Peter Handke

Immer noch Sturm

Suhrkamp Verlag

»Amère ironie de prétendre persuader et convaincre, alors que ma certitude profonde est que la part du monde encore susceptible de rachat n'appartient qu'aux enfants, aux héros et aux martyrs.«

Georges Bernanos, Les Grands Cimetières sous la lune

»Bittere Ironie: die Einbildung, zu überreden und zu überzeugen, während es meine tiefe Gewißheit ist, daß der für eine Errettung noch zugängliche Teil der Welt einzig den Kindern, den Helden und den Märtyrern gehört.«

Georges Bernanos, Die Großen Friedhöfe unter dem Mond

 
 
 
 
 

EINS

Eine Heide, eine Steppe, eine Heidesteppe, oder wo. Jetzt, im Mittelalter, oder wann. Was ist da zu sehen? Eine Sitzbank, eine eher zeitlose, im Mittelgrund, und daneben oder dahinter oder sonst wo ein Apfelbaum, behängt mit etwa 99 Äpfeln, Frühäpfeln, fast weißen, oder Spätäpfeln, dunkelroten. Sanft abschüssig erscheint diese Heide, heimelig. Wem zeigt sie sich? Wem erscheint sie so? Mir hier, im Augenblick. Ich habe sie vorzeiten, in einer anderen Zeit, gesehen, und sehe sie jetzt wieder, samt der Sitzbank, auf der ich einst mit meiner Mutter gesessen bin, an einem warmen stillen Sommer- oder Herbstnachmittag, glaube ich, fern vom Dorf, und zugleich in der Heimatgegend. Ungewohnt weit war und ist jener Heimathorizont. Ob das Gedächtnis täuscht oder nicht: aus der einen, dann der anderen Ferne ein Angelusläuten. Und auch wenn das wieder eine Täuschung ist: im nachhinein scheint es, daß die Mutter und ich uns an der Hand halten. Überhaupt geschieht in meinem Gedächtnis da alles paarweise; die Vögel fliegen zu Paaren im Himmel, die Schmetterlinge flattern paarweise durch die Lüfte, paarweise schwirren die Libellen, undsoweiter. Das Apfelbäumchen freilich ist mir, zusammen mit den nachleuchtenden Äpfeln, solcherart in wieder einer anderen Zeit begegnet, in einer Nachtsekunde, in einem Tagtraum, oder wann. Ich bin zunächst dagesessen mit geschlossenen Augen. Jetzt schlage ich sie auf. Und was sehe ich nun? Meine Vorfahren nähern sich von allen Seiten, mit dem typischen Jaunfeldschritt, deutlich von einem Fuß auf den andern tretend. Einzeln kommen sie daher, ausgenommen das Großelternpaar, einzeln die mehr oder weniger oder vielleicht gar nicht verwirrte Schwester meiner Mutter, und ebenso einzeln wandern mir deren drei Brüder daher, jeder auf einem eigenen Weg, oder Nichtweg. Der jüngste purzelt eher, läßt sich rollen, wie übermütig. Einzeln steuert ein jeder auf den ihm scheint's vorgegebenen Ort oder Stehplatz zu, bis auf meine Großeltern wieder, welche sich auf die Bank setzen. Gar nicht alt ist dieses Paar, und ausnahmslos jung deren fünf Kinder, selbst der Erstgeborene, der Einäugige dort mit dem dichten Schnurrbart, geboren doch ziemlich lang vor den andern. Der jüngste der Söhne ist fast noch ein Kind, und meine Mutter erscheint mir buchstäblich blutjung, und beinah als heimliche Geliebte des mittleren Bruders, des schon früh weithin bekannten Frauenhelden. (»Blutjung« ist dagegen ihre kaum ältere Schwester angeblich nie gewesen.) Und daß ich's nicht vergesse: Sie alle erscheinen mir in Schwarzweiß, nicht nur ihre Gewänder, und alle schön, wie eben nur welche in Schwarzweiß. Seltsam, daß diese Gestalten da ganz und gar nicht den Vorfahren ähneln, wie sie im Leben, oder auf Photographien, oder in den Erzählungen sich mir eingeprägt haben. Sie sind es nicht, weder in Aussehen noch Haltung noch Mienen. Und zugleich sind sie es. Sie sind es! Und dazu paßt es, daß sie mich jetzt auf meinem Platz ausfindig machen und mich erkennen, einer nach dem andern, erschrocken, erfreut, verdrießlich, gleichgültig, still, laut. Ein mehrstimmiges: »Hallo! Da schau her. Ach herrje. Der also. Du hier!« ergibt das, gefolgt von dem familien- und sippenüblichen einstimmigen Seufzerchor und dann einem ein- oder zehnstimmigen »Komm, Nachzügler. Aufgesprungen auf den Familienzug, Nachfahr. Der einzige, der uns noch träumt. Ach, daß uns doch einmal jemand anderer träume! Jemand Sachgerechter. Einer, der uns denkt, und bedenkt ‒ und nicht dein ewiges Gedenken, dein immerwährendes Heraufbeschwören. Mit einem Wort: ein Dritter! Kannst du uns nicht endlich in Ruhe lassen? Aber da du schon einmal da bist: Her mit dir, Letzter, ins Bild mit uns.«

