Für Carola
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Umschlagbild: Die begehbare Glaskuppel des Reichstagsgebäudes, Wiki Commons: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Glass_Dome_of_Reichstag_building,_Berlin.jpg (abgerufen am 14.04.2020).
1. Auflage 2021
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-038879-6
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-038880-2
epub: ISBN 978-3-17-038881-9
mobi: ISBN 978-3-17-038882-6
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Seit längerer Zeit zeigen zahlreiche Umfragen, dass die meisten Bürger1 mit den politischen Prozessen und ihren Ergebnissen unzufrieden sind ( Kap. 2.3.9). Sie fühlen sich von den Politikern und den Parteien unzureichend verstanden, nicht adäquat repräsentiert und auf einigen Feldern zudem mangelhaft regiert. Viele Bürger kritisieren die fehlende Lösung zahlreicher Probleme, die langfristiger Natur und teilweise seit Jahrzehnten absehbar sind, die die kurzfristig orientierten Parteipolitiker aber offenbar überfordern. Dazu gehören unter anderem die gravierenden Klima- und Umweltprobleme, die Vernachlässigung der Infrastruktur bei Verkehr, Telekommunikation und Energie, die Probleme durch Demografie und Alterssicherung im weitesten Sinne, die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit und Standortqualität etc. An verbalen Bekundungen mangelt es dabei nicht, wohl aber an effektiver Umsetzung in angemessenen Zeiträumen. Aus Sicht vieler Bürger geht es oft weniger um ideologische Unterschiede zwischen einzelnen Parteien, sondern vielmehr um die Performance der Politiker insgesamt.
Die Bürger haben zwar eine positive Einstellung zur Demokratie, aber nicht zu den vorhandenen Politikern und Parteien. Die Bürger haben das Gefühl, selbst nur einen geringen Einfluss auf die Politik zu haben. Sie wünschen sich mehr Partizipation. Die empfundenen Mängel werden primär den gegenwärtigen Parteien und Politikern angelastet. Allerdings basieren die eigentlichen Ursachen oft auf tieferliegenden Problemen, die aus dem politischen System resultieren. Die parteiendominierte Parlamentarische Demokratie zeigt dabei nicht nur immanente Funktionsmängel, sondern überfordert notwendigerweise auch die einzelnen Politiker, wie engagiert und gutwillig diese auch sein mögen.
Vor dem Hintergrund einer latenten Unzufriedenheit in der Bevölkerung und allerlei alarmistischer Kommentare über den Zustand und die Gefährdung unserer Demokratie in den Medien ist es erstaunlich, dass es in Deutschland zwar Detailerörterungen, aber bisher kaum grundsätzliche Diskurse gibt, die alle institutionellen Elemente des demokratischen Systems auf den Prüfstand stellen. Dieses wird weitgehend als Tabu betrachtet anstatt es ergebnisoffen zu analysieren und evtl. auch weitreichende Reformoptionen zu diskutieren. An diesem Punkt setzt das vorliegende Buch an. In ihm werden die Konstruktionsfehler und Unzulänglichkeiten der institutionellen Strukturen unserer Demokratie grundlegend analysiert und weitreichende Reformalternativen vorgestellt.
Im Mittelpunkt stehen dabei die Darstellung und die Diskussion einer Reihe konstruktiver Vorschläge, die zusammenfassend als »Demokratische Reformkonzeption« bezeichnet werden.2 Diese beabsichtigt einerseits, wirksamere Partizipationsmöglichkeiten für die Bürger zu schaffen und andererseits die Funktions- und Leistungsfähigkeit der Institutionen des Staates zu verbessern. Dies lässt eine höhere Akzeptanz »der Politik« und eine Stärkung der Demokratie erwarten.
In diesem ersten Kapitel werden zur Einführung und zum Überblick für die Leser die fünf Hauptprobleme der gegenwärtigen Parlamentarischen Demokratie und die wichtigsten Reformelemente skizziert. Anschließend wird eine knappe Übersicht über die Kapitel gegeben. Die fünf Hauptprobleme sind
(1) Wenig politische Partizipation der Bürger,
(2) Funktionsprobleme des Regierungssystems,
(3) Übermacht der Parteien,
(4) Rekrutierung des politischen Führungspersonals und
(5) mangelnde Information und mangelnde Nachhaltigkeit.
Die Teilhabe der Bürger an den demokratischen Entscheidungen des Staates wird üblicherweise als »politische Partizipation« bezeichnet ( Kap. 6.2). Dazu gehören die Beteiligung an Wahlen und Volksabstimmungen und die personelle Partizipation, das heißt die Parteimitgliedschaft und die eigene Ausübung von politischen Ämtern, insbesondere in Form von Abgeordnetenmandaten. Ferner zählen dazu die persönlichen Aktivitäten in Bürgerinitiativen, Protestbewegungen, zivilgesellschaftlichen Organisationen, bei Demonstrationen etc., die in unterschiedlicher Weise auf die Beeinflussung politischer Entscheidungen abzielen.
Die tatsächlichen Partizipationsmöglichkeiten der Bürger sind gegenwärtig erstaunlich gering, wenn man sie am Anspruch von Art. 20 Grundgesetz misst, wonach »alle Staatsgewalt vom Volke ausgehen« soll. Dieser Anspruch ist zwar formaljuristisch erfüllt, wird aber inhaltlich nur ungenügend realisiert. Ein Beleg ist etwa die Tatsache, dass die Wähler weder einen Einfluss auf die Personen haben, die ihre bevorzugte Partei als Abgeordnete ins Parlament entsendet ( Kap. 4.1.2) noch auf die Führungspersonen des Staates (z. B. die Bundesminister, Kap. 3.2.4).
