Inhalt

1 Auf der Flucht

2 Captain Hook

3 Eine verwirrende Begegnung

4 Jacks Geheimnis

5 Ein peinlicher Auftritt

6 Viele Fragen und keine Antworten

7 Das Versteck

8 Jenny auf Spurensuche

9 Bittere Konsequenzen

10 Ein verzweifelter Plan

11 Der Kuss

12 Ein überraschender Fund

13 Das perfekte Herz

14 Der Strandausflug

15 Das Geisterschiff

16 Sonne, Sand und unschöne Entwicklungen

17 Die Stimme des Herzens

18 Das Bild hinter den Kornblumen

19 Der Fischkutter

20 Außer Kontrolle

21 Die Enthüllung

1 Auf der Flucht

Jack hatte die Orientierung längst verloren. Mühsam schleppte er sich voran. Weiter. Immer weiter. Quer durch den Wald. Die Polizeisirenen waren seit einer geraumen Weile verstummt. Auch die Silvesterraketen waren verklungen. Nur das Knacken der Äste unter Jacks Schuhen, sein keuchender Atem und ab und zu das ferne Grollen eines Donners waren zu hören. Ein Gewitter war im Anzug. Wie lange Jack bereits durch die Dunkelheit irrte, wusste er nicht. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Und mit jeder Minute fühlte sich der Siebzehnjährige schwächer. Warmes Blut tropfte von seinem linken Arm. Die Schmerzen in seiner linken Schulter, ausgelöst durch eine Schusswunde, waren kaum noch auszuhalten.

Ein Blitz durchzuckte den Nachthimmel, gefolgt von einem krachenden Donnerschlag. Wenig später fielen die ersten Regentropfen. Jack rannte weiter. Der Regen wurde stärker. Innerhalb weniger Sekunden regnete es in Strömen, gerade so, als hätte jemand die Schleusen des Himmels geöffnet. Jacks T-Shirt klebte ihm am Leib. Er stolperte, fing sich jedoch wieder, hielt sich mit der rechten Hand den linken Arm und lief weiter. Er spürte, wie seine Augen schwer wurden. Eine seltsame Schlaffheit überkam ihn. Er wollte sich hinlegen und die Augen für einen Moment schließen. Nur für einen kurzen Moment. Doch er wusste, dass er das nicht tun durfte, und zwang sich weiterzugehen.

Schließlich erreichte Jack eine Schotterstraße. Es goss wie aus Kübeln, trotzdem blieb er auf der Straße stehen und ließ seinen Blick in beide Richtungen schweifen. Weit und breit war keine Sterbensseele zu sehen. Es gab nur Bäume, so weit das Auge reichte. Er drehte sich nach rechts, nach links, wieder nach rechts – und dann erschauerte er. Im fahlen Licht, nur ein paar Meter von ihm entfernt, stand plötzlich ein Mädchen auf der Straße – patschnass.

Lange dunkelblonde Haare fielen ihr in Strähnen ins Gesicht. Sie war barfuß und nur mit einem weißen Nachthemd bekleidet, das über und über mit Blut besudelt war. Das Mädchen sah aus wie ein Gespenst. Jack wusste nicht, woher es gekommen war, noch, was es hier mitten in der Nacht verloren hatte. Es rührte sich nicht von der Stelle, stand einfach nur da und sah ihn an.

»Hallo?«, sagte Jack und machte vorsichtig einen Schritt auf das Mädchen zu. »Hallo?!«

Es sagte kein Wort. Es verzog keine Miene. Ein Blitz erleuchtete die Landschaft und tauchte das Gesicht des Mädchens für den Bruchteil einer Sekunde in ein grelles Licht. Im selben Moment glaubte Jack, sein Herz müsste stillstehen.

»Karen!«, hauchte er fassungslos.

Das Mädchen reagierte nicht. Langsam, ohne ihn aus den Augen zu lassen, hob es den rechten Arm und deutete mit dem Zeigefinger auf ihn. Jack stand wie angewurzelt da. Er konnte sich nicht bewegen. Seine Füße waren wie aus Blei. Wieder erhellte ein blendend weißer Blitz den Himmel, anschließend ertönte ein gewaltiger Donnerschlag. Jack merkte, wie ihn seine Kräfte verließen. Alles begann, sich zu drehen. Sein Blick verschleierte sich. Das Mädchen und der Wald verschmolzen zu einem einzigen dunklen Fleck. Jack blinzelte. Er versuchte verzweifelt, gegen das ansteigende Ohnmachtsgefühl anzukämpfen, doch es gelang ihm nicht.

Er knickte ein und sank lautlos zu Boden.

Als Jenny auf Krücken gestützt die Mensa der privaten Highschool St. Dominic’s betrat, wurde es schlagartig mucksmäuschenstill. Für ein paar Sekunden herrschte eine unbehagliche Stille in dem Saal. Alle Schüler sahen zu ihr hinüber, und keiner wusste so recht, wie er reagieren sollte. Schließlich war es noch keine Woche her, dass die Sechzehnjährige aus der Gewalt kaltblütiger Entführer befreit worden war. Sämtliche Zeitungen, sogar Radio und Fernsehen hatten ausführlichst darüber berichtet, und natürlich hatte es auch an der Schule kein anderes Gesprächsthema mehr gegeben. Nikki, der mit geschwellter Brust neben Jenny herging, als wäre er im Auftrag Seiner Majestät unterwegs, bahnte für seine beste Freundin den Weg.

»Was guckt ihr so blöd? Ja, sie ist wieder da! Ja, ihr geht’s gut! Und nein, sie wird heute keine Autogrammkarten verteilen! Und jetzt lasst uns mal bitte durch. Aus dem Weg. Husch!«

»Nikki, das ist voll peinlich«, flüsterte ihm Jenny zu, während sie sich in die Schlange einreihte, um ihr Mittagessen zu fassen.

