Die Tomaten waren noch nicht ganz in der Tüte verpackt, ich wollte sie gerade der Kundin überreichen, da erschrak ich zutiefst:
«Du?», fragte ich fassungslos und starrte die Frau an.
Ihre Augen, ich kannte sie gut. Sie waren so blau wie das Meer, ihre Augenbrauen waren ungezähmt. Einen dicken Wollschal hatte sie um ihren Kopf gebunden.
Auf den ersten Blick hätte ich Lena trotzdem gar nicht wiedererkannt.
Sie musste es wohl gespürt und geahnt haben, wer ich war, denn sie versuchte jetzt ganz schnell ihr Gesicht unter dem Wollschal zu verbergen. Ihr Blick wirkte gehetzt.
Sie drehte sich abrupt um und rannte geradewegs auf den Ausgang zu.
»Halt! Bleib stehen! Lena!«, rief ich ihr hinterher.
Zu spät. Sie war verschwunden.
Die Leute in der alten Turnhalle sahen mich zum Teil überrascht, zum Teil entsetzt an. Hatte die junge Frau etwa unsere Lebensmittel gestohlen und hatte ich sie deswegen aufhalten wollen?
Sowas kam bei uns gar nicht gut an. Alle, die uns an den Vormittagen in diesem kühlen, nasskalten Raum aufsuchten, benötigten dringend Hilfe. Die bekamen sie mit unseren Lebensmitteln, die die Helfer der Tafel von den Geschäften der Umgebung einsammelten und die wir an die Armen verteilten. Die Lebensmittel waren gut, viele ganz frisch, die meisten an der Grenze zum Ende des Haltbarkeitsdatums und trotzdem in den Läden nicht mehr verkäuflich.
Als Ehefrau eines gutverdienenden Rechtsanwalts und zwischendurch nur ein paar Mal im Monat als Sprechstundenhilfe eines HNO-Arztes beschäftigt, hatte ich mich als freiwillige Helferin bei der Tafel angemeldet, als unsere Zwillingstöchter in die erste Klasse kamen. Ich wollte etwas ehrenamtlich machen und der Gesellschaft, wie man so schön sagt, ein bisschen von dem zurückgeben, was sie mir und meiner Familie Gutes getan hatte.
Unsere Kunden waren fast nur Frauen zwischen zwanzig bis sechzig, viele brachten ihre Kinder oder Enkel mit, alle hatten große Tüten, Rucksäcke oder sogar kleine fahrbare Koffer dabei, in die sie die abgepackten oder losen Lebensmittel stopften. Manchmal rissen dabei die Milchtüten auf, fielen Joghurtbecher, Eier oder Saftflaschen auf den Boden, den wir dann sauber machten und wofür wir schnell Ersatz beschafften.