Die Zahl der Parteimitglieder nimmt ständig ab und ist inzwischen mit weniger als zwei Prozent aller Bürger sehr gering ( Kap. 2.3.7), wenn man bedenkt, dass die Parteien die zentralen Machtfaktoren der Politik sind und die Rekrutierungskanäle zu allen öffentlichen Ämtern dominieren. Noch wesentlich kleiner ist die Zahl der aktiven Parteimitglieder (0,3 % der Bevölkerung),3 die an der Programmatik und an der Kandidatenauswahl für das Parlament mitwirken. Gleichzeitig sind die Zugangsbarrieren zur Mitgliedschaft im Parlament für Nichtparteimitglieder praktisch unüberwindbar. Volksabstimmungen finden recht selten statt und auf Bundesebene gar nicht.
Der Buchtitel Bürger an die Macht betont ein wesentliches Ziel der Reformvorschläge, nämlich den demokratischen Einfluss der Bürger auf die politischen Entscheidungen deutlich zu erhöhen.4 Die Demokratische Reformkonzeption sorgt erstens dafür, dass die Bürger deutlich mehr Möglichkeiten erhalten, mit dem Stimmzettel Einfluss zu nehmen. Zweitens werden neue, politisch relevante Gremien geschaffen, in denen die Bürger mitwirken können, ohne ihren Beruf aufzugeben. Drittens verschafft die Reformkonzeption den Aktivitäten zivilgesellschaftlicher Gruppen mehr institutionell fundierte Möglichkeiten, politische Entscheidungen zu beeinflussen.
Die bei weitem wichtigste Partizipationsmöglichkeit und für viele Bürger gleichzeitig die einzige, die sie bisher selbst nutzen, ist die Beteiligung an den Parlamentswahlen. Durch ihre Zweitstimme können die Wähler die quantitative Zusammensetzung des Parlaments bestimmen, wenn man davon absieht, dass alle Stimmen für Parteien unterhalb der 5 %- Sperrklausel verloren gehen. Die kollektive Möglichkeit, die Größe der Fraktionen im Parlament zu bestimmen, ist für die Demokratie eminent wichtig. Sie ist tatsächlich aber auch schon das Einzige, was die Wähler beeinflussen können.
Entgegen anderslautenden Vermutungen haben die Wähler nämlich keinen Einfluss darauf, welche Kandidaten ihrer bevorzugten Partei als Abgeordnete ins Parlament gelangen ( Kap. 4.1.2). Insofern ist die übliche Bezeichnung »personalisierte Verhältniswahl« irreführend. Stattdessen ist das System der Doppelstimme (Erst- und Zweitstimme) des deutschen Bundestagswahlrechts der Grund für einige gravierende Probleme (Überhang- und Ausgleichsmandate, unkontrollierte Aufblähung des Parlaments) und für mehrere kritische Urteile des Bundesverfassungsgerichts. Diverse Reformversuche sind in Ansätzen steckengeblieben und schließlich am Egoismus bestimmter Parteien gescheitert.
Weiterhin ist klar, dass die Bürger keinerlei Einfluss darauf haben, von welchen Ministern sie regiert werden. Die Ministerposten werden nach der Wahl von Parteifunktionären ausgehandelt, wobei die einschlägigen Erfahrungen und Fachkompetenzen offenbar keine große Rolle spielen. Gelegentlich werden sich die Bürger bei einzelnen Ernennungen erstaunt fragen, welchen persönlichen oder taktischen Hintergrund das wohl gehabt haben mag. Das dürftige Erscheinungsbild mancher Politiker ist vermutlich ein Grund für das schlechte Image »der Politik«.
Im aktuellen politischen System erteilt jeder Wähler einer Partei ein pauschales Mandat für alle inhaltlichen und personellen Entscheidungen des Bundestages in den nächsten vier Jahren. Dies wirft wegen der Heterogenität der Präferenzen der Bürger bei diversen Politikfeldern zahlreiche Probleme auf. Viele Bürger dürften bei einem Thema Partei A präferieren, bei einem anderen Partei B und vielleicht die Kandidaten von Partei C. Eine solche Möglichkeit zur Differenzierung lässt das Wahlrecht nicht zu. Stattdessen führt der übergroße Delegationsumfang ( Kap. 4.1.1), dazu, dass die Wahlergebnisse nur wenig über die politischen Präferenzen auf einem bestimmten Politikfeld aussagen und diese auch keine feldspezifischen Sanktionswirkungen auf die Parteien ausüben.
In der hier vorgestellten Demokratischen Reformkonzeption ermöglicht ein völlig neu konzipiertes Wahlsystem zum Bundestag ( Kap. 4.2.1) jedem Wähler einen Einfluss darauf, welcher Kandidat der von ihm präferierten Partei ins Parlament einzieht. Außerdem kann er durch die Wahlen zu verschiedenen Ständigen Parlamentarischen Fachräten ( Kap. 4.3) seine politischen Präferenzen auf einzelnen Politikfeldern differenzierter zum Ausdruck bringen und damit eine stärkere Wirkung erzeugen.
Viele Bürger engagieren sich in zivilgesellschaftlichen Gruppen wie Bürgerinitiativen etc. oder beteiligen sich an Unterschriftensammlungen oder Demonstrationen. Dies sind Aktivitäten unkonventioneller politischer Partizipation ( Kap. 6.2.2). Ihr Anwachsen könnte man als Reaktion auf einen eklatanten Mangel an konventionellen Partizipationsmöglichkeiten interpretieren, bzw. als eine implizite Kritik an einem politischen System, das »in die Jahre gekommen« ist und dem gestiegenen Selbstbewusstsein der Bürger und deren Partizipationsansprüchen nicht mehr gerecht wird. Diese Aktivitäten haben jedoch – von kurzfristigen singulären Ausnahmen abgesehen – in der Regel nur wenig Einfluss auf die reale Politik. In der Demokratischen Reformkonzeption liefern Aktuelle Parlamentarische Fachräte Möglichkeiten für die einzelnen Bürger, auf den jeweiligen Politikgebieten selbst spürbaren Einfluss auf die parlamentarischen Prozesse zu nehmen ( Kap. 4.3.3).
