riecht es geradezu nach Fortsetzung. Sie werden sehen, da gibt es Band zwei und drei und vielleicht sogar vier. Und schwimmen ist ja so gesund für die Gelenke.« Frau Pepper lachte. Bei ihr stehen die vorderen Schneidezähne ein bisschen über Kreuz. Ist bestimmt schwierig, die Zwischenräume zu putzen. Jedenfalls mag ich es sehr, wenn sie lacht.
Also würde ich eine Weile in die Haut von Clarissa Sandrine Lichtenstein schlüpfen. Gab es überhaupt einen erholsameren Urlaub? Ja, sagte ich mir. Mal wieder in der eigenen Haut stecken. Doch es war zu spät. Ich hatte Blut geleckt. Und ich hatte nicht die geringste Ahnung, dass es diesmal mein eigenes sein sollte. Später ist man immer klüger.
Die Operndiva saß noch immer im Gefängnis. Manchmal bekam ich Post von ihr. Es war eine schöne Zeit mit Ihnen, schrieb sie, und dass ich blonden Frauen niemals über den Weg trauen und darauf achten sollte, immer genügend Messer in meiner Schublade zu haben, man könne ja nie wissen. Ich habe ihr noch nie zurückgeschrieben. Nicht, weil ich ihr nicht schreiben will. Ich weiß einfach nicht, was. So geht es mir oft. Menschen erzählen mir ihre intimsten Geheimnisse, und ich selbst habe keinerlei Bedürfnis, ihnen etwas von mir mitzuteilen. Für sie gehöre ich zur Familie. Nichts, aber auch gar nichts wies darauf hin, dass dies bei Clarissa Sandrine Lichtenstein anders sein sollte. Ich würde das Buch für sie schreiben, Frau Pepper würde sich um die Verträge und die Finanzen kümmern – und dann würde ich endlich in Urlaub fahren. Am besten gleich für zwei Monate. Ohne Laptop. Ohne Handy. Vielleicht auf eine Insel. Hauptsache, es gab keine Quarantänebestimmungen für Hunde. Lange Spaziergänge, in den Himmel schauen, nicht denken. Mich langweilen. Depressionen kriegen vor Untätigkeit. Ja, ja, ja! Ich war überfällig. Ein Auftrag hatte den nächsten gejagt, und ich hatte einfach nicht nein sagen können. Ich wusste zwar nicht so genau, was ich mit all dem Geld anfangen sollte, doch es war ein gutes Gefühl gewesen, es auf die hohe Kante zu legen. Meine hohe Kante stellte ich mir glatt vor, und darauf stapelten sich die Scheinchen. Ihr Gipfelkreuz konnte ich nur noch per Fernglas ausmachen. Ich würde sie erst im Alter erklimmen, und je mehr dort auf mich warten würde, desto besser, denn voraussichtlich würde in meinem hohen Alter keine Krankenkasse etwas für ein Hüftgelenk springen lassen, und meine ehemalige Nachbarin hatte schon zwei gebraucht, und außerdem wollte ich mir vielleicht mal einen jungen Liebhaber gönnen, wenn es dann keinen mehr in echt gab, bis ich siebzig war, dachte ich, also in zirka fünfunddreißig Jahren, würde es auch eine größere Auswahl bei Callboys geben als heutzutage, wo man sie häufig in Verbindung mit Nacktputzen oder Abendessen buchen muss.
Drei Tage später traf ich Clarissa Sandrine Lichtenstein noch einmal, um mit ihr über das Exposé zu sprechen. Alles war unkompliziert wie beim ersten Mal. Gut gelaunt beschloss ich nach unserer herzlichen Verabschiedung einen spontanen Abstecher vom Starnberger See an den Wörthsee. Das war überhaupt kein Umweg. Nur eine Stunde. Vom Handy aus rief ich Udo, meinen Nachbarn und Hundesitter, an und teilte ihm mit, dass ich länger unterwegs sei als angekündigt. Wie zu erwarten, freute er sich. Er liebt meine Motte. Mich nennt er manchmal Marotte. Solange er brav sittet, darf er das. Da kommt die Marotte mit ihrer Motte.
