Über dieses E-Book

Privatdetektivin Molly Murphy ist außer sich vor Freude, als sie Tickets für die Show eines äußerst angesagten Illusionisten-Trios ergattert. Der Star des Abends ist Harry Houdini. Doch noch bevor er die Bühne betreten kann, missglückt der Eröffnungsakt und eine Assistentin wird schwer verletzt. Die Zuschauer sind entsetzt – und Houdini wird verdächtigt, die Geräte manipuliert zu haben. Molly nimmt sich des Falls an, doch wie kann sie einen Mann schützen, der buchstäblich jede Nacht sein Leben riskiert? Und wie will sie aufdecken, ob die Meister der Illusionen nur ihre Tricks anwenden oder ob wirklich eine Verschwörung im Gange ist?

Impressum

Deutsche Erstausgabe November 2020

Copyright © 2021 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH
Made in Stuttgart with ♥
Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96087-908-4

Copyright © 2010 by Rhys Bowen. Alle Rechte vorbehalten.
Titel des englischen Originals: The Last Illusion

Published by Arrangement with Janet Quin-Harkin.
c/o JANE ROTROSEN AGENCY LLC, 318 East 51st Street, NEW YORK, NY 10022 USA.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Übersetzt von: Martin Spieß
Covergestaltung: Grit Bomhauer
Unter Verwendung von Motiven von
shutterstock.com: © Nick Starichenko, © ShotPrime Studio, © Lukasz Szwaj, © Fanya, © Potapov Alexander, © Nerthuz
Korrektorat: Lennart Janson

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Dieses Buch ist dem Andenken meiner lieben Freundin und Krimiautorenkollegin Lyn Hamilton gewidmet, die am 10. September 2009 nach einem langen, furchtlosen Kampf gegen den Krebs starb.

 

Eins

New York City, Juli 1903

„Ladies and Gentlemen. Für meine letzte Illusion werde ich ein Kunststück vollbringen, das Sie verblüffen und in Erstaunen versetzen wird – ein Kunststück, das nie zuvor in der Geschichte der Zauberei versucht wurde, ein Kunststück voller Gefahr und Schrecken.“ Der Entertainer, der dem Publikum als der erstaunliche und sensationelle Signor Scarpelli vorgestellt worden war, machte eine Kunstpause. Die Atmosphäre im Theater war elektrisiert. Eine hübsche, junge Frau trat aus den Schatten der Seitenbühne. Sie trug ein weißes, mit Pailletten besetztes Kostüm, das ab der Mitte ihrer Oberschenkel wohlgeformte Beine entblößte; dazu weiße Netzstrümpfe und kniehohe, weiße Stiefel. Der Illusionist, ein eleganter, kleiner Mann mit eindrucksvollem Schnauzbart, streckte ihr eine Hand entgegen. Sie ergriff die Hand und bewegte sich anmutig ins Scheinwerferlicht. „Ladies and Gentlemen, ich präsentiere Ihnen die liebliche Lily. Heute Abend werde ich versuchen, diese erlesene, junge Dame in der Mitte durchzusägen.“

Aus dem Publikum ertönte entsetztes Keuchen. Ich glaube, ich hatte selbst etwas gekeucht. Ich blickte zu Daniel hinüber, der neben mir saß, und ärgerte mich, als ich sah, dass er grinste. Als ein Polizist, der alles gesehen hatte, war es unwahrscheinlich, dass ihn ein bloßes Bühnenspektakel ängstigen konnte. Ich, immer noch das einfache, irische Bauernmädchen, war von den einfachsten Tricks verblüfft und beeindruckt gewesen, die diesen Abend der Illusionen im Miner’s Theatre auf der Bowery eingeleitet hatten – Tauben, die aus dem Nichts auftauchten, dann in Käfige gesteckt wurden, nur um wieder zu verschwinden; Hüte, die große Blumensträuße hervorbrachten und sogar clevere Kartentricks.

Offen gesagt hatte ich so etwas noch nie zuvor gesehen und ich amüsierte mich ungemein. Ganz besonders genoss ich es, ausnahmsweise einmal einen Abend mit meinem Zukünftigen zu verbringen. Es kam nicht oft vor, dass ein Captain der New Yorker Polizei wie Daniel Sullivan plötzlich Freizeit hatte, um seine Geliebte ins Theater auszuführen.

Eine große Vorrichtung wurde auf die Bühne gerollt. Sie war mit einem roten Samt-Tuch verhüllt, das Scarpelli auf dramatische Weise wegriss und so einen Tisch auf Rollen enthüllte, auf dem eine große, rechteckige Kiste ruhte, die mit grellen Flammen und Sternschnuppen bemalt war. Dann drehte er sie herum, um zu zeigen, dass sich an beiden Enden kleine Öffnungen befanden. Scarpelli öffnete dann den Deckel der Kiste, ließ die Vorderwand herunter und zeigte uns einen mit weißer Seide ausgekleideten Innenraum, so wie man ihn vielleicht in einem höherwertigen Sarg sehen würde. Dann streckte er der Frau eine Hand entgegen.

„Jetzt werde ich meine liebliche Assistentin Lily bitten, in diese entsetzliche Vorrichtung zu steigen“, sagte er.

Lily lächelte und winkte der Menge zu, während sie dem Großen Scarpelli erlaubte, ihr in die Kiste zu helfen, in der sie still dalag, während der Deckel geschlossen wurde, was ihren Kopf am einen Ende und am anderen ihre Füße herausschauen ließ. Dann wurde die Kiste mit zwei großen Schlössern verriegelt. Aus dem Orchestergraben ertönte ein leiser, unheilvoller Trommelwirbel. Der Große Scarpelli holte eine beeindruckend aussehende Säge, bog sie hin und her und wedelte damit herum.

„Ladies and Gentlemen, eine gewöhnliche, alltägliche Säge, mit der die Gentlemen unter Ihnen vertraut sind, da bin ich mir sicher. Dieses spezielle Exemplar wurde bis zur Perfektion geschärft, tatsächlich bin ich mir sicher, dass jeder von Ihnen sie für seinen eigenen Holzstoß begehren würde. Erlauben Sie mir, das zu demonstrieren.“

Ein männlicher Assistent schob einen kleinen Tisch heraus, auf dem ein Holzscheit lag. Der Große Scarpelli zog sein Jackett aus, krempelte sich die Ärmel hoch und begann, den Scheit überaus wirkungsvoll zu zersägen, bis zwei Hälften auf den Bühnenboden fielen.

