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»Du konntest einfach nicht anders, oder?« Lisa und ich starrten angewidert auf den soeben verstorbenen Körper meines ehemaligen Bosses. Er lag auf dem Teppich in seinem Büro und trug nichts außer karierten Boxershorts, einem gestreiften Schlips und einem weißen Arztkittel.
»Faith, es tut mir leid. Ich hatte Hunger.« Sie jammerte und trat von einem Fuß auf den anderen wie ein Kind, das beim Griff in die Keksdose ertappt worden war. Sie machte eine Handbewegung in meine Richtung, so als ob doch gerade ich wissen sollte, wie das ist.
Das tat ich. Was jedoch die Konsequenzen kein bisschen weniger schlimm ausfallen ließ, wenn wir hier erwischt wurden. In einem Krankenhaus. Mit der Leiche des Chefarztes der Kinderchirurgie.
»Du hattest also Hunger?« Ich strich mir eine blonde Locke hinter mein linkes Ohr.
»Ich sehe einen Mann und muss seine Seele essen. Das ist es, was ich tue. Aber glaub nicht, dass mir das Spaß gemacht hat oder so. Ich meine, hast du Harold gesehen?«
»Das ändert natürlich alles. Jeder wird das verstehen. Oder auch nicht. Was sollen wir jetzt mit ihm machen?« An manchen Tagen fragte ich mich, warum ich mir überhaupt die Mühe machte, einen menschlichen Job auszuüben. Ach ja, ich war erwachsen und wollte nichts von Dads bösen Machenschaften wissen. Ich war in der Lage, ein produktives Mitglied der Gesellschaft zu sein, anstatt die menschliche Rasse auszusaugen wie eine übergroß gewachsene dämonische Zecke. Und ich musste meine Rechnungen bezahlen. Scheiße.
»Können wir ihn nicht im Schrank verstecken?«
»Nein, der Gestank würde ihn verraten.« Ich hatte eine Zwölfstundenschicht als Stationsschwester auf der Kinderintensivstation hinter mir und war heute Nacht einfach zu müde für diesen Scheiß. Alles, was ich wollte, war ein kaltes Bier und ein stupides Fernsehprogramm. Aber nein, stattdessen musste ich mich mit einem toten Chirurgen herumschlagen.
Hallo, ich bin Faith Bettincourt, und das ist mein Leben.
Lisa zupfte am Saum ihres Rockes herum, während ihre glänzenden karamellfarbenen Locken von einem schwarzen Lacklederhaarband ordentlich zurückgehalten wurden. Ihre großen Augen klebten an meinen. Na toll. Sie machte große Tierbabyaugen. Jeder wusste, dass ich Tierbabyaugen nicht widerstehen konnte.
Lisa war groß und braun gebrannt und hatte einen Wahnsinnsvorbau. Ich stand nicht auf Frauen, und trotzdem ertappte ich mich immer wieder dabei, dass ich ihr keinen Wunsch abschlagen konnte, wenn es sie nur glücklich machte. Es war nicht so schlimm gewesen, bevor sie in einen Sukkubus verwandelt worden war, aber nun verfügte sie über ausreichend Schadenszauber, um ein Kloster in einen Kessel siedender sexueller Spannungen zu verwandeln.
»Vielleicht ist es ja gar nicht so schlimm, wie es aussieht.«
»Lisa, du hast Harold ausgesaugt. In seiner Unterwäsche. Und du trägst eine Cheerleader-Uniform, die zwei Nummern zu klein ist. Wie kann das nicht so schlimm sein, wie es aussieht?« Es würde nichts bringen, sie anzuschreien. Das würde sie nur zum Heulen bringen, und ich war eine Null, wenn Tränen ins Spiel kamen.
Außerdem fühlte ich mich sowieso schon schuldig genug. Lisa war vor der ganzen In-einen-Sukkubus-verwandelt-werden-Sache keine schlechte Mitbewohnerin gewesen. In drei Jahren hatte sie nicht einmal ihre Miete zu spät gezahlt, sie hatte ihren Teil des Apartments immer sauber gehalten, und es hatte auch nie einen dieser peinlichen Momente gegeben, in denen man überraschend dem One-Night-Stand der letzten Nacht begegnete, wie der im Adamskostüm den Kühlschrank durchwühlte. Alles war prima, bis mein Halbbruder beschloss, sie in einen wilden, lustgetriebenen Sukkubus ohne Selbstbeherrschung zu verwandeln.
