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Das Buch

Der mächtige Vampirkrieger Blay muss den schwersten Kampf seines Lebens ausfechten: Er ist in seinen besten Freund Qhuinn verliebt, der ihn immer wieder zurückgewiesen hat, bis Blay schließlich eine Beziehung mit Qhuinns Cousin Saxton einging, obwohl er ihn nicht liebt. Trotz aller Differenzen können sich Blay und Qhuinn nicht vollständig aus dem Weg gehen, denn sie kämpfen jede Nacht Seite an Seite gegen die Feinde der BLACK DAGGER . Als Qhuinn mit der Auserwählten Layla eine Familie gründen will, scheint die Freundschaft zwischen den beiden Vampirkriegern jedoch endgültig zerbrochen. Bis zu der Nacht, in der Qhuinn von einem schweren Schicksalsschlag heimgesucht wird und Blay der Einzige ist, der ihm jetzt noch helfen kann. Blay muss sich entscheiden, ob er auf seinen Verstand hören soll – oder auf sein Herz …

Die Autorin

J. R. Ward begann bereits während des Studiums mit dem Schreiben. Nach dem Hochschulabschluss veröffentlichte sie die BLACK DAGGER-Serie, die in kürzester Zeit die amerikanischen Bestsellerlisten eroberte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihrem Golden Retriever in Kentucky und gilt seit dem überragenden Erfolg der Serie als Star der romantischen Mystery.

Ein ausführliches Werkverzeichnis aller von J. R. Ward im Wilhelm Heyne Verlag erschienenen Bücher finden Sie am Ende des Bandes.

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J. R. Ward

Seelenprinz

Ein Black dagger -Roman

Schwert.tif

Wilhelm Heyne Verlag

München

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Titel der Originalausgabe:

LOVER AT LAST (Part 1)

Aus dem Amerikanischen von Corinna Vierkant

Deutsche Erstausgabe 11/2013

Redaktion: Bettina Spangler

Copyright © 2013 by Love Conquers All, Inc.

Copyright © 2013 der deutschen Ausgabe

und der Übersetzung by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlagbild: Dirk Schulz

Umschlaggestaltung: Animagic, Bielefeld

Autorenfoto © by John Rott

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-11335-3
V003


Gewidmet: euch beiden.

Es ist an der Zeit, und niemand verdient es mehr als ihr.

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Danksagung

Ein großes Dankeschön allen Lesern der Bruderschaft der Black Dagger und ein Hoch auf die Cellies!

Vielen Dank für all die Unterstützung und die Ratschläge an: Steven Axelrod, Kara Welsh, Claire Zion und Leslie Gelbman. Danke auch an alle Mitarbeiter von NAL – diese Bücher sind echte Teamarbeit!

Danke an all unsere Cheforganisatoren und Ordnungshüter für alles, was ihr aus reiner Herzensgüte tut!

Alles Liebe an das Team Waud – ihr wisst, wer gemeint ist. Ohne euch käme die Sache gar nicht zustande.

Nichts von alledem wäre möglich ohne: meinen liebevollen Ehemann, der mir mit Rat und Tat zur Seite steht, sich um mich kümmert und mich an seinen Visionen teilhaben lässt; meine wunderbare Mutter, dir mir mehr Liebe geschenkt hat, als ich ihr je zurückgeben kann; meine Familie (die blutsverwandte wie auch die frei gewählte) und meine liebsten Freunde.

Ach ja, und an die bessere Hälfte von WriterDog.

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Glossar der Begriffe und Eigennamen

Schwert.tif Ahstrux nohtrum – Persönlicher Leibwächter mit Lizenz zum Töten, der vom König ernannt wird.

Schwert.tif Die Auserwählten – Vampirinnen, deren Aufgabe es ist, der Jungfrau der Schrift zu dienen. Sie werden als Angehörige der Aristokratie betrachtet, obwohl sie eher spirituell als weltlich orientiert sind. Normalerweise pflegen sie wenig bis gar keinen Kontakt zu männlichen Vampiren; auf Weisung der Jungfrau der Schrift können sie sich aber mit einem Krieger vereinigen, um den Fortbestand ihres Standes zu sichern. Einige von ihnen besitzen die Fähigkeit zur Prophezeiung. In der Vergangenheit dienten sie allein stehenden Brüdern zum Stillen ihres Blutbedürfnisses. Diese Praxis wurde von den Brüdern wieder aufgenommen.

Schwert.tif Bannung – Status, der einer Vampirin der Aristokratie auf Gesuch ihrer Familie durch den König auferlegt werden kann. Unterstellt die Vampirin der alleinigen Aufsicht ihres Hüters, üblicherweise der älteste Mann des Haushalts. Ihr Hüter besitzt damit das gesetzlich verbriefte Recht, sämtliche Aspekte ihres Lebens zu bestimmen und nach eigenem Gutdünken jeglichen Umgang zwischen ihr und der Außenwelt zu regulieren.