Das Parlament und die Regierung haben sehr unterschiedliche Aufgaben, die ganz verschiedene Anforderungen stellen. Das Parlament soll Gesetze verabschieden, die grundsätzlich über längere Zeit gelten und deshalb allgemeingültig, problemadäquat und praktikabel sein müssen. Dafür ist es wichtig, dass die Bürger und ihre Präferenzen und Interessen im Parlament adäquat repräsentiert sind. Im Unterschied dazu ist die Regierung die Trägerin der »operativen Politik« und soll die Interessen des Staates, der Gesellschaft und der Bürger einzelfallbezogen nach außen und nach innen vertreten, ggf. auch in Situationen mit kurzfristigem Handlungsbedarf. Dazu sollte die Regierung jederzeit auf allen Politikfeldern handlungsfähig sein.
Für diese beiden zentralen Institutionen eines demokratischen Staates wären jeweils gänzlich unterschiedliche Wahlsysteme geeignet. Für die Aufgaben des Parlaments wird die Repräsentation der Bevölkerung durch eine reine Verhältniswahl ohne Sperrklausel am besten gewährleistet. Dagegen ist für die Regierung ein demokratisches Wahlverfahren erforderlich, aus dem regelmäßig eine stabile und umfassend handlungsfähige Regierung hervorgeht. Es ist ein Konstruktionsprinzip der Parlamentarischen Demokratie, dass sie beides zu kombinieren versucht. Sie offenbart dabei ein Wahlrechtsdilemma ( Kap. 3.2.2), das eine Reihe von Problemen zur Folge hat ( Kap. 3.1 und Kap. 3.2).
Gegenwärtig sind die Regierungsfraktionen des Parlaments vor allem die Mehrheitsbeschaffer der Regierung. Dies kann aber nur mit einer Fraktionsdisziplin erreicht werden, die tatsächlich die Freiheit der Abgeordneten erheblich einschränkt.5 Bei jeder inhaltlichen Befassung des Parlaments mit einem bestimmten Thema stehen die Abstimmungsmehrheiten schon vorher fest. Die Parlamentsdebatten beeinflussen das Ergebnis nicht mehr. Sie sind oft ritualisiert, parteizentriert, vorhersehbar und medienorientiert. Die Qualität der Argumente tritt hinter die Interessen der Parteien zurück. Bei den Regierungsfraktionen besteht das Hauptinteresse in der Machterhaltung. Die Oppositionsparteien können die Abstimmungsergebnisse auch durch noch so gute Argumente nicht mehr verändern. Ihre Redner richten sich deshalb vorrangig an die eigenen Parteifreunde und an die Öffentlichkeit im Hinblick auf zukünftige Wahlen. Diese Strukturen und Verhaltensweisen führen zu einem Funktionsverlust des Parlaments.
Da Mehrparteienparlamente in Deutschland und in anderen Ländern vermutlich auch zukünftig die Normalität sein werden, ereignet sich regelmäßig das, was man »Koalitionstheater« nennen könnte ( Kap. 3.1.3). Während sich die Parteien vor der Wahl aus Gründen des Politikmarketing und zur Verbesserung der späteren Verhandlungspositionen möglichst stark voneinander abgrenzen, müssen sich einige von ihnen nach der Wahl zusammenfinden, um sich auf ein gemeinsames Regierungsprogramm (Koalitionsvertrag) zu einigen. Die Erwartung ist, dass sie anschließend im Parlament bei allen Themen gemeinsam abstimmen.
Nach dem herkömmlichen Verständnis muss jede derartige Koalition zwei Bedingungen erfüllen. Erstens müssen die Koalitionsfraktionen zusammen die Mehrheit der Sitze im Parlament haben (Mehrheitsbedingung) und zweitens müssen sie eine hinreichende inhaltliche Übereinstimmung aufweisen oder erzeugen können (inhaltliche Bedingung). Dabei ist es in Deutschland bisher ein selbstgesetzter Anspruch, dass eine Regierungskoalition eine dauerhafte Parlamentsmehrheit ihrer Fraktionen für alle relevanten Politikinhalte haben sollte. Dazu müssen sich evtl. Parteien mit stark unterschiedlicher Programmatik zusammenfinden. Dadurch, dass dann meistens bestimmte Themen ausgeklammert werden oder sich eine Problemlösung über Jahre hinzieht, wird die Handlungsfähigkeit der Regierung beeinträchtigt.
Eine Koalition fordert von einer Partei gelegentlich, anders zu handeln, als sie es vorher den Wählern versprochen hat, um die Regierungsstabilität nicht zu gefährden. Allerdings kann die Koalitionstreue dazu führen, dass bei einem Thema eine eigentlich breite inhaltliche Mehrheit des Parlaments von einer kleinen Minderheit blockiert wird ( Kap. 3.1.3). Das Koalitionserfordernis gibt einzelnen kleinen Fraktionen bei entsprechender Sitzarithmetik quasi eine Vetoposition und damit in der Regel mehr inhaltlichen Einfluss und mehr Ministerposten als es ihrem Stimmenanteil entsprechen würde. Daraus entsteht zudem ein Drohpotential, bei Meinungsunterschieden in einzelnen Punkten die ganze Regierung scheitern zu lassen.
In vielen anderen europäischen Ländern sind Minderheitsregierungen, die dieses Koalitionstheater abmildern können, üblich und zum Teil recht erfolgreich ( Kap. 3.1.3 und Kap. 3.3.4). Diese wurden von den Akteuren in Deutschland bisher auf Bundesebene weitgehend ausgeschlossen, werden sich aber auf Dauer vermutlich nicht vermeiden lassen. Für das Parlament bedeuten Minderheitsregierungen jedenfalls eine erhebliche Aufwertung und eine größere politische Relevanz, weil die Mehrheit bei einem bestimmten Thema nicht wie in der Parlamentarischen Demokratie von vornherein feststeht, sondern erst das Ergebnis der Parlamentsprozesse und Debatten ist.