»Du bist jetzt eine VIP, mein Goldbärchen«, erklärte ihr Nikki mit hochgezogenen Augenbrauen. »Ein Star sozusagen. Wenn du einen Medienmanager brauchst, ich stehe dir gerne zur Verfügung. Ich verlange nur hundert Dollar pro Stunde, plus Spesen und Haargel.«

»Sei nicht albern, Nikki.« Jenny knuffte ihn in die Seite. »Du weißt genau, dass ich den ganzen Rummel um meine Entführung nicht mag. Ich will nicht die ganze Zeit daran erinnert werden, was passiert ist. Ich will einfach wieder ein ganz normales Leben führen, verstehst du?«

»Hey, Jenny«, piepste jemand und blieb mit dem Esstablett neben ihr stehen. Es war Sam, der »Gothic-Junge«, wie er von allen genannt wurde, weil er immer schwarz geschminkt war und auch sonst einen ziemlich deprimierten Eindruck machte. Er hatte pechschwarzes stacheliges Haar, trug fingerlose schwarze Handschuhe zu seiner Schuluniform und einen Fledermausanhänger um den Hals. »Schön, dass du wieder da bist«, murmelte er leise.

»Danke«, sagte Jenny gerührt. Und bevor sie noch etwas hinzufügen konnte, schwirrte Sam bereits geduckt weiter.

Noch ein paar andere Schüler kamen, um Jenny willkommen zu heißen. Doch Nikki wimmelte sie alle ab wie die Klatschfotografen von einem Promi.

»Jetzt bedrängt sie doch nicht so, Leute. Lest die Zeitung, da steht alles drin, was ihr wissen möchtet, o.k.? Und wenn euch das nicht genug ist: Maggie hat mir versprochen, in der nächsten Folge von Tiger Beat einen exklusiven Bericht darüber zu senden. Also keine Panik. Euer Wissensdurst wird demnächst gestillt werden. Und jetzt entschuldigt uns bitte.«

Er nahm schwungvoll Jennys Esstablett in die rechte und sein eigenes in die linke Hand und schlängelte sich elegant zwischen den Schülern hindurch zu einem freien Tisch. Jenny folgte ihm mit ihren Krücken. Sie setzten sich und begannen zu essen.

»Was für ein Exklusivbericht?«, fragte Jenny, während sie einen großen Schluck Eistee nahm.

»Ach, das hab ich nur so dahergeredet«, beruhigte sie Nikki und knabberte an einer seiner Pommes frites herum. »Obwohl, wenn ich es mir recht überlege: Die Idee ist gar nicht mal so schlecht. Du gibst ein Interview, und Maggie, Tim und meine Wenigkeit erzählen in aller Bescheidenheit, wie wir dich gefunden und im Angesicht des Todes aus den Fängen dieser Verbrecher gerettet haben.«

»Nikki, hör auf. Du weißt genau, dass es nicht so gelaufen ist. Ihr habt mich gefunden. Aber Jack war es, der eine Kugel für mich eingefangen hat.« Letzteres sagte sie mit einem seltsam wehmütigen Glitzern in den Augen.

»Ach ja, richtig«, seufzte Nikki und wedelte energisch mit einem Pommes-Stäbchen in der Luft herum. »Jack, der große Held, der sein Leben für dich riskiert hat. Da kann jemand, der lediglich die halbe Nacht durch die Gegend gekurvt und fast durchgedreht ist vor Angst um dich, natürlich nicht mithalten. Ist schon klar.«

»Hey, so war das nicht gemeint.«

»Doch, genauso war das gemeint. Ich kenn diesen Gesichtsausdruck, mein Zuckertäubchen. Deinen besten Freund kannst du nicht täuschen.«

»Ich mach mir echt Sorgen um ihn«, gestand Jenny, ohne auf Nikkis Anspielungen weiter einzugehen, und steckte sich ein Stück Tofu von ihrem vegetarischen Menü in den Mund. »Er ist einfach in den Wald gerannt. Dabei hätte er dringend einen Arzt gebraucht. Du hast die Wunde doch auch gesehen. Das sah nicht gut aus.«

»Das war allein seine Entscheidung«, sagte Nikki ungerührt. »Niemand hat ihn dazu gezwungen. Er hätte ja dableiben können.«

»Dann hätten sie ihn zurück ins Jugendgefängnis gesteckt!«

»Tja. Man kann eben nicht alles haben.«

»Das ist nicht witzig, Nikki.«

»Ich weiß, dass das nicht witzig ist. Ich sag ja nur: Es war seine Idee, mit einer Kugel in der Schulter davonzulaufen. Er wusste, worauf er sich da einlässt.«

»Es war eine Kurzschlusshandlung. Und jetzt liegt er vielleicht irgendwo blutend im Wald und braucht unsere Hilfe!«, erklärte Jenny verzweifelt.

»Ach wo. Jack ist zäh. Der packt das schon. Außerdem ist es sechs Tage her, seit er angeschossen wurde. Also wenn die Verletzung ihn nicht umgebracht hat – wovon ich mal nicht ausgehe –, dann ist er längst über alle Berge.«

»Und wenn nicht?«

Nikki seufzte. »Kindchen, Kindchen. Deine Gefühle in allen Ehren, aber du solltest das Thema Jack wirklich langsam abhaken, o.k.?«

»Abhaken?!« Jenny sah ihn entrüstet an. »Er hat mir das Leben gerettet, Nikki!«

»Ja, und er hat noch eine Menge anderer Dinge getan. Sonst hätten sie ihm nicht eine elektronische Fußfessel aufgebrummt und ihn vierundzwanzig Stunden am Tag von der Polizei überwachen lassen.«

»Deswegen verdanke ich ihm trotzdem mein Leben!«, verteidigte ihn Jenny. »Die Kugel hat mir gegolten, mir, verstehst du? Wenn er sich nicht dazwischengeworfen hätte, wär’ ich jetzt tot.«