Schwert.tif Die Bruderschaft der Black Dagger – Die Brüder des Schwarzen Dolches. Speziell ausgebildete Vampirkrieger, die ihre Spezies vor der Gesellschaft der Lesser beschützen. Infolge selektiver Züchtung innerhalb der Rasse besitzen die Brüder ungeheure physische und mentale Stärke sowie die Fähigkeit zur extrem raschen Heilung. Die meisten von ihnen sind keine leiblichen Geschwister; neue Anwärter werden von den anderen Brüdern vorgeschlagen und daraufhin in die Bruderschaft aufgenommen. Die Mitglieder der Bruderschaft sind Einzelgänger, aggressiv und verschlossen. Sie pflegen wenig Kontakt zu Menschen und anderen Vampiren, außer um Blut zu trinken. Viele Legenden ranken sich um diese Krieger, und sie werden von ihresgleichen mit höchster Ehrfurcht behandelt. Sie können getötet werden, aber nur durch sehr schwere Wunden, wie zum Beispiel eine Kugel oder einen Messerstich ins Herz.

Schwert.tif Blutsklave – Männlicher oder weiblicher Vampir, der unterworfen wurde, um das Blutbedürfnis eines anderen zu stillen. Die Haltung von Blutsklaven wurde vor Kurzem gesetzlich verboten.

Schwert.tif Chrih – Symbol des ehrenhaften Todes in der alten Sprache.

Schwert.tif Doggen – Angehörige(r) der Dienerklasse innerhalb der Vampirwelt. Doggen pflegen im Dienst an ihrer Herrschaft altertümliche, konservative Sitten und folgen einem formellen Bekleidungs- und Verhaltenskodex. Sie können tagsüber aus dem Haus gehen, altern aber relativ rasch. Die Lebenserwartung liegt bei etwa fünfhundert Jahren.

Schwert.tif Dhunhd – Hölle.

Schwert.tif Ehros – Eine Auserwählte, die speziell in der Liebeskunst ausgebildet wurde.

Schwert.tif Exhile Dhoble – Der böse oder verfluchte Zwilling, derjenige, der als Zweiter geboren wird.

Schwert.tif Gesellschaft der Lesser – Orden von Vampirjägern, der von Omega zum Zwecke der Auslöschung der Vampirspezies gegründet wurde.

Schwert.tif Glymera – Das soziale Herzstück der Aristokratie, sozusagen die »oberen Zehntausend« unter den Vampiren.

Schwert.tif Gruft – Heiliges Gewölbe der Bruderschaft der Black Dagger. Sowohl Ort für zeremonielle Handlungen als auch Aufbewahrungsort für die erbeuteten Kanopen der Lesser. Hier werden unter anderem Aufnahmerituale, Begräbnisse und Disziplinarmaßnahmen gegen Brüder durchgeführt. Niemand außer Angehörigen der Bruderschaft, der Jungfrau der Schrift und Aspiranten hat Zutritt zur Gruft.

Schwert.tif Hellren – Männlicher Vampir, der eine Partnerschaft mit einer Vampirin eingegangen ist. Männliche Vampire können mehr als eine Vampirin als Partnerin nehmen.

Schwert.tif Hyslop – Aussetzer im Urteilsvermögen, der klassischer Weise zur Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit oder dem Abhandenkommen eines Fahrzeugs oder anderen motorisierten Transportmitteln führt. Wenn zum Beispiel jemand den Zündschlüssel stecken lässt, während das Auto über Nacht vor dem Haus parkt, und besagtes Versehen in unerlaubten Spritztouren Dritter resultiert, so ist dies ein Hyslop.

Schwert.tif Familie – König und Königin der Vampire sowie all ihre Kinder.

Schwert.tif Hüter – Vormund eines Vampirs oder einer Vampirin. Hüter können unterschiedlich viel Autorität besitzen, die größte Macht übt der Hüter einer gebannten Vampirin aus.

Schwert.tif Jungfrau der Schrift – Mystische Macht, die dem König als Beraterin dient sowie die Vampirarchive hütet und Privilegien erteilt. Existiert in einer jenseitigen Sphäre und besitzt umfangreiche Kräfte. Hatte die Befähigung zu einem einzigen Schöpfungsakt, den sie zur Erschaffung der Vampire nutzte.

Schwert.tif Leahdyre – Eine mächtige und einflussreiche Person.

