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Copyright © 2018 by Michael Opielka

Umschlag:

Michelangelo, Die Erschaffung Adams

Gestaltung und Satz:

Tobias Battenberg, Köln

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978 3 752 85591 3

tibi et deo

Inhalt

Nacht

Am Anfang war das leere Blatt, nachtweiß, ein Laken ohne Blut, wortlose Augen, geschlossen. Dann setzten sie die Spritzen. Es wird ein neues Leben. So, das wurde mit dem Eindringen des Stahls in die von hartem Gewebe geschützten Augenhöhlen in mein Hirn gehämmert, wie bisher wird es nicht mehr sein. Hilflose Hingabe an die beiden Operateurinnen, deren sparsame Arbeitssprache hinter den Blitzen verschwand, die sich in meinen betäubten Augen ausbreiteten. Das linke Auge war das weniger geschädigte, die Netzhaut lose, doch durch flüssigen Stickstoff fixierbar. Verletzter war das rechte, hier saugten sie den Glaskörper aus, nähten die herabfallende Netzhaut mit Hitze und Kälte, Laser und Stickstoff, füllten den in sich sinkenden Augapfel mit Gas, dessen Präfix Lach abwegig war und bleiben sollte. Seien Sie absolut bewegungslos, hatte man mir auf den Weg in den Operationssaal der Universitätsklinik mitgegeben, sonst genügt die lokale Betäubung nicht. So bewegte ich mich durch den Kosmos, raste durch Sternnebel, den Funkenregen der Unendlichkeit, ein Traum aus Propofol. Sie hielten das Auge in den Händen, freier Zugang für ihre kaltheißen Maschinen. Ich reiste zurück. Ich wache auf, die Augen geschlossen, es bleibt dunkel. Wir müssen vertrauen, dass das Licht wiederkommt. Sie schieben mich in das Zimmer, die Augen mit Mull bedeckt.

Die Geschichte der Augen begann. Ich werde sie erzählen. Heute, an einem Tag lange nach jener Nacht, spielen sie wieder eine Hauptrolle. Zwei Stunden Augenakupunktur, dann fuhr ich mit ihnen zur Universitätsaugenklinik, anschließend zur Augenärztin. Wie kann man das erzählen. Eine Szene aus dem Wartezimmer, das so gefüllt war wie selten. Ein Paar war hereingekommen, der Mann schon wuchtig am Eingang, beide etwa siebzig, sein Hemd sitzt schief, die oberen Knöpfe offen. Eine Assistentin tropfte in seine Augen, Pupillenerweiterung. Die Frau sagt ihm etwas, was ich nicht verstehe. Er fährt sie laut an. Lass mich in Ruhe. Das Wartezimmer erstarrt. Die Wut der Demenz. Das wird ihr Alltag sein. Warum verlässt sie ihn nicht. Warum hält sie das aus. Meine Erstarrung löst sich. Was, wenn sich auch diese Nacht über mich senkt. Wenn dann eine Frau an meiner Seite ist. Sie soll meine Wut nicht aushalten. Sie soll gehen können. Das sage ich dir jetzt. Aber du bist nicht da. Ich sage es dem weißen Blatt. Noch sehe ich es. Noch will ich die Wut in Worte tauchen und heilen, die Angst vor dem Dunkel.

Vielleicht kann man das erzählen. Ich werde mich an die Ordnung der Zeit halten und nur wenig zwischen den Zeiten springen. Es wird keine einfache Erzählung, sie muss ein Versuch bleiben, es geht um meine Augen, sie bezeugen die Wahrheit, ich habe das gesehen und dich und die Welt. Sie werden auch geschlossen bleiben, ihre Sehaufgabe an die Seelenaugen übergeben, die Seele aber springt, sie hält sich nur schwer an Chronologie. Sie will Gerechtigkeit und tut alles dafür. Sie hält das Ich fest, von dem aus dieser Versuch beginnt. Aber es ist nicht leicht zu fassen, wer genau bin ich, wieviel von mir gehört in die Seiten, die nun folgen.