Udo Schorer hat auch eine Macke. Er hockt den ganzen Tag zu Hause und starrt auf Aktienkurse. Davon lebt er. Er prognostiziert den Verlauf einer Kurve. Genaueres will ich nicht wissen, weil ich sicher bin, dass ihm das Negativpunkte einbringen würde, und da ich Udo Schorer sehr gern mag, möchte ich nicht, dass ein Schatten auf meine Zuneigung fällt. Eine gute Nachbarschaft ist die halbe Miete, sagte meine Oma. Motte hängt an Udo. Motte denkt nicht darüber nach, womit er das Geld für ihre Leckerlis verdient. Ich schon. Ich finde nicht, dass Menschen, die mit Geld handeln, etwas Sinnvolles tun. Udo Schorer findet, unsere Berufe wären verwandt. Wir würden beide Fiktionen verkaufen, behauptete er einmal. Ich habe genickt und Motte gestreichelt, und er hat sie auch gestreichelt. Dann haben sich unsere Hände berührt, und er ist sofort zurückgezuckt.
Ehrlich gesagt glaube ich, dass Udo Schorer schwul ist. Und ich glaube, dass er Angst hat, jemand könnte vermuten, er sei schwul. Wenn ich einen Udo Schorer erfinden würde, der mit Aktien handelt, einen Porsche Carrera fährt, am Englischen Garten in München wohnt, immer ordentlich die Treppenreinigung erledigt und aussieht wie ein Katalogmodell vom Otto Versand, die brünette Variante mit dem breiten Kinn und den niedlichen Grübchen, würde ich es nie wagen, ihn im Jahr 2015 schwul sein zu lassen und damit ein Problem zu haben. Das wäre total unglaubwürdig. Völliger Blödsinn. Andererseits schreibe ich selbst gelegentlich Blödsinn. Das würde ich natürlich nicht zugeben. Beziehungsweise nur vor mir selbst und vor Motte und vielleicht in einem schwachen Moment vor Frau Pepper, damit sie das sofort entschieden zurückweisen könnte: Nein, Frau Valentin, Sie schreiben keinen Blödsinn, Sie schreiben das, was die Leute lesen wollen.
Und wenn das Blödsinn ist, habe ich einmal gefragt.
Da hat Frau Pepper eine Augenbraue hochgezogen. Ich wusste gar nicht, dass sie das kann. So ist Frau Pepper: immer für eine Überraschung gut.
Ich habe dann nichts mehr gesagt. Ich habe nämlich eine Abmachung mit mir selbst: Wenn meine hohe Kante eines Tages so steil ist, dass ich das Gipfelkreuz bloß noch mit einem Fernglas scharf sehen kann, ziehe ich mich zurück und schreibe nur noch Gedichte, von denen ich heute schon weiß, dass die Leute sie nicht lesen werden wollen. Bis auf einen: Frizz, mein ständiger Ex und Freund. Der mochte meine Gedichte. So einen Mann konnte ich nicht sausenlassen. Fünf Wochen schon hatten wir uns nicht mehr gesehen. So lange waren wir noch nie getrennt gewesen. Und da ich es bei der letzten Trennung gewesen war, die ihn anrief, hätte nun eigentlich er sich melden müssen. Hatte er aber nicht. Da musste ich doch mal nachsehen?
Frizz saß vor seinem Bootshaus am Wörthsee und reparierte etwas. Er bemerkte mich erst, als ich fast direkt vor ihm stand.
»Sina?«, fragte er. Das ärgerte mich. Es klang, als hätte er vergessen, wie ich aussah, und als ob er sich versichern wollte, dass ich es wirklich war. Was für eine Begrüßung. Wochenlang hatten wir uns nicht gesehen, weil wir uns bei Windstärke sechs getrennt hatten, da er lieber auf dem See surfen wollte als auf mir – und nun überwand ich meinen Stolz und fuhr bei ihm vorbei ... und dann so was. Wie er vor dem Bootshaus stand, die blonden Haare verstrubbelt, der Oberkörper nackt. Jeder Muskel wie modelliert und diese bunten Shorts, die wir zusammen am Gardasee gekauft hatten. Am liebsten hätte ich ihn umarmt. Am liebsten hätte ich eine seiner Haarsträhnen in den Mund genommen. Sie schmecken immer nach Salz und blauem Meer, obwohl der Wörthsee süß und grün ist. Am liebsten hätte ich mich einfach in ihn reinfallen lassen und ihm von Clarissa Sandrine Lichtenstein und ihrem Haus erzählt, dass Motte zwei Zecken gehabt hatte und mein Radl einen Platten, und einmal war mir die Milch sauer geworden bei der Hitze. Mir fiel noch viel mehr ein, und das tat weh, weil ich jetzt erst merkte, wie sehr ich ihn vermisst hatte. Frizz! Ich kannte ihn seit drei Jahren, und wir hatten uns in dieser Zeit wahrscheinlich zehn Mal getrennt. Jedes Mal endgültig. Aber letztes Mal war es wirklich ein bisschen endgültiger gewesen – so lange hatten wir noch nie durchgehalten.