„Also stimmen Sie mit mir überein, dass ich kein Problem haben sollte, ein so zierliches Exemplar wie die liebliche Lily durchzusägen“, sagte er und grinste das Publikum boshaft an. „Also gut. An die Arbeit. Trommelwirbel, bitte, Maestro.“

Der Trommelwirbel setzte wieder ein, wurde lauter und lauter, bis er das gesamte Theater erfüllte. Ich konnte beinahe spüren, wie die Menschen um mich herum den Atem anhielten. Ich wusste, dass ich meinen anhielt. Vorsichtig platzierte er die Säge in der Mitte der Kiste und begann, sie vor und zurück zu bewegen. Sie ging durch die oberste Holzschicht wie durch Butter. Wir konnten sehen, dass sie bei jedem Stoß herausragte und immer tiefer sank. Sie musste mittlerweile den Körper der Frau erreicht haben. Plötzlich, über den Lärm der Säge und der Trommel hinweg, ertönte ein markerschütternder Schrei. Schreie hallten aus dem Publikum wider. Einige Menschen hatten sich erhoben. Einige Damen wurden bereits ohnmächtig. Es war klar, dass etwas schiefgelaufen war.

„Heilige Mutter Gottes“, hörte ich mich murmeln.

Signor Scarpelli zog die Säge mit einiger Schwierigkeit heraus, warf sie auf den Boden, dann eilte er um den Tisch herum und hantierte verzweifelt an den Schlössern. Das Geschrei hatte jetzt aufgehört und im Theater war es unheilvoll still.

„Hübsches Detail“, murmelte mir Daniel ins Ohr. „So kriegt jeder richtig Angst.“

Dann sahen wir etwas von der Unterseite der Kiste auf den Boden tropfen. Große, rote Tropfen.

„Das ist Blut. Sehen Sie, das ist Blut“, keuchte jemand in der Reihe hinter uns.

„Nein! Das kann nicht sein!“, rief Scarpelli. „Jemand muss mir helfen, sie herauszubekommen.“

Bühnenarbeiter eilten ihm zu Hilfe.

„Keine Sorge“, flüsterte Daniel mir zu. „Das ist alles nur für den Effekt, merk dir meine Worte.“

In diesem Moment riss Scarpelli den Deckel der Kiste auf.

„Oh, Gott im Himmel, nein, nein!“, rief er. „Welcher Teufel hat das getan? Hilfe, jemand muss ihr helfen!“

In diesem Augenblick kam der Theaterdirektor auf die Bühne. „Ladies and Gentlemen“, sagte er und hob die Hände, um für Stille zu sorgen, obwohl der Großteil des Publikums bereits regungslos verharrte und voller Schrecken zur Bühne starrte. „Ich fürchte, es hat ein kleines Malheur gegeben. Es scheint, dass etwas schrecklich schiefgelaufen ist. Ist ein Arzt im Haus?“

„Ja, ich bin Arzt“, ertönte eine tiefe, dröhnende Stimme von irgendwo in der Dunkelheit und ein bedeutend aussehender Mann mit imposantem, grauem Backenbart stieg die Stufen zur Bühne hinauf; für jemanden seines Alters war er rüstig und beweglich. „Bitte treten Sie zurück“, befahl er und schob alle aus dem Weg. Er warf einen Blick auf die dort liegende Frau und sprach dann den Direktor an. „Das sieht äußerst ernst aus“, bellte er. „Rufen Sie sofort einen Krankenwagen und senken Sie den Vorhang.“ Er wandte sich wieder der Frau zu, um ihr zu helfen, während der Direktor an den Bühnenrand trat.

„Ladies and Gentlemen, ich bitte Sie, das Theater zu verlassen und nach Hause zu gehen. Der Rest der Show heute Abend ist abgesagt.“

Nach diesen Worten ertönte verärgertes und enttäuschtes Gemurmel aus dem Publikum, aber die Leute begannen, ihre Plätze zu verlassen.

Die Vorhänge senkten sich. Daniel hatte vor mir den Gang erreicht. Er schob sich wie ein Lachs, der stromaufwärts schwimmt, durch die Menge und steuerte auf die Bühne zu. Ich folgte in seinem Fahrwasser. Der Gedanke, dass ich vielleicht nicht sehen wollte, was dort oben passiert war, kam mir nicht. Ich ging hinter Daniel die Stufen hinauf. Er zog den Vorhang beiseite, der mittlerweile bis auf die Bühne heruntergefallen war. Es war beinahe so, als spielte sich vor unseren Augen die Szene eines Gemäldes ab – die Männer scharten sich um die offene Kiste, der Arzt beugte sich darüber. Sie blickten auf, als sie uns auf die Bühne kommen sahen.

„Sind Sie auch Arzt, Sir?“, verlangte der Arzt zu wissen und sah von seiner Patientin auf. „Denn wenn nicht, bitte ich Sie, augenblicklich zu gehen ...“

„Nein, ich bin Police Detective“, sagte Daniel. „Captain Sullivan.“ Er fischte in seiner Tasche herum und holte seine Marke hervor. „Und ehe irgendwer von Ihnen herumläuft und alles anfasst, schätze ich, dass wir das hier jetzt als Tatort behandeln müssen.“

„Das müssen wir in der Tat, Captain.“ Scarpelli bewegte sich auf Daniel zu. „Jemand muss sich an meinen Gerätschaften zu schaffen gemacht haben. Es war unmöglich, dass die Säge auch nur irgendwie in ihre Nähe hätte kommen können. Ich hatte die Illusion perfektioniert.“

„Wie schlimm ist es?“ Daniel trat näher an die Kiste heran. Ich folgte unbemerkt. Lily lag regungslos und blass in der weiß ausgekleideten Kiste und in ihrer Mitte klaffte ein großer, roter Schnitt. Sie war wirklich beinahe in der Mitte durchgesägt worden. Ihr weißbesetztes Kostüm war jetzt aufgerissen und blutrot befleckt. Noch immer quoll Blut aus der schrecklichen, klaffenden Wunde und tropfte stetig auf den Boden. Ich schluckte die Galle herunter, die in meinem Hals emporstieg.

Der Arzt hatte Lilys Puls gefühlt, sah auf und begegnete Daniels festem Blick. „Sie lebt noch, aber nur gerade so“, sagte er. „Ich bezweifle, dass man für das arme Ding irgendetwas tun kann. Die Säge hat ihre Eingeweide Zweifels ohne irreparabel aufgerissen. Und so viel Blut zu verlieren ... nicht mehr lange und ihr Körper wird einen schweren Schock erleiden.“

Scarpelli streckte eine Hand in die Kiste und ergriff Lilys schlaffe, weiße Hand. Sie hatte elegante, lange Finger und ihre Hand war jetzt so weiß, dass sie aus Porzellan hätte sein können. „Lily, meine arme, liebe Lily. Was habe ich dir angetan? Vergib mir, Lily. Gott, vergib mir.“ Er küsste sanft ihre Hand, ehe er sie wieder an ihre Seite legte.

„Hat irgendjemand einen Krankenwagen gerufen?“, fragte Daniel.

„Ernest“, murmelte einer der Bühnenarbeiter.