Schwert.tif Lesser – Ein seiner Seele beraubter Mensch, der als Mitglied der Gesellschaft der Lesser Jagd auf Vampire macht, um sie auszurotten. Die Lesser müssen durch einen Stich in die Brust getötet werden. Sie altern nicht, essen und trinken nicht und sind impotent. Im Laufe der Jahre verlieren ihre Haare, Haut und Iris ihre Pigmentierung, bis sie blond, bleich und weißäugig sind. Sie riechen nach Talkum. Aufgenommen in die Gesellschaft werden sie durch Omega. Daraufhin erhalten sie ihre Kanope, ein Keramikgefäß, in dem sie ihr aus der Brust entferntes Herz aufbewahren.

Schwert.tif Lewlhen – Geschenk.

Schwert.tif Lheage – Respektsbezeichnung einer sexuell devoten Person gegenüber einem dominanten Partner.

Schwert.tif Lhenihan – Mystisches Biest bekannt für seine sexuelle Leistungsfähigkeit. In modernem Slang bezieht es sich auf einen Vampir von übermäßiger Größe und Ausdauer.

Schwert.tif Lielan – Ein Kosewort, frei übersetzt in etwa »mein Liebstes«.

Schwert.tif Lys – Folterwerkzeug zur Entnahme von Augen.

Schwert.tif Mahmen – Mutter. Dient sowohl als Bezeichnung als auch als Anrede und Kosewort.

Schwert.tif Mhis – Die Verhüllung eines Ortes oder einer Gegend; die Schaffung einer Illusion.

Schwert.tif Nalla oder Nallum – Kosewort. In etwa »Geliebte(r)«.

Schwert.tif Novizin – Eine Jungfrau.

Schwert.tif Omega – Unheilvolle mystische Gestalt, die sich aus Groll gegen die Jungfrau der Schrift die Ausrottung der Vampire zum Ziel gesetzt hat. Existiert in einer jenseitigen Sphäre und hat weitreichende Kräfte, wenn auch nicht die Kraft zur Schöpfung.

Schwert.tif Phearsom – Begriff, der sich auf die Funktionstüchtigkeit der männlichen Geschlechtsorgane bezieht. Die wörtliche Übersetzung lautet in etwa »würdig, in eine Frau einzudringen«.

Schwert.tif Princeps – Höchste Stufe der Vampiraristokratie, untergeben nur den Mitgliedern der Hohen Familie und den Auserwählten der Jungfrau der Schrift. Dieser Titel wird vererbt; er kann nicht verliehen werden.

Schwert.tif Pyrokant – Bezeichnet die entscheidende Schwachstelle eines Individuums, sozusagen seine Achillesferse. Diese Schwachstelle kann innerlich sein, wie zum Beispiel eine Sucht, oder äußerlich, wie ein geliebter Mensch.

Schwert.tif Rahlman – Retter.

Schwert.tif Rythos – Rituelle Prozedur, um verlorene Ehre wiederherzustellen. Der Rythos wird von dem Vampir gewährt, der einen anderen beleidigt hat. Wird er angenommen, wählt der Gekränkte eine Waffe und tritt damit dem unbewaffneten Beleidiger entgegen.

Schwert.tif Schleier – Jenseitige Sphäre, in der die Toten wieder mit ihrer Familie und ihren Freunden zusammentreffen und die Ewigkeit verbringen.

Schwert.tif Shellan – Vampirin, die eine Partnerschaft mit einem Vampir eingegangen ist. Vampirinnen nehmen sich in der Regel nicht mehr als einen Partner, da gebundene männliche Vampire ein ausgeprägtes Revierverhalten zeigen.

Schwert.tif Symphath – Eigene Spezies innerhalb der Vampirrasse, deren Merkmale die Fähigkeit und das Verlangen sind, Gefühle in anderen zu manipulieren (zum Zwecke eines Energieaustauschs). Historisch wurden die Symphathen oft mit Misstrauen betrachtet und in bestimmten Epochen auch von den anderen Vampiren gejagt. Sind heute nahezu ausgestorben.

Schwert.tif Trahyner – Respekts- und Zuneigungsbezeichnung unter männlichen Vampiren. Bedeutet ungefähr »geliebter Freund«.

Schwert.tif Transition – Entscheidender Moment im Leben eines Vampirs, wenn er oder sie ins Erwachsenenleben eintritt. Ab diesem Punkt müssen sie das Blut des jeweils anderen Geschlechts trinken, um zu überleben, und vertragen kein Sonnenlicht mehr. Findet normalerweise mit etwa Mitte zwanzig statt. Manche Vampire überleben ihre Transition nicht, vor allem männliche Vampire. Vor ihrer Transition sind Vampire von schwächlicher Konstitution und sexuell unreif und desinteressiert. Außerdem können sie sich noch nicht dematerialisieren.