Venedig

Wir setzen Worte gegen das Vergessen. Ich vergesse ihre Aufgabe und schäme mich dafür, die Nacht wird zum erdrückenden Berg. Die Geschichte steht gegen meine Geschichten, mein Versagen am Anderen. Schlaflose Nacht in Worte gesetzt. Depression ist die Zeitkrankheit der Moderne, schreibt Alain Ehrenberg. Alle applaudieren. Das Vergessen sei zu bevorzugen, der Blick in die Zukunft systemisches Projekt. Doch die Geschichten wiederholen sich wie die Geschichte, wenn wir sie nicht verlassen. Können Worte den Willen verändern.

Laute Worte. Später zeigt das beruhigte Denken ihre Hilflosigkeit. Entschuldigungen folgen, Scham, Demut, Erniedrigung. Worte als Kampfmittel, die Seele als Mörser, zermalmte Erinnerung. Wir brauchen nicht die Waffenlieferungen, deutscher Leopardenstolz, nach Saudi Arabien um zu lernen. Ich lerne so langsam. Ein halbes Jahrhundert vorbei. Ein Mann von fünfundfünfzig Jahren, fünf mehr als in Goethes Erzählung, was ist der Mehrwert. Wen interessiert das Leben des Anderen.

Red Label, damals, Schülerzeit, ging Johnny, floss Johnny begehrt. Noch kannte ich die Black Label Variante des schottischen Whiskeys nicht. Über Jahre lagern diese Flaschen auf dem obersten Bord der Küche. Ich bin kein Freund der harten Drinks, liebe lieber Wein, er verbindet sich geschmeidig mit dem Rauch der Pfeife. Pfeifenrauch als Manifestation der Langsamkeit. Bald vier Jahrzehnte staune ich über Zigarettenraucher, die sich am schnellen Genuss genügen. Beide sterben wir aus. Glücklicherweise, sagen die Präventionisten, und man kann ihnen nur beipflichten. Rauchen schädigt. Alkohol schädigt. Im Venedig des 14. Jahrhunderts litt bis zu einem Drittel der Bevölkerung an Syphilis. Auch Sex also schädlich. Ich gleite mit Johnny Walker in den Schwarm der Beliebigkeit, werde zum benebelten Konstruktivisten. Noch hält Hirn stand. Das wollen wir nicht.

Der Wert des Wortes. Wir schaffen Wirklichkeit. Bisweilen sollen wir vom Primat des Gefühls überzeugt werden. Alain de Saint-Exupéry ließ, selbst wohl suizidal, seinen Kleinen Prinzen 80 Millionen Mal ein Gefühlsprogramm religionsferner Suizidalität in Generationen trunkener Romantiker einhämmern. Am Anfang war das Wort, kein Laken, keine Menstruation, kein Muskelspiel.

Kein Versteck für den Anfang dieses Essays. Mittendrin vielleicht, was weiß ich, während ich diese Worte schreibe, wo sie am Ende, gedruckt vielleicht, stehen werden. Arbeit am Sehen. Was nützt uns das Auge, sagt der Schriftsteller, wenn seine Bilder nicht in Worte gelangen. Aber wir sehen, die meisten von uns, was sieht der Blinde, wie lebt er, der wirkliche Mensch des Wortes, im Angesicht der Bilder, die er niemals sieht. Wie hört der Taube, wie lebt er, der wirkliche Mensch der Bilder, im Hören der Worte, die er niemals hört. Der Stumme. Der Lahme. Die Schweigende. Das Kind. Der Tote.

Wieder ist eine Stunde vergangen. Es ist Nacht. Die Worte fließen aus den Fingern, aus dem Hirn, aus irgendwoherwasweißich. Wen werden sie erreichen. Also Joseph Brodsky. Ufer der Verlorenen. Ein Wortbuch zu Venedig und seinen drei Jahrzehnten Winterstadt. Ich werde mit ihm im Koffer dorthin reisen. Die Augen sollen Schönheitsnahrung erhalten. Drei Jahrzehnte ist es her, dass ich dort war. Vor mir ein Bild der damals Geliebten, der ersten, ein Foto blieb, wo mag es sein, wir saßen im venezianischen Bett, sie ist heute fern. Brodsky will den großen Kreis, Geschichte, Russland, verdorbene Salons, Verfall, Zeit. Worte.