„Dann sollte einer von Ihnen einen Constable suchen gehen“, befahl Daniel. „Sagen Sie ihm, Captain Daniel Sullivan hat gesagt, dass es einen versuchten Mord gegeben hat und dass er dem diensthabenden Beamten im Hauptquartier Bericht erstatten soll. Ich brauche augenblicklich Männer hier.“

„Versuchter Mord?“ Der Theaterdirektor wirkte fassungslos. „Ein Unfall, sicherlich. Ein schrecklicher Unfall.“

„Der Illusionist behauptet, dass sich jemand an seinen Gerätschaften zu schaffen gemacht hat. Ich muss es daher als versuchten Mord behandeln. Und jetzt geht bitte jemand und sucht einen Polizisten.“ Er zeigte auf einen pickeligen Jüngling, der in der Nähe stand und mit entsetzter Faszination vor sich hinstarrte. „Du, Junge.“

„Sehr wohl, Captain, Sir“, sagte der Jüngling. „Ich weiß, wo ich einen Constable finden kann.“ Er rannte von der Bühne, seine Schritte polterten über den Holzboden und hallten durch den Bereich hinter der Bühne.

„Hol jemand Decken, damit wir sie zudecken können“, befahl der Arzt. „Sie kühlt aus. Wir werden sie verlieren, ehe sie es ins nächste Krankenhaus schafft.“

„Hier, sie kann meinen Überwurf haben“, sagte ich.

Die Männer sahen auf, als bemerkten sie mich jetzt zum ersten Mal. „Junge Dame, Sie sollten nicht hier sein“, sagte der Theaterdirektor. „Das ist kein Ort für eine zierliche, junge Frau wie Sie.“

„Ich gehöre zu Daniel Sullivan“, sagte ich, „und ich habe schon Schlimmeres gesehen.“

Ich bemerkte, dass Daniel mich verärgert ansah. „Ich glaube, der Mann hat recht, Molly. Du solltest nach Hause gehen. Ich lasse dir von einem dieser Burschen eine Droschke rufen. Ich könnte hier länger beschäftigt sein.“

„Das macht mir nichts aus. Ich werde bleiben“, sagte ich. „Vielleicht kann ich etwas Nützliches tun.“

„Ich glaube wirklich nicht–“, sagte Daniel und sah mich jetzt mit einem Blick an, der deutlich sagte: „Ich will, dass du mir ausnahmsweise einmal ohne viel Aufhebens gehorchst.“

„Junge Frau, es gibt hier nichts, was Sie tun könnten. Gehen Sie nach Hause“, blaffte mich der Arzt an. „Je weniger Menschen hier sind, desto besser.“

Ich entschied, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinen Zweck hatte, eine Szene zu machen oder Daniel zu verärgern. Es gab wirklich nichts, was ich tun konnte, und warum sollte ich hierbleiben und einer armen jungen Frau beim Verbluten zusehen? In Wahrheit war mir etwas übel.

„In Ordnung“, sagte ich. „Ich will hier nicht im Weg stehen.“

„Braves Mädchen.“ Daniel lächelte mich erleichtert an. „Würde einer von Ihnen Miss Murphy eine Droschke rufen? Ich sehe nach meinen Männern.“ Er ging die Stufen hinunter und auf mehrere Police Constables zu, die gerade das Theater betreten hatten.

Ein weiterer Bühnenarbeiter entfernte sich. Ich war drauf und dran, ihm zu folgen, als ich hörte, wie sich schnelle Schritte der Bühne näherten und ein kleiner, muskulöser, dunkelhaariger Mann erschien, dem eine hübsche, zierliche Frau in Pagenkostüm und Strumpfhose folgte.

„Was soll das alles?“, verlangte der Mann zu wissen. „Mir wurde gerade gesagt, dass die Show abgesagt wurde.“ Er näherte sich dem Direktor, seine dunklen Augen blitzten auf dramatische Art, da er komplett geschminkt war.

Ich erkannte ihn augenblicklich als Harry Houdini, den Handschellenkönig, den Mann, den wir zu sehen gekommen waren. Daniel hatte seine Karriere voller Faszination verfolgt, seit er sich vor einigen Jahren im Polizeihauptquartier vorgestellt und die Polizei herausgefordert hatte, Handschellen vorzulegen, aus denen er sich nicht befreien könnte. Sie hatten keinen Erfolg gehabt.

„Das ist richtig, Mr. Houdini“, sagte der Direktor. „Ich fürchte, es hat einen scheußlichen Unfall gegeben und ich hatte keine Wahl, als das Publikum nach Hause zu schicken.“

„Dazu hatten Sie kein Recht“, tobte der kleine Mann. Mir fiel auf, dass er mit einem leichten ausländischen Akzent sprach. „Sie sind gekommen, um mich zu sehen, wissen Sie? Sie haben sie der einen Chance beraubt, den größten Illusionisten im Showgeschäft zu sehen. Diese anderen sind bloß Amateure.“

„Wen nennen Sie hier einen Amateur?“, verlangte Scarpelli zu wissen und drehte sich, um Houdini entgegenzutreten. „Ich bin seit mehr Jahren in diesem Geschäft als Sie warme Mahlzeiten hatten. Glauben Sie nicht, dass Sie hierher zurückkommen und sich wie der große Star aufführen können, nur weil Sie einmal die Hauptattraktion beim Orpheum Circuit waren und in Europa ein bisschen Erfolg hatten.“

„Aber ich bin der große Star“, sagte Houdini und streckte in einer dramatischen Geste die Arme aus. „In ganz Europa habe ich Könige und Kaiser unterhalten. Zar Nikolaus von Russland hat versucht, mich zu überzeugen, als sein persönlicher Berater bei Hofe zu bleiben. Ich bin nur für ein paar Wochen hier, und jetzt wurde mein Debüt in New York durch einen kleinen Unfall ruiniert.“

„Ein kleiner Unfall?“, setzte der Theaterdirektor an und starrte Houdini voller Abneigung an. „Mein lieber Herr, wir reden hier von einer großen Tragödie ...“

Die hübsche Frau legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Reg dich nicht so auf, Harry. Es wird andere Abende geben. Das Publikum wird morgen zurückkommen und ...“ Jetzt war ihr offensichtlich zum ersten Mal die Kiste mit Lily darin aufgefallen und sie schrie entsetzt auf. „Oh, mein Gott, Harry. Sie ist wirklich in der Mitte durchgesägt worden!“ Sie legte sich eine Hand auf den Mund und schwankte, als würde sie ohnmächtig werden. Houdini fing sie auf.

„Es ist okay, Bess, Herzblatt. Du wirst in Ordnung kommen.“ Er half ihr zu einem Stuhl in der Nähe, auf dem sie keuchend und würgend zusammenbrach. Dann erblickte er die blutbefleckte Gestalt in der Kiste.

„Oh je“, murmelte er und legte sich eine Hand auf den Mund. „Es tut mir leid. Ich hatte keine Ahnung, dass es so schlimm ist. Was ist passiert? Was ist schiefgelaufen?“

„Jemand muss sich daran zu schaffen gemacht haben“, blaffte Scarpelli. „Der Trick war idiotensicher. Ich hatte ihn perfektioniert. Es gab keine Möglichkeit ... Jemand muss es darauf abgesehen haben, mir Schaden zuzufügen. Meinen Ruf zu ruinieren. Vielleicht jemand, der sich selbst für den neuen König der Illusionisten hält?“ Er ging auf Harry Houdini zu und starrte ihn an. Sie standen sich Auge in Auge gegenüber.