Schwert.tif Triebigkeit – Fruchtbare Phase einer Vampirin. Üblicherweise dauert sie zwei Tage und wird von heftigem sexuellen Verlangen begleitet. Zum ersten Mal tritt sie etwa fünf Jahre nach der Transition eines weiblichen Vampirs auf, danach im Abstand von etwa zehn Jahren. Alle männlichen Vampire reagieren bis zu einem gewissen Grad auf eine triebige Vampirin, deshalb ist dies eine gefährliche Zeit. Zwischen konkurrierenden männlichen Vampiren können Konflikte und Kämpfe ausbrechen, besonders wenn die Vampirin keinen Partner hat.

Schwert.tif Vampir – Angehöriger einer gesonderten Spezies neben dem Homo sapiens. Vampire sind darauf angewiesen, das Blut des jeweils anderen Geschlechts zu trinken. Menschliches Blut kann ihnen zwar auch das Überleben sichern, aber die daraus gewonnene Kraft hält nicht lange vor. Nach ihrer Transition, die üblicherweise etwa mit Mitte zwanzig stattfindet, dürfen sie sich nicht mehr dem Sonnenlicht aussetzen und müssen sich in regelmäßigen Abständen aus der Vene ernähren. Entgegen einer weit verbreiteten Annahme können Vampire Menschen nicht durch einen Biss oder eine Blutübertragung »verwandeln«; in seltenen Fällen aber können sich die beiden Spezies zusammen fortpflanzen. Vampire können sich nach Belieben dematerialisieren, dazu müssen sie aber ganz ruhig werden und sich konzentrieren; außerdem dürfen sie nichts Schweres bei sich tragen. Sie können Menschen ihre Erinnerung nehmen, allerdings nur, solange diese Erinnerungen im Kurzzeitgedächtnis abgespeichert sind. Manche Vampire können auch Gedanken lesen. Die Lebenserwartung liegt bei über eintausend Jahren, in manchen Fällen auch höher.

Schwert.tif Vergeltung – Akt tödlicher Rache, typischerweise ausgeführt von einem Mann im Dienste seiner Liebe.

Schwert.tif Wanderer – Ein Verstorbener, der aus dem Schleier zu den Lebenden zurückgekehrt ist. Wanderern wird großer Respekt entgegengebracht, und sie werden für das, was sie durchmachen mussten, verehrt.

Schwert.tif Whard – Entspricht einem Patenonkel oder einer Patentante.

Schwert.tif Zwiestreit – Konflikt zwischen zwei männlichen Vampiren, die Rivalen um die Gunst einer Vampirin sind.

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Prolog

Qhuinn, Sohn des Lohstrong, betrat den Wohnsitz seiner Familie durch die herrschaftliche Eingangstür. Sobald er über die Schwelle trat, stieg ihm der Geruch des Hauses in die Nase. Zitruspolitur. Bienenwachskerzen. Frische Schnittblumen aus dem Garten, täglich von den Doggen in Vasen arrangiert. Parfüm – das seiner Mutter. Eau de Cologne – das seines Vaters und das seines Bruders. Kaugummi mit Zimtgeschmack – der seiner Schwester.

Sollte je ein Raumerfrischer mit dieser Note auf den Markt kommen, würden ihn die Hersteller zweifelsohne »Im goldenen Tal des Geldadels« nennen. Oder »Morgenglanz auf prallem Konto«.

Oder vielleicht der Bestseller: »Wir sind besser als der Rest«.

Aus dem Esszimmer drangen leise Stimmen an sein Ohr, die Vokale rund wie geschliffene Diamanten, die Konsonanten weich und langgezogen wie Seidenbänder.

»Ach Lillie, es ist köstlich, danke«, sagte seine Mutter zur Doggen, die das Essen auftrug. »Aber für mich nicht ganz so viel, bitte. Und auch für Solange nicht. Sie wird allmählich rundlich.«

Damit zwang sie ihre Dauerdiät der nächsten Generation auf: Von weiblichen Angehörigen der Glymera wurde erwartet, dass sie quasi unsichtbar wurden, wenn sie sich ins Profil drehten, und jeder hervortretende Wangenknochen oder knöchrige Oberarm wurde als Trophäe gehandelt.

Als wäre man etwas Besseres, wenn man dürr wie ein Schürhaken durch die Welt lief.

Und wehe dem, dessen Tochter einen gesunden Eindruck machte.

»Oh ja, danke, Lilith«, brummte sein Vater sonor. »Gerne mehr.«

Qhuinn schloss die Augen und bemühte sich, seine Beine zum Weitergehen zu animieren. Einen Fuß vor den anderen zu setzen. Es konnte doch nicht so schwer sein.

Seine brandneuen Ed-Hardy-Kicks konterten den Vorschlag mit hochgerecktem Mittelfinger. Denn dieses Speisezimmer zu betreten war für ihn in mehrfacher Hinsicht so, als würde er sich in die Höhle des Löwen begeben.

