Impressum
Texte: © 2016 Copyright by Roger Wisniewski und Michael Niehaus
Umschlag: © Copyright by Roger Wisniewski und Michael Niehaus
Verlag: Roger Wisniewski Troppauer Str. 19, 12205 Berlin roger.wisniewski@whp-training.de
Druck: Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-741-26484-9
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Als wir 2008 vom Cornelsen Verlag Skriptor gefragt wurden, ob wir uns vorstellen könnten, ein Buch über Philosophie und Wirtschaft und speziell zum Thema Ethik in der Wirtschaft zu schreiben, waren wir einerseits erfreut über das Interesse des Verlags, andererseits war uns klar, dass dies kein leichtes Unterfangen werden würde. Just in der Zeit begann nämlich eine weltweite Wirtschaftskrise, ausgelöst durch das Fehlverhalten von Banken, Ratingagenturen, Hedge Fonds und deren Mitarbeitern – nicht nur in den Vereinigten Staaten sondern auch in Europa.
Noch heute, 2016, leiden viele Menschen unter den Auswirkungen der damaligen Ereignisse. Viele haben nicht nur ihr angelegtes Geld verloren; niemand bekommt heute noch Zinsen für seine Ersparnisse, und das wird voraussichtlich noch viele Jahre so sein.
Einmal angenommen, der alte Sokrates würde uns heute einen Besuch abstatten. Was hätte er uns zu sagen, was würde er tun? Er würde uns – wie damals auf der Agora – in Gespräche verwickeln und uns nach den Gründen für unser Denken und Tun befragen. Sokrates würde uns aber nicht nur im Privaten aufsuchen, sondern er würde auch Führungskräfte von Unternehmen und Organisationen, genauso wie Politiker mit seinen Fragen nach guter Führung, nach der richtigen Strategie und der Verantwortung für ihr Handeln konfrontieren.
Philosophie und Wirtschaft miteinander ins Gespräch zu bringen, das ist die Ausgangsidee dieses Buches. Dabei geht es nicht um den moralischen Zeigefinger, der in Zeiten von Krisen und offensichtlichem Fehlverhalten einer ganzen Managerkaste allzu leicht erhoben wird. Es geht vielmehr darum, ein philosophisches Denken, ein sokratisches Philosophieren aufzuzeigen, das den Verantwortlichen Hilfestellung und Orientierung an die Hand geben und an dem jeder teilnehmen kann.
Philosophieren in der Tradition des Sokrates bedeutet, eigenes Handeln kritisch zu hinterfragen und sich Rechenschaft über sein Handeln zu geben. Mit der sokratischen Philosophie steht eine praktische und wirkungsvolle Form der Gesprächsführung zur Verfügung, die persönliche Entwicklung befördert und unternehmerische Prozesse nachhaltig unterstützt.
Das vorliegende Werk ist die 2. überarbeitete Auflage unseres Buches „Management by Sokrates“, das 2009 im Cornelsen Verlag Scriptor erschien, der heute beim Bibliographischen Institut angesiedelt ist. Nach dem kompletten Verkauf der ersten Auflage hatte der neue Verlag kein Interesse mehr an einer weiteren Auflage. Daher entschieden wir uns, den Inhalt zu überarbeiten und im Eigenverlag erneut zu publizieren. Dabei wurden die Teile des Buches, die einen konkreten Zeitbezug zur Wirtschaftskrise 2008 hatten, gestrichen.
Nach einer Einleitung werden im 2. Kapitel der Mensch und Typ des Sokrates sowie seine Denkweise und seine Art zu Philosophieren dargestellt. Im 3. Kapitel geht es um das Verständnis von „Philosophie als Lebensform“, nämlich um die Frage, was es heißt, ein gutes Leben zu führen; an Hand von Beispielen werden Gespräche aus der Philosophische Praxis dargestellt. Das 4. Kapitel führt ein in das sogenannte Sokratische Gespräch am Beispiel eines zweitägigen Dialogs mit der Ausgangsfrage: “Was ist ein gutes Unternehmen?“ Und im 5. Kapitel geht es um Ethik und Moral in der Wirtschaft und die Frage, ob es diese dort überhaupt geben kann. Diese Frage wird versucht, im 6. Kapitel zu beantworten; hier kommt Sokrates selber in einem fiktiven Gespräch mit einer Politikerin, einem Unternehmer und einem Banker zu Wort. Das abschließende Kapitel 7 beschäftigt sich mit dem Management von Wissen.