„Machen Sie sich nicht lächerlich“, sagte Houdini. „Ich würde mich nie an der Show eines Kollegen zu schaffen machen. So tief würde ich nicht sinken. Und ich würde nie–“ Sein Blick wanderte zu Lily. „Ist sie tot?“

„Ich fühle immer noch einen schwachen Puls“, sagte der Arzt.

„Worauf warten wir dann?“, wollte Houdini wissen. „Das Ding steht auf Rollen, oder nicht? Bringen wir es zum nächsten Ausgang, von wo aus sie ins Krankenhaus gebracht werden kann.“ Er bedeutete den verbliebenen Männern, sich ihm anzuschließen, dann sah er zu Bess zurück, die gebeugt auf dem Stuhl saß, ihr Körper noch immer von heftigem Schluchzen erschüttert. „Jemand sollte meine Frau zurück in unsere Garderobe bringen.“

„Ich mache das“, sagte ich.

„Das wäre sehr freundlich. Sehr verbunden, Miss“, sagte Houdini, ehe sie antworten konnte. „Sie ist selbst zu ihren besten Zeiten ein zierliches, kleines Ding und ein Anblick wie dieser würde selbst die stärkste Konstitution durcheinanderbringen.“

Die Männer machten sich schon bereit, die Kiste samt Lily hinauszurollen. Ich erinnerte mich daran, was ich zu tun vorgehabt hatte, und legte meinen Überwurf über sie. Es war nur ein Seidenüberwurf, wie er zu einem Ausflug an einem Juliabend passt, aber es war besser als nichts und wenigstens bedeckte er diese schreckliche Wunde. Ich blickte ein letztes Mal mitleidig auf sie hinab, dann ging ich zu der gebeugten Erscheinung von Bess und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Kommen Sie, Mrs. Houdini. Ich bringe Sie an einen Ort, wo Sie sich hinlegen können.“

„Danke“, schaffte sie zwischen zwei Schluchzern zu flüstern. „Bringen Sie mich hier raus, bitte, ehe ich mich übergebe.“ Mir fiel auf, dass der Akzent ihre zierliche, puppenhafte Erscheinung Lügen strafte. Pures Brooklyn.

Ich verließ die Bühne und stützte Mrs. Houdini, während ich sie durch den Bereich hinter der Bühne führte und dabei die üblichen Fallen vermied: die Seile, die Gewichte des Vorhangs, die Kulissen. Glücklicherweise hatte ich mal bei einem Fall in der Theaterwelt als Tänzerin gearbeitet, also fühlte ich mich hier wie zu Hause. Es war gut, dass ich Bess Houdini half, denn sie war nicht in der Verfassung, allein zu laufen. Sie taumelte wie eine Betrunkene und umklammerte meinen Arm so fest, dass sich ihre Nägel in meine Haut gruben. „All das Blut!“

„Ich weiß. Es war wirklich schrecklich, aber es gibt nichts, was Sie oder ich für die Frau tun können, und es wird Ihnen besser gehen, wenn Sie sich erst hinlegen.“

Wir erreichten schließlich am Ende eines langen Flurs die Garderobe der Houdinis. Sie hatte einen Stern auf der Tür, aber innen befand sich nichts Ausgefallenes.

Offensichtlich ließ sich dieser Houdini nicht wie jemand behandeln, der in seinem Heimatland Könige und Kaiser unterhielt. In einer Ecke stand eine Rosshaar-Couch und ich ließ Bess sich darauflegen. „So“, sagte ich und deckte sie mit einer Afghan-Decke zu.

„Mein Riechsalz“, keuchte sie. „Auf dem Frisiertisch.“

Ich fand es zwischen dem üblichen Theaterzubehör – Theaterschminkstifte, Watte, Feuchtigkeitscreme und verschiedene Arzneien, die die Nerven beruhigen und Vitalität wiederherstellen sollen. Sie hielt sich die kleine Flasche unter die Nase, hustete und gab sie mir wieder zurück. „Schon besser“, sagte sie mit einer normaleren Stimme.

Ich habe nie verstanden, was Frauen mit Riechsalz wollen. Entsetzliches Zeug. Andererseits habe ich auch noch nie ein Korsett getragen, also habe ich nicht die Angewohnheit, so häufig ohnmächtig zu werden.

„Jetzt wird es mir gut gehen. Danke noch mal, Miss–“

„Murphy“, sagte ich. „Molly Murphy.“

Sie sah zu mir auf und lächelte. Sie war wirklich ein liebliches, zierliches kleines Ding. Zerbrechlich wie eine Porzellanpuppe. „Danke für Ihre Hilfe. Sie sind überaus gütig. Arbeiten Sie hier im Theater?“

„Nein, ich saß mit meinem Zukünftigen im Publikum, der Polizist ist, also ist er natürlich zur Bühne geeilt, als er sah, was passiert war.“

Sie erschauderte und wickelte die Decke fester um sich. „Es ist zu schrecklich, um darüber nachzudenken, oder nicht? Das hätte ich sein können. Und mein Harry riskiert jeden Abend auf der Bühne sein Leben. An jedem einzelnen Abend. Ich weiß, es sind nur Illusionen“, fuhr sie fort, „aber sie müssen diese Aura der Gefahr haben, sonst würde das Publikum nicht kommen. Wenn wir die Nummer machen, die wir Metamorphose nennen, habe ich insgeheim immer Angst, dass ich in der Truhe ersticke, falls ich an einem Abend mal nicht herauskomme.“

„Das ist kein Leben, das ich mir wünschen würde“, sagte ich. „Ich habe eine kurze Zeit im Theater verbracht und kann nicht behaupten, dass ich die Anziehungskraft verstanden habe.“

„Sie waren Schauspielerin?“ Sie sah mich ungläubig an und ich war mir sicher, dass sie meine gesunden Knochen und den entschiedenen Mangel von Schminke und Froufrou bemerkte.

„Eine Tänzerin“, lachte ich. „Ja, ich weiß, ich bin ein bisschen zu groß und sehe zu gesund aus für die durchschnittliche Tänzerin, aber in Wirklichkeit bin ich Privatdetektivin und ermittelte in einem Fall.“

„Ein weiblicher Detektiv? Nein – gibt es so etwas?“

„Gibt es und ich bin eine von ihnen“, sagte ich und griff in meine Handtasche. „Hier ist meine Karte, wenn Sie einen Beweis wollen.“

Sie musterte die Karte sorgfältig, dann sah sie in mein Gesicht, als versuche sie immer noch, sich einen Reim auf das zu machen, was sie gerade gelesen hatte. „Ein weiblicher Detektiv“, wiederholte sie. „Oh je, das klingt aufregend.“

„Manchmal etwas zu aufregend“, sagte ich. „Mein Zukünftiger will, dass ich es aufgebe, wenn wir heiraten.“

„Nun, das ist verständlich, oder nicht? Ich habe Glück, dass ich einen der wenigen Berufe habe, in dem ich an der Seite meines Ehemanns arbeiten kann. Es gibt zu viele flatterhafte Mädchen in der Theaterwelt, die liebend gerne ihre Klauen in meinen armen Harry schlagen würden.“

„Ich bin mir sicher, er hat nur Augen für Sie“, sagte ich diplomatisch.