»Ich weiß, mein Bärchen«, nickte Nikki abgeklärt und dippte ein Kartoffelstäbchen in den Ketchup. »Ich will nur nicht, dass du dir falsche Hoffnungen machst, was Jack angeht. Für dich mag er ein Held sein. Für den Staat ist er immer noch ein entflohener Sträfling auf der Flucht. So sehr du an ihm hängst, Jenny, Fakt ist: Er wird nicht zurückkehren.«

»Das weißt du doch überhaupt nicht!«, entgegnete sie eingeschnappt, worauf Nikki im selben gereizten Ton dagegenhielt: »Würdest du es denn tun? Um dich freiwillig wieder einbuchten zu lassen und ein Überwachungsgerät am Knöchel zu tragen? Um deine hart erkämpfte Freiheit gegen die totale Kontrolle einzutauschen? Ich denke nicht!« Er gab ihr einen Moment Zeit, die Worte auf sie wirken zu lassen, und fügte dann etwas sanfter hinzu: »Sei nicht naiv, Jenny. Er ist weg. Ich weiß, es ist hart. Aber so ist nun mal das Leben. Damit musst du dich wohl oder übel abfinden.«

Jenny blickte auf ihren Teller und hatte auf einmal keinen Appetit mehr. Die Erinnerung an ihre letzte Begegnung mit Jack war noch so frisch. Sie spürte noch jetzt seinen warmen Körper, als sie sich an ihn geschmiegt und er seinen starken Arm um ihre Schulter gelegt hatte, um sie festzuhalten. Sie spürte seine zärtliche Berührung, als er ihr die Tränen aus dem Gesicht gewischt hatte. Und sie spürte noch jetzt das Feuer, das in ihr explodiert war, als er sie im Mondlicht geküsst hatte, bevor er in der Dunkelheit verschwunden war. Selbst wenn Nikki die Wahrheit sagte, Jenny wollte nicht glauben, dass er recht hatte. Die Vorstellung, dass Jack für immer fort war, war schlicht zu grausam. Jack würde wiederkommen. Daran wollte, daran musste sie einfach glauben, ganz egal, was Nikki oder sonst irgendjemand sagte. Sie würden sich wiedersehen. Ganz bestimmt.

2 Captain Hook

In der ersten Nachmittagsstunde hatte Jenny Geschichte bei Sergeant Jones, der zusätzlich Coach des Basketballteams war und sehr viel Wert auf Ordnung und Disziplin legte. Manchmal kam es Jenny vor, als wäre ihm nicht ganz klar, dass er keine Soldaten für den Krieg ausbildete, sondern gewöhnliche Highschoolschüler für einen Schulabschluss. Doch für Sergeant Jones war jede Schulstunde eine Schlacht, und dementsprechend gestaltete er auch seinen Unterricht: mit viel Drill und wenig Auflockerung. Geschichte war daher verständlicherweise nicht unbedingt Jennys Lieblingsfach und sie war froh, dass ihre beste Freundin Emily die Qualen dieser Stunden mit ihr teilte.

Da Jenny sich bei der Entführung den rechten Fuß verstaucht hatte und deswegen an Krücken ging, trug Emily Jennys Schulmaterial. Das Geschichtszimmer befand sich im dritten Stock. Es gab keinen Lift, was bedeutete, dass Jenny sich mühsam Treppenstufe für Treppenstufe an ihren Krücken hochziehen musste. Emily, ein quirliges Mädchen mit Sommersprossen und einer roten, wilden Lockenmähne, ging getreulich neben ihr her und plapperte fast ununterbrochen: »Mann, Jenny. Das ist ja alles so krass, was du erlebt hast. Hattest du keine Angst? Ich wär’ gestorben vor Angst! Ich meine, solche Geschichten sieht man normalerweise im Kino und isst Popcorn dazu oder Nachos. Also ich persönlich bevorzuge ja Nachos. Die sind ja so was von lecker. Apropos: Ich hab da kürzlich ein Rezept meiner Urgroßtante ausgegraben. Chili und Tomatendip aus Thailand. Lecker. Und scharf. Megascharf. Vielleicht hab ich auch zu viel von diesen roten Körnern drangetan. Weiß nicht mehr genau, wie sie heißen. Auf alle Fälle … Alles klar bei dir? Brauchst du eine kurze Pause?«

»Danke, es geht schon«, schnaufte Jenny. »Sind ja nur noch vierzig Stufen oder so.«

»Ja, wir sind gleich oben«, sagte Emily, »hast du übrigens gewusst, dass wir pro Tag bis zu 2 000 Mal schlucken? Hab ich kürzlich im Radio gehört. Ist das nicht irre?«

Sie stiegen weiter die Treppe hoch. Jenny war irgendwie froh darüber, dass Emily einfach in gewohnter Weise drauflosquatschte, ohne Rücksicht auf ihren Gemütszustand zu nehmen. Es reichte, dass alle anderen sie wie einen Alien behandelten und ihr im Vorübergehen mitfühlende Blicke zuwarfen. Auch Schüler, die sonst nie ein Wort mit ihr wechselten, waren auf einmal unglaublich hilfsbereit und zuvorkommend. Einige boten sich sogar an, ihr die Treppe hochzuhelfen. Jenny war das alles zu viel. Sie mochte es nicht, derart im Mittelpunkt zu stehen.

Endlich erreichten Emily und Jenny das Geschichtszimmer. Die meisten Schüler waren bereits eingetrudelt, saßen auf ihren Stühlen mit integrierter Schreibplatte und unterhielten sich. Sam, der schweigsame Emo, hatte sich wie immer in die hinterste Ecke des Schulzimmers verdrückt in der Hoffnung, von niemandem bemerkt oder angesprochen zu werden. Auch Jenny hätte sich am liebsten für den Rest des Tages unsichtbar gemacht. Wieder unterbrachen alle ihre Gespräche und drehten sich nach ihr um, kaum dass sie ihren Fuß über die Türschwelle gesetzt hatte.

