Raw Love
Gegen alles, was war
Roman
Ins Deutsche übertragen von Anja Mehrmann
Pokergenie Damien Larson besitzt das Glück des Teufels, so scheint es. Sein Nachtclub ist ein Riesenerfolg und die illegalen Pokerspiele, die nebenbei laufen, spülen ihm noch mehr Geld in die Tasche. Alles scheint ihm in den Schoß zu fallen – nur seine Angestellte Emma Haskell will nichts Privates mit ihm zu tun haben, auch wenn die Funken zwischen ihnen nicht zu ignorieren sind. Doch als ihr spielsüchtiger Bruder einen beträchtlichen Schuldenberg bei Damien anhäuft, macht dieser ihr ein Angebot, das Emma nur schwer ablehnen kann: Er erlässt ihrem Bruder die Schulden, wenn Emma ihm für dreißig Tage gehört …
Für meine liebe Freundin Jennifer, die mich immer unterstützt
Emma Haskell warf den Stift hin, nahm die Lesebrille ab und rieb sich die Schläfen in der Hoffnung, den Schmerz hinter ihren strapazierten Augen zu lindern. Ein sinnloses Unterfangen, denn der Schmerz war hartnäckig. Zahlen logen nicht, aber sie hoffte beinahe, dass diese es doch taten. Es würde unangenehm werden, ihrem Boss erzählen zu müssen, dass sie einen Dieb überführt hatte.
Auf der anderen Seite der dünnen Wände ihres Büros wummerten die Bässe von der Tanzfläche des Players. Normalerweise war sie längst verschwunden, wenn die Nachtschwärmer in den Club kamen, um zu tanzen, jemanden aufzureißen oder sich bis zur Bewusstlosigkeit zu betrinken, aber sie hatte eine gefühlte Ewigkeit an dieser Überprüfung gesessen. Es war zu einer Besessenheit geworden, und wenn sie ehrlich war, dann wollte sie diese endlich loswerden. Je schneller sie es hinter sich brachte, desto eher konnte sie nach Hause gehen, zu Bentley, einem Glas Wein und Netflix.
Aber bei Gott, es grauste ihr davor!
»Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen«, murmelte sie vor sich hin, griff nach ihrem Telefon und rief Stacia an. Die füllige Blondine antwortete sofort, indem sie wie üblich ihren Namen zwitscherte.
»Ist er da?«, fragte Emma.
Stacias Begrüßungen waren immer fröhlich, bis sie hörte, wer am Apparat war. Dann wurde ihr Ton meist deutlich kühler. Wenn etwas Damien Larson die Laune verderben konnte, dann ein Bericht von der gewissenhaften Buchhalterin seines Clubs. Und für Stacia, seine Assistentin, war es kein Spaß, wenn er schlechte Laune hatte.
»Oh Gott, Emma, geh nach Hause! Sprich morgen mit ihm«, flehte sie sie an.
»Das heißt, er ist da.«
»Er sitzt am Spieltisch.«
Seufzend legte Emma auf. Sie wusste, dass sie in den nächsten Stunden vermutlich keine Chance bekommen würde, mit ihrem Boss zu reden, vielleicht sogar bis zum Sonnenaufgang.
Es war ein schlecht gehütetes Geheimnis im Players, dass Stacia mit doppelter Buchführung arbeitete. Damiens geheimer Spielsalon – illegal in Texas, obwohl Texas Hold’em dort die bevorzugte Spielvariante war – existierte im oberen Stockwerk bereits seit der Eröffnung des Clubs. Eine moralische Zwickmühle, mit der Emma aber leben konnte, vorläufig jedenfalls. Damien zahlte extrem gut, und sie brauchte das Geld dringend.
Aber sie hasste es, mit ihm zu reden.
Sie hasste Glücksspiel.
Vermutlich hatte Stacia gelogen, damit Emma endlich Feierabend machte und Damiens Laune nicht verdarb. Es war durchaus verlockend, einfach zu gehen. Ihr Kopf hämmerte im Rhythmus der Musik, und sie hörte das Heizkissen zu Hause förmlich nach ihr rufen. Sie hatte so lange vor dem Computer gesessen, dass sich unter ihrem rechten Schulterblatt eine Verhärtung gebildet hatte. Das war für sie nicht ungewöhnlich. Für eine kleine Rückenmassage hätte sie in diesem Augenblick alles gegeben.
Es ist nicht okay, sich mit fünfundzwanzig so alt zu fühlen, dachte sie, legte den Kopf zurück und ließ ihn von einer Schulter zur anderen rollen. Dann zog sie den Bleistift aus ihrem Haarknoten, und das lange Haar fiel ihr über den Rücken. Ja, eine Massage, die Spitzen schneiden lassen, vielleicht eine Gesichtsmaske oder eine Pediküre … Sie ließ sich nur selten verwöhnen, aber vielleicht sollte sie endlich mal damit anfangen. Morgen. All das konnte bis morgen warten. Ha.
Emma schaltete ihre Schreibtischlampe aus und griff nach ihrer Handtasche. Sie fühlte sich irgendwie niedergeschlagen und kam sich ein bisschen feige vor. Doch als sie die Bürotür schloss und in den Flur trat, hielt sie kurz inne. Wenn sie erst morgen zu Damien ging, würde er wissen wollen, warum sie nicht sofort zu ihm gekommen war. Wenn sie ihm hingegen die Nachricht, dass einer seiner Barkeeper Geld unterschlug, noch heute überbrachte, dann konnte er umgehend handeln und weitere Verluste verhindern.
Dieser Kerl zu sein, war auf jeden Fall weitaus schlimmer, als derjenige zu sein, der ihn auffliegen ließ.
