Libert

Eine Störung auf der Hauptstrecke

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

EINE STÖRUNG AUF DER HAUPTSTRECKE

Impressum

EINE STÖRUNG AUF DER HAUPTSTRECKE

 

 

 

 

 

„Du wirst mir kein Wort glauben“, sagte Thomas.

Ich besuchte meinen Freund, den ich einige Jahre nicht gesehen hatte. Thomas wohnte mit seiner Frau Helga im hessischen Bad Salzach, wo er eine Zeitung herausgab. Ich kam mit dem Intercity aus Hamburg und traf mich mit ihm in Frankfurt, wo er etwas zu erledigen hatte. Wir legten die Fahrt in einem Nahverkehrszug von Frankfurt nach Bad Salzach gemeinsam zurück.

Kurz nach der Abfahrt aus Frankfurt hielt der Zug einige Zeit auf offener Strecke, ehe er auf ein Nebengleis abbog und seine Fahrt rumpelnd fortsetzte. Von da ab blickte Thomas häufig aus dem Fenster, und ich bemerkte seine Unruhe.

Wir fuhren entlang eines bewaldeten Höhenzuges. Unter uns im Tal blinkte Wasser zwischen den Bäumen.

„Schön habt ihr es hier“, stellte ich fest.

„Es ist die Nebenstrecke. Sie wird nur selten benutzt“, erklärte mir Thomas, dessen Anspannung deutlich zu spüren war.

„Eine einsame Gegend.“

„Unten im Tal fließt die Salze. Wir überqueren bald den Höhenzug. Dahinter liegt Salzach.“

Der Zug verlangsamte seine Fahrt.

„Ein ehemaliger Haltepunkt“, sagte Thomas mit gepreßter Stimme, „'Grafensprung' heißt er.“

Er bemerkte meinen neugierigen Blick und erklärte:

„Siehst Du die Felsnase dort drüben? Von dort soll sich vor hundert Jahren der Graf mitsamt seinem Pferd ins Tal gestürzt haben.“

Ein verfallenes Bahnhofsgebäude rückte in unser Blickfeld.

„Halten wir hier?“ fragte ich.

Thomas schüttelte den Kopf.

„Nein. Die Nebenstrecke wird nicht regelmäßig befahren.“ Er blickte sinnend aus dem Fenster. „Vor Jahren allerdings hat der Zug hier gehalten.“

„Du sagst das, als hätte es eine besondere Bedeutung.“

Thomas nickte. „Ich habe hier zum ersten Mal meine Frau gesehen.“

„Hier? Am `Grafensprung'?“

Wieder nickte Thomas:

„An einem Tag wie diesem, als der Zug auf die Nebenstrecke umgeleitet wurde.“

Und dann begann Thomas, mir seine Geschichte zu erzählen.

„Eines muß ich vorausschicken“, sagte er. „Du wirst mir kein Wort glauben.“

Ich sah ihn verblüfft an. Er lächelte verhalten:

„Ich erzähle sie Dir trotzdem.“

 

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Es ist jetzt sechs Jahre her. Ich war noch Student, wie Du weißt. Mein Onkel hatte mich eingeladen, in den Semesterferien an seiner Zeitung in Bad Salzach zu volontieren. Ich hatte ihn in den Jahren zuvor oft besucht und die Fahrt war mir vertraut - ich meine die Hauptstrecke, die damals schon seit Jahren in Betrieb war.

Ich war im Zug eingenickt. Nach einiger Zeit wachte ich auf und stellte fest, dass wir diese Nebenstrecke fuhren - wie heute -, an die ich mich nur von Besuchen in meiner Kindheit her erinnern konnte. Es war Ende Februar, und es dämmerte schon.

Nach einiger Zeit sah ich voraus in Fahrtrichtung einen Lichtschimmer zwischen den Bäumen. Wir näherten uns dem 'Grafensprung' - wie heute. Aber damals hielt der Zug. Eine junge Frau stand allein auf dem Bahnsteig. Sie hatte kein Gepäck und trug nur einen leichten Mantel, viel zu dünn für die kalte Jahreszeit. Sie stieg weiter vorn in den Zug, und wir setzten die Fahrt fort.

In Salzach erwartete mich mein Onkel am Bahnhof. Ich erfuhr von ihm, dass eine unvorhergesehene Störung auf der Hauptstrecke die Ursache der veränderten Fahrtroute war. Im Hause meines Onkels fand ich noch einen

anderen Feriengast vor: meine Cousine Helga. Wir hatten uns seit unserer Kindheit nicht mehr gesehen.