Mindestens dreimal habe ich mir das sagen lassen, bis ich der Einladung, oder dem Befehl, oder was es war, nachgekommen bin. Ich habe gezögert, wie es meine Art ist. Von meinem Sitzplatz aufgestanden, habe ich mich wieder hingesetzt. Auf halbem Weg, an der Schwelle hinauf zur Heidesteppe, habe ich stehenden Fußes kehrtmachen wollen. Und schließlich habe ich, bei meinen Ahnen angelangt, mich bei einem von ihnen verstecken wollen; nicht bei den Großeltern, auch nicht bei den Schürzenzipfeln der Mutter ‒ sie trug tatsächlich eine Schürze, eine festtägliche, wie in der anderen Zeit die Dorffrauen ‒, und auch nicht hinter dem ältesten und größten der Brüder. Sondern? Hinter dem jüngsten und kleinsten. Um so sichtbarer muß ich so wohl geworden sein: Eine heutige Allerweltsfigur, eine von Millionen, im dazugehörigen Interkontinentalaufzug, schon auf den ersten Blick im Gegensatz zu dem zeitlosen ländlichen Feiertagsgewand meiner Vorfahren. Auffällig an mir auch, wieder im Gegensatz zu den andern, daß ich als einer erscheine, der schon in den Jahren ist, älter gar als das Großelternpaar. Meinem Alter nach könnte ich zum Beispiel den ziemlich bejahrten »Vater« der blutjungen »Mutter« darstellen.