Jedes Kapitel kann auch, je nach zur Verfügung stehender Zeit und vorhandenem Interesse, für sich gelesen werden.
Berlin und Dortmund im Juli 2016
Roger Wisniewski schloss sein Studium als Diplom-Ingenieur ab und war als Technischer Leiter, Vertriebsleiter und Geschäftsführer im Mittelstand tätig. Anschließend war er 25 Jahre Mitinhaber einer Berliner Managementberatung und arbeitete dort als Trainer, Coach, Personalberater und Leiter Sokratischer Gespräche.
roger.wisniewski@whp-training.de
Michael Niehaus ist Philosoph und philosophischer Berater für Unternehmen, Organisationen und Privatpersonen. Studium der Philosophie, Sozialpsychologie und Germanistik, M.A., Mitarbeiter einer Forschungs- und Beratungseinrichtung des Bundes.
niehaus@pro-phil.de
Das Buch basiert auf der langjährigen philosophischen Arbeit in Form von Seminaren und Beratungsleistungen für Unternehmen, Organisationen und Einzelpersonen in der Gruppen- und Individualberatung. Unser Dank gilt diesen Kunden für die intensiven Reflexionsprozesse und das konstruktives Feedback.
Ein wesentlicher Bezugspunkt für die Weiterentwicklung von philosophischen Beratungs- und Trainingsansätzen ist der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen in der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis (IGPP) in deren Vorstand wir seit vielen Jahren tätig sind.
Die Website der Autoren:
www.management-by-sokrates.de
Michael Niehaus und Roger Wisniewski
Der Untertitel „Management by Sokrates“ knüpft an die allseits bekannten Konzepte des „Management by . . . “ an, etwa an das „Management by Objectives“, zu Deutsch „Führen mit Zielen“, ein in vielen deutschen Unternehmen seit Jahrzehnten erprobtes System, Mitarbeiter angemessen zu führen.
Doch was hat hier Sokrates zu suchen, der klassische Philosoph des griechischen Altertums?
Sokrates steht für die große Revolution des europäischen Denkens und gleichzeitig für die radikale Irritation und Infragestellung der bestehenden Verhältnisse in Unternehmen, ja, in der gesamten Gesellschaft – zu seiner Zeit, vor ca. 2400 Jahren in Athen wie auch in der Gegenwart.
Sokrates steht für die Idee des grundsätzlichen kritischen Fragens, das alle bisherigen gesellschaftlichen und unternehmerischen Konventionen unterwandern, das den Gesprächspartnern den Boden unter den Füßen entziehen kann, das uns auch heute noch den Spiegel vorhält und sagt: Im Grunde weißt du eigentlich gar nicht, was du da tust!
Wenn dem wirklich so ist, dass Sokrates der Stachel im Fleisch ist, die nervige Fliege, die unser bisheriges Tun und Handeln nur stört und uns verunsichert, was soll dann der Nutzen für die Führung von Unternehmen und deren Mitarbeiter sein? Während das „Führen mit Zielen“ ein allseits bewährtes Managementinstrument ist, was kann mir das „Management by Sokrates“ bieten?
Ziel des Buches ist es, das Potenzial des Philosophierens für die Unternehmens- und Mitarbeiterführung anschaulich und praxisnah zu machen. Anhand typischer Situationen des beruflichen Alltags wird beispielhaft gezeigt, welche grundsätzlichen Fragen aus Sicht der Philosophie hier aufgeworfen werden und welche Orientierung die Philosophie dem Manager von heute bieten kann.
Dem Leser kann somit deutlich werden, dass es für viele berufliche Problemstellungen alternative Lösungsmöglichkeiten gibt. Philosophische Praxis verändert in diesem Sinne die Perspektive und macht so auch neue Handlungsoptionen erkennbar.
Philosophie und Management – Wie passt das zusammen?
Die Philosophie wird in der Managementliteratur meistens auf den Bereich der (Wirtschafts-)Ethik beschränkt. Damit werden große Teile dessen, was philosophisches Handeln zu bieten hat, ausgeblendet.
Die philosophische Reflexion von Fragen der Unternehmensführung macht deutlich, dass es auf die grundsätzlichen Fragen von Strategie, Führung oder Innovation keine Lösungen von der Stange geben kann.