„Ich hoffe, das ist wahr“, sagte sie. „Trotz all seines Gepolters und seiner Prahlerei ist er immer noch leicht zu beeindrucken. Im tiefsten Inneren ist er ein einfacher Kleinstadtjunge. Es ist eine echte ‚vom Tellerwäscher zum Millionär‘-Geschichte. Sein Vater war Rabbiner, wissen Sie? Er wurde in Ungarn geboren und als sie herkamen, war die Familie wirklich arm – beinahe am Verhungern.“

Ich dachte, dass ich mich besser aus dem Staub machte, ehe sie mir diese Geschichte im Detail erzählte. „Ich sollte wirklich zurück“, sagte ich. „Eine Droschke wartet auf mich und mein Zukünftiger wird sich fragen, wo ich abgeblieben bin.“

Sie streckte eine zierliche, weiße Hand aus. „Danke noch mal. Sie waren sehr freundlich.“

„Passen Sie auf sich auf“, sagte ich.

„Oh, das werde ich. Um mich mache ich mir keine Sorgen. Es ist Harry. Ich mache mir jeden einzelnen Tag Sorgen um ihn.“

Ich ging hinaus und schloss leise die Tür hinter mir. Ich war ebenfalls im Begriff, jemanden zu heiraten, der einem gefahrvollen Beruf nachging. Würde ich mir jeden einzelnen Tag um Daniel Sorgen machen?

Zwei

Ich kam zur Bühne zurück und fand Daniel, Signor Scarpelli und den Theaterdirektor in einer Unterhaltung vor. Keine Spur von der Kiste mit Lily darin oder von Houdini.

„Molly, du bist immer noch hier?“ Daniel sah überrascht auf. „Ich dachte, die Droschke wäre schon vor Stunden für dich gekommen.“

„Ich habe Mrs. Houdini in ihre Garderobe gebracht und sie war in einem so verzweifelten Zustand, dass ich sie nicht allein lassen konnte, ehe sie sich beruhigt hatte“, sagte ich.

„Gut von Ihnen, Miss“, sagte der Theaterdirektor. „Es war ein überaus erschütternder Anblick. Schrecklich. Ich habe so etwas in meinen Theatern noch nie gesehen, und ich hatte Feuerschlucker, Löwenbändiger, alles Mögliche.“

Daniel räusperte sich, wollte offensichtlich zur Sache kommen. „Nun, Mr. Scarpelli – ist das Ihr richtiger Name?“

„Mein Bühnenname“, sagte der Mann. „Im echten Leben heiße ich Alfred Rosen.“

„Und der Name des Mädchens?“

„Lily Kaufman.“

„Eine Verwandte von Ihnen?“

Scarpelli wirkte beinahe schüchtern. „Nein, nur eine Mitarbeiterin.“

„Ich verstehe.“ Daniel nickte. „Ich brauche Namen und Adresse ihrer Angehörigen. Sie müssen benachrichtigt werden.“

„Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich das lieber selbst tun“, sagte Scarpelli. „Ich fühle mich verantwortlich. Es wäre das Richtige, sie persönlich zu besuchen. Lily hielt große Stücke auf ihre Eltern. Hat ihnen regelmäßig Geld geschickt, jeden Monat.“

„Sehr wohl, aber ich brauche dennoch ihren Namen und ihre Adresse für unsere Akten.“

„Ich kann morgen früh auf Ihre Wache kommen und Ihnen all das bringen, wenn es Ihnen nichts ausmacht“, sagte Scarpelli. „Ich weiß die Adresse nicht aus dem Kopf und im Moment bin ich völlig durcheinander. Mein Herz hat noch nicht aufgehört zu rasen. Ich kann es immer noch nicht glauben, wenn Sie die Wahrheit wissen wollen. Ich denke immer noch, dass es ein schrecklicher Alptraum ist und ich jeden Augenblick aufwache.“

„Sie haben ausgesagt, dass sich jemand an Ihren Gerätschaften zu schaffen gemacht haben muss“, sagte Daniel und zeigte kein Mitgefühl. „Wieso sind Sie sich dessen so sicher? Wieso kann es nicht einfach eine Fehlfunktion Ihres Tricks gewesen sein?“

„Weil der Trick idiotensicher hätte sein sollen“, sagte Scarpelli.

„Erklären Sie ihn mir.“

Scarpelli hob entsetzt die Hände. „Mein lieber Herr. Ein Illusionist enthüllt niemandem seine Geheimnisse, niemals.“

„Wie Sie wünschen“, sagte Daniel, „aber Sie müssen sich bewusst sein, dass Sie der einzige Beweis sind, den ich bis jetzt dafür habe, dass ein Verbrechen verübt wurde. Sie, der eine Säge schwingt und ziemlich sicher eine junge Frau getötet hat. Eine besonders praktische Art und Weise eine Person loszuwerden, die Sie vielleicht tot sehen wollten.“

Scarpellis Gesicht wurde rot. „Sie glauben, dass ich ... Captain, ich versichere Ihnen, dass ich Lily außerordentlich gernhatte. Ich hätte nie etwas getan, das ihr schadet.“

„Was also lässt Sie glauben, dass jemand anderes ihr würde schaden wollen?“

Scarpelli hielt inne, sah sich um und senkte dann die Stimme. „Es sind Kleinigkeiten passiert“, sagte er. „Kleine Pannen bei der Show. Schlösser, die sich nicht öffnen ließen, Requisiten, die direkt vor Vorstellungsbeginn auf mysteriöse Weise verschwanden. Ich habe diese Vorkommnisse auf Lilys mangelnde Ordnung geschoben. Sie war ein bisschen schusselig, wissen Sie? Aber jetzt frage ich mich, ob jemand die ganze Zeit versucht hat, meine Show zu sabotieren. Es war niemand, der Lily Schaden zufügen wollte, es war jemand, der vorhatte, meinen Ruf als Illusionist zu ruinieren.“

„Also, sagen Sie mir, warum ich glauben sollte, dass der Unfall nicht bloß eine Fehlfunktion Ihrer Gerätschaften war“, beharrte Daniel. „Ihr Geheimnis wird vor Gericht so oder so herauskommen, wenn man Sie wegen Fahrlässigkeit oder, schlimmer noch, Mord anklagt.“

Scarpelli blickte erst zum Theaterdirektor, dann zu mir. „Die beiden dürfen es nicht erfahren“, sagte er.

„Molly, ich glaube, es ist an der Zeit, dass du nach Hause gehst“, sagte Daniel. „Die Droschke wartet seit Stunden und du hast in einer polizeilichen Ermittlung nichts verloren.“

Wie aufs Stichwort platzten etliche Polizisten durch die Vordertüren herein.

