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Inhaltsverzeichnis

 

Abstract

Abbildungsverzeichnis

1 Einleitung

1.1 Untersuchungsgegenstand, Fragestellungen und Thesen

1.2 Quellenmaterial

1.3 Theorien und Methoden

1.4 Forschungsstand

1.5 Aufbau

2 Die „Polizei“? Konfigurationen von Polizei im frühen 19. Jahrhundert

2.1 Von der Policey zur Polizei

2.2 Polizeiliches Personal: Spektrum lokaler Ordnungskräfte

2.3 Fremd- und Selbstverständnisse von Polizeibediensteten

3 Polizeiliche Ermittlungen

3.1 Rekonstruktion der Tatabläufe: Zeugenvernehmung und Beweissicherung

3.2 Prozesse der Administration

3.3 „Profiling“ – Erstellung von Verbrecherprofilen

3.3.1 Kriminalwissenschaftliche Erfassung von Verbrechern

3.3.2 Spezifische Tätergruppen

3.3.3 Kriminelle Netzwerke: Organisationsform Räuberbande

3.4 Operative Maßnahmen

3.4.1 Fahndung mittels Steckbriefen

3.4.2 Patrouillen und Visitationen

4 Diskurse um (Un-) Sicherheit

4.1 Öffentlichkeit und Delinquenz

4.1.1 Destruktion der sozialen Ordnung: Straftatbestand Raubmord

4.1.2 Berichterstattung im Spannungsfeld von Aufklärung und Unterhaltung

4.2 Topos „Im Wald da sind die Räuber…“: Der Naturraum Wald als Unort

4.3 Abwesenheit von Polizei – Praktiken des Selbstschutzes

5 Fazit und Ausblick

Quellen- und Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Sekundärliteratur

Anhang

 

Abstract

 

In dieser Masterarbeit wird die Polizeiarbeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Beispiel der preußischen Stadt Mühlhausen (Thüringen) untersucht, um der Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen lokaler Ordnungsgewalt nachzugehen. Ziel der Arbeit ist es, herauszufinden, welche polizeilichen Ermittlungsstrategien zur Aufklärung von Kriminalfällen im Untersuchungszeitraum angewandt wurden, welche Personengruppen als „Verbrecher“ in Betracht kamen und wie der Diskurs um (Un-) Sicherheit gestaltet war.

 

Die Arbeit versteht sich als eine historisch-anthropologische Studie, die sich konzeptuell in der Kriminalitätsgeschichte verortet. Grundlage der Studie bilden zehn Polizeihandbücher aus dem Zeitraum von 1818 – 1837 sowie eine umfangreiche Akte über eine Mühlhäuser Räuberbande aus dem Jahr 1834, die mit Hilfe texthermeneutischer Verfahren interpretiert werden. Es wird gezeigt, dass im Untersuchungszeitraum verschiedene staatliche, kommunale sowie zivile Ordnungskräfte an der Polizeiarbeit beteiligt waren. Sie verwendeten ein Spektrum an Ermittlungsmethoden, um den Delinquenten habhaft zu werden. In das Visier der Ermittler gerieten bestimmte soziale Gruppen, wie die Vaganten, die als prädestiniert für kriminelle Handlungen galten und eine spezifische Tätergruppe darstellten. Ferner wird am Beispiel der Überfälle der Mühlhäuser Räuberbande Rekurs auf den Agitationsort Wald genommen. Tradierte Vorstellungswelten, realweltiche Erfahrungen sowie die mediale Berichterstattung evozierten Unsicherheit und generierten damit den sicherheitsempfindlichen Raum „Wald“.

 

Die Arbeit legt dar, dass die Polizeiarbeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Verbindung von hergebrachten Formen des Polizierens und dem progressiven Ausbau der Verwaltungsstrukturen charakterisiert war. Ferner wird anhand des Vergleichs zwischen den Polizeihandbüchern und den Berichten aus der Akte die Verwobenheit zwischen Theorie und Praxis in der polizeilichen Arbeit herausgestellt.