Mein Onkel mußte für einige Tage zu einer Verlegertagung und ließ Helga und mich allein. Wir sollten die Zeit nutzen und uns im Zeitungsbetrieb umsehen. Wir begannen am nächsten Morgen im Archiv, wo wir in alten Ausgaben blätterten.

Nach einiger Zeit näherten sich Schritte auf dem Korridor, und der Pförtner geleitete eine weitere Besucherin ins Archiv. Er suchte ihr einen Band heraus, mit dem sie sich an einem entfernten Tisch niederließ.

Ich erkannte in ihr die Unbekannte, die am 'Grafensprung' zugestiegen war. Sie saß in der Mitte des Archivraumes, vor sich den aufgeschlagenen Zeitungsband. Ihr Gesicht war bleich, und sie wirkte erschöpft.

Es war ruhig in dem Raum. Helga und ich lasen. Nach einiger Zeit wurde mir bewußt, dass die Fremde nicht länger in dem vor ihr liegenden Band blätterte. Statt dessen blickte sie unverwandt auf die Seite vor sich, dann plötzlich sanken ihre Schultern nach vorn und sie verbarg das Gesicht in den Händen. Helga und ich warfen uns einen Blick zu. Noch bevor wir zu einem Entschluß gekommen waren, erhob sich die Unbekannte und verließ den Raum.

Helga sah mich an und fragte:

„Was ist denn mit der? Die war ja bleich wie der Tod.“

„Keine Ahnung“, erwiderte ich, „vielleicht ist ihr schlecht geworden.“

„Ich schau nach ihr“, erklärte Helga entschlossen und lief aus dem Raum.

Ich stand ebenfalls auf und sah auf den Band, in dem die Unbekannte gelesen hatte. Vor mir lag die Titelseite der Ausgabe vom 25. Februar 1953 - damals fast auf den Tag genau zwanzig Jahre zurück.

Als ich das Zeitungsgebäude verließ, sah ich die beiden Frauen in einem gegenüberliegenden Park. Die Fremde saß auf einer Bank, und Helga stand neben ihr. Als ich näher kam, hörte ich Helga fragen:

„Kann ich helfen?“

Und als sie keine Antwort erhielt:

„Kann ich mich setzen?“

Sie wartete die Antwort nicht ab und ließ sich neben der Unbekannten nieder. Ich blieb in einiger Entfernung stehen, konnte aber der Unterredung folgen.

„Ich möchte nicht lästig fallen“, sagte die Frau auf der Bank. Sie war etwa im Alter von Helga und mir.

„Ich heiße Helga. - Hat dich etwas erschreckt?“

„Ich ... ich weiß nicht. Ich heiße Marianne. Marianne Lavanter. Ich bin“, sie zögerte, „ ... zu Besuch.“

„Zu wem willst Du? Ich kenne mich hier aus, ich kann dich hinbringen.“

„Zu niemandem“, kam die schnelle und uns beide, Helga und mich, verblüffende Antwort.

„Gibt es hier jemanden, den du kennst?“

Zu diesem Zeitpunkt war mir Helgas insistierende Fragerei peinlich, und ich versuchte, mein Unbehagen durch meine Körperhaltung auszudrücken. Doch Helga ließ sich nicht beirren, und Marianne Lavanter schien sich nicht daran zu stören. Mich beachtete sie zu diesem Zeitpunkt nicht. Es gab wohl schon in diesem frühen Stadium eine Verbindung zwischen den beiden Frauen, von der ich nichts mitbekam.

„Nein.“

Helga gab nicht nach:

„Du wohnst im Hotel?“

„Ich bin gestern abend angekommen. Das Geld reichte nicht für das Hotel. Es ist überhaupt alles viel zu teuer.“

„Wo hast du die Nacht verbracht?“

„Auf dem Bahnhof. Im Wartesaal.“

Helga schüttelte den Kopf und fragte mit Nachdruck:

„Woher kommst du?“

„Aus dem Sanatorium“, erwiderte Marianne wie selbstverständlich.

„Was?“ Helga war verblüfft. Ich auch.

„Aus dem 'Belvedere', im 'Grafensprung'“, erläuterte unsere Besucherin geduldig und mit einem Ton von Nachsicht ob unseren Unwissens.

„Ich dachte, das wäre schon seit Jahren stillgelegt“, merkte Helga an.

Nun war es an Marianne, ihre Verwunderung zu zeigen:

„Aber ich komme von dort.“

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