Damien musste es erfahren, und Stacia würde damit leben müssen.
Nachdem sie rasch den Laptop aus ihrem Büro geholt hatte, machte Emma sich auf den Weg nach oben zu Damiens Büro. Stacias Schreibtisch stand im Zimmer davor, doch sie war nicht an ihrem Arbeitsplatz. Wahrscheinlich hatte sie heute Abend Dienst an der Tür. Mist, Emma konnte froh sein, wenn Stacia sie überhaupt zum Boss hineinließ.
Hier oben war Damiens Reich, und das konnte man deutlich sehen. Dicke, weiche dunkle Teppiche. Die Doppeltüren zu seinem Büro, die im Augenblick geschlossen waren, glänzten in schwarzem Lack. Sie passten perfekt zu Stacias Schreibtisch. Die Wände waren grau gestrichen und harmonierten nicht recht mit den Farbtupfern, auf denen Stacia bestanden hatte, um den Raum etwas freundlicher zu gestalten. In einer Ecke leuchtete eine einzelne Stehlampe und tauchte den Bereich in dämmriges Licht. Es gab ein paar hohe, schmale Fenster, aber draußen war es dunkel.
Emma verzog die Lippen, als sie einen Anflug von Bitterkeit zu unterdrücken versuchte. Ihr Büro unten war nicht größer als ein Schrank und führte auf einen grellweißen Korridor hinaus. Es gab kein Fenster – und selbst wenn, hätte es ihr nur den lieblichen Anblick einer Ziegelwand beschert. Die Deckenbeleuchtung tat ihren Augen so weh, dass sie sie selten einschaltete und nur ihre Schreibtischlampe benutzte. Vor langer Zeit, bei einem seiner seltenen Besuche, hatte Damien angeboten, die Wände streichen zu lassen. Das hatte sie jedoch abgelehnt, hauptsächlich, um ihn so schnell wie möglich loszuwerden. Seine bloße Anwesenheit entzog ihrem Büro jeglichen Sauerstoff, brachte ihr Gesicht zum Glühen und ließ ihr Höschen unangenehm feucht werden. Vermutlich hatte sie also gar kein Recht, verbittert zu sein. Wann immer sie ihn für eine Erklärung oder eine seiner blitzschnell hingeworfenen Unterschriften brauchte, suchte sie ihn in seinem Büro auf und verließ es so schnell wie möglich wieder.
Gott sei Dank hatte Damien Larson nicht viel für Smalltalk übrig.
Emma steuerte über die gewundenen Korridore zurück und folgte dem Gang ab der Treppe in die entgegengesetzte Richtung. Schließlich erreichte sie das Fenster, hinter dem Stacia sitzen musste – obwohl Emma sie durch das verspiegelte Glas nicht ausmachen konnte. Sie drückte auf die Klingel und wappnete sich für die Konfrontation.
Das Fenster wurde aufgeschoben und gab den Blick auf Stacias Modelgesicht frei, das immer leicht genervt wirkte, als fühlte sie sich belästigt. Ihre blauen Augen starrten zuerst auf den Laptop, den Emma an ihre Brust gedrückt hielt, doch dann verdrehte Stacia sie so sehr, dass Emma schon fürchtete, sie könnten ihr aus dem Kopf fallen. »Du gibst echt keine Ruhe, was?«
Schon immer hatte sich Emma gefragt, ob Damiens und Stacias Verhältnis über das zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmerin hinausging. Sie schirmte ihn auf völlig übertriebene Art ab, und das war im Augenblick einfach nicht angemessen. Emma steckte den Kopf zum Fenster hinein und legte ein Selbstbewusstsein in ihre Stimme, dass sie in Wirklichkeit nicht fühlte. »Wenn du diejenige sein willst, die ihm erklärt, warum er bis morgen warten musste, um zu hören, dass er heute Geld verliert – bitte sehr. Wenn nicht, dann lass mich jetzt rein oder hol ihn her. Deine Entscheidung.«
Stacia schnaubte empört, schüttelte den Kopf und ließ den Türöffner summen, um Emma hereinzulassen. »Auf gar keinen Fall sage ich ihm das. Viel Spaß.«
»Danke«, gab Emma zurück, obwohl sie angesichts der vor ihr liegenden Aufgabe überhaupt nicht dankbar war. Sie erhaschte einen Blick auf die Unmengen gestapelter Pokerchips auf dem Tresen hinter Stacia und nahm den letzten tiefen Atemzug in frischer Luft für die nächsten paar Minuten. Unglücklicherweise erlaubte Damien seinen Spielern das Rauchen, und der riesige Raum würde zweifelsohne von einer erstickenden Rauchwolke erfüllt sein.
Als sie hineinschlüpfte, fühlte sie sich winzig in dem großen Raum mit der hohen Decke. Alle Augen schienen auf sie gerichtet zu sein. Sie drückte den Laptop fester gegen ihre Brüste und senkte den Kopf, um ihr Gesicht hinter ihrem roten Haar zu verstecken. Sie hasste es hier drin: das Klicken der Chips, der Zigarettenrauch, den sie noch zu Hause in ihren Kleidern riechen würde, und die lauten Ausrufe nach Sieg oder Niederlage. Unter all den Gestalten, die an den im Raum verteilten professionellen Pokertischen saßen, suchte sie nach einem bestimmten dunklen Haarschopf.
Damien war nie schwer zu finden. Kaum hatte sie ihn entdeckt, blickte er auch schon auf. Überrascht von ihrer Anwesenheit, sah er ein zweites Mal hin. Sie nahm an, dass er sie ungefähr so selten sah, wie er in ihrem Büro auftauchte, wenn nicht noch seltener.