„Hier oben, Männer“, rief Daniel. Dann legte er mir eine Hand auf die Schulter und küsste mich flüchtig auf die Wange. „Geh schon“, sagte er.

Ich hatte keine Wahl, als zu gehen, gerade als die Dinge interessant wurden.

 

Die Droschke brachte mich sicher zu meinem kleinen Haus im Patchin Place. Ich machte mir eine Tasse Tee und ging dann nach oben ins Bett. Das Fenster stand offen und ließ die Sommerbrise und den Duft der Rosen herein, die über meine Gartenmauer wuchsen. Ich stand am Fenster, nahm tiefe Atemzüge und versuchte, das schreckliche Bild aus meinen Gedanken zu vertreiben. Plötzlich fühlte ich mich entsetzlich allein und verletzlich. Ich hatte mich bis jetzt stets für eine starke und unabhängige Frau gehalten. Ich hatte es nie eilig gehabt, zu heiraten und meine Unabhängigkeit aufzugeben. Aber in diesem Moment sehnte ich mich nach starken Armen, die mich umschlossen, und dachte daran, wie beruhigend es wäre, in Daniels Armen einzuschlafen und mich sicher und beschützt zu fühlen. Dann ermahnte ich mich selbstverständlich, dass ich jemanden heiraten würde, dessen eigenes Leben für immer mit Gewalt verknüpft sein würde. Wie Bess Houdini würde ich mich ununterbrochen um meinen Ehemann sorgen, jedes Mal, wenn er spät nach Hause kam.

Schließlich schlief ich ein und erwachte an einem herrlichen Sommermorgen: Die Sonne flutete zum Fenster herein und die Gardine flatterte träge in der Brise. Die Schrecken der Nacht waren vertrieben. Ich stand auf, zog mich an und war bereit, den Tag zu beginnen, als es an meiner Tür klopfte. Ich hoffte, es wäre vielleicht Daniel, der auf seinem Weg zur Arbeit kurz vorbeikam, um mir die Einzelheiten dessen zu berichten, was sich im Theater ereignet hatte, nachdem ich nach Hause gegangen war. Stattdessen war es meine Nachbarin Augusta Walcott, von den Walcotts aus Boston, für gewöhnlich bekannt unter ihrem respektlosen Spitznamen Gus. Sie hielt einen Korb im Arm.

„Guten Morgen“, sagte sie. „Ich war gerade bei der Bäckerei in der Greenwich Avenue und bin mit ofenwarmen Croissants zurückgekehrt. Komm und frühstücke mit uns. Wir brennen darauf, zu hören, was du von diesem Houdini hältst.“

„Was das betrifft: Ich hatte keine Gelegenheit, ihn auftreten zu sehen“, sagte ich. „Ich nehme an, du hast die Morgenausgabe der Times noch nicht gelesen.“

„Nein, habe ich nicht. Im Moment lauert sie zusammen mit den Brötchen im Korb. Abgesehen davon liest Sid sie immer gern zuerst. Houdini ist also gar nicht aufgetreten?“

„Es gab einen schrecklichen Unfall bei der Show, die seiner vorausging“, sagte ich. „Die Illusion sollte sein, eine junge Frau in der Mitte durchzusägen. Aber etwas ging schief und sie wurde wirklich von der Säge aufgeschlitzt.“

„Guter Gott“, sagte Gus. „Wurde sie schwer verletzt?“

Es fiel mir schwer, die Worte herauszupressen. „Man ging nicht davon aus, dass sie überlebt, fürchte ich. Der Direktor unterbrach die Show und schickte alle nach Hause.“

„Wie schrecklich für dich. Du brauchst eine Dosis von Sids Kaffee, um dich wiederherzustellen.“

In Wahrheit brauchte ich Sids Kaffee nicht. Sie machte ihn auf türkische Weise, abscheulich stark und so dick, dass man das Gefühl bekommt, als trinke man zähflüssigen Schlamm. Aber die heitere Gesellschaft meiner Freundinnen machte den Kaffee mehr als wett. Ich folgte Gus über die Straße zu ihrem Haus auf der anderen Seite unseres kleinen, verschlafenen Nests. Es war ein charmanter Zufluchtsort von zwanzig Stadthäusern in einer Gasse mit Kopfsteinpflaster und gab einem das Gefühl, meilenweit weg zu sein vom Verkehr und der Geschäftigkeit der Greenwich Avenue und des Jefferson Market gleich gegenüber.

Gus warf ihre Haustür auf. „Sid, Liebste. Hier ist sie, und sie hat eine wirklich dramatische Geschichte zu erzählen.“

Wir gingen den langen Flur hinunter und durch die Küche zur Rückseite des Hauses. Die beiden hatten sich einen Wintergarten angebaut und Sid saß in einem weißen Korbschaukelstuhl, ein Abbild ländlicher Eleganz.

Ich sollte vermutlich erklären, dass Sids richtiger Name Elena Goldfarb ist. Sie und Gus führten ein überaus genussvolles Künstlerinnenleben, Gus’ Erbe erlaubte ihnen diesen Lebensstil. Ihr Haus war stets voller Künstler, Schriftsteller, Schauspielerinnen – was ziemlich berauschend war für eine junge Frau, die bis vor Kurzem in einem einfachen irischen Cottage gelebt hatte und deren einzige Unterhaltung der gelegentliche Tanz im Gemeindesaal gewesen war.

Sid sprang auf, als wir eintraten. Sie trug einen roten Seidenkimono, über den sich ein goldener Drachen wand, und ihr schwarzes, kurz geschnittenes Haar wirkte erstaunlich orientalisch.

„Molly!“, rief sie und breitete die Arme aus. „Wir sehen dich dieser Tage zu selten und jetzt kommst du, um unser trostloses, kleines Leben mit einer dramatischen Geschichte aufzuheitern.“

Über diese Aussage musste ich lachen. „Trostloses, kleines Leben? Ich kenne kein Leben, das weniger trostlos wäre. Wer sonst würde sein Wohnzimmer in eine mongolische Jurte verwandeln?“

Sie sah überrascht aus. „Nun, wir haben entschieden, dass wir am Ende nicht wirklich in die Mongolei wollen. Zu kalt, windig und düster, weißt du? Also haben wir beschlossen, uns die mongolische Erfahrung nach Hause zu holen. Natürlich mussten wir auf über die Steppe galoppierende Pferde verzichten, aber es gibt Reitställe in der Nähe ...“

Ein Bild von Gus und Sid, die in mongolische Gewänder gekleidet rittlings durch den Central Park galoppierten, blitzte in meinen Gedanken auf, ehe Sid sagte: „Also, erzähl uns deine dramatische Geschichte.“

„Eine schreckliche Geschichte, tatsächlich“, sagte ich und wiederholte, was ich Gus erzählte hatte. Als ich fertig war, herrschte fassungslose Stille.

„Wie zutiefst entsetzlich“, sagte Sid schließlich.