Deren jüngster Bruder, das Fastkind, ist, mit mir im Schatten, immer wieder, sagen wir, dreimal, zur Seite getreten, und ich bin ihm nachgerückt. Und zugleich ist die Sippe, geleitet von meiner Mutter, mir auf ähnliche Weise nähergerückt und hat einen eher lichten Halbkreis um mich gebildet. Diese gemeinsame Bewegung hat mich freilich nicht geängstigt: Ich bin zuletzt meinen Leuten entgegengekommen und habe ihnen nacheinander die Hand gereicht (eine andere Berührung kam ja, oder kommt, bei unsereinem kaum in Betracht). Nur vor der Mutter dann habe ich im Abstand innegehalten, und habe gesagt: »Da seid ihr nun, Vorfahren. Die längste Zeit schon habe ich auf euch gewartet. Nicht ich lasse euch nicht in Ruhe. Es läßt mich nicht in Ruhe, nicht ruhen. Ihr laßt mich nicht in Ruhe, nicht und nicht. Hallo, Frau Mutter! Seit einer Ewigkeit nicht mehr zu Gesicht bekommen. Und noch immer redest du mit deinem landfremden Akzent, als ob die Truppen Napoleons weiterhin die Herren von Kärnten und Krain wären, du Karawankenfranzösin du. Guten Tag, Großmutter, stara mati, dober dan. Guten Tag, Großvater, stari oče, dober dan, tesar, bzw. Zimmermann. Guten Tag, Onkel und Taufpate Gregor, moj stric in moj boter, mein Onkel und mein Pate, dober dan. Guten Tag, teta, das ist: Tante, Ursula, keine Angst, und schon gar nicht hier, vor mir. Cheers, Mutterbruder Valentin, Englischsprecher of our family, Schachmeister, und auch sonst ein kleiner Meister. Guten Tag und dober dan, stric Benjamin, Fastkind du, dem die Erde der Tundra, gemäß dem Spruch auf dem Gedenkstein, leicht sein sollte. Und jetzt du, Mutter: So jung wie jetzt warst du in meinen Tag- wie Nachtaugen nie. Und auch eine andere Erscheinung bist du jetzt, mit anderen Zügen, einer anderen Stimme, einem anderen Akzent, anderen Augenfarben. Und doch bist du dieselbe. Du bist es. Aber sag: Wo sind wir jetzt alle zusammengekommen? Denn unsere Gegend scheint das hier nicht zu sein, bis vielleicht auf den Apfelbaum da. Nur schauen bei uns zuhause die Äpfel ganz anders aus, wie eben Äpfel zum Hineinbeißen, zum Stehlen. Und dieses Dörrzeug da verlockt einen weder zum Hineinbeißen noch zum Obstdiebwerden, und schon gar nicht zum Sündebegehen. (Obststehlen war in unserer Gegend ja nie eine Sünde ‒ oder mittlerweile doch?) Und unsere Gegend und das Gelände hier: erst recht kein Vergleich. Was soll das-da-da eigentlich darstellen? Eine Heide? Die Steppe? Die Taiga? Die Tundra? Für mich: zum Davonlaufen. Nur daß das nächste Gelände ziemlich sicher noch um eins gottverlassener ist, und die übernächste Station ganz sicher eine Jauchenstation, und die überübernächste todsicher ein Minenfeld, und so fort, bis zuletzt an gar keinen Ort.« Die blutjunge Mutter hat gleich geantwortet: »Auch ich habe dich nicht gleich erkannt. Und bevor du ins Reden kamst, war ich ‒ unsicher. Aber so weiß ich, du bist es, mein Sohn. Mein Sohn, der nie zu uns hier, zur Familie, zur Sippe gehören wird, Vaterloser du, der du Ersatz, Halt und Licht suchst bei deinen Vorfahren. Und jetzt zu deiner Frage, die wieder einmal keine war: Doch, das hier ist unsere Gegend. Es ist das Jaunfeld, im Land Kärnten, slowenisch Koroška, lepa Koroška, das schöne Kärnten. Und da hinten irgendwo mußt oder kannst du dir unsere Saualpe oder die Svinjska planina vorstellen, die, obwohl sie ja nach außenhin daliegt wie eine Riesen-Sau, in Wirklichkeit nach dem Blei, in unserer Haussprache svinec, heißt, dem Blei oder svinec innen im Berg, von welchem die wüsten Sommergewitter auf der Svinjska planina oder Saualpe her ‒ ‒, her ‒ ‒, hilf mir, Sohn, nein, hilf mir nicht, herrühren, herstammen, und ebenso unser Haus- und Familienname, erinnere dich, nein, erinnere dich nicht, du hast seit je ein schlechtes Gedächtnis, merk es dir, Sohn. Und merk dir: Sau haben, heißt bei uns hier: Glück haben, und: Auf die Saualpe gehen, heißt bei uns: glückselig gehen, ohne Bleifüße gehen.«

Ich habe kurz ihr Spiel mitgespielt wie sie das meine zuvor: »Und was muß ich mir dort hinten für einen Totschlägerberg, für ein Jammertal, für eine Teufelsschlucht, für eine Drachenwand, für ein Steinernes Meer, für eine Mammutfurzklamm, für einen Selbstmördergrat vorstellen?«

Die Mutter hat mein Spiel nicht mehr mitgespielt: »Dort hinten kannst du dir die Karawanken denken, und dahinter dann Slowenien, Jugoslawien.«