Alt sein. Wieder Goethe. Reise nach Italien. Ein Mann von fünfzig Jahren. Was bist du mit fünfundfünfzig. Melancholie und Morbidität repräsentieren Assets im Sprachraum der Alten, die es nicht sein wollen. Mir scheint Venedig vital. Die Hauptstraße aus Wasser, der Müllwagen ein Boot, mit Presswerk, ein bescheidener Kran führt die Handschiebemüllwagen über eine Luke und verleibt sie dem Wasserfahrzeug ein, mahlende Geräusche, wir kennen sie von den Radfahrzeugen unserer Müllbeseitigungsgesellschaften. Vier Männer sind beschäftigt, wir nehmen eine gewerkschaftliche Organisation an. Demgegenüber seien Housekeeping und Küchenarbeit an Bangladeshis ausgelagert, berichtet meine japanische Begleiterin. Wir solidarisieren uns gegenüber der Ausbeutung der Welt, späte Lehre aus 1941.

Überhaupt dürfte der Verfall Venedigs dramatisch überwertet werden. Ostdeutschland, trotz Aufbau Ost, bietet Anschauung. Kaum einer seiner essayistischen Wiederholungstäter scheint Hausbesitzer zu sein. Spätestens nach vierzig Jahren schreit eine Immobilie nach Modernisierung. Zumal, wenn sie im Wasser steht. Das freilich macht Venedig einzig. Dutzende Inseln, deren Kanten von im Wasser versinkenden, algenbesetzten Hausfronten konstruiert werden. Dann der Schock. Wenige Meter hinter den Kanälen erobert sich Inselfestland den Augenraum. Wir treten, beispielsweise auf dem Wege zur Scuola San Rocco, auf festem Land umher und imaginieren Florenz. So hielten es die Menschen hier aus, in Wohlstand und mit festem Boden. Ich denke an Alex Corbins Pesthauch und Blütenduft, das Mittelalter stank in den Städten. Der Vorteil Venedigs war das Meer. Es lieferte den Müll irgendwann in seine Unendlichkeit. Heute durchziehen Leitungen für Wasser, Strom, Gas und selbstverständlich Fäkalien die Inseln. Die Paläste, dass die meisten nur Häuser heißen, Ca, Casa, gefällt, Bescheidenheit gefällt immer, sind gewaltig, sie brauchen Versorgung und Venedig war reich.

Überhaupt Schreiben. Warum nicht einfach nur Schreien, wie die Vielen, die sich daran heilen, sich ausdrücken, auspressen, to express oneself, am Ende pressen wir unser Blut in das All, Wasser zu Dampf, Staub zu Staub. Schreiben als Ausdruck vor dem Tode. Die Hoffnung, dass die Worte überleben, der Kritik standhalten derer, die sie hörend lesen, mit dem Auge einatmen. Noch viel mehr. Dass sie auf Wohlwollen stoßen, auf die kleine Liebe, ohne die unsere Tage kalt bleiben.