Eine Alternative, welche die genannten Probleme der Parlamentarischen Demokratie gar nicht erst entstehen lässt, sind separate Wahlen zum Parlament und zur Regierung, das heißt jeweils direkt durch die Bürger. Dadurch würde auch das Prinzip der klassischen Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive gestärkt. In der Demokratischen Reformkonzeption wählen deshalb alle Bürger die Regierung über einen Regierungskonvent ( Kap. 3.3.1). Jede kandidierende Partei (oder Ex-ante-Koalition mehrerer Parteien) nominiert ein Team mit bestimmten Kandidaten für die Positionen des Bundeskanzlers und der einzelnen Minister. Sie hat zur Erhöhung ihrer Wahlchancen ein starkes Interesse daran, den Bürgern fachlich und persönlich ausgewiesene und glaubwürdige Kandidaten zu präsentieren ( Kap. 3.3.2). Die gewählte Regierung ist dann für ihre Aufgaben und Kompetenzbereiche über die gesamte Wahlperiode handlungsfähig, und zwar unabhängig von einzelnen Fraktionen im Parlament. Die demokratischen Prozesse für die Verabschiedung von Gesetzen geben den einzelnen Abgeordneten einen deutlich höheren Stellenwert, als es bisher der Fall ist. In der Diskussion »zählen« die Argumente aller Abgeordneten und zwar auch derjenigen außerhalb der Regierungsparteien, da die Regierung evtl. deren Stimmen zur Mehrheit benötigt.
Ein zentrales Problem besteht gegenwärtig in der außerordentlich großen Macht der Parteien. Die Abb. 1 zeigt die Architektur unserer Parlamentarischen Demokratie ( Abb. 1). Die Bürger wählen das Parlament (Pfeil 1)6 und zwar nur dieses. Damit hat das Parlament ein »Legitimationsmonopol«, das eine wesentliche Ursache dafür ist, dass sich die dominierenden Parlamentsparteien im Laufe der Zeit immer mehr Macht aneignen konnten, sodass die Gewaltenteilung deutlich reduziert wurde ( Kap. 2.5). Dies manifestiert sich besonders im sogenannten »Politik-Kern«, der aus den Mehrheitsfraktionen und der Regierung besteht ( Kap. 2.3.3). Er ermöglicht den Regierungsparteien eine weitgehende Durchsetzung eigener Ziele, Ideologien und Interessen.
Die Parteien treffen erstens alle Entscheidungen in der Regierung und bei der Gesetzgebung im Parlament. Zweitens beschließen sie sämtliche Gesetze, von denen sie selbst und alle ihre Konkurrenten und Institutionen des Staates betroffen sind und die hier als Demokratie-Regeln bezeichnet werden. Hierzu gehören z. B. das Wahlrecht, die Parteienfinanzierung und alle Gesetze, die die Kompetenzen der Institutionen des Staates (das heißt die Machtverteilung) betreffen. Mit diesen Gesetzen sichern sich die Parteien viele Zugriffsrechte und andere Vorteile, z. B. bezüglich der Personalia in den Vorständen staatlicher Institutionen und Unternehmen. Letzteres dient ihnen zur Durchsetzung inhaltlicher Ziele und Interessen sowie zur Versorgung von Parteifreunden ( Kap. 2.5.3).
Drittens wählen die Parteipolitiker sogar die Richter aus, teilweise direkt (Bundesverfassungsrichter, Bundesrichter) und teilweise indirekt über Richterwahlausschüsse, in denen die Politiker dominant vertreten sind ( Kap. 2.5.4). Dies gilt auch für solche Richter, die ggf. über die Entscheidungen der Politiker zu urteilen haben. Das Verhalten der Parteien vor solchen Wahlen (z. B. von Verfassungsrichtern) zeigt, dass sie sich ihrer diesbezüglichen Parteiinteressen bewusst sind und egoistisch nach ihnen handeln.
Viertens hat die Parteienmacht auch bei der Personalpolitik vieler anderer staatlicher Institutionen, deren Unabhängigkeit von zentraler Bedeutung für das Funktionieren von Staat und Gesellschaft wäre, negative Auswirkungen. Dies gilt z. B. für die Rechnungshöfe, für die Statistischen Ämter, für die Zentralbank, für verschiedene Regulierungs- und Aufsichtsbehörden, für staatliche Rundfunkanstalten und für etliche mehr.
Abb. 1: Status quo Parlamentarische Demokratie.
Delegationsentscheidungen (Pfeile mit Dreiecksspitzen)
1 = Wahl des Parlaments durch die Bürger
21 = Wahl der Regierung durch das Parlament
22 = Beauftragung von Fachinstitutionen und Wahl der Vorstände durch Parlament oder Regierung
24 = Wahl der Richter durch Parlament oder Regierung (direkt oder indirekt via Richterwahlausschüsse)
Inhaltliche Entscheidungen (Pfeile mit offenen Spitzen)
12 = Staatspolitische Entscheidungen durch die Regierung‘
14 = Gesetzgebung durch das Parlament
16 = Fachentscheidungen durch Fachinstitutionen
17 = Urteile der Gerichte
Die pauschale Begründung für eine so weitreichende Macht der Parteien bei den Personalentscheidungen und bei den Demokratie-Regeln basiert auf dem Erfordernis einer demokratischen Legitimation, die bisher wegen des Legitimationsmonopols nur die gewählten Parteivertreter besitzen. In der Reformkonzeption, die in diesem Buch präsentiert wird, ist das wesentlich anders. In ihr existiert in Gestalt des »Bürgersenats« eine von den Bürgern gewählte Institution, die demokratisch legitimiert und gleichzeitig von allen Parteien unabhängig ist ( Kap. 5.2.2). Eine weitere Besonderheit des Bürgersenats ist seine Arbeitsweise, bei der jede Entscheidung erst nach intensiver Rückkopplung mit der jeweils bestverfügbaren unabhängigen Fachkompetenz der Gesellschaft erfolgt. Der Bürgersenat ist unter anderem für die Personalentscheidungen in Gerichten ( Kap. 5.4) und Fachinstitutionen ( Kap. 5.3.5) zuständig. Er hat die Rolle einer Zweiten Kammer bei der Gesetzgebung ( Kap. 5.5.1) und hat bei den Demokratie-Regeln das letzte Wort ( Kap. 5.5.2).