Lu, eine elegante Afroamerikanerin, die zusammen mit Jennys Zwillingsschwester Tanja gleich neben dem Eingang stand, wandte sich ihr zu und sagte voller Anteilnahme: »Hey, Jenny, Tanja und ich haben grad von dir gesprochen. Tut mir echt leid, was du da durchmachen musstest. Um ehrlich zu sein, ich staune, dass du schon wieder zur Schule kommst. Ich meine, es wäre verständlich gewesen, wenn du noch eine Weile zu Hause geblieben wärst.«

»Ach, da hab ich nur rumgesessen und nachgegrübelt«, antwortete Jenny. »Ich dachte mir, der beste Weg, darüber hinwegzukommen, ist, mich wieder in den Schulalltag zu stürzen.«

»Auch wieder wahr«, meinte Lu und biss verlegen auf ihrer Unterlippe herum. »Jedenfalls: willkommen zurück. Und nachträglich noch ein gutes neues Jahr.«

»Danke, dir auch«, sagte Jenny, perplex über so viel Freundlichkeit aus dem Munde ausgerechnet dieses Mädchens. Normalerweise behandelte Lu Jenny wie Luft, manchmal sogar herablassend, vor allem, wenn sie mit Tanja zusammen war. Tanja und Jenny hatten sowieso ständig Zoff. Sie waren alles andere als die typischen »Ein-Herz-und-eine-Seele-Zwillinge«. Vielleicht lag es daran, dass sie nicht eineiige, sondern zweieiige Zwillinge waren. Tanja führte das Cheerleaderteam der Tigers an, hatte blondes langes Haar und eine beneidenswert gute Figur. Auch Jenny war außerordentlich hübsch. Sie war schlank, hatte strahlend blaue Augen und dunkelbraunes, leicht gewelltes Haar, das ihr bis zur Schulter reichte. Doch im Gegensatz zu ihrer Schwester war sie sehr bescheiden und nicht darauf erpicht, von allen Jungs vergöttert zu werden. Tanja hingegen konnte nie genug davon kriegen, und wenn es ihr mehr Punkte bei den Jungs einbrachte, verhielt sie sich Jenny gegenüber manchmal ganz schön fies. Aber angesichts der Umstände hatte sie wohl beschlossen, den Zickenkrieg für eine Weile einzustellen. Und als Jenny an ihren Krücken an ihr vorbeihumpelte, wich sie ihrem Blick bewusst aus und betrachtete stattdessen ihre lackierten Fingernägel.

»Ist schon komisch«, raunte Jenny Emily ins Ohr, während sie an der vordersten Reihe vorbei hinüber zum Fenster gingen, »alle fassen mich heute mit Samthandschuhen an, sogar Lu!«

»Wirklich?«, sagte Emily erstaunt. »Ist mir gar nicht aufgefallen.«

Sie legte Jennys Schulhefte und Bücher auf die Tischplatte des vordersten Stuhles ganz rechts außen, und Jenny wollte sich gerade umständlich setzen, als sie jemand von hinten antippte.

»Kann ich dir vielleicht helfen?«

Jenny sah auf. Vor ihr stand ein Junge, den sie noch nie an der Schule gesehen hatte. Er musste neu sein. Er war groß, schlank und hatte blondes gelocktes Haar, das ihm lässig in die Stirn fiel.

»Mit den Krücken«, half ihr der Junge auf die Sprünge, als sie ihn etwas verwirrt anschaute. »Soll ich dir helfen?«

»Oh«, antwortete Jenny und lächelte etwas unbeholfen, »ja, gerne.« Sie gab ihm die Krücken, zwängte sich in den engen Spalt zwischen Sitz- und Schreibfläche, und der Junge gab ihr die Krücken wieder zurück.

»Danke«, sagte sie und lehnte die Krücken an ihren Tisch. »Ich bin Jenny.«

»Dylan«, stellte sich der Junge vor und schüttelte ihre Hand.

»Du bist neu hier«, meinte Jenny.

»Ja. Wir sind aus Small Beach hergezogen, kennst du wahrscheinlich nicht. Ist ein kleines Kaff an der Küste.« Er setzte sich. »Was ist mit deinem Fuß passiert?«

»Nichts Wildes. Nur verstaucht«, winkte sie ab.

»Na dann mal gute Besserung.«

»Danke.«

»Sag mal, bist du nicht das Mädchen, das entführt worden ist?«

Jenny verdrehte seufzend die Augen. »Ja, schon, aber ich hab keine Lust mehr, andauernd davon zu erzählen.«

»Kein Problem«, lenkte Dylan ein. »Ich wollte dir nicht zu nahe treten.«

»Ist schon o.k. Ich kann’s ja irgendwie verstehen, dass es alle brennend interessiert, wie es so ist, entführt zu werden. Aber glaub mir, so toll ist es nicht, und ständig darüber Auskunft zu geben, ist echt ätzend.«

»Kann ich gut nachvollziehen«, sagte Dylan. »Geht mir manchmal genauso.«

»Wie meinst du das?«

»Na ja. Ist zwar nicht ganz dasselbe, aber mein Vater ist Pfarrer. Damit werde ich andauernd konfrontiert, vor allem, wenn ich mich nicht so verhalte, wie man das vom Sohn eines Pastors erwartet. Ist ganz schön anstrengend, einen Heiligenschein zu tragen.«

Jenny lachte. »Glaub ich dir aufs Wort. Meine Eltern haben auch so ihre eigenen Vorstellungen, wie ich eigentlich sein sollte und wofür ich mich zu interessieren hätte. Wenn es nach ihnen ginge, werde ich einmal an der Harvard-Uni studieren und Anwältin oder Ärztin werden. Zumindest irgendetwas, womit man möglichst viel Geld verdienen kann.«

»Klingt ja aufregend. Und was sind deine eigenen Pläne?«

Ihr Gespräch wurde durch die schrille Schulglocke unterbrochen, und vier Sekunden später flog die Tür zum Vorbereitungsraum auf und Sergeant Jones erschien wie gewohnt mit geschwellter Brust und perfekt sitzender Tarnuniform und Kampfstiefeln.