In einer vielsagenden Geste hielt Emma den Laptop hoch. Er nickte und hob kurz einen Finger. Sein Gegner, der mit dem Rücken zu ihr saß, drehte sich um, weil er sehen wollte, wem die Geste galt … und Emma hätte fast den Laptop fallen gelassen.
Ben? Was zur Hölle machst du hier?
Das war’s dann wohl mit den Anonymen Spielsüchtigen.
Doch was sie am meisten verletzte und ihr wie ein spitzer Pfeil durchs Herz schoss, war, dass ihr Bruder keinerlei Anzeichen von Erschrecken oder Scham zeigte, weil er erwischt worden war. Tatsächlich änderte sich sein gleichgültiger Gesichtsausdruck überhaupt nicht. Er wandte sich einfach wieder dem Spiel zu, als wären sie beide nicht bei denselben Eltern und im selben Haus aufgewachsen – als wäre sie eine Fremde.
Ihr Bruder hatte eigentlich nie ein Pokerface besessen.
Ach herrje, ihre armen Eltern! Sie hatten beinahe alles verloren, weil sie Benjamin von seinen Schulden befreit hatten. Er hatte versprochen, sich zu ändern. Eine Zeit lang hatte er das auch getan, war regelmäßig seinem Beruf nachgegangen und hatte ein kleines Apartment gemietet. Aber nun saß er dem einen verdammten Menschen gegenüber, der ihn mit Sicherheit wieder in die gleiche Situation wie vor fünf Jahren bringen würde – mittellos, fix und fertig und von Geldeintreibern gejagt. Ihre Mom und ihr Dad sahen die Tatsache, dass sie bis weit über das Rentenalter hinaus würden arbeiten müssen, als sinnvolle Investition in Bens Wohlergehen an. Und jetzt das. Er war wieder auf dem Weg in die Hölle und tat hier die ersten Schritte. Wenn er sie nicht schon irgendwo anders gegangen war.
Emma wollte nicht behaupten, dass Damien Larson nicht zu schlagen war. Allerdings hatte sie davon noch nie gehört. Er hatte sein Imperium mit diesem Spiel aufgebaut.
Sie konnte jetzt nicht hierbleiben.
Bevor jemand sehen konnte, wie ihr die Tränen kamen, drehte sie sich um und floh. Stacia beobachtete wahrscheinlich mit einem Schmunzeln und einem Hab ich’s nicht gesagt?, wie sie am Außenfenster vorbeirannte, aber dieses engstirnige Miststück war Emmas geringste Sorge.
Ihr Bruder. Ihr kleiner Bruder. Der impulsive, hitzköpfige Benjamin, der sie gegen mehr als einen Schulhoftyrannen verteidigt hatte, weil der sie als Bücherwurm gehänselt hatte. Ihr Bruder, der einen hartnäckigen Verehrer verjagt hatte, der kein Nein akzeptieren wollte. Er war loyal, und er war stark … außer bei dieser Sache hier. Wenn dieser Trieb ihn packte, war er hilflos wie ein Kätzchen. Sie hatte das schon oft beobachtet.
Emma wusste nicht, was sie tun oder wo sie hingehen sollte, aber schließlich fand sie sich hinter Stacias Schreibtisch vor Damiens Büro wieder. Sie ließ sich in den gepolsterten Chefsessel fallen, starrte auf die Fotos, die auf der schimmernden Tischplatte standen – huch, anscheinend hat Stacia einen Freund, also vögelt sie wohl doch nicht mit dem Boss –, und lehnte sich dann zurück.
Sie war müde. Unglaublich müde. Ihre Kopfschmerzen waren unerträglich geworden, sie hämmerten mit brutaler Intensität gegen ihren Schädel. Was sollte sie mit diesem Wissen anfangen? Es ihren Eltern erzählen? Die konnten auch nichts tun. Oder sollte sie wieder hineinmarschieren wie ein herrisches Muttertier und Ben an den Ohren hinter sich herziehen? Konnte sie an Damiens Gutmütigkeit appellieren – falls er so etwas besaß – und ihn bitten, Ben den Zutritt zu verweigern?
Als würde das etwas nützen. Er würde einfach woanders hingehen.
Emma schloss die Augen.
Er fand sie schlafend in Stacias Sessel. Der Laptop drohte ihr aus den Fingern zu rutschen. Einen Moment lang betrachtete Damien Larson seine Buchhalterin. Eine seidige Strähne ihres feuerroten Haares schien ihre weiche Wange zu liebkosen, und ihre üppigen Lippen waren leicht geöffnet. Hatte er sie je zuvor mit offenem Haar gesehen? Normalerweise war sie äußerst zugeknöpft, ihre Erscheinung so makellos wie ihr Umgang mit Zahlen, die sie mit geradezu empörender Leichtigkeit beherrschte.
Aber jetzt war ihre pfirsichfarbene Bluse oben geöffnet, sodass der Ansatz ihres Dekolletés zu erahnen war. Die Neigung ihres Kopfes betonte ihren schlanken Hals und die blassblauen, filigranen Verzweigungen der Venen unter der Haut.
Aber selbst im Schlaf lag ihre Stirn in Falten, als verfolgten sie die Zahlen – oder etwas Schlimmeres – bis in ihre Träume.
Damien näherte sich ihr so leise wie möglich, löste den teuren Laptop aus ihrem gefährlich lockeren Griff und stellte ihn auf Stacias Schreibtisch. Emmas einzige Reaktion waren ein leichtes Zucken und unverständliches Murmeln. Die winzige Bewegung ließ ihren Kopf zur Seite rollen … wodurch sich eine einzelne Träne löste, ihr über die Wange lief und auf die Bluse tropfte, wo sie einen kleinen dunklen Fleck hinterließ.