Bisher entscheidet die eigene Partei über nahezu alles, was für einen Politiker von Bedeutung ist, z. B. über seine Wiederwahl, über seine politische Karriere sowie evtl. über seine Funktionen in anderen staatlichen Institutionen etc. Diesen Sachverhalt kann man als »Anreizdominanz« der Parteien für ihre Politiker bezeichnen ( Kap. 2.3.6). Dies gilt nicht nur für die Zeit einer Partei- oder Parlamentskarriere, sondern auch für die Zeit davor und danach (z. B. für Mitarbeiterjobs und Versorgungsposten). Die Anreizdominanz ist hochbedeutsam für die Macht der Parteien, aber problematisch für die Demokratie, da viele Abgeordnete ihre persönlichen Meinungen hinter der Parteiposition verstecken (müssen), weil abweichende Positionen bei Diskussionen und Abstimmungen individuelle Karriereprobleme mit sich bringen würden.
Trotz ihrer umfassenden und weitreichenden Macht ist die Verankerung der Parteien in der Gesellschaft sehr gering. Nur noch 1,5 % der Gesamtbevölkerung sind Mitglied in einer Partei. Von diesen beteiligen sich etwa vier Fünftel nicht an der Willensbildung ihrer Partei. Im Ergebnis bedeutet dies, dass 99,7 % der Bevölkerung nicht an den demokratisch relevanten inhaltlichen und personellen Entscheidungen der Parteien mitwirken. Da alle politischen Entscheidungen von den Parteien und ihren Vertretern getroffen werden, muss man fragen, ob die Parteien dafür mit einer so geringen personellen Basis überhaupt eine hinreichende demokratische Legitimation für sich beanspruchen können.
Die Rekrutierung von Kandidaten für Parlamentsmandate erfolgt gegenwärtig ausschließlich über die Parteien. Bisher besteht die einzige Möglichkeit für einen Bürger, als Abgeordneter im Parlament mitzuwirken, darin, in eine Partei einzutreten, sich innerhalb dieser Partei im Laufe der Jahre nach oben zu arbeiten, um dann evtl. die Chance zu einer Kandidatur zu bekommen. Allerdings treffen Neueinsteiger dabei auf die Interessen der etablierten Berufspolitiker, die erhebliche Investitionen an Zeit und Netzwerkarbeit in ihre politische Karriere getätigt und somit ein massives Interesse an einer dauerhaften Mandatsausübung haben. Dafür schaffen sie durch ihre jahrelange, gezielte Arbeit an der regionalen Parteibasis die besten Voraussetzungen ( Kap. 2.3.7). In der in diesem Buch präsentierten Reformkonzeption sind die Parteien zwar weiterhin die entscheidenden Handlungsträger im Parlament und in der Regierung, jedoch wird ihre Rolle für die Besetzung demokratischer Ämter zugunsten einer breiteren Basis der Bürger relativiert.
Die Parlamente sind Versammlungen von Berufspolitikern ( Kap. 2.3.2). Zu einem solchen wird jemand nicht allein durch eine Wahl, sondern durch einen jahrelangen Sozialisationsprozess, in dem er sich die einschlägigen Denk- und Verhaltensweisen aneignet und die unverzichtbaren persönlichen Beziehungen aufbaut ( Kap. 2.3.5). Diese Sozialisation ist zu einem Teil parteispezifisch und zu einem anderen parteiübergreifend. Letzteres hat den Begriff der »Politischen Klasse« entstehen lassen ( Kap. 2.3.3), die sich von den »normalen« Bürgern« separiert.
Eine Karriere als Politiker macht jemand nur selten wegen einer guten Ausbildung, einer besonders erfolgreichen Berufstätigkeit oder wegen guter Kenntnisse in einem spezifischen Ressort, sondern vor allem aufgrund ideologischer und persönlicher Anschlussfähigkeit zu den eigenen Parteifreunden. Die demokratischen Rekrutierungsmechanismen sind von normativen Kriterien dominiert, nicht von fachlichen. Sie sorgen vor allem nicht für eine Ausstattung des Parlaments mit fachkompetenten Abgeordneten auf allen politisch relevanten Gebieten. Mit Ausnahme der überproportional stark vertretenen Juristen und der Angehörigen des öffentlichen Dienstes ( Kap. 2.3.8) ist das Vorhandensein von einschlägigen Fachkompetenzen bei den Abgeordneten eher ein Zufall der jeweiligen Lebensläufe. Das heißt, es kann ausgewiesene Fachleute unter den Abgeordneten für einzelne Gebiete geben. Allerdings existiert keine systematische Funktionalität, die die Abgeordneten nach den fachlichen Erfordernissen des Parlaments rekrutieren würde, wie das in allen anderen Funktionsbereichen der Gesellschaft der Fall ist.
In der Reformkonzeption werden auch deshalb neben dem Plenum Parlamentarische Fachräte gebildet, die von den Bürgern gewählt werden. Sie dienen erstens dazu, den Bürgern eine differenziertere Artikulation ihrer Präferenzen zu ermöglichen, zweitens zur Ausweitung der personellen Partizipation und drittens zur Erhöhung der Fachkompetenz des Parlaments insgesamt.
Die wichtigen operativen Entscheidungen des Staates werden von der Regierung getroffen. Die Minister verantworten große Teilgebiete der Politik, haben dort erhebliche Macht und vertreten diesbezüglich den Staat nach innen und nach außen. Die meisten Bürger dürften die Forderung unterstützen, dass jeweils diejenigen Personen die einzelnen Ministerposten übernehmen sollten, die auf dem betreffenden Gebiet nicht nur die Präferenzen der Bürger vertreten, sondern auch besonders fachkundig sind. Bei der gegenwärtigen Art der Regierungsbildung sind wir von diesem Ideal allerdings weit entfernt.