»SETZEN!«, brüllte er zur Begrüßung in die Klasse, während er sich breitbeinig vor die Wandtafel stellte und Emily einen grimmigen Blick zuwarf, weil sie sich bücken musste, um ihren Kugelschreiber vom Boden aufzuheben, der ihr bei seinem Eintreten runtergefallen war.

»Miss Lamoure!« Er nickte Jenny steif zu. »Schön, Sie wieder bei uns zu haben.« Das war alles, was er zu Jennys Rückkehr sagte. Es hatte auch niemand etwas anderes von ihm erwartet. Sergeant Jones war kein Mann der großen Gefühle. Er ließ seinen Blick über die Klasse schweifen, als würde er jemanden suchen.

»Mr Sanders!«, sagte er dann und nahm Dylan ins Visier, der gleich hinter Jenny saß. »Willkommen in St. Dominic’s

»Danke, Mr Jones«, sagte Dylan.

»Sir, wenn ich bitten darf!«, korrigierte ihn der Sergeant mit vorgerecktem Kinn.

»Oh«, murmelte Dylan etwas überrascht. »Tschuldigung. Danke, Sir.«

»Mr Sanders wird in dieser Saison für die Tigers spielen«, informierte Mr Jones die Schüler knapp, worauf ein leises Murmeln durch den Raum ging. Es war eine Ehre, ins schuleigene Basketballteam aufgenommen zu werden. Der Coach stellte hohe Anforderungen an seine Spieler und wählte nur die besten für seine Mannschaft aus. Offenbar musste Dylan gut sein, sonst hätte Sergeant Jones ihn lediglich auf die Warteliste gesetzt.

»Ihr Ruf eilt Ihnen voraus, Mr Sanders«, fuhr der Lehrer fort, und seine Augen funkelten dabei erwartungsvoll. »Wie ich hörte, hat Ihre Mannschaft an der Small Beach Highschool Sie nur ungern ziehen lassen.«

»So gut spiel ich nun auch nicht«, winkte Dylan bescheiden ab.

»Nun, ich bin sicher, Sie werden eine große Bereicherung für unser Team sein«, meinte Jones. »Ich hoffe, Sie haben Ihre Sportsachen dabei. Das Training beginnt pünktlich um sechzehn Uhr in der Sporthalle.«

»Alles klar«, nickte Dylan.

»Sir!«, berichtigte ihn der Lehrer scharf. »Es heißt Sir im Unterricht und Coach im Training! Merken Sie sich das, Mr Sanders! Und eine aufrechte Körperhaltung würde Ihnen auch nicht schaden! Oder wollen Sie in zwanzig Jahren ein Pseudokrüppel sein und einen echten Kriegsverwundeten um seinen Rollstuhl bringen?«

»Äh … nein, Sir!«, sagte Dylan etwas verwirrt und setzte sich kerzengerade hin. »Du hättest mich ruhig vor ihm warnen können«, raunte er Jenny von hinten zu.

Jenny schmunzelte.

»UND GEREDET WIRD NUR, WENN ICH SIE DAZU AUFFORDERE!«, bellte der Sergeant. »VERSTANDEN?!«

»Ja, Sir«, antwortete Dylan mit geradem Rücken und lauter Stimme wie ein Soldat.

Eine kurze Pause entstand. Mr Jones straffte seine Schultern, ließ seine Worte einen Moment auf den Neuling wirken und warf dann einen Blick auf seine Armbanduhr: »Fünfundachtzig Sekunden. Schön, wir sind noch im Zeitplan für die heutige Unterrichtseinheit. Miss Summer!« Emily zuckte automatisch zusammen, als der Lehrer sie aufrief. Der kräftige Mann ging auf sie zu, sein linkes Bein etwas nachschleifend – wegen einer alten Kriegsverletzung, wie man munkelte. »Worüber haben wir in der letzten Stunde gesprochen?«

Emily kam automatisch ins Schwitzen. »Ich, ähm … also in der letzten Stunde«, stammelte sie und begann verzweifelt in ihrem Geschichtsbuch zu blättern. »Wir … wir behandeln den Rezessionskrieg, Sir.«

»Sezessionskrieg, Miss Summer!«

»Ähm, ja. Natürlich«, stotterte Emily verlegen.

Jones stand nun direkt vor ihrem Pult und blickte auf sie herab. »Und worum ging es bei diesem Krieg, Miss Summer?«

»Also … also, es ging um die Sklavereifrage, Sir«, erklärte Emily und rutschte nervös auf ihrem Stuhl hin und her. »Die … die Nord- und die Südstaaten waren sich da nicht einer Meinung, und deshalb … deshalb kam es dann Achtzehnhundert … ähm …« Sie schaute in ihr Buch. »1861 zum Krieg, der …« Sie schielte wieder in ihr Buch. »Der vier Jahre lang dauerte und mehr Tote forderte als jeder andere Krieg in der Geschichte Amerikas.«

»Richtig«, sagte Sergeant Jones, und Emily strahlte vor Erleichterung. »Meine Herrschaften, Bücher aufschlagen auf Seite 167! Mr Sanders! An die Tafel!«

Dylan erhob sich eilends und ging nach vorn. Man hörte das Rascheln von Papier, während alle Schüler eifrig die entsprechende Seite aufschlugen. Auch Jenny steckte brav die Nase in ihr Geschichtsbuch. Sie betrachtete die Schwarz-Weiß-Fotos des Krieges, dachte aber über etwas ganz anderes nach: Wenn Jones Dylan ins Basketballteam aufgenommen hat, hat er dann Jack rausgeschmissen, weil er denkt, Jack würde sich eh nicht wieder blicken lassen? Warum nur gehen alle davon aus, dass er nicht zurückkommt?