Das Buch zeigt, dass das vereinfachte Denken in „Tools und Rezepten“ mit standardisierten Checklisten nur zu kurzfristigem Aktionismus führt und den eigentlichen Herausforderungen an eine gute Unternehmensführung nicht gerecht wird.
An diese Erfahrung, die jede verantwortungsbewusste Führungsperson gemacht hat, wenn sie denn ihr eigenes Handeln hinterfragt, knüpft das Buch an und zeigt, welche Alternativen das Philosophieren bieten kann.
In diesem Sinne versucht dieses Buch Fragen zu stellen. Es will kein „Ratgeber“ mit vorschnellen Tipps sein, vielmehr fundierte Anregungen zum eigenen Nachdenken bieten. Vielleicht wird dabei das eigene Handeln und Denken radikal in Frage gestellt, vielleicht wird scheinbar Selbstverständliches fragwürdig, vielleicht gehen Sie morgen mit anderen, neuen Fragen in die Teambesprechung mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
Wenn die Lektüre Zweifel gesät und das kritische Hinterfragen der bisherigen Standpunkte und Ansichten begonnen hat, ist vieles erreicht. Denn dann beginnt ein Um-Denken, das Suchen, die Reise zu neuen und anderen Gegenden, die neue und andere Perspektiven auf das Bisherige ermöglichen.
Ausgangspunkt des Buches ist der individuelle Mensch, der sein Leben bewusst führt. Daran schließen sich einzelne Aspekte und Herausforderungen der täglichen Arbeit als Führungsperson an. Im Mittelpunkt stehen dabei die Frage nach der „Guten Führung“ und die Methode des sokratischen Gruppen- und Einzelgespräches.
Der Text wird immer wieder durch Info-Boxen mit weiterführenden Informationen erweitert. Reflexionsfragen regen den inneren Dialog des Lesers mit den aufgeworfenen Fragen an. Hierbei wird der sokratische Impuls des skeptischen Hinterfragens, des Nichtwissens und des Selbst-Denkens aufgegriffen. In jedem Kapitel finden sich Beispiele und Illustrationen aus dem Unternehmensalltag sowie Zusammenfassungen empirischer Studien, die das jeweilige Thema exemplarisch veranschaulichen sowie Hintergrundinformationen bieten.
Folgenden grundsätzliche Fragen in Bezug auf die Einsatzmöglichkeiten sokratischen Philosophierens sollten sich Führungskräfte und Mitarbeiter immer wieder stellen:
Einsatzmöglichkeiten sokratischen Philosophierens
Unternehmenskultur / -ethik
Philosophische Lebensführung
Mitarbeiter- und Unternehmensführung
Entscheiden und Handeln
Kommunikation
Konkurrenz und Kooperation
Wissensmanagement
Roger Wisniewski
Unser Wissen über Sokrates (* 469 v. u. Z. in Athen, + 399 v. u. Z. ebenfalls in Athen) verdanken wir im Wesentlichen fünf unterschiedlichen Quellen, wobei alle Informationen seine zweite Lebenshälfte betreffen, über die erste ist nichts bekannt:
Sokrates galt nicht als ein schöner Mann. Er war kein Adonis, eher waren seine Gestalt und sein Gesicht untypisch für griechische Männer: rundlicher Kopf mit einem der Zeit gemäßen Vollbart, einer breiten, flachen Nase und wulstigen Lippen. Seine gedrungene Gestalt zierte ein enormer Bauch, den er nach eigener Aussage durch Tanzen wieder loszuwerden suchte.
Übereinstimmend berichten Platon und Xenophon über die ihn charakterisierenden Verhaltensweisen. Jeden Tag, das ganze Jahr über, war er in ein einfaches und schäbiges Gewand gekleidet. Er bewegte sich am liebsten ohne Schuhwerk. Jede, modern gesprochen, Konsumlust schien ihm fremd gewesen zu sein. Auf dem Marktplatz von Athen, der Agora, auf dem sich Sokrates täglich aufhielt, wurde eine Fülle an Waren angeboten. Sein bezeichnender Kommentar über das Warenangebot lautete: „Wie zahlreich sind doch die Dinge, derer ich nicht bedarf.“ – Er fühlte sich reich in seiner einfachen Lebensweise.