„Sie braucht Kaffee, Sid“, sagte Gus und begann, französisches Gebäck in einen Weidenkorb zu legen.

„Den braucht sie ganz sicher. Du musst letzte Nacht durcheinander gewesen sein. Wieso bist du nicht herübergekommen, als du nach Hause kamst? Du weißt, wie lang wir aufbleiben, und wir hätten dir einen starken Brandy servieren können.“

„Vielleicht war ihr Zukünftiger da und hat mehr Trost gespendet, als wir es gekonnt hätten“, sagte Gus und blickte uns wissend an.

„Nein, ich bin allein nach Hause gekommen. Daniel hat mich in einer Droschke nach Hause geschickt“, sagte ich. „Er musste bleiben, um zu ermitteln.“

„Gewiss war es nur ein schrecklicher Unfall, oder?“ Sid sah auf, nachdem sie eine kleine Tasse dickflüssigen, schwarzen Kaffees vor mir abgestellt hatte.

„Der Illusionist hat nicht daran geglaubt“, sagte ich. „Er meinte, jemand hätte sich an seiner Nummer zu schaffen gemacht.“

„Wer würde so etwas Teuflisches tun?“

„Ich habe keine Ahnung. Ich musste Mrs. Houdini in ihre Garderobe bringen, also habe ich eine Menge verpasst.“

„Es gibt eine Mrs. Houdini?“

„In der Tat, ja. Ein zierliches, kleines Ding, wie eine Porzellanpuppe. Sie wurde hysterisch, als sie das arme Mädchen sah.“

„So hätten die meisten Frauen reagiert“, sagte Sid und blickte Gus amüsiert an. „Ich fürchte, du hast dich selbst dazu verdammt, gesellschaftlich inakzeptabel zu sein, weil du nicht zu hysterischen Anfällen in der Lage bist, Molly. Eine überaus nützliche Fertigkeit für eine Frau.“

Sid setzte sich neben mich und schlug die Zeitung auf. Sie überflog die ersten Seiten, während Gus und ich das französische Gebäck probierten.

„Ah, hier ist es. ‚Tragödie im Miner’s Bowery Theatre‘. Hier steht die ganze Sache in allen grauenvollen Einzelheiten, geschrieben von jemandem, der es vor Ort beobachtet hat. Sie sind wirklich auf Draht bei der New York Times, nicht? Tatsächlich alles Nachrichten, die es wert sind, gedruckt zu werden, wie sie immer behaupten.“ Sie las den Artikel laut vor. „Oh, du wirst erfreut sein, das zu hören, Molly. Die Direktion hat zugestimmt, für alle, die Houdini gestern Abend nicht sehen konnten, für eine nachfolgende Vorführung Freikarten auszustellen. Nun, das nenne ich großzügig.“

The show must go on. Das sagt man doch so, oder nicht?“, kommentierte Gus, während sie mehr Aprikosenmarmelade auf ihr Croissant schmierte. „Wir sollten uns das selbst ansehen, Sid. Werden du und Daniel heute Abend wieder hingehen, Molly?“

„Ich habe keine Ahnung. Das hängt alles davon ab, wann er loskommt. Ich weiß, dass Daniel Houdinis Show sehen will, ehe der wieder nach Europa zurückfährt. In Wahrheit weiß ich nicht, ob ich noch so erpicht darauf bin, nach dem, was ich gestern Abend mit angesehen habe. Ich würde ständig damit rechnen, dass noch etwas schrecklich schiefläuft.“

„Ich bin überzeugt, dass diese Dinge für gewöhnlich absolut sicher sind. Wieso kommst du heute Abend nicht mit uns mit, wenn Daniel nicht frei hat, um dich zu begleiten? Dann können wir danach für eine hitzige Diskussion über die Techniken der Illusionen in ein Kaffeehaus gehen.“

„Ich habe gestern Abend viele davon gesehen und war vollkommen ratlos“, sagte ich. „Selbst bei einfachen Tricks, wie eine Karte aus dem Stapel herausschweben zu lassen. Aber ich bin ja auch Irin und von allem leicht zu beeindrucken, das übernatürlich zu sein scheint, schätze ich.“

„Was sind deine Pläne für heute, Molly?“, fragte Gus. „Seit deiner Verlobung bist du so von deinem Polizisten vereinnahmt, dass wir dich kaum zu Gesicht bekommen haben.“

Ich nickte. „Daniel will, dass ich weiter nach Häusern und Wohnungen suche“, sagte ich. „Dabei will ich nur hierbleiben. Er soll bei mir einziehen. Ich habe ihm versprochen, dass er mein Haus so möblieren kann, dass es seinem Geschmack entspricht, und es ist eine vollkommen akzeptable Adresse, oder nicht? So nah an der 5th Avenue und an seinem Polizeihauptquartier, aber aus irgendeinem Grund ist er von der Idee nicht begeistert.“

Sid und Gus brachen in Gelächter aus. „Aus irgendeinem Grund?“, fragte Sid. „Meine liebe Molly, der Grund sitzt vor dir. Er heißt es nicht gut, dass du mit uns verkehrst. Er fürchtet, dass wir deinen Kopf mit wilden, radikalen Gedanken füllen.“

„Wenn er einen Moment innehielte und nachdächte, würde er erkennen, dass ich mich von niemandem so leicht verführen lasse. Warum sollte ich nicht so nah bei euch wohnen wollen, besonders wenn seine Karriere es mit sich bringt, rund um die Uhr zu arbeiten? Es wäre überaus beruhigend, Freundinnen zu haben, an die mich in der Not wenden könnte.“

„Dann gib nicht nach“, sagte Gus. „Wir wollen nicht, dass du wegziehst. Sag ihm, dass es das neue Ansonia-Gebäude sein soll, sonst ziehst du nicht um.“

Ich lächelte. „Ich würde lieber hier leben als in einem dieser schicken, neuen Gebäude. Und natürlich könnte Daniel nicht so weit uptown wohnen. Er muss in der Nähe des Polizeihauptquartiers leben.“

„Dann scheint mir dieser Ort ideal zu sein“, sagte Gus.

„Mir auch“, sagte ich.

„Du hast noch nicht das Geheimnis deiner neuesten Fälle enthüllt.“ Sid zog ihren Stuhl näher zu mir heran. „An welchem heimtückischen Verbrechen oder welcher schäbigen Scheidung arbeitest du gerade? Komm schon, raus damit. Wir werden dich nicht gehen lassen, ehe du gestehst.“

„Ich wünschte, ich hätte etwas zu gestehen“, sagte ich. „In Wahrheit bin ich gegenwärtig arbeitslos. Nicht ein Fall am Horizont. Ich schätze, die Menschen verlassen in den Sommermonaten die Stadt.“

„Die Art Menschen, die sich scheiden lassen wollen, tun das“, sagte Gus. „Ich weiß, dass es in meiner Familie und ihren Kreisen dieser Tage üblich ist, sich scheiden zu lassen. Es war mal ein ziemlicher Skandal. Jetzt ist es Mode.“

„Ich hasse Scheidungsfälle“, sagte ich. „Ich finde sie so hinterlistig und unerfreulich – vor Schlafzimmerfenstern zu lauern ist nicht mein Fall.“

„Also wirst du deine Karriere aufgeben, wenn du heiratest?“, fragte Sid.