Während Jenny noch in ihre Gedanken versunken war, hörte sie plötzlich, wie Sergeant Jones mit gewaltiger Stimme durchs Klassenzimmer donnerte: »MEINEN HUT, MR SMEE!«

Sehr erstaunt über diese Formulierung blickte Jenny von ihrem Geschichtsbuch hoch, und was sie dann sah, verschlug ihr schlicht und einfach die Sprache: Es war nicht mehr Sergeant Jones, der da stand. Es war … Captain Hook! Der Piratenkapitän aus der bekannten Kindergeschichte von Peter Pan! Und er stand nicht vor der Wandtafel in einem Klassenzimmer, sondern auf dem Mitteldeck eines imposanten Segelschiffes! Kein Schiffsmodell von einem Filmset oder einer Theaterbühne, nein. Es war ein echtes Segelschiff aus dem 18. Jahrhundert, und es lag in einer kleinen Sandbucht mit steilen Felsen vor Anker. Es war alles real, viel zu real, und als wäre die Situation nicht schon schräg genug, befand sich Jenny auch noch mittendrin in der Szene, wie hineingebeamt! Ja, sie befand sich tatsächlich auf Captain Hooks Piratenschiff, zusammen mit gut zwei Dutzend mittelalterlich gekleideten Matrosen, die sich offenbar alle auf dem Deck versammelt hatten, um ihren Kapitän zu begrüßen.

Was zum Kuckuck, dachte Jenny. Sie verstand die Welt nicht mehr. Sie hörte eindeutig das Knarren der Masten und das Plätschern des Wassers. Sie spürte das Schaukeln des Schiffes und den Wind in den Haaren. Sie stand auf dem Schiff und hielt sich an einem der dicken Taue fest, ohne ihren Blick von Captain Hook abzuwenden, der oben an einer Treppe erschienen war und majestätisch auf seine Mannschaft herabblickte. Er trug seinen unverkennbaren Haken an der linken Hand, dazu einen rot-goldenen Kapitänsrock, Kniehosen, weiße Seidenstrümpfe und hohe Stiefel. Das lange schwarze Haar war zu Korkenzieherlocken gedreht, und in seinem breiten Gurt steckte ein langer Degen. Neben ihm stand ein kleiner, rundlicher Mann mit einem quer gestreiften Hemd und roter Bommelmütze. Er hatte weißes Haar und eine Knollennase, auf der eine kleine runde Brille saß. Jenny erkannte ihn sofort. Es war der Schiffskoch, Mr Smee.

»MEINEN HUT, MR SMEE!«, rief Captain Hook erneut.

»Sehr wohl, mein Captain«, sagte Mr Smee und reichte ihm eilfertig seinen großen violetten Federhut. Hook setzte ihn sich auf.

»MEINEN GOLDENEN REVOLVER, MR SMEE!«

Mr Smee gab ihm die Waffe mit einer leichten Verbeugung, und Hook steckte sie schwungvoll ein.

»MEINEN DEGEN, MR SMEE!«

Der Schiffskoch versuchte ihm mit seinen Augen etwas mitzuteilen, doch Hook funkelte ihn unter seinen buschigen Augenbrauen wütend an. »ICH SAGTE, MEINEN DEGEN, MR SMEE!«

Smee räusperte sich. »Der hängt bereits an Ihrem Gürtel, mein Captain«, raunte er ihm mit vorgehaltener Hand zu.

»Oh«, stellte Hook fest und hüstelte verlegen. »Nun denn.« Erhobenen Hauptes blickte er vom Zwischendeck auf seine Männer hinunter. »Viele Jahre«, sprach er und schritt würdevoll auf seinem Podest hin und her, »warte ich schon darauf, Peter Pan endlich zu fangen und zu töten, nachdem er mir das angetan hat!« Sein Haken schnellte vor und hätte dem Schiffskoch beinahe die Brille von der Nase gefegt. »Heute ist der Tag, an dem ich diesen Jungen ein für alle Mal besiegen und an das Krokodil verfüttern werde! Heute ist Peter Pans letzter Tag!«

»Ach wirklich?«, rief eine helle Stimme.

»C … Captain«, murmelte der Schiffskoch und deutete mit zitterndem Finger auf die Reling. »S…seht doch!«

Auf der Reling, nur ein paar Meter von Hook entfernt, stand breitbeinig und grinsend ein schlanker Junge, kaum älter als zwölf Jahre, ganz in Grün gekleidet, die Hände keck in die Hüften gestemmt, einen lustigen Hut mit Feder auf dem Kopf.

»Peter Pan«, flüsterte Jenny fasziniert. Captain Hook wirbelte herum und starrte den Jungen entsetzt an.

»Pan!«

»Hook!«, sagte der Junge und legte den Kopf schief. »Du willst es mit mir aufnehmen? Ein eingerosteter alter Mann wie du?«

Schäumend vor Wut zog Hook seinen goldenen Revolver aus dem Gürtel und schoss. Doch Peter Pan sprang flink hoch, schlug einen Purzelbaum durch die Luft und landete vergnügt in der Takelage.

»Mehr hast du nicht zu bieten, Hook? Du enttäuschst mich!«

»Na warte!«, knurrte Captain Hook, zielte nach oben und drückte erneut ab. Die Kugel zersplitterte einen Mast.

»Ups! Daneben!«, lachte der Junge, der nun mit verschränkten Armen auf dem Balken gleich unterhalb des Mastkorbes stand. Captain Hook kochte vor Zorn. Zum dritten Mal feuerte er auf Peter Pan, und diesmal traf er ihn. Der Junge taumelte, verlor das Gleichgewicht und trudelte armwedelnd und schreiend in die Tiefe. Jenny hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund. Stöhnend blieb der Junge auf den Schiffsplanken liegen, umringt von der Besatzung. Hook lachte höhnisch.