Er ließ seine Sporttasche zu Boden fallen. Die zwei Tage bei seinem besten Freund Blay hatten ihm gutgetan. Endlich mal ein Haus, in dem man frei atmen konnte. Doch leider war die Heimkehr derart deprimierend, dass sie den Erholungswert gleich wieder zunichtemachte.

Okay, das war lächerlich. Er konnte nicht reglos hier rumstehen wie ein Möbelstück.

Abrupt wandte er sich dem alten mannshohen Spiegel neben der Tür zu. So wohlüberlegt platziert, perfekt für den Adel, der stets auf sein Äußeres bedacht war. Auf diese Weise konnten die Gäste Frisur und Kleidung überprüfen, während ihnen der Butler Mäntel und Hüte abnahm. Der junge Prätrans, der ihm aus dem Spiegel entgegenblickte, hatte vorteilhafte Züge: ein entschlossenes Kinn und einen Mund, der, das musste er zugeben, schon jetzt so aussah, als könnte er später einmal Schlimmes anrichten, wenn er auf nackte Haut traf. Doch vielleicht war das reines Wunschdenken. Seine Igelfrisur stand in sämtliche Richtungen ab. Um seinen Hals schmiegte sich eine Fahrradkette, aber kein modisches Accessoire von Urban Outfitters, sondern das Ding, das zuvor sein Rennrad angetrieben hatte.

Alles in allem sah er aus wie ein Einbrecher, der hier gleich alles kurz und klein schlagen würde auf der Jagd nach Tafelsilber, Schmuck und tragbaren Elektrogeräten.

Der Witz war, dass sein Gothic-Look in den Augen seiner Familie noch nicht einmal das Anstößigste an ihm war. Im Grunde hätte er sich genauso gut nackt ausziehen, eine Taschenlampe zwischen die Pobacken klemmen und durch das Erdgeschoss rasen können, um Kunstgegenstände und Antiquitäten mit dem Baseballschläger zu bearbeiten – seine Familie hätte dies nicht annähernd so problematisch empfunden wie seinen wahren Defekt.

Seine Augen.

Eins blau. Eins grün.

Hoppla. Was für ein Pech.

Die Glymera schätzte keine Makel. Weder an ihrem Porzellan noch in ihren Rosengärten. Nicht an den Tapeten oder Teppichen oder Arbeitsoberflächen. Nicht an der Seide ihrer Unterwäsche, der Wolle ihrer Blazer oder dem Chiffon ihrer Kleider.

Und ganz bestimmt niemals an ihren Kindern.

Die Schwester war ganz annehmbar – mal abgesehen von ihrem »kleinen Gewichtsproblem«, das gar nicht existierte, und dem Lispeln, das die Transition nicht behoben hatte – ach ja, und abgesehen von der Tatsache, dass sie den Charakter ihrer Mutter geerbt hatte, wogegen man leider nichts tun konnte. Sein Bruder hingegen war der Star, ein körperlich einwandfreier Erstgeborener, der den Fortbestand der Blutlinie sichern würde, indem er sich in einem äußerst gediegenen Akt ohne Schweiß und Gestöhne mit einer Vampirin vereinen würde, die seine Familie für ihn ausgewählt hatte.

Scheiße, die Empfängerin seines Spermas hockte bereits in den Startlöchern. Er würde sich mit ihr verbinden, sobald er seine Transition durchlaufen hatte …

»Wie fühlst du dich, mein Sohn?«, erkundigte sein Vater sich zögerlich.

»Müde, Sir«, antwortete eine tiefe Stimme. »Aber das hier wird mir guttun.«

Qhuinn lief es eiskalt über den Rücken. Diese Stimme klang nicht nach seinem Bruder. Sie war viel zu tief. Viel zu männlich. Viel zu …

Heilige Scheiße, der Kerl hatte seine Transition durchlaufen.

Jetzt setzten sich Qhuinns Ed Hardys doch noch in Bewegung, bis er ins Esszimmer blicken konnte. Sein Vater saß am Kopf der Tafel. Wie üblich. Seine Schwester blickte in die Gegenrichtung und konnte sich vor Hunger kaum zurückhalten, den Goldrand von ihrem Teller zu lutschen. Alles wie immer.

Aber der Kerl, der mit dem Rücken zu Qhuinn saß, war alles andere als der gewohnte Anblick.

Luchas war doppelt so groß wie vor zwei Tagen, als Qhuinn von einem Doggen angewiesen wurde, seine Sachen zu packen und zu Blay zu verschwinden.

Deshalb also der Urlaub. Qhuinn hatte gedacht, sein Vater hätte eingelenkt und ihm erlaubt, worum er schon seit Wochen gebeten hatte. Irrtum, er wollte Qhuinn nur aus dem Haus haben, weil die Verwandlung seines Goldstücks bevorstand.