Bei geselligen Zusammenkünften (Symposien) und den damit verbundenen Gelagen vertrug Sokrates mehr als alle anderen Mittrinker. So lässt Xenophon ihn in seinem fiktiven Gastmahl „Symposion“ sagen: „Also meine Herren, das Trinken scheint mir auch richtig. Denn der Wein begießt die Seelen. Dadurch schläfert er die Trauer ein wie ein Alraun die Menschen und weckt die Fröhlichkeit wie das Öl die Flamme. Allerdings scheint es mit den Gelagen der Männer genauso zu gehen wie mit den Pflanzen auf der Erde. Auch sie können sich nicht aufrecht halten und von den kühlen Lüften durchwehen lassen, wenn sie der Gott allzu reichlich begießt. Wenn sie aber nur so viel trinken, wie ihnen Freude macht, dann wachsen sie ganz gerade, gedeihen und kommen zum Fruchtansatz.“ (Erinnerungen an Sokrates, Reclam, 2002). Sokrates gab sich den Genüssen hin, gehörte zu den letzten Zechern, die sich auf den Heimweg machten, um am nächsten Morgen als erster wieder auf den Beinen zu sein.
Im Alter von 70 Jahren, nachdem er in einem Prozess in Athen zum Tode durch die Einnahme von Gift verurteilt wurde, verabreicht durch den sogenannten Schierlingsbecher, ging sein Leben auf unrühmliche Weise zu Ende. Der Vorwurf lautete, er verderbe die Jugend Athens und erkenne die Götter der Stadt nicht an. Seine Freunde und Schüler wollten ihn vor dem Schierlingsbecher retten, doch lehnte Sokrates dies ab, da er sich an die Gesetze, die Rechtsprechung und das über ihn ergangene Urteil gebunden fühlte. Er nahm das Gift, wie es Platon in seinem Dialog „Phaidon“ berichtet, völlig gefasst und in großer Gelassenheit zu sich.
Mit seiner Frau Xanthippe hatte er drei Söhne, die wohl zur Zeit des Prozesses noch kleinere Kinder waren und über die ansonsten wenig berichtet ist; Informationen über seine Frau sind ebenfalls spärlich. Sie galt manchen ihrer Zeitgenossen allerdings als eine zänkische und herrschsüchtige Dame und wird deshalb in allen Berichten eher negativ gezeichnet. Vieleicht auch deshalb, weil sie alles daran setzte, Sokrates vom Philosophieren abzuhalten: Es wird berichtet, sie habe ihm einen Eimer schmutzigen Wassers über den Kopf geschüttet, ein anderes Mal sei sie hinter ihm her gerannt, um ihm in aller Öffentlichkeit den Mantel vom Leib zu reißen. Alkibiades fand die keifende Xanthippe unausstehlich. Sokrates selber antwortete einmal auf die Frage, warum er mit Xanthippe zusammen lebe, so: „Ich legte mir eine Frau zu, weil ich gewiss war, wenn ich sie ertragen könnte, würde ich mich leicht in alle Menschen finden können.“ Auf die Frage eines Atheners, ob er heiraten solle oder nicht, antwortete Sokrates: „Was du auch tust, du wirst es bereuen.“
Es ist zu vermuten, dass er die Versorgung seiner Familie sowie seine ehelichen und väterlichen Pflichten vernachlässigte weshalb seine Frau oft ungehalten war. Er führte nach ihrer Meinung auf der Agora und anderswo unnütze Gespräche, statt sich um seine Familie zu kümmern und einen ordentlichen Beruf auszuüben.
Wer waren Sokrates Eltern, woher stammte er? Sein Vater Sophroniskos war Steinmetz und Bildhauer. Den väterlichen Beruf erlernte Sokrates ebenfalls und übte ihn wohl auch einige Jahre aus. Seine Mutter Phainarete war als Hebamme tätig. Dies ist insofern von Bedeutung, weil Sokrates seine Art der Gesprächsführung gewissermaßen als Geburtshilfe für Gedanken sah und deshalb als „Mäeutik“ (Hebammenkunst) bezeichnete. Er ging davon aus, dass die Wahrheit in jedem Menschen eingeboren ist und nur ans Licht gebracht werden muss.