»Zur Seite! Platz da!«, rief er und bahnte sich einen Weg zwischen den Matrosen hindurch. Er zog seinen Degen und hielt ihn Peter Pan an die Kehle. Captain Hooks Gesicht zuckte böse.

»Ich habe gesagt, heute ist dein letzter Tag, Peter Pan«, knirschte er, ein zynisches Grinsen auf den Lippen, »und jetzt, mein kleiner Freund, stirbst du.«

»Nein!«, rief Jenny entsetzt. Ein Handgriff, und sie hielt plötzlich einen Degen in der Hand. Ohne auch nur einmal zu überlegen, stürmte sie schreiend auf Captain Hook zu. Der riss ziemlich verdutzt die Augen auf. »WAS ZUM TEUFEL …!«

»Wenn du ihm auch nur ein Haar krümmst, kriegst du es mit mir zu tun!«, schnaubte Jenny und schwang ihren Degen, als hätte sie ihr ganzes Leben lang nichts anderes getan, als sich mit heimtückischen Piraten zu duellieren. Doch zu Jennys großer Verwirrung ging Captain Hook nicht darauf ein. Er stand nur perplex da und tat rein gar nichts, außer dumm aus der Wäsche zu gucken.

»Na los!«, forderte sie ihn heraus und zerschnitt mit ihrem Degen die Luft vor seinem Kopf. »Kämpfe!«

»NEHMEN SIE SOFORT DIESES DING AUS MEINEM GESICHT!«, zeterte Hook, mit seinem Haken herumfuchtelnd. »UND GEHEN SIE GEFÄLLIGST AN IHREN PLATZ ZURÜCK!«

»Ich denk nicht mal dran! Peter hat recht: Du bist nichts weiter als ein eingerosteter alter Mann, der keinen Mumm mehr in den Knochen hat!«

»WIE KÖNNEN SIE ES WAGEN, SO MIT MIR ZU REDEN?!«, rief der Captain nun mit blitzenden Augen und machte einen Schritt auf Jenny zu. »ICH HABE IN SCHLACHTEN GEKÄMPFT, DA HABEN SIE NOCH AN IHREM SCHNULLER GENUCKELT! UND JETZT NEHMEN SIE ENDLICH IHRE KRÜCKE RUNTER, MISS LAMOURE!«

Jenny erstarrte. Als hätte jemand die Fernbedienung gedrückt, war sie zurück im Schulzimmer, und vor ihr stand nicht mehr Captain Hook auf seinem Segelschiff, sondern ein sehr, sehr aufgebrachter Sergeant Jones vor der Wandtafel! Und das, was Jenny eben noch für einen Degen gehalten hatte, entpuppte sich jetzt als eine ihrer Krücken!

Oh mein Gott!, dachte Jenny, als ihr klar wurde, dass sie tatsächlich vor der ganzen Klasse Sergeant Jones mit einer Krücke bedrohte. Rasch ließ sie den vermeintlichen Degen sinken. Sie wäre am liebsten im Boden versunken vor Scham. Was um alles in der Welt ging hier vor? Betreten sah sie sich um. Im Klassenzimmer war es mucksmäuschenstill geworden. Keiner bewegte sich. Dylan stand mit einer Kreide an der Wandtafel und schaute Jenny mit offenem Mund an. Und Sergeant Jones machte ein Gesicht, als würde jeden Moment der Dritte Weltkrieg ausbrechen.

»Miss Lamoure«, sagte er streng und gab sich dabei Mühe, seiner Stimme nicht ihr volles Volumen zu verleihen, »ich habe ja schon viele Soldaten mit kriegstraumatischen Erlebnissen gesehen, doch eine Nummer, wie Sie sie hier gerade abgezogen haben, ist mir in meiner gesamten militärischen Laufbahn noch nicht untergekommen! Dass eine Entführung ein Trauma auslösen kann, ist verständlich. Aber das hier …« Er schwankte zwischen Empörung und Fassungslosigkeit. »Ich weiß nicht, was das war. Aber Sie sollten das dringend abklären lassen, bevor es schlimmer wird. Haben Sie mich verstanden, Miss Lamoure?«

Jenny nickte wie in Trance.

»Miss Summer!«, sagte Jones und wandte sich an Emily. »Eskortieren Sie Miss Lamoure ins Sanitätszimmer und schildern Sie der Krankenschwester, was passiert ist. Und anschließend sorgen Sie dafür, dass Miss Lamoure umgehend nach Hause gebracht wird.«

»Ja, Sir!« Emily klappte ihr Geschichtsbuch zu, packte etwas umständlich Jennys und ihr eigenes Schulmaterial zusammen, hob die zweite Krücke vom Boden auf und ging damit nach vorn. Jenny wusste vor Beschämung kaum, wo sie hinblicken sollte. Emily reichte ihr die Krücke, und gemeinsam verließen sie das Klassenzimmer.

3 Eine verwirrende Begegnung

»Das war vielleicht abgefahren«, kicherte Emily, kaum dass sie die Tür hinter sich zugezogen hatte. »Wie du mit deiner Krücke vor seiner Nase herumgewedelt hast, Wahnsinn!«

Jenny sagte nichts. Blass und schweigend hinkte sie auf ihre Krücken gestützt neben Emily her.

»Was genau hätte das eigentlich werden sollen?«, fragte Emily. »Ich meine, warum hast du das getan?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Jenny leise.