Bisher spielen bei einer Regierungsbildung zahlreiche Kriterien eine Rolle, die mit der Qualifikation für einzelne Ministerposten nicht viel zu tun haben, insbesondere die formale Repräsentierung diverser Teilgruppen, z. B. regionale Herkunft, Zugehörigkeit zu einer ideologischen oder Interessengruppe, Geschlecht, Religion etc. Noch wichtiger sind offensichtlich parteiinterne und taktische Positionierungen und persönliche Seilschaften ( Kap. 3.2.4). Dadurch werden Einzelne ggf. Bundesminister, ohne einschlägiges Wissen und Können nachgewiesen zu haben. Sehr gut qualifizierte Politiker, die nicht der »richtigen« Seilschaft angehören, bleiben hingegen häufig unberücksichtigt. Eine spezifische fachliche Qualifikation wird bei Ministerernennungen offenbar für ein nachrangiges Kriterium gehalten.
Ein wesentlicher Grund für diesen problematischen Befund besteht darin, dass die Wahlen durch die Bürger zum Zeitpunkt der Kabinettsbildung bereits stattgefunden haben. Die Funktionäre der Regierungsparteien können das Postenverteilen dann weitgehend unter sich ausmachen. Ministerernennungen werden nicht vorrangig als eine Voraussetzung für eine gute Regierungspolitik betrachtet, sondern wirken eher wie das Verteilen der Beute nach einer Wahl und der Koalitionsbildung. In der Reformkonzeption werden vor der Wahl der Bürger zum Regierungskonvent von jeder Kandidatengruppe ihre Kanzler- und Ministerkandidaten benannt ( Kap. 3.3). Die Parteien haben dabei starke Anreize, überzeugende Kandidaten zu präsentieren, um mit der Regierungsübernahme beauftragt zu werden.
Ein Kernproblem demokratischer Gesellschaften im 21. Jahrhundert ist ein immanentes Spannungsverhältnis zwischen einerseits dem egalitären Prinzip völliger Gleichberechtigung aller Bürger in Fragen politischer Partizipation und andererseits einer hochgradigen Komplexität der inhaltlichen Zusammenhänge zwischen Problemen, politischen Optionen und Ergebnissen in vielen Bereichen, sodass für »gute« Entscheidungen eine erhebliche Fachkompetenz erforderlich ist. Die adäquate Bewältigung dieses Spannungsverhältnisses, sodass die politischen Prozesse rationale Entscheidungen für die Gesellschaft hervorbringen, ohne die gleichberechtigte Partizipation aller Bürger einzuschränken, ist ein Hauptproblem moderner Demokratien.
Aufgrund der zunehmenden Komplexität, Spezialisierung und Verwissenschaftlichung werden in den meisten Lebensbereichen die wichtigen Funktionen von Personen wahrgenommen, die durch Ausbildung, jahrelange einschlägige Erfahrung und leistungsorientierte Karriereselektion spezialisiert und fachkompetent geworden sind. In der Politik ist das nicht der Fall, weil es aus Gründen des politischen Systems viel schwieriger und bisweilen unmöglich ist.
Da die Bürger sehr unterschiedliche fachliche Fähigkeiten und Bereitschaften zur Mitwirkung aufweisen, geht es oft darum, innerhalb der demokratischen Strukturen den gewählten Politikern (insbesondere im Parlament) die bestmögliche Fachkompetenz als Beratung zur Verfügung zu stellen. Die unabhängige und transparente Beratung der Politiker durch Experten ist von eminenter Bedeutung für gute Politikergebnisse. Die Qualität und die Unabhängigkeit der zu erwartenden Beratung sind jedoch vorher nicht immer einfach zu beurteilen. Hierbei übernimmt in der Reformkonzeption der Bürgersenat wichtige Funktionen ( Kap. 5.6), indem er Vorschläge macht, welche Experten geeignet sind. Die hervorgehobene Rolle exzellenter Berater sollte jedoch nicht als Tendenz zu einer Expertokratie missverstanden werden. Alle Entscheidungen müssen immer von den demokratisch gewählten Politikern getroffen und von diesen verantwortet werden.
Eine große Bedeutung haben die Informationen und die Sachkunde auch für die Bürger bei Wahlen und Abstimmungen und für ihre Aktivitäten der politischen Partizipation. Die Motivation zur Partizipation wird umso höher sein, desto besser sich die Bürger informiert fühlen. Die Bereitstellung von gesicherter, unabhängiger, verständlicher und ggf. pluralistischer Information und Fachkompetenz für die Öffentlichkeit ist eine explizite Aufgabe des Bürgersenats ( Kap. 5.6.1). Die Verfügbarkeit solcher Informationsangebote dient ebenfalls dazu, in einer unsortierten Informationslandschaft die interessengeleiteten Argumente von Lobbyisten zu relativieren und Fake News als solche zu erkennen.
Der Informationsstand ist auch ein Kernproblem bei dem populären Thema der »direkten Demokratie« ( Kap. 6.1). Hier gibt es neben quantitativen auch qualitative Beschränkungen, die mit der Komplexität einiger Themen und dem Informationsstand der Wahlberechtigten zu tun haben. In der Demokratischen Reformkonzeption sind Aktuelle Parlamentarische Fachräte ( Kap. 4.3.3) eine Alternative zu Volksabstimmungen, die das Informationsproblem erheblich mindern und gleichzeitig die Bürgerbeteiligung gewährleisten.