Damien verfolgte die Reise der Träne wie hypnotisiert mit gerunzelter Stirn. Warum zum Teufel war sie kurz vor Mitternacht überhaupt noch hier? Und was war so schlimm, dass sie weinen musste?
Er sollte sie nach Hause ins Bett schicken, aber offensichtlich war sie so erschöpft, dass es ein Verbrechen gewesen wäre, sie jetzt zu wecken. Er öffnete die Türen zu seinem Büro, schob die Arme unter Emmas erschlafften Körper und hob sie hoch. Sie war weich und leicht, und selbst diese heftige Störung weckte sie nicht auf. Ihr unglaublich langes Haar floss über seinen Arm, ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig. Er trug sie zu dem Sofa an der Wand seines Büros und holte dann eine Decke aus dem Schrank.
Damien schlief gelegentlich gern selbst ein paar Stunden auf diesem Sofa, sodass er wusste, dass es äußerst bequem war. Auch Emma schien das so zu empfinden. Sobald er die Decke über sie gebreitet hatte, rollte sie sich auf die Seite, kuschelte sich hinein und seufzte schläfrig und zufrieden. Die Sicherheitslampen vor seinen Fenstern ließen ihre blasse Haut zart leuchten.
Zu seiner Verwunderung fragte er sich, wie ihre perfekte, beinahe durchsichtige Haut wohl schmecken mochte. Genau da, unter dem zierlich geformten Ohrläppchen. Oder da, die zarte Stelle unter ihrem Kiefer. Vielleicht nach Erdbeeren? Sie roch danach. Süß und sommerlich, obwohl er mit der Farbe ihres Haars und ihrer Kleidung eher Zimt und Herbstfeuer assoziierte.
Natürlich hatte er schon lange vor diesem Abend bemerkt, wie schön sie war. Obwohl ihre Augen jetzt geschlossen und sonst meistens hinter ihrer Brille versteckt waren, wusste er, dass sie haselnussbraun waren, aber die Farbe wechselte, je nach der Farbe ihrer Kleidung.
Doch er hatte ebenfalls bemerkt, wie ablehnend sie sich ihm gegenüber verhielt, wenn man einmal davon absah, dass sie für ihn arbeitete. Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmerin führten in ein moralisches Dilemma, mit dem er sich nicht weiter belasten wollte, auch wenn schon einige seiner Mädchen in genau diesem Büro vor ihm auf die Knie gegangen. Aber er bediente sich nicht oft an der umfangreichen Auswahl im Players. Für die meisten Frauen, die er kannte, waren seine Vorlieben zu unkonventionell.
Emma war in ihrem Kämmerchen in der unteren Etage gut aufgehoben, weit weg von ihm, denn sie weckte finstere Gedanken, die am besten in der hintersten Ecke seines Gehirns verborgen blieben – zum Beispiel, wie intensiv rosa sich ihr Fleisch unter seinen Händen färben würde.
Wenn er noch länger hierblieb, wurde sie womöglich wach, und dann würde er versuchen, herauszufinden, was für keinen von ihnen gut wäre. Also ließ er sie auf seinem Sofa schlafen, stellte den Laptop auf den Boden davor und schloss die Tür hinter sich, als er hinausging.
Er hatte nämlich gerade ein leichtes Opfer am Tisch sitzen.
Irgendwie wusste Emma, dass sie träumte. Normalerweise wachte sie an diesem Punkt auf, aber diesmal war es anders. Sie kämpfte darum, die Schwelle ihres Bewusstseins nicht zu übertreten – damit sie unter dem imaginären Körper über ihr bleiben konnte. Er küsste und liebkoste sie, während sie sich fieberhaft hin- und herwarf. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber irgendwie wusste sie, wer er war. Sie stöhnte und wusste, dass sie sich eigentlich wehren sollte, aber sie war schwach vor Begehren. Stellen, die viel zu lange im Dornröschenschlaf gelegen hatten, erwachten jetzt zum Leben, wurden feucht und pochten schmerzlich. Sie wollte, dass er diese Stellen erweckte, sie zur Raserei trieb und langsam wieder beruhigte, wie nur er es vermochte. Und dann konnte er wieder von vorn beginnen.
Aber ihr Verstand wehrte sich gegen die Bedürfnisse ihres Körpers, und sie erwachte langsam. Helligkeit löschte die süßen, dunklen Bilder aus, die sie umgaben.
Jemand beobachtete sie.
Emma öffnete die Augen und blickte in gleißendes Sonnenlicht, und als sie wieder scharf sehen konnte, sah sie über sich eine ungewohnt hohe Zimmerdecke. Ihr dämmerte gerade, wo sie sich befand, da erklang ein tiefes, männliches Lachen vom anderen Ende des Raumes her. Sofort fuhr sie hoch und saß kerzengerade da.
Damien Larson saß hinter seinem riesigen Schreibtisch und grinste sie an, als gehörte ihm die ganze verdammte Welt.
Eine Sekunde lange fragte sie sich, wie viel davon ihm wohl tatsächlich gehörte.
Weil sie die Decke von sich geworfen hatte, war beunruhigend viel von ihrem blassen Schenkel zu sehen. Verlegen begann sie, sich zu bedecken. Und … sie hatte doch nicht laut gestöhnt, oder?
»Oh, es lebt«, sagte Damien, stand auf und ging zur Tür. »Kaffee? Orangensaft?«
»Kaffee bitte«, krächzte sie, dankbar, dass er keine weiteren Fragen stellte, die sie ohnehin nicht hätte beantworten können.
Das Letzte, woran sie sich erinnern konnte, war, dass sie sich an Stacias Schreibtisch gesetzt hatte. Wie zum Teufel war sie also hierhergekommen?