Die dunklen Wolken, die mich auf der Fahrt hierher begleitet hatten, platzten. Es begann zu regnen.
»Komm doch rein«, sagte Frizz.
»Gern«, sagte ich. Ich hatte die Glut in seinen Augen gesehen. Das gefiel mir immer am besten. Wenn man sich nach einer längeren Abstinenz begegnete. Diese Mischung aus Vertrautheit und Fremde. Extraprickelnd! Auf dem Tisch stand eine Kanne Tee, ein Teller mit einem angebissenen Honigbrot, Quark. Frizz frühstückte spät heute. Es war bald zwölf Uhr. Das bedeutete, dass er in der Nacht zuvor stundenlang melancholisch aufs Wasser gestarrt hatte. Vielleicht hatte er auch auf seinem Didgeridoo gespielt. Mit nacktem Oberkörper an seinem mystischen Platz im Schilf. Und er hatte bestimmt nur für mich gespielt. Sehnsucht und Verlangen.
»Wo ist Motte?«, fragte Frizz.
»Bei Udo«, sagte ich.
Einmal hatte Frizz mir anvertraut, dass er sich allein wegen Motte niemals endgültig von mir trennen könnte. Ich habe ihm das nicht übelgenommen. Manchmal hat er Motte auf sein Surfbrett gesetzt, und ich war stolz wie eine Mutter auf meine kleine Familie. Im letzten Sommer waren die beiden sogar auf dem Titelblatt der Münchner Abendzeitung gewesen. Irgendein Fotograf hatte Frizz und Motte in der Herrschinger Bucht abgelichtet.
Frizz stellte eine Tasse für mich auf den Tisch. Die mit dem roten Henkel.
»Danke«, sagte ich.
»Und wie geht’s?«, fragte er, während er mir Tee eingoss.
Er wusste natürlich, dass er mich damit provozierte. Mit diesem Unterhosenwerbungskörper. Dem Bronzeton der Haut. Den langen, blonden Haare. Und sehr blauen Augen. Seinem weichen vollen Mund. Ich wusste noch genau, wie der sich anfühlte. Ich nahm einen Schluck Tee. Ich hatte zwei Möglichkeiten. Entweder ich sagte ihm, dass ich total überarbeitet war, dann würden wir vielleicht streiten. Denn Frizz fand meinen Job bescheuert: »Das Leben ist schön genug, da muss man nichts dazuerfinden. Sei doch mal da! Im Jetzt. Spür den Wind! Spür die Sonne! Wieso musst du dauernd was dazuerfinden oder dir von anderen Leuten Scheiß erzählen lassen? Nimm doch mal wahr, was ist, und nimm wahr, dass es schön ist, so wie es ist. Mehr braucht es doch nicht als das, was da ist.«
»Ich mach nichts anderes! Ich schreib das bloß auf.«
»Aber nicht so, wie es ist. Du bist nicht zufrieden mit dem, was ist. Du musst den Dingen ständig deinen Stempel aufdrücken, indem du was dazudichtest.«
»So verdiene ich mein Geld!«
»Du verdienst viel mehr Geld, als du brauchst.«
»Na und?«
»Das lenkt vom Wesentlichen ab.«
»Was ist denn das Wesentliche?«
»Das Leben«, antwortete er.
»Mein Leben ist schreiben. Wenn ich schreibe, dann bin ich am allerlebendigsten.«
»Dann schreib doch deine eigenen Sachen. Nicht für andere Leute. Schreib wieder Gedichte. Die haben mir viel besser gefallen.«
Das war der Punkt, an dem er mich meistens kriegte. Frizz mochte meine Gedichte. Als ich sie ihm nach einem halben Jahr Beziehung mit Herzklopfen, ja mit Herzklopfen, zeigte, zitterten meine Hände, und ich hatte wahrscheinlich einen trockeneren Mund, als wenn ich eine ganze Packung Muskelrelaxans auf einmal geschluckt hätte. Frizz hatte die Gedichte laut vorgelesen, und ich hatte gehört, dass er sie verstand, und da wusste ich, dass er mich verstand, dass er mich erkannte, ganz tief in meine Seele hatte er da geschaut. Motte hatte zu jaulen angefangen, weil sie es auch spürte.