»Vielleicht ist er gar nicht tot? Du hast seinen Puls nicht gecheckt. Vielleicht sieht er tot aus, ist aber bloß ohnmächtig.«
Meine Mitbewohnerin, der Sukkubus, die ewige Optimistin. Es war die richtige Einstellung, wenn wir gemeinsam auf der Kinderstation arbeiteten – glaubt mir, es gibt keine bessere Kinderkrankenschwester als Lisa –, aber jetzt? Jetzt wollte ich ihr am liebsten ihren Schwanenhals umdrehen. Gerade mal eins fünfundfünfzig klein, wäre ich allerdings gezwungen, einen Tritthocker zu Hilfe zu nehmen, um an sie ranzukommen. Dämlicher eins achtzig großer Sukkubus.
»Er ist tot. Glaub mir. Du hast alles Leben aus ihm rausgesogen.« Nicht dass ich ihr deshalb böse sein konnte. Als freiwilliger und seit Längerem unangezapfter Blutspender hätte er wahrscheinlich eine Supermahlzeit abgegeben.
Lisa schniefte und trat von einem Fuß auf den anderen. »Ich hab versucht, mich zu bessern. Ich meine, er ist der erste Mensch seit drei Monaten, den ich aus Versehen umgebracht habe. Und ich bin auch nicht schuld daran. Schuld ist Harold.«
»Harold ist selbst schuld daran, dass du seine Seele gegessen hast?« Sie glaubte doch wohl nicht, dass ich ihr abnehmen würde, er hätte sie darum gebeten, ihn auszusaugen, oder etwa doch?
»Na ja, die meisten Leute kriegen irgendwann Panik, und ich weiß, wann ich aufhören muss, aber er hatte die ganze Zeit dieses breite Grinsen im Gesicht, also hab ich weitergemacht.« Sie marschierte im Zimmer auf und ab und rang die Hände.
»Süße, ich mag dich, das weißt du doch. Wir wohnen jetzt wie lange zusammen? Drei Jahre? Und du bist mit dieser ganzen Tochter-des-Teufels-Situation prima umgegangen, vor allem nach dieser Sukkubus-Scheiße mit Tolliver. Aber ich glaube, dass wir wirklich ein Problem kriegen könnten, wenn du weiterhin versehentlich Leute aufisst.«
»Oh, Mist. Tolliver. Meinst du, er wird sauer sein?« Sie verschränkte die Arme und verbarg ihre zitternden Hände unter ihren Achseln. »Er hat gesagt, wenn ich noch mal jemanden umbringe, würde er mir meine Kräfte nehmen.«
»Und das wäre schlecht?« Ich lehnte mich an Harolds Schreibtisch und stützte mein Gewicht auf meine Hände. Als ich an mir herabblickte, entdeckte ich einen braunen Fleck auf meiner hellblauen OP-Hose und kratzte mit dem Daumennagel daran herum. Er blätterte ab. Definitiv flüssige Ersatznahrung. Zum Glück.