 

Abbildungsverzeichnis

 

Abb. 1: Gendarm zu Pferd, um 1825, Lüdtke, Festungspraxis 1982, S. 161

Abb. 2: Polizei-Kommissarius um 1830, ebenda

Abb. 3: N.N.: Tafel mit ausgewählten Zinken, URL: www.kryptografie.de (03.03.2018)

Abb. 4: Ausschnitt aus einer Liquidationstabelle, Acta Räuberbande 1834, fol.71r

1 Einleitung

 

1.1 Untersuchungsgegenstand, Fragestellungen und Thesen

 

Der Gendarm war kaum einige hundert Schritte wieder rückwärts durch den Wald gekehrt, als er schon das Hülfegeschrei der Unglücklichen vernahm, die er nun leider, selbst nach dem eiligsten Zurückkehren schon ermordet fand. Mit dem Mordmesser, welches dem armen Mädchen noch im Halse stack, entdeckte der Gendarm auf eine sehr kluge Weise den verruchten Mörder.[1]

 

Dieser Auszug aus einer regionalen Zeitung aus dem Jahr 1833 steht exemplarisch für die mediale Berichterstattung über Kriminalität[2] und Polizeiarbeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert, die die Frage nach der Praxis lokaler Ordnungsgewalt und den Diskurs um Sicherheit in diesem Zeitraum aufwirft. Welche gesellschaftliche Bedeutung nahm die Polizei in der Verbrechensbekämpfung und -prävention ein?[3] Wer waren ihre Akteure und welche Selbst- und Fremdzuschreibungen prägten deren Verständnis?

 

Ferner sind die polizeilichen Strategien der Ermittlung von Interesse: Welche polizeilichen Methoden wurden in der sozialen Praxis angewandt, um Verbrechen vorzubeugen beziehungsweise entgegenzuwirken? Es stellt sich die Frage, inwieweit dabei von der Ausprägung eines spezifischen „polizeilichen Blicks“[4] ausgegangen werden kann. Zudem ist zu untersuchen, wie eine Person zu einem „Verbrecher“ wurde.[5] Welche Rolle spielten dabei gesellschaftlichen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von Delinquenz und inwiefern wurden sie von den lokalen Ordnungskräften angeeignet, produziert oder modifiziert?

 

Des Weiteren ist es von Interesse, zu eruieren, welche Aussageformationen im Diskurs um Sicherheit zu Beginn des 19. Jahrhunderts dominierten. Wie wurde Delinquenz in der Öffentlichkeit wahrgenommen? Welchen Stellenwert nahmen kriminelle Organisationsformen, wie die Räuberbanden, im Diskurs ein? Ferner ist es interessant, auszuloten, welche Räume als sicherheitsempfindlich galten. Es bleibt außerdem zu erfragen, welche Möglichkeiten der präventiven und repressiven Abwendung von Gefahrenpotential bei Abwesenheit von Polizei vorliegen konnten.

 

Ziel der Masterarbeit ist es, multiperspektivisch zu untersuchen, was Polizei nach dem Ende des Alten Reiches bedeutete sowie welche Möglichkeiten und Grenzen die Vertreter der lokalen Ordnungsgewalt besaßen. Dabei ist von Relevanz, herauszufinden, welche Akteure an der Herstellung und Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung[6] beteiligt waren und welche Praktiken angewandt wurden, um Rechtsbrechern habhaft zu werden. Es ist festzustellen, wann eine Handlung als „kriminell“ eingestuft und wie eine Person zum „Verbrecher“ wurde beziehungsweise gemacht wurde. Ferner soll dargelegt werden, wie der Topos Kriminalität mittels der zeitgenössisch zur Verfügung stehenden Erkenntnissysteme erschlossen und diskursiv formierte wurde. Hierbei ist auf Erklärungsmuster und Motivkomplexe einzugehen, die in Polizeiakten und -handbüchern verwendet wurden, um Delinquenz fassbar zu machen.

 

Die Schwerpunktsetzung der Arbeit ergibt sich aus dem Interesse an dem gesellschaftlichen Umgang mit Kriminalität im deutschsprachigen Raum in der sogenannten „Sattelzeit“[7]. In dieser Zeit des Übergangs von der Vormoderne zur Moderne von circa 1750 bis 1850 fanden tiefgreifende politische und soziale Veränderungsprozesse statt, wie beispielsweise der Wandel von der ständischen hin zur bürgerlichen Gesellschaft. Die Polizeiarbeit rückt in den Fokus der Betrachtung, um zu untersuchen, wie Kriminalität im Alltag mittels der Etablierung von Sicherheitsinstitutionen vorgebeugt und bekämpft wurde oder werden sollte. Es wird sich exemplarisch auf die Polizeiarbeit in der thüringischen Stadt Mühlhausen[8] fokussiert, die der preußischen Provinz Sachsen und dem Regierungsbezirk Erfurt zugeordnet war. Nach der Vereinnahmung durch Preußen im Jahr 1815[9] wurde die Polizeiverwaltung Mühlhausens nach preußischem Vorbild strukturiert und neue administrative Vorgaben in den behördlichen Alltag integriert. Es bleibt zu fragen, wie innerhalb der Stadt Mühlhausen polizeiliche Ermittlungen von Statten gingen, welche Akteure in der Bearbeitung von Kriminalfällen involviert waren und welchen Grad an Professionalisierung die lokalen Ordnungskräfte aufwiesen.