»Du weißt es nicht? Aber dass du Jones als einen eingerosteten alten Mann bezeichnet hast, der keinen Mumm mehr in den Knochen hat, das weißt du schon noch, oder?«

»Das hab ich gesagt?«

»Ja, nachdem du dich wie eine Irre zwischen Dylan und Sergeant Jones geworfen und laut gerufen hast: ›Wenn du ihm auch nur ein Haar krümmst, kriegst du es mit mir zu tun!‹«

Jenny blieb stehen und sah ihre Freundin verwirrt an. »Das hab ich echt gesagt?«

»Du kannst dich nicht daran erinnern?«

Jenny schüttelte den Kopf. »Nein, ich … ehrlich, ich weiß nicht, was da passiert ist. Ich war … woanders.«

»Offensichtlich«, nickte Emily mit altkluger Miene. »Vielleicht hättest du doch noch ein paar Tage zu Hause bleiben sollen. Ich meine, jeder würde das verstehen nach dem, was du erlebt hast.« Sie grinste. »Mann, aber Jones’ Gesichtsausdruck war ja unbezahlbar, als du ihn einen eingerosteten alten Mann genannt und mit deiner Krücke zum Duell herausgefordert hast. Ich dachte, ich seh nicht richtig. Und dann noch vor der ganzen Klasse! So viel zum Thema Nicht-im-Mittelpunkt-stehen-Wollen. Und du hast echt keinen Schimmer, was plötzlich in dich gefahren ist?«

»Nicht den leisesten«, murmelte Jenny. »Ich … ich glaube, ich verliere den Verstand.«

»Ach wo«, beruhigte Emily ihre Freundin. »Du bist etwas durcheinander, das ist alles. Jetzt gehen wir erst mal zu Miss Rosenberg, damit sie dich wieder aufpäppeln kann. Und dann bring ich dich nach Hause, o.k.?«

»O.K.«, sagte Jenny.

Das Krankenzimmer war nur durch das Sekretariat zu erreichen. Mrs Miller, die korpulente Sekretärin des Schulleiters, bat die beiden Mädchen, in Miss Rosenbergs Zimmer zu warten. Sie werde ihr Bescheid geben.

»Geh du schon vor«, sagte Emily und öffnete für Jenny die Tür des Sanitätsraumes. »Ich muss mal schnell auf die Toilette. Bin gleich zurück.«

Das Krankenzimmer war nicht besonders groß. Es gab ein kleines Pult, zwei Stühle, eine Patientenliege und einen Medikamentenschrank. Jenny setzte sich, legte die Krücken auf den Boden und atmete tief durch. Jetzt, als sie ganz alleine in dem Zimmer saß, überrollte sie der skurrile Vorfall im Klassenraum wieder mit voller Wucht. Was um alles in der Welt war das gewesen? Wie konnte ihr so was passieren? Sie hatte doch keine Drogen genommen!

Du bist nicht verrückt, versuchte sich Jenny selbst zu beruhigen. Das ist nur eine Nebenerscheinung der traumatischen Erlebnisse der letzten Tage. Kein Grund zur Sorge. Du hast zwar Captain Hook gesehen, aber das war nur eine Projektion deines überlasteten Gehirns. Gibt bestimmt sogar einen wissenschaftlichen Begriff dafür. Es ist alles in bester Ordnung. Alles bestens …

Aber so wirklich gelang es ihr nicht, sich mit ihren Argumenten zu überzeugen. Nein, es war absolut nicht o.k., was sie erlebt hatte! Es war absolut nicht o.k., von einem Moment auf den anderen in einer Scheinwelt aufzuwachen und zu glauben, Captain Hook würde mit einem reden! Und zwar in echt!

»Was geschieht mit mir?«, murmelte Jenny und spürte, wie ihr Pulsschlag schneller wurde. »Das ist doch nicht normal!«

»Was ist denn heute schon normal?«

Jenny sah auf. Ein älterer afroamerikanischer Mann mit grau meliertem Haar und einem grauen stoppeligen Bart stand vor ihr. Er war schlank, trug einen blauen Arbeitsoverall und stützte sich auf einen Wischmopp. Seine braunen Augen strahlten eine unglaubliche Ruhe und Zufriedenheit aus. Jenny hatte den Mann nicht kommen hören.

»Oh«, sagte Jenny verlegen und zwang sich ein Lächeln ab. »Ich hab wohl laut gedacht, tut mir leid.«

»Das muss dir nicht leidtun, Jenny.«

Sie sah den fremden Mann perplex an. »Kennen wir uns?«

»Mein Name ist Wilson, Mr Wilson«, stellte sich der Mann mit einer kleinen Verbeugung vor. »Ich bin der Hausmeister hier.«

»Ich wusste gar nicht, dass wir einen Hausmeister haben.«

»Das wissen die wenigsten«, sagte er, ohne Jenny aus den Augen zu lassen. »Du siehst ziemlich blass aus. Hast du ein Gespenst gesehen?«

»Mit Federhut und Degen«, bestätigte Jenny, mehr zu sich selbst als zu Mr Wilson.

»Hmm«, stellte der Hausmeister fest und kratzte sich nachdenklich seinen Stoppelbart. »Interessant. Erst Jack und jetzt du.«

Bei diesen Worten zuckte Jenny kaum merklich zusammen. »Wovon reden Sie?«

»Na, von deiner Vision«, antwortete er wie selbstverständlich. »Von den Dingen, die du gesehen hast, obwohl niemand sonst sie gesehen hat. Deswegen bist du doch hier, hab ich recht?«

Jenny schluckte. »Woher … woher wissen Sie das?«

Der schwarze Mann zuckte die Achseln. »Ich weiß so einiges, das dich überraschen würde. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, was du gesehen hast und was es bedeutet.«

Jenny starrte den Hausmeister fassungslos an. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Ihr Herz raste. »Wer sind Sie?«

»Ich dachte, ich hätte mich bereits vorgestellt. Ich mache hier gelegentlich sauber.«

»Wie kommt es dann, dass wir uns noch nie begegnet sind?«

»Oh, das sind wir. Du warst nur zu beschäftigt, um mich wahrzunehmen.«

Jenny musterte den alten Mann kritisch. Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, ihn je auf dem Schulgelände gesehen zu haben. Und warum wusste er so viel?