»Nein. Ich meine, ja – oh Mann, das ist echt schwierig. Ich wäre natürlich froh, wenn ich kein seelensaugender Sexdämon mehr wäre.«
»Aber?«
»Aber wenn er mir erst mal meine Kräfte genommen hat, dann verlangt das Protokoll, dass er mich an einen Felsen neben dem Feuersee kettet und Oberdämonen sich an meiner Seele gütlich tun, während Unterteufel meine Zehen abbeißen. Und du weißt ja, dass ich es nicht ertrage, wenn jemand meine Zehen berührt. Da darf ich nicht mal dran denken.«
»Oje!« Lisa war sehr eigen in Bezug auf ihre Zehen. Es gab nur eine einzige Fußpflegerin in der ganzen Stadt, die sie berühren durfte, und die Frau verlangte ein Vermögen. »Das klingt nicht sehr angenehm.«
Eine kleine, schwarz gekleidete Gestalt erschien, die Kapuze ihres Umhangs tief herabgezogen, um die Tatsache zu verbergen, dass es sich bei ihr bloß um einen körperlosen dämonischen Geist handelte. Na toll! Malachi. Jetzt war meine Nacht endgültig im Eimer. Obwohl … vielleicht hatte er ja eine Idee, wie wir Harolds Leiche loswerden konnten. Er mochte aussehen wie ein Dämonenzwerg, doch Malachi verfügte über ungeheure Kräfte. Und über die richtigen Beziehungen, wenn es darum ging, die ein oder andere Angelegenheit zu regeln. »Tolliver übertreibt.«
»Wirklich?«, fragte Lisa.
»Nein, nicht wirklich. Aber wenn du dich dadurch besser fühlst: Die Unterteufel werden bloß der Form halber ein bisschen an dir rumknabbern und sich dann um das streiten, was vom Tisch für sie herunterfällt.«
»Oh.« Ihr strahlendes Lächeln ging über in ein Stirnrunzeln, und ihre Schultern sackten herab.
»Das ist nicht gerade hilfreich«, zischte ich zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Ich hätte wissen müssen, dass Malachi bloß wieder die Nervensäge raushängen lassen würde. Eigentlich war er ja mein Bodyguard, aber ich half ihm bestimmt öfters aus der Patsche als er mir.
»Was machen wir jetzt mit Mr. Knochensack hier?« Er schwebte über Harolds Leiche und wirbelte dann zu uns herum. »Ich gehe davon aus, dass das dein Werk ist, Lisa? Schlampig, aber effektiv. Dafür kriegst du von mir zehn Punkte für die Leistung, aber nur zwei für den Stil. Cheerleader-Uniformen sind seit Jahren out.«
»Das wollte ich sowieso mal ansprechen«, mischte ich mich ein. »Wir sind Krankenschwestern – das ist das beliebteste Stripperinnen-Outfit aller Zeiten. Fast jeder Typ hat einen Geile-Krankenschwester-Fetisch.«
»Nicht wenn die eigene Mutter Krankenschwester war, so wie die von Harold«, erwiderte Lisa. »Er stand nicht auf geile Krankenschwestern, sondern auf freche Cheerleader, deshalb musste ich mir schnell etwas einfallen lassen. Es war nicht geplant oder so. Echt nicht. Ich hab das Zeug nicht mal auf der Highschool getragen. Polyester sieht einfach an niemandem gut aus.« Sie marschierte zu Harolds Couch und ließ sich darauf fallen, wobei ihr Volantrock nach oben flog.
Ich zuckte zusammen und wandte den Blick ab. Diese Körperteile meiner Mitbewohnerin musste ich nun wirklich nicht sehen.
»Es ist ja nicht so, dass ich absichtlich seine ganze Seele gegessen hätte. Aber es hat ihm gefallen.«
»Wenigstens ist er glücklich gestorben.« Ich nahm den Pokal, den Harold als Auszeichnung als »Weltbester Kinderarzt« bekommen hatte, und warf ihn von einer Hand in die andere.
Malachi gluckste. »Ich bin mir sicher, dass du ihn sehr glücklich gemacht hast. Schließlich ist das ja das Besondere an einem Sukkubus. Männer geben dir ihre Seele für die Lust, die du ihnen bereitest.«
Lisas Miene hellte sich auf.
»Aber eigentlich sollst du die Seele dann in die Hölle bringen und nicht selbst essen. Seine Exzellenz wird nicht zufrieden mit dir sein. Teilen ist ihm sehr wichtig, weißt du?« Malachi wedelte mit dem Ärmel wie eine Art dämonischer Lehrer, und ich hustete, um mein Lachen zu überspielen.