Ich entschloss mich für die zweite Möglichkeit. Sie bestand darin, Allgemeinplätze zu bepflanzen. Ihn zu fragen, was er so trieb, mich zu erkundigen, wie es seinen Kumpels gehe und ob mit dem Haus alles in Ordnung sei. Ob er zurechtkomme mit seinen Jobs – er renovierte Wohnungen, fuhr Medikamente aus oder arbeitete in der Firma seines Vaters. Frizz gab freundlich Auskunft. Er stellte mir keine einzige Frage. Das hätte mich stutzig machen sollen, denn in seinem Drehbuchtext standen an dieser Stelle einige Fragen:
Bei deinen Eltern alles okay? Machst du noch Yoga/Trommeln/Tai Chi/Pendeln/Pilates/Tae Bo ... oder was auch immer ich gerade voller Begeisterung und mit dem festen Vorsatz, es bis an mein Lebensende durchzuhalten, angefangen hatte. Frizz fragte nicht. Gar nichts. Also fragte ich noch ein paar weitere Fragen. Wie es seiner Mutter ginge und ob es bei ihm draußen auch so gehagelt hätte wie neulich in München. Irgendwann würden wir in der Hängematte oder im Bett landen, und danach würde ich ihm die Sachen erzählen, die mich wirklich bewegten, und er würde mir die Sachen erzählen, die ihn bewegten. Vielleicht, dass er sich einen neuen Carbonmast gekauft hätte und wie geil es letztes Wochenende am Gardasee war, wie hoch er beim Halsen gesprungen war und dass sein Kumpel Stevie während eines Wasserstarts beinahe eine Ente überfahren hätte.
Frizz tat nichts von den Dingen, die bei den Regieanweisungen standen. Er packte mich nicht bei den Handgelenken, er zog mich nicht nach nebenan oder nach draußen – wie oft hatten wir uns schon auf dem Steg geliebt –, nichts. Er hörte mir einfach nur zu, beantwortete meine Fragen, nickte und gähnte einmal sogar. Er sollte jetzt nicht entspannt sein! Noch nicht. Ich war kurz davor, selbst die Initiative zu ergreifen; mir war heiß, und mein Bauch fühlte sich an, als hätte ich flüssige Lava getrunken. Mit jeder seiner Bewegungen, in der ich das Gleiten seines Muskelspiels beobachten konnte, glühte die Lava roter. Mir wurde heiß. Ich zog meine dünne Jacke aus und hielt Frizz meine süßen Früchte vors Gesicht, fein verpackt in einem engen roten Shirt. Da passierte etwas Unglaubliches: nichts. Frizz schaute durch mich hindurch. Die Stille in der Hütte wurde sehr laut.
»Noch Tee?«, fragte Frizz dann.
»Ich muss los«, drohte ich ihm.
»Du bist wohl recht beschäftigt, wie immer?«, fragte er.
»Geht so«, sagte ich.
»Ich dachte, du wolltest jetzt dann mal in den Urlaub fahren? Ich dachte, du wärst gar nicht mehr hier«, sagte er.
Er glaubte mich verreist, ohne dass ich ihm Bescheid gesagt hätte!!!
»Alles okay mit dir, Frizz?«, fragte ich.
»Bestens«, sagte er und strahlte mich an.
Und da sah ich es. Über seinem Kopf. Eine Blase. Rosarot. Ein feengleiches Wesen waberte darin. Dieses feengleiche Wesen war nicht ich. Mir wurde schlecht. Mir wurde so schlecht, dass ich schwarze Kringel in grünen Karos sah. Ich stemmte mich am Tisch hoch und versuchte mit geradem Rücken und trockenen Augen den Ausgang zu erreichen.
Frizz kam hinter mir her, überholte mich, öffnete die Tür für mich. So schön wie in diesem Moment hatte er noch nie ausgesehen. Wie er da im Türrahmen stand. V-förmig und hinter ihm der grüne See. Wie ein Gott. Ja, das war er. Mein Surfergott. Und ich war abtrünnig geworden. Und nun traf mich Gottes Strafe, sprich, ich stürzte ins Wasse,r und es war kalt dort und dunkel und sehr, sehr einsam.
»Den hättest du nicht sausenlassen dürfen«, sagte meine Freundin Juliane jetzt schon zum dritten Mal – als könnte ich etwas dafür – genau das, was ich nicht hören wollte.