Sokrates war, wie die Quellen berichten, ein Vorbild an Selbstbeherrschung, suchte ständig die Gemeinschaft mit anderen, lebte, dank einer kleinen Erbschaft seines Vaters, ohne arbeiten zu müssen, in bescheidenen Verhältnissen. Geschenke der Reichen lehnte er ab und musste sich deshalb auch nie bei ihnen bedanken oder sich vor ihnen verbeugen.
Als Fußsoldat hat er von 432 bis 429 v. u. Z. während des peloponnesischen Krieges zwischen Athen und Sparta (431 bis 404 v. u. Z.) an der Belagerung von Poteidaia im Norden Griechenlands, nahe Thessaloniki, teilgenommen, wo er seinem Schüler Alkibiades das Leben gerettet haben soll. Sokrates hatte, wie zur antiken Zeit in Griechenland üblich, Knaben als Schüler und Liebhaber, Alkibiades war einer davon.
Sokrates war ein begnadeter Lehrer. Karl Jaspers hat dies in seinem Hauptwerk „Die großen Philosophen“, 1957, so formuliert: „Was ihm Erziehung heißt, ist nicht ein beiläufiges Geschehen, das der Wissende am Unwissenden bewirkt, sondern das Element, in dem Menschen miteinander zu sich selbst kommen, indem ihnen das Wahre aufgeht. Die Jünglinge halfen ihm, wenn er ihnen helfen wollte. So geschah dieses: die Schwierigkeiten im scheinbar Selbstverständlichen entdecken, in Verwirrung bringen, zum Denken zwingen, das Suchen lehren, immer wieder fragen und der Antwort nicht ausweichen, getragen von dem Grundwissen, dass Wahrheit das ist, was Menschen verbindet.“ (Piper, 2007)
Ab 425 vor unserer Zeitrechnung ist belegt, dass Sokrates als Lehrer, im Gegensatz zu den Sophisten jedoch ohne Bezahlung, tätig war. Er unterrichtete vorwiegend die Jugend Athens, hat jedoch nicht einen Satz, geschweige denn eine Schrift oder ein Werk hinterlassen. Er lehnte es ab, sich schriftlich zu äußern, da er wohl der Meinung war, nichts sei vollkommen genug, um es schriftlich festzuhalten und dass Philosophieren nur im Dialog möglich sei.
Xenophon charakterisierte ihn nach seinem Tode in folgender Weise: „ . . . so fromm, dass er nichts ohne den Willen der Götter tat, so gerecht, dass er niemals jemandem schadete, sondern allen seinen Anhängern soviel nützte, so voll Selbstzucht, dass er niemals das Angenehme dem Guten vorzog, so einsichtig, dass er bei der Beurteilung des Guten und Schlechten niemals Fehler machte und nie eine andere Hilfe brauchte, sondern in der Erkenntnis dieser Dinge selbständig war. Er war auch fähig, alle diese Gedanken in einer Rede auszuführen und durch Begriffe zu erläutern, fähig aber auch, andere hierin zu prüfen, ihnen ihre Fehler nachzuweisen und sie zur Tugend und zum untadeligen Leben anzuleiten. So erschien er als der beste und glücklichste Mensch.“ (Erinnerungen an Sokrates, Reclam, 2002). Platon nannte ihn den trefflichsten, vernünftigsten und gerechtesten Menschen.
Es ist, 2400 Jahre später, nicht ganz einfach, sich in einen Menschen hineinzudenken, der selber keine Zeile hinterlassen hat. Und dennoch schält sich aus den wenigen Aufzeichnungen, die noch erhalten sind, das Bild eines Menschen heraus, eines Typs, der seinesgleichen sucht. Sokrates war, so schreibt Platon, ein besonderer Mensch, der sowohl enge Freunde und Schüler hatte, die ihn verehrten aber auch Gegner, die ihn hassten. Er übte auf seine Mitbürger eine große Anziehungskraft aus.