Hatte sein Bruder die Mieze flachgelegt? Wessen Blut hatten sie wohl benutzt …

Sein Vater, verklemmt wie eh und je, streckte die Hand nach Luchas aus und tätschelte unbeholfen seinen Unterarm. »Wir sind so stolz auf dich. Du siehst … vortrefflich aus.«

»Das tust du«, fiel Qhuinns Mutter ein. »Wirklich vortrefflich. Sieht dein Bruder nicht vortrefflich aus, Solange?«

»Doch, das tut er. Vortrefflich.«

»Ich habe hier etwas für dich«, sagte Lohstrong.

Er griff in die Innentasche seiner Sportjacke und brachte ein schwarzes, samtbezogenes Kästchen in der Größe eines Baseballs zum Vorschein.

Qhuinns Mutter musste sich Tränen aus den Augenwinkeln tupfen.

»Das ist für dich, mein Teuerster.«

Er schob das Kästchen über die weiße Tischdecke aus Damast, und Qhuinns Bruder ergriff es mit seinen neuen Pranken, die zitterten, als er den Deckel öffnete.

Das Gold funkelte bis zu Qhuinn in die Diele.

Die Tischrunde verstummte. Sein Bruder blickte überwältigt auf den Siegelring, während sich die Mutter weiter die Augen wischte und selbst sein Vater einen feuchten Blick bekam. Qhuinns Schwester schnappte sich indessen unauffällig ein Brötchen aus dem Brotkorb.

»Danke, Sir«, sagte Luchas und steckte den schweren Goldring an den Zeigefinger.

»Er passt doch, oder?«, erkundigte sich Lohstrong.

»Ja, Sir. Wie angegossen.«

»Dann haben wir die gleiche Größe.«

Wie hätte es auch anders sein können.

In diesem Moment ließ Qhuinns Vater den Blick durch den Raum schweifen, als wollte er durch die Bewegung den Tränenschleier fortwischen, der seine Sicht behinderte.

Seine Augen kamen auf Qhuinn zu ruhen, der vor dem Esszimmer stand.

Kurz blitzte etwas wie Erkennen in ihnen auf. Aber es war kein Blick, der sagte »Hallo, komm doch rein« oder »Wie schön, mein anderer Sohn ist auch zurück«. Es war vielmehr der Blick eines Spaziergängers, der einen Hundehaufen in seiner Bahn so spät bemerkt hatte, dass er nicht mehr ausweichen konnte.

Sein Vater wandte sich seiner Familie zu und ignorierte Qhuinn absichtlich. Offensichtlich wollte Lohstrong diesen historischen Moment um keinen Preis trüben – aus diesem Grund sparte er sich das Handzeichen gegen den bösen Blick. Normalerweise vollzogen alle Personen des Haushalts die Geste, wenn sie Qhuinn begegneten. Doch nicht an diesem Abend. Daddy wollte nicht, dass ihn die anderen bemerkten.

Qhuinn lief zu seiner Sporttasche, warf sie sich über die Schulter und stapfte über die Vordertreppe hoch in sein Zimmer. Normalerweise zog es seine Mutter vor, wenn er den Dienstbotenaufgang benutzte, aber dazu hätte er durchs Esszimmer gehen und die selige Eintracht stören müssen.

Sein Zimmer lag ganz hinten rechts, so weit wie möglich von den anderen entfernt. Qhuinn hatte sich oft gefragt, warum sie keinen endgültigen Schlussstrich zogen und ihn zu den Doggen ausquartierten – aber dann hätte das Personal womöglich gekündigt.

Er schloss sich ein, warf seinen Krempel auf den blanken Boden und setzte sich aufs Bett. Dann starrte er die Tasche an und überlegte, ob er seine Sachen lieber gleich waschen sollte, weil eine nasse Badehose darunter war.

Die Zimmermädchen weigerten sich, seine Kleidung anzufassen – als würde das Böse in ihm den Fasern seiner Jeans und T-Shirts anhaften. Glücklicherweise wurde er nie zu feierlichen Anlässen geladen, also besaß er auch keine bescheuerte Bügelwäsche …

Dass er weinte, bemerkte er erst, als er auf seine Ed Hardys blickte. Zwischen den Schnürsenkeln saßen ein paar vereinzelte Tropfen.

Qhuinn würde nie einen Ring erhalten.

Ach, verdammt … das tat weh.

Er rieb sich das Gesicht, als sein Handy klingelte. Während er das Ding aus seiner Bikerjacke zog, musste er blinzeln, um klar zu sehen.

Er nahm den Anruf entgegen, ohne sich zu melden.