»Was soll ich mit einem im Bootshaus«, widersprach ich.
»Es gibt nichts Romantischeres«, seufzte sie.
»Und noch dazu ein Surfer.«
»Sein Körper ist wie modelliert.«
»Er jobbt nur so rum.«
»Er lebt im Jetzt.«
»Das ist keine Perspektive.«
»Du brauchst keinen Mann, der dich versorgt. Du kannst es dir leisten, einen Mann zur puren Freude und Erquickung zu halten.«
Ich gab auf. Juliane hatte recht. Ich wollte aber nicht, dass sie recht hatte. Ich wollte Trost. Ich hätte nicht zu Juliane fahren sollen, sondern zu Rebecca. Frauen brauchen nicht eine beste Freundin, sondern mindestens zwei. Eine für Probleme, eine für Lösungen. Juliane ist unschlagbar, wenn ich einen Tritt in den Hintern benötige. Sie spornt mich an und sagt mir auch unbequeme Wahrheiten ins Gesicht. Von Juliane bekomme ich Lösungen. Als ich vor ein paar Jahren in eine Depression zu verfallen drohte, die leicht in eine Schreibblockade hätte münden können, weil ich mir nicht vorstellen konnte, einen Laserdrucker in mein Arbeitszimmer zu stellen – der macht mir die ganze kreative Atmosphäre kaputt –, hatte Juliane die Idee, einfach zwei Löcher in zwei Wände zu bohren und den Drucker in die Speisekammer zu stellen. Genial! Rebecca dagegen hat in ihrer Speisekammer mehrere Familienpackungen Taschentücher und geizt nicht damit, ganz im Gegenteil, teilt sie schwesterlich mit mir, wann immer ich es brauche, drängt sie mir manchmal sogar auf, wenn ich sie nicht brauche, um gemeinsam mit mir zu schluchzen: Die Welt ist schlecht, und die Männer sind das Letzte, von meinen neuen Schuhen krieg ich Hühneraugen und ich bin so einsam, heute Morgen habe ich mein viertes graues Haar entdeckt, alles ist scheiße. Und wenn ich dann ganz leergeheult bin, kurz vorm Dehydrieren, holt Rebecca Mozartkugeln und Chilichips, ihre Karten und das Pendel, und dann schauen wir, was meine Zukunft bringt. Rebecca nennt Heulereien und Jammerei reinigend, Juliane hält sie für pure Zeitverschwendung. Heute war sie wieder einmal so grauenhaft motivierend und lösungsorientiert, dass mir gar nichts anderes übrigblieb, als Frizz zu verdrängen und von meinem Job zu sprechen. Mein Job sieht seit Jahren rosig aus. Mein Privatleben ist ein Jammertal. Ich würde dort demnächst ein paar Tage mit Rebecca zelten. Juliane war definitiv die falsche Begleiterin für diese Seelenwanderung.
Ich erzählte Juliane von Clarissa Sandrine Lichtenstein. Von ihrem Dekolleté und der Villa am See und von ihrem Abenteuer mit den Indianern. Während ich erzählte, merkte ich, wie tief ich schon eingetaucht war in diese fremde Existenz, obwohl ich bisher nur wenige Fakten kannte. Clarissas Assistentin hatte mir eine Pressemappe geschickt – die mich anscheinend ohne mein Wissen und Wollen bereits befruchtet hatte: Die Geschichte lebte in mir. Ein kleines Herzlein schlug, und auch die Fingerchen konnte ich schon erkennen. Ich hatte abgelaicht, ich war schwanger. In meinem Bauch wuselten all die kleinen Indianerkinder, die Clarissa mit ihrem Projekt retten wollte. Clarissa hatte nämlich einen Indianerstamm gefunden. Also nicht richtig entdeckt, aber doch ein bisschen, auf einer Insel irgendwo in der Nähe von Australien. Durch einen unglaublichen Zufall – das war Schicksal, würde Rebecca wissen – war Clarissa auf dieser Insel gelandet: Ihr Flugzeug hatte notlanden müssen – auf der Schotterpiste eines ehemaligen Mini-Flughafens mitten im Busch. Während die anderen Passagiere auf Rettung warteten, sich in Heulkrämpfen wanden oder überlegten, wen sie für diesen Vorfall haftpflichtig machen konnten, zog Clarissa neugierig und abenteuerlustig los, verlief sich – und wurde von Sami und Rami gefunden, zwei zwölfjährigen Jungs mit großen braunen Kulleraugen und blendend weißen Zähnen.