Die politischen Mechanismen bewirken für die Politiker eine relativ kurzfristige Anreizstruktur. Sie schauen auf die nächsten Wahlen oder gar nur auf die Medienkommentare der nächsten Tage, die für sie karriere- und imagerelevant sein können. Viele Themen haben jedoch langfristige Wirkungszusammenhänge und nicht selten ist eine kurzfristig politisch opportune Entscheidung langfristig nachteilig und eine langfristig rationale Entscheidung kurzfristig unpopulär und für einen Politiker riskant für seine Karriere. Häufig ist es für einen Politiker individuell rational, was langfristig für die Gesellschaft von Nachteil ist ( Kap. 5.3.3). Dies gilt oft z. B. für Politikfelder wie Ökologie, Klima, Ausbau der Infrastruktur, Demografie, Alterssicherung, Staatsverschuldung, Katastrophenvorsorge, Währungsstabilität, Aufrechterhaltung einer funktionierenden Wettbewerbsordnung usw. Wenn langfristig vorteilhafte Entscheidungen aus Gründen kurzfristiger Anreizstrukturen der Politiker unterbleiben, wird im Folgenden von einem »politischen Nachhaltigkeitsproblem« gesprochen.
Auf solchen Feldern ist es für die Gesellschaft je nach Problembereich ggf. vorteilhaft, die Entscheidungen und/oder mindestens die zugehörigen Analysen der Handlungsoptionen von den politischen Gremien auf unabhängige staatliche Institutionen zu übertragen, z. B. auf Zentralbanken, Wettbewerbsbehörden, Rechnungshöfe sowie weitere Fachinstitutionen, die noch zu schaffen oder neu als explizit Unabhängige Institutionen zu konstituieren wären. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass die Fachleute solcher Institutionen, die primär auf ihre Reputation achten, in der Regel die längerfristigen Zusammenhänge erkennen und eher danach entscheiden, anders als Politiker, die aus Gründen des politischen Systems kurzfristige Anreize haben. Langfristig zu denken, ist für Fachleute ein Teil ihrer Fachkompetenz und ihres professionellen Selbstverständnisses. Anders als diese sind Politiker nicht primär an »langfristig richtigen Entscheidungen« interessiert, sondern an der eigenen Wiederwahl und ihrer Akzeptanz bei Parteifreunden, Medien und Wählern.
Politiker reden gern von langfristigen Zukunftsperspektiven, handeln aber meistens nach kurzfristiger Opportunität. Dies zeigt sich schon an der Wahrnehmung und Behandlung aufkommender Probleme. Von den meisten »normalen« Bürgern kann man nicht erwarten, dass sie Zukunftsprobleme und -risiken wahrnehmen und analysieren. Dagegen muss man von den Politikern genau das erwarten, was analog die Aktionäre von einer Unternehmensleitung verlangen würden, nämlich aufkommende Probleme zu erkennen und diesen zu begegnen. Die eigentliche Analyse müssten sie nicht einmal selbst leisten. Es genügt, die einschlägigen Fachleute zu beauftragen und deren Antworten nicht aus kurzfristiger Opportunität im Tresor zu verstecken, sondern zum öffentlichen Thema zu machen. Politiker reagieren stattdessen mit Ignorieren und Aussitzen oder mit wohlklingenden und profilierungsorientierten Statements.
Die Überlegungen zur Demokratischen Reformkonzeption, die im Wesentlichen in den Kap. 3 bis 6 dargestellt und diskutiert werden, sind grundsätzlicher Natur. Sie gehen zwar vom gegenwärtigen politischen System Deutschlands aus, lassen sich bei ihren Analysen und institutionellen Vorschlägen aber nicht von der gegenwärtigen Verfassungs- und Rechtslage gedanklich einengen. Sie sind von funktionalen Überlegungen für einen demokratischen und leistungsfähigen Staat geprägt. Die Ausführungen beziehen sich aus Gründen der Vereinfachung überwiegend auf die Bundespolitik, können teilweise aber auch auf die Länderebene und auf einzelne andere Staaten übertragen werden.
Der Autor ist durch Studium und Beruf als Ökonom (und nicht als Rechts- oder Politikwissenschaftler) sozialisiert worden. Bei zahlreichen wirtschaftspolitischen Analysen hat er sich anfangs über manche Entscheidungen von Politikern gewundert und nach Erklärungen gesucht, die dann häufig in den spezifisch parteipolitischen Anreizstrukturen und Verhaltensmustern zu finden waren. Die praxisbezogenen ökonomischen Forschungen hatten oft die Suche nach einem adäquaten institutionellen Rahmen für konkrete volkswirtschaftliche Probleme zum Gegenstand. Dabei hat der Autor regelmäßig über die Gestaltung von Anreizen nachgedacht, die dazu führen, dass die jeweiligen Akteure bei der Verfolgung ihrer individuellen Ziele gleichzeitig gesamtgesellschaftlich vorteilhafte Ergebnisse hervorbringen. Diese Denkweise prägt auch den vorliegenden Text. Viele Sichtweisen und Argumentationen weichen erheblich von denen ab, die in der Politikwissenschaft und in der Rechtswissenschaft üblich sind.
Es ist die Intention dieses Buches, eine grundlegende Diskussion über Reformalternativen für unser politisches System anzuregen. Dieses sollte erstens demokratischer werden – im Sinne von mehr Einfluss der Bürger auf die Politik – und zweitens effizienter, das heißt die Politik soll dazu führen, dass die Präferenzen und Interessen der Bürger objektiv besser realisiert werden, und drittens nachhaltiger und fachkompetenter durch die Relativierung kurzfristiger Sichtweisen und eine stärkere Einbeziehung unabhängiger Experten.
Anders als in der Parlamentarischen Demokratie sind für die Demokratische Reformkonzeption eine konsequente und erweiterte Gewaltenteilung sowie differenzierte Legitimationswege wichtige Kernelemente ( Abb. 2). Die drei demokratischen Komplexe der Reformkonzeption, nämlich das Parlament, die Regierung und der Bürgersenat, sind voneinander unabhängig und werden von den Demokratie-Regeln in ihren Kompetenzen eindeutig definiert. Die erweiterte Gewaltenteilung lässt sich einerseits mit den klassischen Argumenten der Machtverteilung und der gegenseitigen Kontrolle begründen und andererseits mit den Effizienzvorteilen einer institutionellen Spezialisierung ( Kap. 2.5.1).