 

Übergeordnet lassen sich die Thesen aufstellen, (1.) dass die Polizeiarbeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Beteiligung staatlicher, kommunaler wie auch ziviler Ordnungskräfte gekennzeichnet war, die durch gemeinsame Techniken der Ermittlung von delinquenten Personen ein polizeiliches Netzwerk etablierten und einen Bestandteil der Sicherheitsarchitektur[10] bildeten. Aufgrund von Aushandlungsprozessen verschiedener Akteure, die unterschiedliche Handlungs­spielräume besaßen und ihre eigenen Positionen im sozialen Gefüge immer wieder neu bestätigen mussten, wurde performativ (Un-) Sicherheit[11] generiert.

 

(2.) Die polizeiliche Ermittlung von Delinquenten war durch „Social Profiling“ charakterisiert, womit die Erstellung eines sozialen Profils bezeichnet werden soll, bei der am Rande der Gesellschaft stehende Personen als genuine „Verbrechertypen“ in den Fokus rückten. Die Einteilung in spezifische Tätergruppen rekurrierte auf gesellschaftlichen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern, den wissenschaftlichen Erkenntnissen der sich etablierenden kriminologischen Forschungen sowie auf den alltäglichen Erfahrungshorizonten der Polizeipraktiker.

 

(3.) Der Diskurs um Sicherheit war zu Beginn des 19. Jahrhunderts von dem Narrativ der potentiellen Bedrohung durch „Vaganten“ und „Räuber“ sowie dem Schutz der bürgerlichen Gesellschaft vor diesen als sozial deviant eingestuften Personengruppen geprägt. Die Präsenz der polizeilichen Ordnungskräfte im öffentlichen Raum sollte einerseits dazu führen, die Angst der Bevölkerung vor Delinquenz zu reduzieren; andererseits generierte ihre Anwesenheit in einem reziproken Verhältnis Vorstellungswelten von Unsicherheit.

 

1.2 Quellenmaterial

 

Zur Untersuchung der aufgeworfenen Fragestellungen und Thesen beschränkt sich diese Arbeit auf ausgewählte Quellenmaterialien.[12] Im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen zehn Polizeihandbücher, die im Zeitraum von 1818 bis 1837 publiziert wurden[13], sowie eine umfangreich Polizeiakte aus dem Stadtarchiv Mühlhausen über Angriffe einer Räuberbande aus dem Jahr 1834[14]. Die vorliegenden Materialien wurden ausgewählt, um anhand von zeitgenössischen Auseinandersetzungen mit dem Topos Delinquenz die Praktiken lokaler Ordnungsgewalt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts exemplarisch untersuchen zu können. Die Auswahl der Polizeihandbücher sowie der Polizeiakte gewährt es, mehrere perspektivische Zugänge zur Thematik zu erhalten. Es wird darauf gezielt, das Verhältnis von Norm und Praxis der Polizeiarbeit herauszuarbeiten. Die Polizeihandbücher können nach Lüdtke definiert werden als „jene Handbücher und Kompendien, die Beamte oder administrationskundige Juristen zum ,praktischen Gebrauch‘ ihrer Kollegen verfassten“[15]. Die Form des Polizeihandbuches gestattete es, die Ordnungskräfte über ,,Elemente der polizeilichen Handlungsorientierung im administrativen Alltag“[16] zu informieren. Die Druckschriften enthielten Anleitungen über die polizeiliche Vorgehensweise bei Vergehen oder Verbrechen. Zudem gab sie Hinweise, auf welche verdächtigen Personen besonders geachtet werden müsste. Die Veröffentlichungen der Handbücher deuten daraufhin, dass sie neben einem verwaltungsinternen Gebrauch auch für ein interessiertes Publikum bestimmt waren.