Um einen Eindruck zu erhalten und sich ein besseres Bild von Sokrates machen zu können, seien hier Überlieferungen aus Diogenes Laertius Buch 2 „Über Sokrates“ wiedergegeben, in dem er den “Typ” Sokrates auf subtilste Weise geschildert hat:
Eindrucksvoll hat Alkibiades, wie Platon in seinen Dialogen überliefert hat, das Wirken seines Lehrers Sokrates geschildert: „Denn höre jemand nur die Reden des Sokrates an, so werden sie ihm zuerst sehr lächerlich vorkommen; in solche Ausdrücke und Bezeichnungen hüllen sie sich äußerlich ein, wie in das Fell eines neckischen Satyrs. Denn von Lasteseln spricht er und von Schmieden und Schustern und Gerbern, und über denselben Gegenstand scheint er immer dasselbe zu wiederholen, sodass jeder Unkundige und Gedankenlose darüber lachen muss. Wenn man sie aber erschlossen sieht und in ihr Inneres hinein dringt, dann wird man zunächst finden, dass sie allein unter allen Reden einen wahrhaften Inhalt haben, bald aber auch, dass sie die göttlichsten von allen sind und die mannigfaltigsten Gestalten der Tugend gleich Götterbildern umfassen, und dass sie sich über das reichhaltigste Gebiet ausdehnen, ja alles in sich schließen, was dem zu bedenken ziemt, welcher ein geistig und sittlich durchgebildeter Mann werden will.“ (Platon, Sämtliche Werke, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2004)
Und noch einmal Alkibiades, den Platon als jungen Mann im „Symposion“ in ergreifender Weise über seine Gefühle zu Sokrates sagen lässt: „(…) wenn wir aber dich oder den Vortrag deiner Reden durch einen anderen hören, mag dann der Vortrag auch noch so schlecht sein, und mögen Mann, Weib und Knabe die Zuhörer sein, so fühlen wir uns hingerissen und gefesselt. Ich wenigstens, ihr Männer, wenn ich nicht fürchtete, ganz betrunken zu erscheinen, könnte es euch beschwören, was ich bei des Sokrates Reden empfunden habe und noch jetzt empfinde. Denn wenn ich ihn höre, dann pocht mir das Herz weit stärker, als wenn ich vom Korybantentaumel ergriffen wäre, und Tränen entströmen meinen Augen bei seinen Reden. Ich sehe aber, dass auch sehr vielen anderen dasselbe wiederfährt. (…) sodass mir das Leben unerträglich erschien, wenn ich so bliebe, wie ich bin.“ (Platon, Sämtliche Werke, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2004)
Sokrates hat nach Ciceros Worten „die Philosophie vom Himmel geholt“. Damit meinte er, Sokrates habe die Philosophie nutzbar für das Alltägliche gemacht. Während sich die ersten Philosophen, die sogenannten Vorsokratiker, als Naturphilosophen vor allem mit Fragen der Himmelskunde und dem Entstehen der Erde beschäftigt haben und damit gewissermaßen die Vorläufer der modernen Naturwissenschaft sind, hat sich Sokrates, in der Nachfolge der frühen Sophistik dem einzelnen Menschen und seinen Sorgen und Nöten zugewandt.
Sokrates unternahm mit seinen Gesprächspartnern und Schülern den Versuch, vom Meinen, Glauben und Vermuten zum Wissen und damit zur Wahrheit zu gelangen. Und das in einer Zeit, in der die Menschen im Wesentlichen von den Erzählungen Homers und den Helden in dessen Werken „Ilias“ und „ Odyssee“ sowie von den Mythen der griechischen Götterwelt beeinflusst waren.
Der griechische Götterhimmel
Es gab bei den Griechen verschiedene Göttergeschlechter, die Götter der Stadt, unterschiedliche Hausgötter und eine Reihe von Halbgöttern, Titanen etc.
Dem Mythos zufolge waren die ersten Götter aus dem Chaos erwachsen. Die Erdgöttin Gaia, deren Heiligtum als erstes Orakel in Delphi stand und heute noch in Form eines Felsens vor den Überresten des dortigen Apollontempels betrachtet werden kann, hatte den Himmel, das Meer und die Berge erzeugt; es gab eine Unterwelt, den Hades, als das Reich der Toten und über allem thronte Zeus auf dem Olymp. Dies alles glaubten die Griechen und versuchten darüber hinaus die Welt – und hier insbesondere die Natur – besser zu verstehen.