„Selbstverständlich will Daniel, dass ich das tue, und ich muss gestehen, dass es manchmal etwas zu gefährlich ist, aber ich genieße es, so frei und selbstständig zu leben und mein eigenes Geld zu verdienen. Sagen wir, es ist ein kleines Detail, für das wir noch eine Lösung finden müssen, ehe wir heiraten.“

Ich trank meinen Kaffee aus und stand auf. „Ich sollte euch nicht länger aufhalten. Ich bin mir sicher, euch steht ein geschäftiger Tag bevor.“

„Ich schätze, das stimmt“, sagte Gus. „Sid muss die Tagesordnung für das nächste Treffen der Suffragetten planen, das hier in unserem Haus stattfinden wird, und ich habe versprochen, etwas mit einem mongolischen Thema für unsere Jurte zu malen.“

Ich kicherte, als ich ging. Solch ein genussvolles Leben, dachte ich. Dann erinnerte ich mich daran, dass ihr Lebensstil von den meisten anständigen Familien missbilligt wurde. Sie hatten sich im Grunde genommen selbst vom Großteil der feinen Gesellschaft, zu der sie gehörten, abgeschnitten.

Drei

Ich lief zur Post, um zu sehen, ob P. Riley and Associates – die kleine Detektei, die ich geerbt hatte, als mein Mentor, Paddy Riley, ermordet worden war – irgendwelche Anfragen erhalten hatte. Es gab keine. Und keine Aussichten auf einen neuen Auftrag. Ich war nie gut darin gewesen, um Aufträge zu werben. Jetzt musste ich vielleicht meinen Stolz herunterschlucken und meine Freunde besuchen (wie den Stückeschreiber Ryan O’Hare, der über alle Gerüchte der Theaterwelt im Bilde war), um zu schauen, wer vielleicht meine Dienste benötigte – und wer es sich leisten konnte, mich zu bezahlen.

Ich kehrte nach Hause zurück und ging augenblicklich meinen Ordner von Leuten durch, die mich bereits beauftragt hatten. Ich verfasste einen Brief, in dem ich darauf hinwies, dass ich entzückt wäre, sämtlichen Freunden beizustehen, denen sie mich vielleicht empfehlen mochten, dann zerriss ich ihn. Es klang irgendwie kriecherisch, und darin war ich nie gut gewesen. Also stand ich auf, fegte die Küche, pflückte ein paar Blumen in meinem winzigen Gartenviereck und lief dann verärgert auf und ab. Müßiggang gefiel mir gar nicht. Ich konnte mir mich nicht als Dame vorstellen, die ein Leben der Muße führte. Was um alles in der Welt taten die den ganzen Tag? Es war unmöglich, dass ich glücklich sein könnte, während ich über meinen Schneider diskutierte oder den besten Ort, um Federn zu kaufen.

Gegen Mittag war ich drauf und dran, mich auf den Weg zu machen und Ryan in seinen Räumlichkeiten im Hotel Lafayette am Washington Square aufzusuchen, als es erbittert an der Tür klopfte und Daniel hereinstürmte, ohne darauf zu warten, dass ich öffnete.

„Diese verdammte Frau“, tobte er.

„Solche Ausdrücke, Daniel. Wirklich, deine Sprache ist verkommen, seit wir uns verlobt haben“, sagte ich mit gespielter Ernsthaftigkeit. „Ich hoffe, du beginnst nicht bereits damit, mein empfindliches Zartgefühl zu übergehen.“

„Es tut mir leid“, sagte er, dann schien er zu begreifen, was ich zu ihm gesagt hatte. „Seit wann hast du ein empfindliches Zartgefühl?“

„Ich könnte es mir zulegen“, sagte ich. „Ich habe gehört, es sei eine nützliche Fähigkeit. Also, welche Frau hat dich so sehr verärgert, dass du darauf zurückgreifst, in Gegenwart einer Dame zu fluchen?“

Er zog sich einen Stuhl heran und streckte seine langen Beine aus. „Mensch – das Mädchen, das gestern in der Mitte durchgesägt wurde.“

„Sie schien nicht in der Lage zu sein, irgendjemanden zu beleidigen“, sagte ich. „Erzähl mir nicht, dass sie am Ende doch überlebt hat.“

„Das kann ich dir nicht sagen. Es ist kaum wahrscheinlich, aber heute früh ist sie nirgends aufzufinden. Meine Männer haben es in allen Krankenhäusern versucht und keins scheint sie aufgenommen oder überhaupt behandelt zu haben.“

„Sie war wahrscheinlich tot, ehe sie aufgenommen werden konnte“, führte ich an. „Sie hatte viel Blut verloren und war so gut wie tot, als ich sie sah.“

„Ich habe es auch in der Leichenhalle versucht“, blaffte er. „Dazu kommt, dass auch dieser Scarpelli verschwunden ist.“

„Verschwunden? In der Tat, ein guter Illusionist.“

„Nun, er hat eine Nachricht für den Theaterbesitzer hinterlassen, in der es hieß, dass er niemandem gegenübertreten könne, nach dem, was er getan habe, und dass er Zeit für sich und seine Trauer brauche.“

„Na bitte“, sagte ich. „Das erklärt alles. Ich erinnere mich, dass er sagte, er wolle Lilys Eltern die Nachricht persönlich überbringen. Wetten, er hat ihre Leiche nach Hause gebracht, sodass sie im Familiengrab beerdigt werden kann?“

„Das ist eine Möglichkeit, schätze ich“, sagte er widerwillig, weil er offensichtlich noch nicht daran gedacht hatte. „Aber wir haben keine Ahnung, wo ihr Zuhause ist, und keine Chance, ihn zu finden. Meine persönliche Meinung ist, dass er einen hübschen, kleinen Mord durchgezogen und die Stadt verlassen hat, ehe wir eine Chance hatten, herauszufinden, ob er ein Motiv hatte.“

„Was für ein Motiv könnte er haben?“, fragte ich.

„Mir fallen mehrere ein. Sie fing an, ihm zur Last zu fallen. Sie hat ihn erpresst. Vielleicht hat er mit ihr zusammengelebt und irgendwo eine anständige Ehefrau zurückgelassen. Oder sie war vielleicht in anderen Umständen und bestand darauf, dass er sie heiratet.“

„Denkst du stets das Schlimmste von den Menschen und lässt dir düstere Motive einfallen?“, fragte ich.

Er lächelte. „Die Erfahrung hat mich gelehrt, das Schlimmste zu erwarten und nichts als gegeben hinzunehmen.“

„Ich nehme an, du wirst es schaffen, ihn aufzuspüren und eine ganz simple Erklärung für all das zu finden“, sagte ich.