 

Ferner steht die Polizeiakte aus dem Jahr 1834 über eine Mühlhäuser Räuberbande und die durch sie verübten Überfälle, insbesondere der Raubmord an den Mühlhäuser Kaufmann Johann Heinrich Habbicht[17], im Mittelpunkt der Betrachtung. Die Akte wurde von der Mühlhäuser Polizeiverwaltung angelegt und enthält über 100 Seiten, die präzise über das Vorgehen der polizeilichen Ordnungskräfte in dem Kriminalfall Aufschluss geben. Sie besteht aus diversen handschriftlichen Berichten über die polizeilichen Ermittlungstätigkeiten sowie aus Korrespondenzen mit Behörden aus der Region um Mühlhausen. Eine Akte war für den verwaltungsinternen Gebrauch bestimmt und beinhaltete einzelne Dokumente zu einem Sachthema. Die Form der Akte ermöglichte es, die Beteiligten über das unmittelbare Geschehen zu informieren, Arbeitsprozesse nachvollziehbar zu machen und die Ermittlungsergebnisse für potentielle weitere Nachforschungen zu dokumentieren.

 

Die Arbeit rekurriert auf weitere Quellenmaterialien: Es werden Gesetztestexte, die im Untersuchungszeitraum einschlägig waren, hinsichtlich der Aufgaben und Befugnisse der polizeilichen Kräfte untersucht. Ferner geben regionale und überregionale Zeitungen Auskunft über die Straftaten der Mühlhäuser Räuberbande, die polizeilichen Ermittlungsmethoden und den zeitgenössischen Sicherheitsdiskurs. Die Quellen werden ergänzt durch Kartenmaterialien zum Mühlhäuser Kreis und zu den städtischen Waldungen bei Mühlhausen, um die Hauptagitationspunkte der Delinquenten wie auch der Polizei skizzieren zu können.

 

1.3 Theorien und Methoden

 

Die vorliegende Arbeit ist dezidiert unter dem Blickwinkel der Kriminalitätsgeschichte gestaltet. Seit den 1980er und verstärkt in den 1990er Jahren ist im deutschsprachigen Raum eine kulturgeschichtliche Orientierung der kriminalitätshistorischen Forschung zu verzeichnen.[18] Anders als in der quantitativ arbeitenden Sozialgeschichte und der auf normative Regelwerke fokussierten Rechtsgeschichte war diese Forschung akteurszentriert ausgerichtet.[19] Zunächst lag der Schwerpunkt kriminalitätshistorischer Studien in der Frühen Neuzeit. Gegenwärtig wird angestrebt, die theoretischen und methodischen Verbindungslinien zwischen frühneuzeitlicher sowie neuzeitlicher Forschung zu betonen und für weitere Studien nutzbar zu machen.[20]

 

Die Kriminalitätsgeschichte kann nach Habermas als ein „Laboratorium“[21] angesehen werden, indem Konzepte wie die Sozialdisziplinierung gemäß Oestreich[22], die Zivilisationstheorie nach Elias[23] oder der aus der Kriminologie stammende „Labeling Approach“[24] angeeignet und als heuristisches Instrumentarium weiter entwickelt werden können. Als aktuell sehr fruchtbar für kriminalitätshistorische Untersuchungen erscheint die Idee des „Doing Recht“ von Rebekka Habermas: Dieser Ansatz bezeichnet dynamische, konfliktträchtige Aushandlungsprozesse, bei denen diverse Akteure mit unterschiedlichen Machtverhältnissen auf verschiedenen Ebenen „Recht“ performativ generieren.[25] Auf die Thematik der vorliegenden Arbeit angewandt, kann Polizeiarbeit als ein Aushandlungsprozess von vielen Beteiligten, wie dem Exekutivpersonal, den politischen Obrigkeiten, den Delinquenten und den Stadtbürgern angesehen werden. Sie waren mit unterschiedlicher Macht ausgestattet, besaßen verschiedene Handlungsspielräume, trugen Konflikte aus und generierten performativ (Un-) Sicherheit.