Ich stellte den Pokal ab und fing an, mit den Stiften in Harolds Becher zu spielen. Ich hatte ein gewisses Problem mit Unordnung und Nippes am Arbeitsplatz – die Schwesternschule war schuld daran –, und Harold war ein Chaot. Wenn er im OP-Saal genauso schlecht organisiert gewesen wäre, hätte er von Glück sagen können, dass er niemanden aufgrund eines absolut vermeidbaren Fehlers umgebracht hatte. »So sehr es mir leidtut, das zu sagen, aber Dad ist im Augenblick nicht unser Problem.«
»Ist er nicht?« Malachi klang überrascht. »Und warum nicht? Erzähl mir nicht, dass das hier ein weiterer netter kleiner Rebellionsversuch gegen Seine Majestät wird. Weißt du überhaupt, wie viel administrativen Ärger mir das immer bereitet? Kannst du dich nicht einfach damit zufriedengeben, Florence Nightingale zu spielen und mich in Ruhe zu lassen?«
»Das ist kein Akt der Rebellion. Außerdem würde er sich darüber freuen, dass Lisa genau das tut, wofür sie da ist. Trotzdem ist Dad nicht unser größtes Problem, denn, ganz im Ernst, was kann er schon tun? Mir Hausarrest geben, weil ich zugelassen habe, dass Lisa Harold aussaugt? Er hat mir seit der Sache mit dem Keuschheitsgelübde in der Highschool keinen Hausarrest mehr gegeben.«
»An den Streit erinnere ich mich. Die anderen Oberdämonen und ich hatten schon Wetten abgeschlossen, dass Seine Exzellenz gleich einen Herzinfarkt bekommen würde – auf seinem Thron!«
»Tja, er hatte aber keinen Herzinfarkt, und alle anderen haben’s auch überlebt.« Ich stieß mich vom Schreibtisch ab, setzte mich in den weich gepolsterten schwarzen Ledersessel – warum bekommen eigentlich immer die Ärzte die bequemen Sessel? – und legte die Füße auf den Tisch.
»Ich weiß. Ich hab vier Seelen und einen verwirrten Inkubus gewonnen.«
»Siehst du? Am Ende hat jeder was davon gehabt.« Ich griff nach dem Glasapfel auf Harolds Tisch. Ein Apfel am Tag, den Doktor gespart. Clever.
»Außer deiner Mom und ihrem vierten Ehemann.« Lisa kaute auf ihrem Daumennagel herum. Was für eine Verschwendung ihrer 30-Dollar-Maniküre!
»Ach, ja. Henri.« Ich lächelte bei der Erinnerung an den vierten Ehemann meiner Mutter und das Scheitern ihrer Ehe. »Ich war so froh, ihn los zu sein, dass ich am nächsten Tag wieder aus dem Keuschheitsklub ausgetreten bin.«
»Und die väterlichen Instinkte Seiner Boshaftigkeit meldeten sich, und er klaute Mr. Taylors Seele«, fügte Malachi hinzu.
»Immer auf der Seite der Schwächeren, stimmt’s?«
»’tschuldigung. Also, was machen wir jetzt mit Dr. Wilkins? Da er nun mal tot ist, meine ich.«
»Könnten wir ihn nicht zu den Unterteufeln schicken, um ihn loszuwerden? Die machen so was doch manchmal, oder?«
»Könnten wir.« Malachi zog die Worte ganz lang.
»Echt?« Lisa richtete sich auf und hörte auf, an ihren Fingernägeln zu kauen. »Wir könnten sie seinen Körper essen lassen, und niemand erfährt je davon?«
»Vielleicht würden sie das tun. Aber Tolliver würde davon Wind bekommen, und du müsstest ihm dann erklären, warum du es vermasselt und ihn ausgesaugt hast.«
»Mist.« Sie ließ sich zurück auf die Couch fallen, ein Sinnbild der Niedergeschlagenheit. Verzweiflung strömte in Wellen aus ihr heraus. Oder war das vielleicht Eau de Harold? Ich rümpfte die Nase. Sehr wahrscheinlich Harold. Verzweiflung roch nach Männerumkleide, und das hier war schlimmer. Es roch nach verwesendem Fleisch und abgestandenem Kaffee. Definitiv Harold.
»Was können wir sonst tun?«, fragte ich.
»Ihn in irgendeiner dunklen Gasse zurücklassen«, schlug Malachi vor.