Oder Denken. Woher kommen die Worte, die sich hier versammeln, eine Wortversammlung mit dem Titel Versuch und dem großen. Von mir aus. Gehen sie von mir aus, ist mein Hirn ich der Wortversammler, der Autor des Textes, der sich hier durch Papier und Bildschirm schlängelt. Oder sind sie nicht doch eine Antwort, ein gefilterter, durch Erfahrung, Lust und Kunstwillen bearbeiteter Reflex auf eine ihnen vorgängige Welt. Antwortet nicht, noch kühner gedacht, aber von wem, trauen wir den Neuropsychologen, den Hirnzonen, die unser Ich verblassen lassen, ein Werk dem anderen, die Welt nur sich selbst. Ich erläutere der mitlesenden Begleiterin im Zug in den Norden diese etwas verwirrenden Gedanken. Sie greifen den konstruktivistischen Diskurs zur Autopoiesis, zur Selbstschöpfung von Kommunikation aus sich selbst auf, eine Idee, die so bestechend wie ernüchternd, so scharf wie kalt erscheint. Möglicherweise ist sie zwar populär, doch falsch. Ist die größte Fiktion am Anfang des dritten Jahrtausends nicht doch dieses Von mir aus. Dass die Welt in mir beginnt, dass ich Verantwortung übernehmen muss für sie, die in mir beginnt. Dass ich mehr bin als mein Hirn. Dass die antike Dreifaltigkeit von Körper, Seele und Geist jenes Mir so gliedert, dass genug bleibt, um viele Leben lang verstehen zu wollen und noch immer fragen zu können.

Nachdenken über sich selbst, wie Christa Wolf über Christa T.. Am wichtigsten, so ihr schöner Satz, sei uns Menschen gekannt zu werden. Darüber wird auch hier noch zu sprechen sein, wenn die Religion in die Wortversammlung eintritt und wir uns die Frage stellen, ob Christa Wolf nicht besser geschrieben hätte. Am wichtigsten sei es uns Menschen erkannt zu werden. Also nicht nur das Soziale, die Seele, den Menschen ausmacht, vielmehr unser Menschsein auch Körper und Geist einschließt. Das Hohe Lied Salomons meint doch das, wenn es heißt, dass sie sich erkannten, als Mann und Frau, sie schliefen miteinander, waren eins als Körper und mehr, als Ganze durchtönten sie sich, personare, waren Personen für sich, waren Körper und Seele, waren Körper und Geist. Das wollen wir, wenn wir wählen dürfen. Doch haben wir jetzt und hier nur Worte. Ich will ihnen zu ihrem Recht verhelfen und damit auch mir. Die Versprachlichung der Welt muss nicht ihr Ende sein, wenn wir das große Wort der Genesis, ihren ersten Satz, dass am Anfang das Wort war und es war bei Gott, nicht übertreiben. Ob das Wort oder der Geist, da streiten die Übersetzer des Alten Testaments noch heute. Wir denken nicht nur in Worten und wir denken, vor allem mit den Worten nicht nur neue Worte. Sie machen sich, vielleicht, meinetwegen, in uns auf, erzeugen Missmut und Wohlgefallen, Bilder und Schmerzen. Worte können verletzen, Kriege eröffnen, eine Ehe beginnen, bis dass der Tod uns scheidet. Ein einfaches umfassendes Ja.

Schreib das auf. Meine Begleiterin beklagt, dass ihre kalifornischen Jahre im gesprochenen Wort die Hörer entzücken, aber sie wollen nicht aufs Papier. Wir fahren durch Südtiroler Täler, Schnee kommt wieder auf, den die Poebene, für uns Kinder eine Quelle köstlicher Assoziationen wie auch Insalata con cozze, erfolgreich vermied. Wir sprechen über Kunst, über unsere Nietzscheanische Neigung zum Genialischen, an dem wir Mittleren natürlich scheitern müssen. Wann beginnt die Kunst. Wie lässt sich nach Venedig, nach Tizian und Vivaldi, beide und viele mehr allein gestern, ein Wille zur Kunst entwickeln, ohne lächerlich zu wirken. Sie kam nach Venedig nach, wir begleiten uns mit unseren Köpfen, unserer Aufmerksamkeit, sie ist meine Germanistenfreundin aus dem deutschen Osten, wir lernten uns kennen, als wir San Francisco verließen, ein paar Jahre vorher, weiter Westen geht nicht. Venedig sollte den zerfaserten Augen Bilder geben, sonnige Bilder, leichte alte Bilder, Januarbilder, noch immer hängen sie, schon wieder ist es Jahre später, an den Wänden, Canal Grande, die Gondeln unter dem Ponte dei Frari.