 

Die vorliegende Arbeit verortet sich in der Kriminalitätsgeschichte und der Historischen Anthropologie. Für die Untersuchung der aufgeworfenen Fragestellungen und Thesen wird als heuristischer Schlüssel ein historisch-praxeologischer Ansatz[26] gewählt. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen symbolische Kommunikationen und soziale Praktiken mittels derer Menschen ihr gesellschaftliches Miteinander organisieren.[27] Soziale Praktiken können nach Füssel „als situierter Vollzug von Sprechakten und Handlungen im Zusammenspiel von Dingen und körperlichen Routinen von Akteuren“[28] definiert werden. Zudem sollen in dieser Arbeit soziale Praktiken und diskursive Formationen nicht scharf getrennt, sondern ihre Verwobenheit und Reziprozität akzentuiert werden.[29]

 

1.4 Forschungsstand

 

Die Forschung befasst sich unter kriminalitätsgeschichtlicher Perspektive eingehend mit der Thematik von Diskontinuitäten und Kontinuitäten im gesellschaftlichen Umgang mit Delinquenz in der „Sattelzeit“. Beispielsweise fand vom 14.09.2017 – 16.09.2017 das fünfte „Kolloquium für Kriminalität und Strafjustiz in der Neuzeit“ in München statt, welches unter anderem durch den Rechtshistoriker Karl Härter (Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte) initiiert wurde.[30] Zum Beispiel diskutierten die Teilnehmer historische Wandlungsprozesse des Verbrecherbildes vom 18. – 20. Jahrhundert. Dabei gingen sie unter anderem auf die soziale und ethnische Diversität gesellschaftlicher Randgruppen ein und zeigten auf, wie nach zeitgenössischem Empfinden „Andersheit“ zu kriminellen Handlungen prädestinierte. Ferner fand vom 03.07.2014 – 05.07.2014 das 25. „Internationale Kolloquium zur Polizeigeschichte“ in Münster statt.[31] Die Tagungsteilnehmer gingen mitunter der Frage nach, wie Polizei zu Beginn der Neuzeit „erzählt“ wurde. Die Beiträge fokussieren auf Selbstinszenierungen und Fremdwahrnehmungen von Polizei im Kontext von medialer Konstruktion, wissenschaftlicher Kontemplation und bürokratischem Anspruch.

 

Ein weites Spektrum an Publikationen beschäftigt sich ebenfalls mit der Problematik. Hierbei ist vor allem auf den Sammelband „Verbrechen im Blick. Perspektiven der neuzeitlichen Kriminalitätsgeschichte“[32], herausgegeben von Rebekka Habermas und Gerd Schwerhoff, aufmerksam zu machen. Aufsätze wie beispielsweise von der Herausgeberin über eine „Rechts- und Kriminalitätsgeschichte revisited – ein Plädoyer“[33] sowie von Achim Landwehr „Jenseits von Diskursen und Praktiken. Perspektiven kriminalitätshistorischer Forschung“[34] verweisen auf neue theo­retische und methodische Impulse sowie auf Verbindungslinien in der Erforschung frühneuzeitlicher und neuzeitlicher Kriminalitätskonzeptionen.

 

Die Monographie von Philipp Müller „Auf der Suche nach dem Täter. Die öffentliche Dramatisierung von Verbrechen im Berlin des Kaiserreichs“[35] beschäftigt sich mit der medialen Darstellung und öffentlichen Perzeption von kriminellen Handlungen in Berlin zu Zeiten des Kaiserreichs. Dabei wird der Fokus vor allem auf das relationale Gefüge zwischen verschiedenen Akteuren, wie der Polizei, den Medienvertretern, den Delinquenten und der Leserschaft, gelegt. Die Teilhabe der „Vielen“[36] in Form von Rezeption und Umsetzung der polizeilichen Fahndungsaufrufe liefert einen heuristischen Ansatz für diese Arbeit, um Mechanismen der Wahrnehmung und Deutung von Verbrechen in der Öffentlichkeit eruieren und nachvollziehen zu können.

 

Des Weiteren ist Peter Beckers Habilitationsschrift „Verderbnis und Entartung“[37] ins Blickfeld zu rücken. Becker zeichnet die Konstituierung des kriminellen „Anderen“ und die Distinktion von dem „Bösen“ durch die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts nach. Er legt den Fokus auf Veränderungsprozesse im kriminologischen Diskurs und geht dem Wandel der Erzählmuster vom „gefallen“ zum „verhinderten“ Menschen nach. Hierbei zeigt er Entwicklungsstränge von gesellschaftlichen Bildern der „Kriminellen“ auf, die sich von der moralisch-sittlichen Betrachtung hin zur biologistischen Untersuchung der Delinquenten wandelten.