»Ach, bitte. Und das soll keinem auffallen?«
Ich verschränkte die Hände und streckte sie über meinem Kopf aus. Meine Flügel brachten mich um, mein Schwanz juckte, und meine Hörner fingen ohne mein Zutun an, aus meinem Kopf zu treten. Normalerweise blieben sie in der Öffentlichkeit verborgen, falteten sich unter meiner Haut zusammen wie ein dämonisches Schweizer Taschenmesser, aber alles unter Kontrolle zu halten, machte viel zu viel Mühe, wenn ich müde war. Bei Stress ließ meine Selbstbeherrschung immer ein wenig nach, und es fiel mir zunehmend schwerer, mein menschliches Äußeres zu bewahren. Mit einem tiefen Atemzug schloss ich die Augen und konzentrierte meine ganze Energie darauf, meine Extras verborgen zu halten.
»Wir wollen doch, dass ihn jemand bemerkt«, erklärte Malachi und erlaubte mir damit, mich auf etwas anderes zu konzentrieren als auf mein eigenes Unbehagen. »Wir wollen, dass jemand den armen Harold findet und glaubt, er wäre an einem Herzinfarkt gestorben, während er es in einer dunklen Seitengasse mit einer Nutte getrieben hat.«
»Hey!«, sagte Lisa, und hellrote Flammen schossen aus ihrem Haar. Offenbar war außer mir noch jemand erschöpft. Und überaus empfindlich.
»Oder er ist überfallen worden«, fuhr Malachi fort. »Oder eben irgendeine andere logische Erklärung, warum er tot ist und nichts als ein paar billige Boxershorts und einen Arztkittel anhat.«
»Aber sieh ihn dir doch an!« Ich stand auf und deutete auf Harolds Leiche. Er erinnerte mich an eine verdorrte Version seines früheren Selbst, ganz grau, und nur seine lila vortretenden Venen sorgten für ein bisschen Farbe. »Meinst du nicht, dass die Leute das für ein bisschen seltsam halten werden?«
Malachi schwebte näher. »Du hattest wirklich Hunger, Lisa. Du hast ihm auch noch den letzten Rest seiner Seele ausgesaugt und sogar seine Zahnfüllungen gelockert.«
»Ich konnte nichts dafür.« Sie schniefte wieder.
»Schon gut.« Malachi hüpfte neben ihr auf und ab und rieb seinen Umhang an ihrer Schulter, was wahrscheinlich als tröstende Geste gemeint war. »Hör auf zu weinen. Wenn du ihn schon ausgesaugt hast, solltest du wenigstens den Rausch genießen.«
»Aber …«
»Hört zu. Holt den schrecklichen Läufer vor dem Fahrstuhl. Wir wickeln ihn da rein und werfen ihn in den Biomüllcontainer.«
»Aber was ist mit den Überwachungskameras?« Lisa stand vor dem Schreibtisch neben Harolds Leiche. »Die Aufnahmen werden zeigen, wie Faith den Teppichläufer holt und wir beide Harold hinaustragen.«
»Oh, in Dreiteufelsnamen!« Malachi schüttelte die Kapuze seines Umhangs hin und her. »Du hast nicht gerade viel in deinem kleinen Dämonenhirn, was? Lass mich deutlicher werden: Faith, lass den Läufer hierherkommen, und wenn Harold dann hineingewickelt ist, transferierst du ihn zu dem Abfallcontainer draußen.«
»Genau.« Ich schloss die Augen, stützte die Hände auf Harolds Schreibtisch und konzentrierte mich auf den grüngemusterten Läufer vor dem Aufzug. Nachdem ich die Kanten fest in meinem Kopf verankert hatte, zwang ich Harolds Sargersatz dazu, meinen Befehlen zu gehorchen. Ich sah, wie sich der Teppich auflöste, und als ich die Augen öffnete, lag er auf dem Boden unter Harold. Ich schlug die Enden um den leblosen Körper, fixierte die überlappenden Kanten und klebte sie gedanklich zusammen, sodass sie die Leiche sicherten.