Ich suche Kunstworte, deren Handlung vom Auge ausgeht und zur Welt findet. Wann aber wissen wir, wann es gut ist. Gut, das wissen wir schon, ist das Wort des Künstlers zu seinesgleichen, zum Werk, das dieses Wort verdient.

Die Form allein nährt uns nicht. Sinn und Form auch nicht. Formalismusdebatte im Osten, Forminhaltsdiskussionen im Westen. Aber hier, in diesen Sätzen, in diesem Ich hinter den Augen, die ermüdet waren und trübe sind, stellt sich die Kunstfrage konkret. Die Form als die Brücke zwischen Sinn und Sache, zwischen Bedeutung und Gegenstand, die Kunst als Medium der Kommunikation. Seine Totenmaske, eine Kopie der Gipsbüste, die einst in Goethes Arbeitszimmer stand, von seiner Hausmagd gerettet wurde und von ihrer Tochter oder Enkelin Jahrzehnte später Rudolf Steiner geschenkt, im Dornacher Archiv verwahrt und vor Jahren in wenigen Exemplaren kopiert und erst in meinem Arbeitszimmer, dann im Esszimmer gelandet, Hegel steht auf dem Sockel. War es nicht in Sinn und Form, dass ein kluger deutschdemokratischer Germanist über Hegels Kunstreligionskritik nachdachte. Kunst als Medium, die Kunst als die Sprache der Gemeinschaft, wo bleibt der Inhalt der Kunst, ihre Form, ihr Sinn, wenn Sie nur über Sinn sprechen und nicht die Kunst selbst reden lassen. Aber wie wollte ich Bach in Worte fassen, das gestrige Violinkonzert Bach Werke Verzeichnis 1043, das ich noch nie so hörte wie in Venedig, den Warmatem von Cello und Solovioline. Hier, so das Kind der Videozeit, wollte ich die Zeit anhalten und immer wieder neu hörend betrachten, den Innenblick des Cellisten, den Ton, der sich aus ihm, aus Bach und den vierhundertundmehr Jahren seitdem, in die Chiesa San Vidal eingießt, mit der Violine spielt und uns, ich bin sicher, er ergriff die meisten, ohne dass sie sich die Mühe der Worte machen mussten.

Meine Begleiterin ist eingeschlafen, das Buch von Eugen Ruge liegt aufgeschlagen auf ihren Knien. In Zeiten des abnehmenden Lichts, das ist auch hier der Fall, hinter Bozen beginnt der Abend, der Zug steigt, die Geschwindigkeit sinkt, der zunehmende Schnee hält die Welt heller. Wie persönlich darf Kunst sein, wie sehr muss meine Erfahrung in Form verwandelt werden, um gut zu sein für andere, für die Zeit nach mir und vor allem für die Zeit ohne mich.

Die Begleiterin ist aufgewacht, sie hört den Absatz und beklagt sich. So viele Lichter, so wenige Antworten. Das Ich schweigt in sich hinein, hört, wenn es gelingt die Klimaanlage zu überhören, in sich, es unterdrückt die Antwort, die es zwei Tage lang gab. Keine Antwort bitte, Fragen sind doch viel, sind doch erst das Leben. Aber in mir weiß ich auch, dass Antworten das Salz der Erde sind. Und ohne Salz Schilddrüsenprobleme, Geschmacksprobleme, kein Brot. Was will ich mit den Worten. Ein Fragezeichen, damit der Text dem Schreiber zeigt, was er will. Ich will schmecken, ich will sehen, ich will, ja, lieben. Darum diese Fragen. Heilendes Schreiben. Nicht nur sprechen, was schwer genug ist. Dieser Essay soll meine Augen heilen. Gut, werden Sie sagen, das ist mir doch zu persönlich. Was geht uns Leserinnen Ihre Netzhautablösung samt Linsentrübung an. Fahren Sie zum Odilienberg, besuchen Sie Informationsmediziner, lassen Sie sich augenakupunktieren, denken Sie über das nach, was Ihnen die Netzhaut löste. Und lösen Sie es. Aber bitte seien Sie dabei nicht zu abstrakt, vertrauen Sie nicht zu sehr der Form. Nicht zu viel Gesang, nicht zu viel Gedanke. Unser Liebe zum Nicht ist grenzenlos. Die Negation als Beginn des Abendlandes. Die Begleiterin schweigt. Die Antwort liegt im Auge des Betrachters.