Und dann fiel ihr mit erschreckender Klarheit der fieberhafte Sextraum wieder ein. Jemand hatte sie an seine muskulöse Brust gedrückt und fortgetragen, das war eins der ersten Details, die ihr wieder einfielen.
War das Damien gewesen?
Als er mit einem dampfenden Becher zurückkam, musterte sie seinen schwarz gekleideten Oberkörper – ihm in die Augen zu sehen, brachte sie noch nicht fertig – und staunte darüber, dass sie ihm so nah gekommen war – wenn es denn wirklich so gewesen war. Wortlos reichte er ihr den Becher. Sie nahm ihn, fühlte sich leicht desorientiert und schwindelig. »Danke.«
»Ich würde Ihnen ja Zucker und Milch anbieten, wenn ich es hätte. Aber hier oben trinken wir nichts, was nicht auch einen Motor antreiben könnte.«
Sie nahm einen bitteren, verdammt heißen Schluck und verstand, was er meinte. Allerdings war dieser Kaffee genau das Richtige, um einen klaren Kopf zu bekommen. »Es ist gut so. Danke schön.« Verdammt, das hatte sie ja schon gesagt.
Er ging zurück zum Schreibtisch, und als sie den zweiten Schluck trank, beobachtete sie ihn verstohlen über den Becherrand hinweg. Sein schlanker, aber kräftiger Oberkörper war von einem schwarzen, langärmeligen Hemd verhüllt, während eine teure dunkle Jeans auf seinen Hüften saß und einen Hintern betonte, an den sich jede Frau, die noch klar bei Verstand war, nur zu gern in leidenschaftlichen Momenten klammern würde …
Sie musste diesen Traum jetzt wirklich vergessen, denn ihr Verstand lag immer noch in der Gosse, und das Höschen unter ihrem Rock war unangenehm feucht.
»Es tut mir leid«, platzte sie heraus, als sie wieder klarer im Kopf war, weil das Koffein sich in ihrem Blutkreislauf ausbreitete. Sie saß hier morgens um – sie blickte auf die Uhr an der Wand – 8.15 Uhr mit ihrem Boss, nachdem sie die ganze Nacht auf seiner Couch geschlafen und feuchte Träume von ihm gehabt hatte. Und sein Blick ruhte auf ihr, diese dunklen Augen, die einem die Seele rauben konnte, wenn man nicht gut genug darauf aufpasste. Wie zwei tiefschwarze Kohlen glühten sie in seinem Gesicht, bei dessen Erschaffung die Engel geweint haben mussten: kräftig, mit markantem Kiefer, schön geschwungenen Augenbrauen und einer fein geschnittenen Nase. Aber obwohl er volle Lippen besaß, bildete sein Mund oft einen harten, grausamen Strich. Nur selten hatte sie diesen Mund lächeln sehen, und wenn er das tat, wirkte es eher bedrohlich als freundlich.
»Was denn?«, fragte er mit dieser sanften, tiefen Stimme, die sie fast vergessen ließ, wofür sie sich entschuldigen wollte.
»Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich …« Und plötzlich war alles wieder da. Der Abend zuvor. Benjamin. Hier. »Mein Bruder«, murmelte sie.
»Ihr Bruder?«, fragte er, gerade, als sie zu hoffen begann, dass er es nicht gehört hatte.
»Er war gestern Abend hier. Ihr Gegner.« Sie hob den Blick und sah ihm in die Augen. »Er ist spielsüchtig.«
Falls ihn das überraschte, zeigte Damien es nicht. Er trank einen Schluck aus seiner Tasse, die schon auf dem Tisch gestanden hatte, als sie aufgewacht war. »Das sind viele von ihnen.«
Sie auch?, dachte sie, traute sich aber natürlich nicht, ihn das zu fragen. »Wie ist er reingekommen? Hat er mich erwähnt?«
Damien zuckte mit den Achseln und verschob einige Papiere auf seinem Schreibtisch. »Natürlich werden die Gäste vorher kontrolliert, aber das erledigen andere.«
Stacia? Nun, Emma würde sie ganz bestimmt nicht danach fragen. Überhaupt … ob sie wohl gerade jetzt da draußen war? Scheiße. Das fehlte ihr gerade noch, dass sie die Gerüchteküche am Arbeitsplatz zum Kochen brachte. Sie wollte nur ihren Job machen und dann nach Hause gehen. Apropos Arbeit …
Ihr Laptop lag auf dem Boden neben der Couch. Sie beugte sich vor, um den Kaffee auf den Tisch zu stellen, und griff nach dem Computer. »Ich bin gestern Abend hergekommen, um Ihnen etwas zu zeigen. Ich glaube, es ist wichtig. Tut mir leid, dass es warten musste, weil ich eingeschlafen bin. Sie sollten es eigentlich schon gestern Abend erfahren.«
Damien blickte sie an und wartete, dass sie fortfuhr. Er war ein Meister darin, sein Schweigen die Fragen für ihn stellen zu lassen, und Emma hasste das. Sie holte tief Luft und klappte den Laptop auf. »Mir ist aufgefallen, dass einer der Barkeeper immer weniger Umsatz macht, und deshalb habe ich die Alkoholvorräte überprüft und …«
»Aaron.«
Mit gerunzelter Stirn blickte sie ihn an, während der Computer noch hochfuhr. »Sie wissen das schon?«
»Hier passiert nur wenig, von dem ich nichts weiß.«
»Aber … warum haben Sie das zugelassen?«
»Darum kümmert sich schon jemand.«
Was sollte das heißen? Nein, sie wollte es gar nicht wissen. Sie schloss den Laptop wieder und wartete auf das Gefühl der Erleichterung, weil ihr dieses Gewicht von den Schultern genommen worden war, aber es blieb aus. »Ich habe Tage damit verbracht, das herauszufinden, und Sie wussten es schon?«
»Tut mir leid.« Er klang nicht so, als würde er irgendetwas bedauern. »Aber ich weiß Ihren Einsatz zu schätzen, falls das ein Trost für Sie ist.«
Wie wär’s dann mit einer Gehaltserhöhung? Nein, das konnte warten, obwohl er sie ihr vermutlich geben würde. Eines stand außer Frage: Ihr Chef war großzügig.
Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar – ihr Spiegelbild auf dem dunklen Computerbildschirm war ein Albtraum gewesen –, stellte den Laptop beiseite und kam langsam auf die Füße. »Gut. Dann … mache ich mich mal wieder an die Arbeit.« In denselben Klamotten, die ich gestern schon getragen habe. Super.
»Sie können nach Hause gehen. Nehmen Sie sich den Tag frei, wenn Sie wollen. Schließlich waren Sie die ganze Nacht hier.«
Es war ihm wahrscheinlich egal, wann sie da war und wann nicht, solange sie ihre Arbeit zu seiner Zufriedenheit erledigte. Sie war für die Stundenzettel und die Lohnabrechnungen zuständig, alles, was sie von ihm brauchte, war hin und wieder eine Unterschrift.
»Vielen Dank. Vielleicht mache ich das«, sagte sie. Aber auch dieser Themenwechsel lenkte sie nicht davon ab, dass sie ihren Bruder gestern Abend hier gesehen hatte. Der Schmerz und die Verwirrung, die sie deswegen empfand, lagen ihr wie ein schweres Gewicht auf der Brust. Sie konnte kaum atmen.
Sie leckte sich über die Lippen und blickte den Mann an, der ihre Welt mit einer einzigen Zahl zerstören konnte. Er erwiderte den Blick nicht, sondern tippte schnell und effizient mit dem Daumen auf dem Display seines iPhones herum.
»Darf ich Sie was fragen?«
»Natürlich.« Was nicht heißt, dass ich auch antworte, lautete die unausgesprochene Ergänzung.
»Mein Bruder … ich muss wissen, wie hoch der Schaden für ihn ist.«
Damien lächelte, dann steckte er das iPhone in die Hosentasche, faltete die Hände auf der Schreibtischplatte und widmete ihr seine volle Aufmerksamkeit. »Warum?«
»Ich muss es einfach wissen. Bitte, sagen Sie es mir.«
»Okay. Dreißig Riesen.«
Die Zahl war wie ein Schlag in den Magen, und Emma unterdrückte ein Schluchzen, als der Raum sich um sie zu drehen begann und das Licht sich verdunkelte. Sie schlug die Hand vor den Mund. Sie wollte schreien, wollte weinen, und sie wollte zurück unter die Decke kriechen und nie wieder darunter hervorkommen. Der einzige Fixpunkt in ihrer instabilen Welt war Damien, der sie ungerührt anblickte.
Oh Benjamin, warum nur? Oh mein Gott, wo bist du da nur hineingeraten?
»Ich nehme an, dass ist nicht das Resultat einer einzigen Nacht?«, fragte Emma und war stolz, weil ihre Stimme halbwegs ausgeglichen klang.
»Nein, ist es nicht.«
Sie sollte jetzt lieber gehen und das Thema ruhen lassen, aber sie konnte den Mund nicht halten. Die Liebe zu ihren Eltern trieb sie dazu, ihre Meinung zu sagen und sich für ihr Wohl einzusetzen. Gerüchteweise hatte dieser Mann einer seiner Kellnerinnen einen Scheck über zwanzigtausend Dollar ausgestellt, damit sie und ihre Kinder sich vor einem gewalttätigen Ehemann in Sicherheit bringen konnten. Er hatte dafür gesorgt, dass das Kind eines seiner Barkeeper durchs College kam, und Emma nahm an, dass es da noch andere Dinge gab, von denen sie nichts wusste.
»Diese Summe …«, setzte sie an, »… für meine Familie ist das extrem viel. Könnten Sie ihm … diese Schulden erlassen? Als Gefallen für mich?«
»Er schuldet mir nichts, Emma. Das Geld gehört mir bereits. Er muss sich jetzt Sorgen um die Kredithaie machen.«
Nun, wenigstens hatte ihr Boss nichts mit dieser ausbeuterischen Branche zu tun. »Ja, ich weiß, aber Sie müssen es ja nicht behalten. Bei allem Respekt, für Sie ist das doch nur ein Trinkgeld. Ich könnte herausfinden, wem er das Geld schuldet und …«
»Ich bin kein Wohltätigkeitsverein.«
Möglicherweise stimmten die Gerüchte ja nicht. Oder er log jetzt, in diesem Moment. Wie auch immer, die Wut, die sich jetzt in ihren Schmerz mischte, ließ sie jede Vorsicht vergessen. »Wie wäre es dann damit, anständig zu sein? Vielleicht sind Sie das ja – ein anständiger Mensch?«
Zum ersten Mal schien er sich tatsächlich für dieses Gespräch zu interessieren. Sie wertete das als kleinen Sieg. »Glauben Sie etwa, ich bin mit Anstand so weit gekommen?«
»Nein. Ihr Erfolg beruht auf Glück.«
»Ich beherrsche die Strategie, darum bin ich erfolgreich. Ihr Bruder hat sich aus freien Stücken an diesen Spieltisch gesetzt. Das ist nicht mein Problem, sondern seins.«
»Sie verstehen das nicht. Seinetwegen sind meine Eltern bereits ruiniert.«
»Und das ist wiederum ihr Problem.«
Emma konnte kaum glauben, dass sie so mit ihrem Boss sprach, aber verdammt noch mal … Sie hatte nicht gewusst, dass er so unausstehlich sein konnte. »Haben Sie keine Eltern? Würden die nicht alles für Sie opfern?«
»Nein.« Das Wort kam heraus wie ein Peitschenhieb, kalt und präzise. Sie zuckte zusammen und wünschte sich, sie könnte die unbedachten Worte zurücknehmen. Sie hätte das niemals gesagt, wenn sie gewusst hätte … Aber der niedergeschmetterte Ausdruck, der in seinen dunklen Augen aufgeblitzt war, verschwand so schnell, wie er gekommen war. »Nein«, wiederholte er mit zurückgewonnener Fassung, »aber ich habe Brüder, für die ich alles tun würde.«
Emma holte erneut Luft und verbuchte auch das als kleinen Sieg. »Dann wissen Sie ja, wie ich mich fühle.«
»Ich glaube nicht. Meine Brüder würden mich niemals in so eine Lage bringen. Aber ich verstehe die Zuneigung, die Sie offenbar empfinden.«
Sie fragte sich, ob das nur leere Worte waren oder ob Damien sich tatsächlich auch einmal um jemand anders als sich selbst gekümmert hatte. Er hatte kurz angebunden geklungen. Niemand, der jemals etwas von Herzen geliebt hatte, konnte dieser Tatsache gegenüber so gleichgültig sein.