»Ich habe es soeben erfahren«, hörte er Blay sagen. »Wie geht es dir?«

Qhuinn öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, so nach dem Motto: »Fucking fantastisch«, »Wenigstens bin ich nicht so moppelig wie meine Schwester«, oder »Nein, keine Ahnung, ob mein Bruder zum Stich gekommen ist«.

Stattdessen sagte er: »Sie haben mich aus dem Haus geschafft. Sie wollten nicht, dass mein Fluch die Transition überschattet. Es schein funktioniert zu haben, der Kerl sieht aus, als hätte er es gut überstanden.«

Blay fluchte verhalten.

»Ach ja, und er hat gerade seinen Ring bekommen. Mein Vater hat ihm … seinen Ring überreicht.«

Den Siegelring mit dem Familienwappen, dem Symbol, das alle männlichen Angehörigen eines Stammbaums trugen und das von ihrer edlen Herkunft zeugte.

»Ich habe zugesehen, wie Luchas ihn an den Finger gesteckt hat«, sagte Qhuinn, und es fühlte sich an, als würde er sich mit einem spitzen Messer den Arm aufschlitzen. »Hat gepasst wie angegossen. Sah toll aus. Aber … wie hätte es auch anders sein sollen …«

An diesem Punkt begann er zu schluchzen.

Hemmungslos.

Die schreckliche Wahrheit nämlich war, dass er sich trotz seiner rebellischen Leckt-mich-Haltung wünschte, seine Familie möge ihn lieben. So zimperlich seine Schwester war, so streberhaft sein Bruder, so reserviert seine Eltern, er sah, dass sie einander liebten. Er spürte diese Liebe zwischen ihnen. Sie war das Band, das sie zusammenhielt, die unsichtbare Kette von einem Herzen zum anderen, die Selbstverständlichkeit, mit der man sich um den anderen sorgte, ob er nun mit banalem Mist oder einem wirklichen Problem konfrontiert war. Und stärker als dieses Gefühl der Bindung war allein … das Gefühl, davon ausgeschlossen zu sein.

Jeden einzelnen verdammten Tag.

Blays Stimme drang durch das Schluchzen an sein Ohr. »Ich bin für dich da. Es tut mir so verdammt leid … ich bin für dich da … Aber mach bloß keinen Scheiß, okay? Ich komme zu dir …«

Blay hatte offensichtlich erraten, in welche Richtung Qhuinns Gedanken gingen: Dinge, die mit Seilen und Deckenaufhängungen zu tun hatten.

Tatsächlich war seine Hand bereits an den behelfsmäßigen Gürtel gewandert, den er sich aus einem hübschen, kräftigen Stück Nylongewebe gebastelt hatte – denn seine Eltern gaben ihm nicht ausreichend Geld für Kleidung, und sein letzter war schon vor Jahren auseinandergefallen.

Er zog den Gürtel aus den Schlaufen und schielte zur verschlossenen Badezimmertür. Er brauchte das Ding nur an den Duschkopf zu knüpfen, der aus der Decke ragte – die Wasserrohre stammten aus der guten alten Zeit, als solides, tragfähiges Handwerk noch etwas gegolten hatte. Er hatte sogar einen Stuhl, den er besteigen und dann unter sich wegtreten konnte.

»Ich muss Schluss machen …«

»Qhuinn? Leg jetzt nicht auf – wage es bloß nicht, einfach aufzulegen …«

»Hör zu, Mann, ich muss Schluss machen.« Im Hintergrund hektisches Rascheln, als ob Blay sich die Jacke überwerfen würde.

»Qhuinn! Leg nicht auf – Qhuinn …!«

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Gegenwart

»Wow ey, was ’ne fette Niggerschaukel!«

Jonsey sah den Idioten an, der neben ihm im Buswartehäuschen hockte. Seit drei Stunden saßen sie jetzt schon in diesem Hamsterkäfig aus Plexiglas. Mindestens. Obwohl es sich dank Kommentaren wie diesem wie drei Tage anfühlte.

»Du bist weiß, schon aufgefallen?«, bemerkte Jonsey.

»Was sagst du, Mann?«

Okay, es fühlte sich eher wie drei Jahre an. »Heller Hauttyp, kapiert? Sonnencremekonsument. Das Gegenteil von mir …«

»Ja, reg dich ab, Mann, schau dir mal die Karre an …«

»Du bist nicht aus der Hood und solltest auch nicht so reden. Das ist voll panne, Mann!«

Zu diesem Zeitpunkt wollte er einfach nur noch, dass die Nacht vorüberging. Es war kalt, es schneite, und er fragte sich, womit er es verdiente, hier mit Vanilla-Ice festzusitzen.