Die Begleiterin stöhnt auf. Das Augenich verschlang in ihrer Abwesenheitszeit die ersten Seiten des Rugebuchs. Es war angetan. Alexander besucht Kurt. Der Sohn besucht den dementen Vater. Die Form ist gut. Daher Alfred-Döblin-Preis, und vor allem der Deutsche Buchpreis. Ein deutscher Familienroman. Überragend die Hymne der Rezensenten, ein Buddenbrocks der DDR, der Ruge ein Mann. Jetzt sollen deine kritischen Gedanken Platz finden. Der auktoriale Erzähler verzichtet auf das Ich. Alles ist Er. Die Kunst, so die Juroren, liege in seiner Geschmeidigkeit. Jedem Erich seine Sprache, Achtung. Er-Ich, das gesprochene und das geschriebene Wort benötigen immer wieder Bindestriche. Oder Fragezeichen. Überhaupt. Punkte. Ruge, zwei Jahre älter als ich, was mich erschütterte, als der Klappentext es berichtete und die Erinnerung an die Buchpreistagesschaukulturzeitbilder im Kopfauge antrat, nur zwei Jahre. Ich hielt damals eher sechs bis zehn für Tatsache. Aber da sah ich mich nicht selbst. Da begannen die Fäden im Auge zu fließen, da begann das Ende meiner Augenunschuld.

Meine Begleitung bemängelt, dass Ruge allen etwas bietet. Mexiko, Sowjetunion, DDR, Neonaziossijetztzeit. Reiseerzählung, Revolutionsnarrativ, Schaudern an der Drastik sexueller Worte. Wir halten am Brenner, es ist dunkel, Schnee hüllt die Welt. Ich denke an Trotzki in Mexiko, sehe Penélope Cruz als Frida Kahlo, oder denke ich nur, dass ich sehe. Denke jedenfalls Ost und West, das schreibt Ruge, das schreibe ich auch, aber klein, eine Augengeschichte, keine Revolutionsgeschichte, eine Ichgeschichte, keine Weltgeschichte. Das alles will ich schreiben, deshalb hat sie gestöhnt. Jetzt ging sie hinaus, nur vor die Tür, der Zug steht zehn Minuten.

Perspektivenwechsel als Sprachspiel. Eine gelungene Form bei Ruge, so die Kritiker, eine verfehlte, so meine Kritikerin im Abteil der Österreichischen Bundesbahn, dort heißt es noch so, wir Deutsche haben seit der Einheit nur noch eine Bahn, jedenfalls keine Reichsbahn, das hat die Skeptiker beruhigt. Verfehlt bei Ruge nicht aufgrund der Form, die ist fein, man liest mit Genuss, aber wo ist das Ich. Es fehlt. Ich höre das mit Genugtuung, mein Auge hört mit, es will etwas, was mein Ich entdecken muss. Es will die Netzhaut halten, es will sich halten und mir die Welt zeigen. Der Text will wenig, am meisten will ich. Ich muss mich suchen oder, meinetwegen, vielleicht besser, mit Picassos Narzissmushilfswort. Ich suche nicht, ich finde.