Die Grundlage der Erkenntnis ist nach Sokrates die Vernunft, sie gibt einen Bezugsrahmen und eine Systematik für Wissen und ist die Fähigkeit des menschlichen Geistes, universelle Zusammenhänge und ihre Bedeutung in der Welt zu erkennen und danach zu handeln. Die Vernunft ist das oberste Erkenntnisvermögen, das den Verstand kontrolliert. In Platons „Kriton“ äußert Sokrates als Maxime seiner Lebensweise: „Nicht nur jetzt, sondern immer schon bin ich so beschaffen, dass ich keiner anderen Regung folge als der Überzeugung, die sich mir beim Überlegen als die Beste herausstellt.“
Ohne Vernunft kein Logos! Der Logos bezieht sich auf alle durch Sprache dargestellten Äußerungen der Vernunft. Die Wissenschaft der Logik leitet sich vom Logos ab. Für die Stoiker, eine im Anschluss an Sokrates von Zenon gegründete Philosophenschule, war der Logos das Vernunftprinzip des Weltalls, das über den Göttern schwebte.
So gewendet hat Sokrates nicht nur die Philosophie vom Himmel geholt, sondern in seinen Gesprächen die im Mythos verhafteten Lebensweisen, Sitten und Wertevorstellungen mittels Logik und Vernunft überprüft, um zu neuen Erkenntnissen und Einsichten und somit zu neuem Wissen auch über das sittlich Gute zu gelangen.
Wissen als Endresultat ist jedoch bedeutungslos, wenn dahinter nicht die Wahrheit aufscheint. Eine Ansammlung von Fakten ist bedeutungslos, entscheidend ist ihm die ethische Grundhaltung.
Das Gute und die „Arete“
Das griechische Wort „Arete" steht für Tüchtigkeit und Tauglichkeit. Sokrates hat es im ethischen Sinne als den Begriff für Tugend oder dafür, was ein „gutes Leben" wirklich ausmacht, verwendet. Es steht für die höchste Qualität im Sinne von Vortrefflichkeit und Vollkommenheit, die in der Schönheit der Seele liegt: Als Einheit des Schönen, Wahren und Guten. Eigenschaften der Arete sind die Gerechtigkeit, Tapferkeit, Weisheit und Besonnenheit.
Die heute noch unterhalb der Akropolis zu besichtigenden Überreste der Agora, dem Marktplatz des antiken Athen, auf dem sich die wichtigsten Gebäude der Polis befanden, neben dem Rathaus (wie wir heute sagen würden), das Gerichtsgebäude, das Gefängnis, die Werkstätten und Tempel, die Säulenhalle, auch Stoa genannt, Turnschulen und Geschäfte, lassen erahnen, welche Bedeutung dieses Zentrum für die damalige Zeit gehabt haben mag. Gewöhnlich fanden sich hier die Männer bereits am Vormittag ein, um ihren Geschäften nachzugehen, sich zu offiziellen Anlässen zu versammeln, um Freunde und Bekannte zu sehen und mit ihnen die aktuellen politischen Fragen zu diskutieren.
Dort war auch Sokrates Wirkungsstätte, hier hatte er seinen Platz. Er war fast täglich auf der Agora, um mit seinen Mitbürgern, die allen Altersgruppen, Berufen und gesellschaftlichen Schichten angehörten, Gespräche zu führen. Nach Xenophon ging er schon am frühen Morgen in die Säulenhallen und Turnschulen und wenn der Markt sich füllte, war er dort anzutreffen. Wer immer nur wollte, konnte ihm und seinen Gesprächspartnern zuhören.
Xenophon im Originalton über Sokrates: „Er selber unterhielt sich immer über die menschlichen Dinge, indem er untersuchte, was fromm, unfromm, schön, hässlich, gerecht, ungerecht, was Besonnenheit, Raserei, Tapferkeit, Feigheit, Staat, was ein Staatsmann, was Herrschaft über Menschen und ein Herrscher über Menschen sei ...“ (Erinnerungen an Sokrates, Reclam, 2002)
Inhalte und Verläufe dieser Gespräche können wir, literarisch gestaltet, in den von seinem Schüler Platon verfassten Frühdialogen nachvollziehen:
Die platonischen Frühdialoge
In diesen platonischen Frühdialogen versucht Sokrates, die Meinungen seiner Gesprächspartner zu überprüfen und da, wo er es für erforderlich hält, zu widerlegen. In diesem Zusammenhang nannte er zu bloßen Worthülsen verkommene Bergriffe, die völlig unreflektiert gebraucht wurden, übrigens „Windeier“, also Eier ohne Schale. Durch die „Was ist X?-Frage“ (Was ist Tugend, was ist Mut, was ist Besonnenheit . . .) versucht er solche Windeier zu entlarven und das grundlegende Wissen auf dem entsprechenden Gebiet zu ermitteln. Er führt deshalb Gespräche mit Menschen, die behaupten, sich in bestimmten Dingen auszukennen und stellt ihr ver- meintliches Expertentum infrage, indem er ihnen nachweist, dass sie keine Experten für etwas sind, da ihre Überzeugungen voller Widersprüchlichkeiten stecken. Diese Methode nannten die Griechen „Elenchus“, zu Deutsch Gegenbeweis. Die „Was ist X?-Frage“ ist der Kern der “Sokratischen Gespräche” – damals und heute.