»Das glaube ich nicht«, sagte sie herausfordernd, was ihr einen weiteren scharfen Blick einbrachte.
»Ich bin der Überzeugung«, begann er, »dass Zuneigung keine unerschöpfliche Quelle ist. Es gibt Grenzen für das, was ein Mensch für einen anderen zu tun bereit ist, sogar für jemanden, den er liebt.«
»Wie können Sie das sagen? Es gibt Menschen, die sterben für andere. Menschen geben ihr Leben sogar für völlig Fremde.«
»Sterben ist leicht.«
Herr im Himmel. »Ach ja? Sind Sie in letzter Zeit öfter mal für jemanden gestorben?« Er lachte leise und musterte sie genau. Sie hatte das deutliche Gefühl, dass er sie auslachte. Er provozierte sie, nur um zu testen, wie sie reagierte. »Sie genießen das hier, stimmt’s?«
»Sehr sogar.«
»Gerade haben Sie gesagt, dass Sie für Ihre Brüder alles tun würden.«
»Ja, Emma, aber nicht für Ihren Bruder.«
»Darum geht es doch gar nicht.«
»Doch, genau darum geht es, fürchte ich. Sie haben gefragt. Meine Antwort lautet Nein.«
Und alles an seiner Haltung sagte ihr, dass sich an dieser Antwort nichts ändern würde, egal, wie sehr sie bettelte und flehte, egal, was sie ihm anbot. Es gab nur noch eine Karte, die sie ausspielen konnte. Sie reckte das Kinn und sagte: »Dann … dann kann ich nicht mehr guten Gewissens für Sie arbeiten.«
Endlich wurde sein Gesichtsausdruck sanfter. »Emma.«
Sie ignorierte, dass ihr ein Schauer über den Rücken lief wegen der Art, wie er ihren Namen sagte: sanft, beinahe ehrfürchtig. »Es tut mir leid. Oder nein … Wissen Sie was? Es tut mir nicht leid, ehrlich gesagt. Ich kann hier nicht mehr arbeiten. Nicht für … für jemanden wie Sie.«
»Gehen Sie nach Hause«, sagte er und stand hinter dem Schreibtisch auf. »Nehmen Sie sich den Tag frei, schlafen Sie sich aus, und heute Abend gehen wir zusammen essen. Dann können wir darüber reden.«
»Über meine Kündigung? Oder über meinen Bruder?«
»Über Ihre Kündigung.«
»Da gibt es nichts zu reden.« Emma machte auf dem Absatz kehrt und steuerte auf die Tür zu.
»Er kommt heute Abend wieder, wissen Sie.«
Wie erstarrt blieb sie stehen und drehte sich wieder zu ihm um. »Was?«
Damien beugte sich leicht über den Schreibtisch und stützte die Fingerspitzen darauf ab. Im Morgenlicht, das durch die Fenster hinter ihm hereinfiel, sah er aus wie ein düsterer Racheengel. Allerdings glich er in Wahrheit mehr dem Teufel. »Er hat gesagt, er kommt heute Abend wieder.«
»Dann lassen Sie ihn nicht herein.«
Er zog einen sündhaft verführerischen Mundwinkel nach oben. »Wollen Sie ihm nicht die Chance geben, etwas von dem Schaden wiedergutzumachen?«
»Nein. Er wird nur noch mehr Schaden anrichten, und das wissen Sie genau. Aus den dreißigtausend wird er sechzigtausend machen.«
»Oder mehr.«
Wenn er nicht gleich aufhörte, würde sie eins der Aktgemälde von der Wand reißen und ihm seine bescheuerte Kunst mitsamt Rahmen über den Schädel hauen. »Für Sie ist das alles nur ein Spiel, oder? Aber hier geht es um unser Leben. Hören Sie auf, mit dem Leben anderer Menschen zu spielen.«
»Menschen spielen auf ihre eigene Verantwortung, Emma.«
»Aha. Und Sie stellen Ihnen nur das Spielfeld, nehme ich an.«
Er musterte sie wortlos. Eine störrische schwarze Haarlocke lag so nah an seinem linken Auge, dass es sie in den Fingern juckte, sie ihm aus dem Gesicht zu streichen – wenn sie ihn in diesem Augenblick nicht so abgrundtief gehasst hätte. Emma fühlte, wie ihr Blut unter seinem abwägenden Blick zu kochen begann. Sie hätte gern behauptet, dass es nur an ihrer Wut lag. Was dachte er gerade? Sein Gesichtsausdruck war so hart wie aus Stein gemeißelt, und das war äußerst irritierend.