»Tut mir leid, Harold«, flüsterte ich, trat um den Schreibtisch herum und kniete mich neben seinen Kopf. Ich berührte die Naht, wo sein pflaumenförmiges Herz hätte sein sollen. »Ich hätte dich gemocht, wenn du mir nicht jeden Morgen an den Arsch gefasst hättest. Und wo ich jetzt so drüber nachdenke, bin ich eigentlich gar nicht traurig über deinen Tod. Du hattest ihn verdient.«
»Wie rührend!«, sagte Malachi. »Eine wirklich bewegende Totenrede.«
»Halt die Klappe!« Ich schloss die Augen und konzentrierte mich darauf, Harolds Leiche aus seinem Büro zu seiner vorübergehenden Ruhestätte zu transferieren. Meine Arme kribbelten von der Macht, die durch mich floss. Als sein Körper sich unter meiner Hand aufgelöst hatte, öffnete ich die Augen und atmete aus.
»Oh Mann, er hat einen Fleck auf den Teppich gemacht. Wie eklig! Ich will nicht der Putzmann sein, der das hier saubermachen muss. Bäh, menschlicher Saft!«, sagte Malachi.
»Malachi?« Ich stand auf und bewegte mich weg von dem Fleck. Widerlich. Mann, war ich froh, dass mein Urlaub morgen anfing!
»Hä?«
»Schweb vor die Überwachungskameras und schließe sie kurz, damit es eine Erklärung dafür gibt, warum nirgendwo dokumentiert ist, wie wir am Abend das Klinikgebäude verlassen haben.«
»Wie weit muss ich zurück?«
»So ungefähr bis sieben.«
»Okay. Eine Dämonenunterbrechung um sieben Uhr. Bin in zwei Sekunden zurück, Mädels.« Malachi verschwand aus dem Raum.
»Glück gehabt«, sagte ich, sobald er weg war.
»Das war’s dann?«, fragte Lisa. »Niemand wird davon erfahren? Also, ich meine, Tolliver wird es nicht rauskriegen, und alles wird gut, oder?«
»Das hoffe ich. Und falls er es doch erfährt, sagst du ihm einfach, dass ich dir befohlen hätte, Harold auszusaugen. Dad wird sich so darüber freuen, dass ich meine böse Seite endlich annehme, dass er nicht zulassen wird, dass Tolliver dich bestraft.«
»Tolliver wird nicht gerade begeistert sein.« Sie ging hinüber zur Couch und griff nach ihrem Trenchcoat, den sie getragen hatte, um ihr Kostüm zu verbergen.
In diesem Moment kam Malachi zurück. »Worüber wird er nicht begeistert sein?«
»Tolliver wird nicht begeistert sein, wenn ich ihm sage, dass Lisa Harold getötet hat, weil ich sie dazu gezwungen habe. Er wird glauben, ich würde mein Erbe antreten wollen.«
»Und das wird ihm gehörig gegen den Strich gehen«, stimmte Malachi mir zu.
»Wenn es hart auf hart kommt, mache ich das, was ich immer mit Tolliver mache.« Ich hielt Lisas Hand, während Malachi dicht genug an uns heranschwebte, um meine Schulter zu berühren.
»In panischer Angst betteln?«, fragte Lisa.
»Nein, ich besteche ihn.«
Ich schloss die Augen und rief mein Apartment vor mein geistiges Auge. Mit einem leisen Ploppen und dem metallischen Geruch verbrannter Fragmente der Realität teleportierte ich uns durch das Portal, das ich zwischen Harolds Büro und meinem Wohnzimmer geschaffen hatte. Der Mantel der Realität legte sich wieder um uns.
Mein Schwanz glitt ins Freie und schmiegte sich um mein linkes Bein, und meine Flügel öffneten sich unter meinem OP-Hemd. Das Teleportieren raubte mir immer zu viele Kräfte, als dass ich den Rest meiner Anatomie noch unter Kontrolle halten konnte. Doch der abendliche Berufsverkehr in Pittsburgh war die Hölle, vor allem wenn am Liberty Tunnel herumgebaut wurde, und Lisa und ich waren eh schon spät dran. Zeit also, Kompromisse einzugehen.