Ich, in einem Versuch, weiterzuspielen: »Aber Jugoslavija, das gibt es doch seit einer Ewigkeit nicht mehr, nicht das königliche nach dem Ersten, und erst recht nicht das ohne König nach dem Zweiten Weltkrieg. Was für eine Art von Zeit soll hier eigentlich gelten? Wann ist das, jetzt? Die Heide-Steppenzeit, oder was? Die Sonntagsschürzenzeit? Die Knickerbockerzeit? Die Butterfaßzeit? Die Apfelveredelungszeit? Die Mistausfuhrzeit? Die Kukuruz- oder, wie war das Wort, Türkenschleißzeit, wo ihr alle abends beim Maisschälen im Stall gehockt seid und euch beim Geschichtenerzählen und Liederabsingen eine andere Zeit vorgegaukelt habt? Oder doch die Realzeit, die historische, die beschissene, die auf ewig verlorene, von euch und auch mir verlorene, und ihr Kümmerer, wir Kümmerer, bleischwer verloren in ihr?«

Darauf die Mädchenmutter: »Unbekannte Gestalt, bekannte Sprache. An deiner Sprache erkenne ich dich, Affensohn. An unserer Sprache sind wir alle Versammelten hier zu erkennen, erkennen wir uns wenigstens untereinander, jeder von uns Unsrigen den andern als einen Unsrigen. Keiner in der Gegend hat so gesprochen wie wir. Keiner im ganzen Land spricht so wie wir, wird so gesprochen haben wie wir. Zeigt es ihm.«

Allgemeines Innehalten. Die Wortmeldung kommt dann von dem Mutterbruder, den ich als »Valentin« angeredet habe. (Als er vortritt, sehe ich, daß er tatsächlich etwas wie »Knickerbocker« trägt.): »Ich, der einzige Sohn, der den Krieg überlebt hat, der einzige ein bißchen reich und, na ja, mächtig Gewordene, verdanke das vor allem dem Umstand, daß ich mich von unserer Haus- und Sippensprache, der vermaledeiten, losgesagt habe. Ja, verdammt soll sie sein, diese Sprache, die dem Benjamin und dem Gregor da, dem einen im hintersten Rußland, dem andern gleich hier auf der vermaledeiten verbleiten Saualpe, das Leben geraubt hat, unserer Mutter das Herz zerbrochen hat, unserem Vater den Hut über die Augen, die Ohren und dann auch noch den Mund gedrückt hat, mit dem Schweißband als Selbstknebel, die Sprache, die meiner Schwester Ursula ihren Liebsten, ihren Einzigen, ihren Bräutigam abspenstig gemacht hat, noch bevor die Liebe spruchreif, geschweige denn hautnah werden konnte ‒ nur, wie sagst du, ›gebräutelt‹ hat der Mann, gebräutelt habt ihr beide, nicht wahr, jahrelang, bis daß deine Sprache euch geschieden hat, dein Bräutigam sich verzupft hat ‒ ausgebräutelt ‒, und du alleingeblieben bist, Schwester, mit deiner Sprache, deinem Ersatzbräutigam.« (Sie hat, wenn ich recht gehört habe, eingeworfen: »Nein, dem wahren!«) »Und verflucht soll sie sein, unsere Sprache« ‒ er hat sich jäh an mich gewendet ‒ »die, gesprochen von ihr, meiner Lieblingsschwester hier, oder, wenn du willst, deine, na ja, warum nicht, Mutter, sie kann ja nichts dafür, Frau ist Frau, verflucht sei sie, unsere Sprache, die, gesprochen von meinem darling, meinem Darling Clementine, in den Ohren nicht bloß der Dorf-, sondern auch sämtlicher Landmannschaften das Begehren geweckt hat, so daß ein jeder, der hörte, wie die da, speziell sie, unsere Sprache sprach, sie, die da, auf der Stelle haben wollte. Seltsam übrigens, wie eine gewisse Sprache und eine gewisse Art, sie zu sprechen, einen auf die Sprünge bringen kann, habe ich's nicht am eigenen Leib dann erfahren, als ich bei dem Ausgang in Narvik die Lappländerin reden hörte, gar nicht zu mir, weit weg, am anderen Ende der Straße, und im selben Moment hier an meiner Rippe, daß es mich buchstäblich überrieselt hat ‒, bloß daß derjenige welcher, der mein Sweetheart dann heimgeführt bzw. geschnappt hat, dein Vater war ‒ mehr brauche ich dazu nicht zu sagen ‒, und wie der Vater, so der Sohn, mehr ist darüber nicht zu sagen.«