Jeder der drei Komplexe wird von den Bürgern separat gewählt (Pfeile 1 bis 3) und hat damit für seine Aufgaben eine eigenständige demokratische Legitimation. Im Parlamentsbereich werden zusätzlich für einzelne Politikfelder Parlamentarische Fachräte (Pfeil 4) gewählt. Schon durch diese »Partizipation mit dem Stimmzettel« erhöht sich der Einfluss der Bürger erheblich. Darüber hinaus bieten sowohl der Bürgersenat als auch die verschiedenen Ständigen und Aktuellen Parlamentarischen Fachräte persönliche Partizipationsmöglichkeiten als Mandatsträger für Bürger, die nicht Politiker sind und meistens auch nicht Parteimitglieder.
Der Bürgersenat wird durch die Reformkonzeption eingeführt, um das bisherige Legitimationsmonopol der parteiendominierten Politischen Institutionen zu überwinden und durch differenziertere Legitimationswege zu ersetzen. Der Bürgersenat ist außerdem der »Hüter des fachlich Rationalen« für alle Entscheidungen, die nicht primär normativ sind. Seine Arbeitsweise ist deshalb mit der in der Gesellschaft vorhandenen Fachkompetenz sehr eng verbunden ( Kap. 5.2.1). Sie ist transparent und einem gesellschaftlichen Diskurs zugänglich.
Zunächst werden in Kap. 2 einige Grundlagen erörtert, die den Problemhintergrund und die wesentlichen Akteure skizzieren. Die staatlichen Institutionen, die bisher in die drei »Gewalten« Legislative, Exekutive und Judikative gruppiert sind, werden neu gegliedert ( Kap. 2.2 und Abb. 3), wobei insbesondere zwischen »Politischen Institutionen« und »Nichtpolitischen Institutionen« unterschieden wird, was für die Reformkonzeption von wesentlicher Bedeutung ist.
Das darauffolgende Kap. 2.3 befasst sich sodann mit den zentralen Akteuren der Politischen Institutionen, nämlich mit den Parteien und mit den Berufspolitikern ( Kap. 2.3). Dabei geht es insbesondere um die dominante Rolle von Parteien, um die Sozialisationsprozesse zum Berufspolitiker, um die asymmetrischen Rekrutierungsprozesse zu den Parlamentsabgeordneten ( Kap. 2.3.7) und um die Sicht der Bürger auf die Parteien und die Politiker im Spiegel von Befragungen ( Kap. 2.3.9). Die Darstellung fokussiert sich dabei auf die Kernaspekte, die für die Problemanalysen und die Darstellung der Reformkonzeption von Bedeutung sind.
Das Kap. 2.4 setzt sich einerseits mit den Interessengruppen auseinander, die in der Praxis einen großen Einfluss auf die Politik haben ( Kap. 2.4.1). Sie werden unter anderem wegen ihres asymmetrischen Charakters unter demokratischen
Abb. 2: Institutionelle Struktur der Demokratischen Reformkonzeption.
Delegationsentscheidungen (Pfeile mit Dreiecksspitzen)
1 = Wahl des Parlaments durch die Bürger
2 = Wahl des Bürgersenats durch die Bürger
3 = Wahl des Regierungskonvents durch die Bürger
4 = Wahl der Parlamentarischen Fachräte durch die Bürger
22 = Beauftragung von Fachinstitutionen und Auswahl der Vorstände durch den Bürgersenat
23 = Beauftragung von Regierungsinstitutionen und Auswahl der Vorstände durch die Regierung
24 = Wahl der Richter durch den Bürgersenat
Inhaltliche Entscheidungen (Pfeile mit offenen Spitzen)
11 = Volksabstimmungen durch die Bürger
12 = Staatspolitische Entscheidungen durch die Regierung
13 = Staatspolitische Entscheidungen durch Regierungsinstitutionen
14 = Gesetzgebung durch das Parlament (1. Kammer) unter Mithilfe Parlamentarischer Fachräte
15 = Gesetzgebung durch den Bürgersenat (2. Kammer)
16 = Fachentscheidungen durch Fachinstitutionen
17 = Urteile der Gerichte
Gesichtspunkten kritisch betrachtet. Andererseits werden die Politikberater thematisiert, die infolge der stark gewachsenen Komplexität der politischen Felder zunehmend wichtiger werden ( Kap. 2.4.2). Dies gilt auch für die Reformkonzeption. Von Bedeutung ist, dass die »richtigen« Berater ausgewählt werden und dass sie tatsächlich fachlich exzellent und unabhängig beraten.
Die letzten beiden Kapitel behandeln eines der Kernanliegen dieses Buches, nämlich die bisher mangelhafte Gewaltenteilung, insbesondere diejenige zwischen Regierung und Parlament ( Kap. 2.5.2) und die übergroßen Einflussnahmen der Parteien auf die Fachinstitutionen ( Kap. 2.5.3) und die Gerichte ( Kap. 2.5.4). Außerdem werden die diesbezüglichen Alternativen der Demokratischen Reformkonzeption skizziert ( Kap. 2.6, Tab. 1), die zu einer deutlichen Stärkung der erweiterten Gewaltenteilung führen ( Kap. 2.5.1).
Die Regierung ist die zentrale Handlungsträgerin der aktuellen Politik. In der Parlamentarischen Demokratie wird die Regierung vom Parlament gewählt. Außerdem ist ihre Handlungsfähigkeit von diesem dauerhaft abhängig – und damit auch von evtl. Koalitionsproblemen und von den ideologischen und personellen Veränderungen innerhalb der regierenden Parteien. Die fundamentalen Kriterien der Repräsentativität des Parlaments und der Handlungsfähigkeit der Regierung ( Kap. 3.1.2) offenbaren in der Praxis ein systematisches Wahlrechtsdilemma ( Kap. 3.2.2).
Ein zentrales Problem einer Parlamentarischen Demokratie mit mehreren Parlamentsfraktionen resultiert aus der Notwendigkeit der Bildung von Koalitionen und führt dabei evtl. zu einem »Koalitionstheater« ( Kap. 3.1.3