»Ich will dabei sein«, sagte sie.
Damien richtete sich auf und legte den Kopf schief. »Wie bitte?«
»Wenn er wirklich noch einmal herkommt, will ich, dass er mir in die Augen sieht.«
»Er befindet sich hier in der Höhle des Löwen. Es macht keinen Unterschied, ob Sie ihm zusehen oder nicht.«
»Wenn das wahr ist, dann will ich es wissen. Ich will meinen Eltern sagen können, dass er mir direkt ins Gesicht gesehen hat, während er sie wieder mal betrogen hat. Diesmal sollen sie keinen einzigen Cent für ihn bezahlen.« Frustriert stellte sie fest, dass ihr die Tränen kamen. Sie wollte vor ihm auf keinen Fall weinen und verzweifelt wirken, obwohl sie das vermutlich ohnehin schon prima hingekriegt hatte. »Sie haben keine Ahnung, wie es sich anfühlt, zusehen zu müssen, wie sich Ihr Dad langsam zu Tode arbeitet, während ihre zuckerkranke Mutter weint, weil sie sich ihre Medikamente kaum leisten kann. Wenn mein Bruder sie um Geld bittet, suchen sie unter den Sofakissen nach Kleingeld, um ihm helfen zu können. Wenn er sich an mich wendet, gebe ich ihm Geld, damit er nicht zu unseren Eltern geht. Mit der Folge, dass ich sie dann nicht mehr unterstützen kann.« Sie holte tief Luft und hoffte, dass ihre Tränen jetzt, da sie ihren Grund ausgesprochen hatte, verschwinden würden. »Aber ich verstehe, dass das nicht Ihr Problem ist.«
»Schätzen Sie sich glücklich, dass Sie Menschen wie Ihre Eltern in Ihrem Leben haben«, sagte er, nicht unfreundlich, aber ohne viel Wärme in der Stimme. Sie wusste nicht genau, welche Reaktion sie auf ihre Ansprache erwartet hatte, aber ein bisschen mehr als das war es schon gewesen.
Es war ihm egal. Nichts war ihm wichtig, außer ihren Bruder auszunehmen, wenn er Gelegenheit dazu bekam. Und ja, die würde er bekommen.
Emma glättete ihren Rock und leckte sich über die Lippen. Dann wischte sie die feuchten Spuren unter ihren Augen weg, schob eine Haarsträhne über ihre Schulter zurück und sorgte dafür, dass ihre Stimme fest klang, als sie fortfuhr: »Ich nehme also an, dass mein Bruder und ich Sie heute Abend sehen werden.«
»Und wenn er genau das tut, was Sie befürchten? Es muss doch eine Grenze geben, wie viel Sie ertragen können.«
»Mag sein. Aber wo immer die ist, ich habe sie noch nicht erreicht. Ich bin nicht so zynisch wie Sie. Und ich hoffe, so werde ich auch nie sein.«
»Ob Sie’s glauben oder nicht, das hoffe ich auch. Ehrlich.«
Jetzt war sie verwirrt. Hatte er ihr gerade etwa einen Blick auf den Schmerz erlaubt, den er in seinem Innern mit sich herumtrug? Verdammt noch mal, jemand, der so abgebrüht war wie er, musste einfach schreckliche Erlebnisse hinter sich haben! Menschen kamen doch nicht einfach so auf die Welt, oder? Sie musste einfach daran glauben, gleichzeitig machte es sie traurig, wenn sie darüber nachdachte, wie aufgewühlt und verletzt jemand im Inneren sein musste, um so … hart zu sein.
»Oh, und wegen Ihrer Kündigung«, sagte er, riss sie damit aus ihren Gedanken und lenkte ihre Aufmerksamkeit erneut auf die beeindruckende Figur, die er hinter dem großen Schreibtisch abgab. »Ich akzeptiere sie nicht. Noch nicht. Denken Sie darüber nach.«
»Vielleicht war ich etwas … voreilig«, gab sie zu. »Ich werde Ihnen Bescheid geben.«
»Vielen Dank«, sagte er und musterte sie mit finsterem Blick.
»Ähm … Wäre das dann alles?«
»Wenn Sie nichts mehr haben.«
»Nein, habe ich nicht.«
Damien griff wieder zu seinem Handy. »Dann sehen wir uns heute Abend.«
Emma hatte die Tür schon fast erreicht, da fiel ihr seine neugierige Assistentin ein, und sie drehte sich mit gequältem Blick zu ihm um. »Ist Stacia schon da?«
»Ich schicke sie nach unten.«
»Danke.« Sie wartete, während er draußen war. Es gehörte zu den peinlichsten Momenten ihres Lebens, darauf zu warten, dass Stacia ihren Schreibtisch verließ, damit sie selbst sich ungesehen hinausschleichen konnte. Erst als sie ihren Hintern die Treppe hinunter und durch den Hinterausgang auf die Straße gerettet hatte, konnte sie wieder frei atmen.
Er hat mich zum Essen eingeladen. Das war ihr nicht entgangen. Wie auch? Ein Geschäftsessen, natürlich, aber schon bei dem Gedanken, ihm und dem prüfenden Blick seiner Röntgenaugen in einem Restaurant ohne Fluchtmöglichkeit gegenüberzusitzen, drehte sich ihr der Magen um. Gut, dass sie die Einladung ignoriert hatte. Das konnte nur in einer Katastrophe enden, davon war sie überzeugt.