So viele Worte. Mozart war wie Picasso, selbstzweifellos. Keine Note zu viel, beschied er seinem Kaiser Franz Joseph zum Don Giovanni. Dem Kaiser wird der Kopf geschwirrt haben. Seit einer Viertelstunde hätte der Zug den Weg nach München fortsetzen sollen, nun aber heißt es, kaum beruhigend an einem Januarabend auf dem schneeumwehten Pass. Wegen eines technischen Problems werde die Weiterfahrt des Zuges auf unbestimmte Zeit verschoben. Punkt. Wir sitzen im Abteil, noch strömt Wärme aus den Düsen, brennt Licht, nährt sich der Laptop aus einer mit dem ungewöhnlichen Wort zweihundertdreißig Volt beschrifteten Schuko-Steckdose. Doch was mag mit unbestimmte Zeit gemeint sein. Offensichtlich nichts bestimmtes. Vielleicht die Nacht, möglicherweise nimmt uns morgen früh ein Zug mit oder ein Nachtzug zumindest diejenigen, die schnell die Schuhe schnüren und den Bahnsteig wechseln. Vielleicht nur wenige Minuten, man wollte uns überraschen und keine Präzision heucheln, wo doch der in der Zuglok abgefallene Stecker sogleich gefunden wird, wenn alles gut geht. Wenn alles gut geht als Formel des Unbestimmten. Nichts ist gut in Afghanistan, das war der Satz der Bischöfin, der sie bekannt machte, neben ihrem Schnaps im Bischofsphaeton und dem Begleiter, den sie so wenig nennen wollte, wie Helmut Kohl den Spender. Letzteres führte zu Kanzlerin Merkel. Wenn alles gut geht, wird der Euro gerettet, bleibt die Arbeitslosenzahl niedrig, wird meine Linse heil. Es ist alles unbestimmt, wurstiges von mir aus. Mir wird berichtet. Ein Kind habe gesagt, es dauere noch siebzig Minuten. Eine Italienerin habe von einer Schaffnerin gehört, man warte auf den Gegenzug, in dem sich der Schaffner befände. Es scheint wirklich unbestimmt. Die Ansage war also ehrlich. Wo gibt es das schon, dass die Worte stimmen, dass sie Unsicherheit aushalten, dass Welt und Wort eins werden, für einen Augenblick zumindest. So beginnt die Welt immer neu.

Das Wort im Auge. Ist das Wort Kopfauge nützlich. Eine berechtigte Frage, die deutsche Sprache hat mit dem inneren Auge schon etwas zu bieten, warum das Innere noch oder ersatzweise mit dem Wort Kopf belegen. Wir suchen Alternativen. Die erste ist Hirnauge. Gut, sie klingt befremdlich, was möglicherweise daran liegt, dass Hirn entweder selten, Gott schmeiß Hirn vom Himmel, ein bayerischer Seufzer, oder medizinisch verfachlicht klingt. Draußen im Schnee eilen koffertragende Reisende durch den Schnee in einen Hilfszug nach Innsbruck. Er würde uns nichts nützen, keine Steckdose und in Innsbruck nur die Erinnerung an eines der vielen gescheiterten Berufungsverfahren. Als ich vor Jahren vor das Universitätshauptgebäude trat, floss im Bild meine akademische Geschichte zusammen. Die Tübinger Aula, das Hauptgebäude der Züricher Universität, das Bonner Schloss, die Berliner Humboldt-Universität und jener Tag der Verteidigung meiner Dissertation, an dem ich, vor dem Ereignis, Unter den Linden überquerte und die, wie ich falsch dachte, Universitätskirche besuchte, die St.-Hedwigs-Kathedrale, es war ruhig und der Winter würde beginnen. Zu allen Erinnerungen kamen neue Bilder, kein Wort ohne Bild. Kopfauge ist wachsam. Der Verzicht auf das Ich in Ruges Buch beschäftigt uns.

Unterdessen waren wir in Innsbruck angelangt, der Schnee erheblich, die Verspätung entschädigungsträchtig, höhere Gewalt wird man sagen, überlastete Bäume zerschlugen die Oberleitungen, wie sollen wir das nachprüfen. So werden wir schweigen, werden das Erstattungsformular zum wiederholten Male nicht Verschwindet unsere Sprache?unsere blinde Verehrung für die US-amerikanische Kultur