 

Zudem ist auf Stefan Haas‘ Habilitation „Die Kultur der Verwaltung“[38] zu verweisen. Haas legt den Fokus auf die Etablierung einer neuen Art von behördlicher Verwaltungsstruktur und administrativen Kommunikationsprozessen auf der Grundlage der Preußischen Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Dabei zeigt er auf, dass die Implementierung der Neuerungen unter anderem durch sprachliche und symbolische Akte wie auch durch körperliche Praktiken vollzogen wurden. Für diese Arbeit kann die Hinzuziehung der Habilitation fruchtbar sein, um verwaltungs­technische Abläufe zu rekonstruieren und das Selbst- und Fremdverständnis von Polizeibediensteten nachzuzeichnen.

 

[39]

 

Diese ausgewählten Beispiele sowie weitere Publikationen, auf die im Verlauf der Arbeit näher eingegangen wird, zeigen skizzenhaft die Aktualität der Thematik in der deutschsprachigen Forschung auf. Viele Arbeiten, die sich mit der Polizeiarbeit in Preußen beschäftigen, untersuchen vor allem den Zeitraum der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts[40]. Forschungen zu den Ermittlungstechniken der polizeilichen Ordnungskräften von 1800 – 1850 werden darin lediglich rudimentär behandelt. Die vorliegende Untersuchung zielt darauf, dieses Desiderat mittels der lokalen Fallstudie ansatzweise zu schließen.

 

1.5 Aufbau

 

Im Verlauf der Arbeit sollen zuerst die verschiedenen Konfigurationen des Polizei-Begriffs erörtert werden (2.). Dabei wird auf Entwicklungslinien von der Idee der „guten Policey“ hin zu institutionalisierten Formen der Polizei Rekurs genommen (2.1) und gezeigt, welche Akteure die Polizeihoheit innehatten und wie das Personal der Polizei organisatorisch sowie sozial strukturiert war (2.2). Zudem rücken Prozesse der Selbst- und Fremdzuschreibung in die Betrachtung, die zu einem spezifischen Verständnis von Polizei respektive Polizeibediensteten führten (2.3).

 

Im Mittelpunkt der Arbeit stehen die polizeilichen Ermittlungsstrategien (3.). Zunächst sollen die ersten administrativen und sicherheitstaktischen Schritte der Polizeibediensteten nach Bekanntwerden eines Kriminalfalls dargelegt werden (3.1). Daraufhin richtet sich der Fokus auf Kommunikationstechniken in und zwischen den Sicherheitsbehörden[41] (3.2). Ferner wird die Konstituierung von „Verbrecherprofilen“ durch die Sicherheitskräfte untersucht (3.3). Dabei liegt das Augenmerk auf kriminologischen und kriminalistischen Diskursen und ihren Auswirkungen für die Praxis der Polizeiarbeit im frühen 19. Jahrhundert. Die Arbeit skizziert die zeitgenössischen Einteilungen in „Verbrechertypen“ und zeigt auf, welchen Distinktionsprozessen bestimmte Personengruppen unterworfen waren. Hierbei wird das „Social Profiling“ hinsichtlich spezifischer Tätergruppen beleuchtet. Ein weiterer Punkt nimmt die operativen Tätigkeiten in Form von Steckbriefen, Patrouillen und Visitationen in den Blick, um Auskunft über die Möglichkeiten und Grenzen polizeilichen Handelns zur Verfolgung von Straftätern zu erhalten (3.4).

 

Das letzte Kapitel bezieht sich auf den Diskurs um (Un-)Sicherheit sowie das Verhältnis von Öffentlichkeit und Delinquenz (4.1). Die Frage nach der Ahndung von Verstößen gegen die soziale Ordnung soll anhand des Straftatbestandes Raubmord analysiert werden. Ferner stellt die Arbeit heraus, welche Orte und Räume als sicherheitsempfindlich galten. Hierbei rückt der Wald als Agitationsraum der Räuber in den Fokus (4.2). Zuletzt werden verschiedene Praktiken des Selbstschutzes vor Kriminalität untersucht, um herauszufinden, wie Menschen mit (potentiellen) Gefahrensituationen und der Abwesenheit von Polizei umgingen (4.3). Das Fazit (5.) fasst die Ergebnisse bezüglich der Thesen zusammen und gibt einen Ausblick auf weiterführende Forschungsfragen.