»Wie lange haben wir, bis wir wissen, ob Tolliver uns erwischt?« Lisas eigene Flügel brachten ihren Trenchcoat fast zum Bersten. Ich mochte mir nicht vorstellen, was eine Flügelspannweite von knapp zwei Metern mit ihrer Cheerleader-Uniform angestellt hatte.
»Wenn er es rauskriegt, weiß er spätestens morgen Nachmittag Bescheid.« Ich ging in den Küchenbereich, um mir einen Tee zu kochen. »Ich würde mir an deiner Stelle keine Sorgen deswegen machen. Wenn es auf jemanden zurückfällt, dann auf mich. Und Dad wird nicht zulassen, dass er mir zu viel Ärger macht.«
Lisa folgte mir in unsere winzige Küche und lehnte sich an die Kochinsel. »Mir gefällt die Idee nicht, dass er dir Ärger machen könnte.«
»Sagt die Frau, die er wegen ein bisschen Grinsen und Kichern in einen Sukkubus verwandelt hat. Warum ziehst du dich nicht um, während ich dir einen Tee koche, damit du wieder ein wenig runterkommst? Ich wette, nach Harold brummt dir noch ganz schön der Schädel.«
»Weißt du, er hat gar nicht mal schlecht geschmeckt. Wenn man bedenkt, dass es Harold war.«
Ich rümpfte die Nase bei dem Gedanken. Das Letzte, was ich erfahren wollte, waren irgendwelche Details über ihre sündhafte und wahrscheinlich ekelhafte Vereinigung.
»Ein bisschen zu viel Kaffee, aber davon mal abgesehen …«
»Scheiße!«, brüllte plötzlich eine männliche Stimme vor der Tür. Gedämpftes Poltern ertönte von unten, gefolgt von einem lauten Krachen.
»Klingt, als hätte der Typ von nebenan eine Leiche fallen gelassen. Besser du rennst raus und hechelst ein bisschen um ihn herum«, scherzte Malachi.
Ich rannte zur Eingangstür. Was war schon dabei, dass ich in meinen Nachbarn, Matt, verknallt war, seit er vor sechs Monaten hier eingezogen war? Abgesehen von ein paar unbeholfenen Flirtversuchen nahm er kaum zur Kenntnis, dass es mich gab, was wahrscheinlich eine gute Sache war. Mensch-Dämon-Beziehungen gingen niemals gut aus. Das wusste ich aus Erfahrung.
»Hey«, rief Malachi mir hinterher. »Flügel, Hörner, Schwanz. Nicht die Menschen erschrecken, kapiert?«
»Okay.« Ich schloss die Augen und zwang meine Extras zurück an Ort und Stelle. Nachdem alles wieder versteckt war, riss ich die Tür auf und schaute mich auf dem Treppenabsatz um.
Akten lagen über die Stufen verstreut und wiesen einen Weg zu Matt. Sein Körper lag ausgestreckt auf dem unteren Treppenabsatz. Ein Umzugskarton zerquetschte seine Brust. Sein normalerweise ordentlich gerichtetes schwarzes Haar stand ihm wirr vom Kopf, und seine Jeans waren über dem Knie zerrissen.
Das war nicht normal.
Immer wenn ich ihn sonst gesehen hatte, war er wie einer der Young Republicans auf Wahlkampftour gekleidet gewesen – ein leckerer, muskulöser Young Republican mit einem kleinen Nerd-Komplex, aber dennoch ein puritanischer Konservativer durch und durch: schwarzer Anzug, weißes Hemd mit Button-down-Kragen und die obligatorische dunkelblau gestreifte Krawatte. Deshalb machte es so viel Spaß, sich mit ihm anzulegen. Wirklich. Es hatte nichts mit den heißen Nerd-Fantasien zu tun, die ich seinetwegen hatte. Überhaupt nichts.
Ich trat auf ihn zu, und irgendetwas knirschte. Ich hob den Fuß an und entdeckte eine zertretene Hornbrille.
»Oh, in Dreiteufelsnamen!«, fluchte ich.
Mein Tag wurde immer besser.