Sokrates steht in diesen Dialogen im Mittelpunkt, er ist die wichtigste Figur. Platon lässt Sokrates als Ironiker erscheinen, der mit seinem „Nichtwissen“ vorgibt, von dem, über das gesprochen wird, nichts zu verstehen. Die Ironie ist darin begründet, dass Sokrates leugnete, irgendein Wissen oder eine Weisheit zu besitzen und da, wo er ein Wissen zugab, dies unter den Vorbehalt erneuter Prüfung stellte. Dieses Wissen vom Nichtwissen sei das einzige Wissen, das er wirklich habe. Es ist davon auszugehen, dass Sokrates den Besitz von Weisheit deshalb von sich wies, da er den vollständigen Besitz eines Wissens, und dies gilt insbesondere für moralische Fragen, für den Menschen als nicht erreichbar erachtete. Der Philosoph ist Liebhaber und nicht Besitzer von Weisheit.
Der ihm zugeschriebene Satz „Ich weiß, dass ich nicht weiß“ hat, da er zunächst paradox klingt, zu vielen Missinterpretationen geführt. Sokrates hat an keiner Stelle gesagt, er wisse überhaupt nichts. Er wollte vielmehr zum Ausdruck bringen, dass er die Haltung eines Nicht-Wissenden einnehme. Er wollte sagen, dass wir Menschen Nicht-Wissende sind und kein gesichertes Wissen haben können, wenn es um Begriffe oder um ethisch-moralische Fragen geht. Wir haben zwar Meinungen, Vorstellungen und Ideen von etwas, aber letztlich kein wirkliches und vor allem kein sicheres Wissen.
Wenn Sokrates gefragt wurde, was seine Meinung zu einer bestimmten Frage sei, antwortete er stets, die Antwort nicht zu kennen. Diese für seine Gesprächspartner unbefriedigende Auskunft ließ ihn als Ironiker erscheinen, da seine Gesprächspartner meinten, er habe durchaus eine Lösung, wolle sie jedoch nicht äußern.
Aber war Sokrates wirklich ein ironischer Mensch oder nicht doch mehr ein Suchender und deshalb nach seinem eigenen Bekenntnis ein Nichtwissender? So erklärt er im Verlaufe seines Gerichtsprozesses: „Im Weggehen überlegte ich bei mir selber, dass ich wissender sei als jener Mensch. Denn keiner von uns beiden scheint etwas Gutes und Rechtes zu wissen; jener aber meint zu wissen und weiß doch nicht; ich jedoch, der ich nicht weiß, glaube auch nicht zu wissen, ich scheine somit um ein Geringes wissender zu sein als er, weil ich nicht meine zu wissen, was ich nicht weiß.“
Als einer der ersten hat Sokrates erkannt, dass es für uns Menschen keine absoluten Wahrheiten gibt und deshalb die Offenheit aller Aussagen hervorgehoben. Eine zentrale Anschauung, die auch heute noch von wesentlicher Bedeutung ist. So hat Max Born (1882 – 1970), deutscher Physiker und Mathematiker, seine sokratische Einsicht so formuliert: „Ich glaube, dass Ideen wie absolute Richtigkeit, absolute Genauigkeit, endgültige Wahrheit usw. Hirngespinste sind, die in keiner Weise zugelassen werden sollten. (…) Diese Lockerung des Denkens scheint mir der größte Segen, den die heutige Wissenschaft uns gebracht hat. Ist doch der Glaube an eine einzige Wahrheit und deren Besitzer zu sein die tiefste Wurzel allen Übels in der Welt.“