Allgemeines Innehalten wieder. Die Großeltern haben sich danach auf die Bank in der Heidesteppe oder im »Jaunfeld« gesetzt, mit ihrem halbwüchsigen jüngsten Sohn in der Mitte. Und dann ist die von mir als ältere Schwester der Mutter angeredete und »Ursula« genannte düstere, auch düster gekleidete junge Frau zu Wort gekommen: »Alle wart ihr gegen mich, von klein auf. Nie habe ich meinen Platz bei euch gefunden. Bei keinem Spiel habt ihr mich mitspielen lassen. Und wenn, dann habt ihr mich bei der ersten Gelegenheit ausgelacht. Besonders du, Schwester: Ah, wie du mich auslachen konntest. Alles ist mir vergangen bei deinem Auslachen, vergangen, alles. Und wenn ich mich im Abort eingesperrt habe, hast du vor der Tür, der mit dem Herzen, herzlos weitergelacht. Herzlos, herzlos. So bin ich vor euch davongelaufen in den Wald, aber der Wald, speziell unser finsterer Fichtenwald, hat mir nie gutgetan. Genauso finster wie er bin ich aus ihm zurückgekommen, in euren Augen die Spielverderberin. Dabei glaubte ich lange an das Glück, gerade an das meinige, und konnte mir nichts Schöneres vorstellen, als mitzuspielen, mit euch, mit meiner Familie. Nur waren da alle Rollen besetzt, und still dabeisitzen, wie unsere Mutter, kam für mich nicht in Frage. Ich wollte mittendrin sein und mich einmischen, einmischen, mich. Warum bloß? So war es gedacht, ja, so gedacht war es. Folglich bin ich wohl wirklich zu der verkümmert, als die ihr mich von klein auf gesehen habt, zu der Person, die in unserer Gegend ›der ledige Unwille‹ geheißen wird, eine, die die anderen spüren läßt, daß sie nicht geliebt wird. Ja, niemand hat je mich geliebt, auch die Mutter nicht. Ich habe ihr bloß von meiner Geburt an erbarmt. Aber was habe ich vom Erbarmen? Ich spucke darauf. Euer Auslachen und das Erbarmen haben mich gleich nach der Schulzeit aus dem Haus gejagt, und ich habe bis zum Krieg als eine, für die im Haus kein Platz war, als Magd in der Fremde gelebt, wie das seinerzeit eben für uns Aushäusige üblich war. Und mitten im Frieden, den ihr anderen so himmlisch gefunden habt, nicht wahr, Gregor, du Obstbauer, so biblisch, waren meine Gedanken schon längst im Krieg. Im Krieg, so habe ich gedacht, werde ich endlich meinen Platz finden. Im Krieg werde ich geliebt werden. Und so ist es dann ja auch gekommen? Wenn ich das nur wüßte. Im Haus waren zwar von einem Tag auf den andern drei Plätze frei, und man hieß mich willkommen, liebevoll, wie mir vorkam, sogar du, Schwester. Aber … aber … Früher einmal war noch am ehesten mein Platz im Stall bei den Kühen und Pferden gewesen, oder in deinem Obstgarten, Gregor, gelegentlich. Aber jetzt: nirgends mehr. Vielleicht stimmt er also doch, der andere Spruch aus der Gegend: Einen Platz findet nur, wer ihn selber mitbringt? Habe ich vielleicht nie das, wie soll ich sagen, Platzhaben verkörpert? Und bin vielleicht gerade so für euch zur Spielverderberin geworden, schlimmer, zur Unglücksstifterin? Nicht ihr habt mir also keinen Platz gelassen, sondern ich bin schon platzlos geboren, und demgemäß auf Krieg aus, auf Welt- wie Familienkrieg? Erbarmen, Mutter. Hast du mir nicht erzählt, daß in unserer Sprache hier ›Mutterleib‹ und ›Erbarmen‹ dieselbe Wurzel haben?«