Er spielte schon mit dem Gedanken, die ganze Sache hinzuschmeißen. Seine Dealergeschäfte in Caldwell brachten ihm anständig Cash ein, und die Jugendstrafe für die Morde hatte er vor zwei Monaten abgesessen. Er hatte es wirklich nicht nötig, mit diesem weißen Penner hier zu sitzen, der sich durch sein pseudocooles Gehabe Street Credibility verschaffen wollte.

Außerdem nervte ihn das Bonzenviertel, in dem sie hockten. Soweit er wusste, wurden hier um zweiundzwanzig Uhr die Bürgersteige hochgeklappt.

Warum hatte er sich bloß darauf eingelassen?

»Würdest du dir bitte einmal dieses entzückende Automobil ansehen.«

Nur damit dieser Typ endlich Ruhe gab, beugte Jonsey sich nach vorne und blickte seitlich aus dem Unterstand. Als ihm der Schnee in die Augen wehte, fluchte er. Auf den Norden von New York State war im Winter echt geschissen. Da froren einem die Eier ab …

Aber hallo, was war denn das?

Auf dem schmalen Parkplatz vor einem geschleckten Vierundzwanzig-Stunden-Drogeriemarkt ohne jedes Graffito stand doch tatsächlich ein supercooles fettes Teil. Der Hummer war komplett schwarz, nirgendwo Chrom – nicht einmal am Kühlergrill. Außerdem war es einer von den ganz großen – und der Ausstattung nach zu urteilen hatte er sogar einen größeren Motor.

Solche Karren sah man normalerweise eher da, wo er herkam, die großen Dealer nutzten sie dort als fahrbaren Untersatz. Nur dass sie hier so weit von der Innenstadt entfernt waren, dass er nur einem Loser gehören konnte, der auf dicke Hose machte.

Vanilla-Ice warf sich seinen Rucksack über die Schulter. »Ich seh mir das mal an.«

»Der Bus kommt gleich.« Jonsey blickte auf die Uhr und gab sich seinem Wunschdenken hin. »In fünf bis zehn Minuten.«

»Komm schon …«

»Tschüss, Arschloch.«

»Hast du Schiss, oder was?« Der Kerl fuchtelte mit den Händen vor seinem Gesicht herum wie im Film Paranormal Activity. »Huh, wie schaurig …«

Jonsey zog seine Waffe und hielt sie dem Kerl in die blöde Fresse. »Ich hab kein Problem damit, dich auf der Stelle abzuknallen. Ich hab’s schon mal getan, und ich mach’s wieder. Also lass mich in Frieden, und halt verdammt noch mal die Klappe.«

Jonsey sah dem Kerl in die Augen. Ihn kümmerte kaum, wie diese Sache ausging. Den Penner erschießen. Den Penner nicht erschießen. Egal.

»Okay, okay, okay.« Der Quasselfritze wich zurück und trat aus der Bushaltestelle.

Gott sei Dank.

Jonsey steckte seine Knarre weg, verschränkte die Arme und blickte in die Richtung, aus der der Bus kommen sollte … als ob das helfen würde.

Dämlicher Idiot.

Wieder ein Blick auf die Uhr. Mann, er hatte genug von dem Schwachsinn. Wenn der Bus zurück in die Stadt zuerst kam, würde er einfach einsteigen und auf die ganze Sache scheißen.

Er rückte den Rucksack zurecht, den er besorgen hatte sollen, und spürte die harten Umrisse des Keramikbehälters darin. Die Sache mit dem Rucksack verstand er. Wenn er Ware aus der Pampa in die Hood transportieren sollte, klarer Fall. Aber der Keramikpott? Wofür sollte der gut sein?

Oder ging es etwa um loses Pulver?

Dass ihn C-Rider persönlich auserkoren hatte, war ganz schön cool gewesen. Bis er Vanilla-Ice getroffen hatte – das hatte seinem Gefühl, etwas Besonderes zu sein, einen ziemlichen Dämpfer verpasst. Die Anweisungen vom Boss waren einfach gewesen: Triff dich mit dem Kerl an der Haltestelle Fourth Street. Nehmt den letzten Bus in die Vorstadt und wartet. Steigt in den ersten Regionalbus, der kurz vor der Morgendämmerung kommt, und fahrt bis zur Haltestelle Warren Country. Von dort aus schlappt ihr eine Meile bis zu einem Farmgelände.

Dort würde C-Rider sie und noch ein paar Kerle erwarten, um Geschäftliches zu besprechen. Und dann? Dann wäre Jonsey Teil einer neuen Crew, die sich die Szene in Caldwell unter den Nagel reißen wollte.

Das gefiel ihm. Und C-Rider musste man echt respektieren. Dieser Kerl war voll in Ordnung: ein großes Tier in der Hood. Cool.

Aber wenn die anderen so waren wie der Kollege hier …

Das laute Röhren eines Motors ließ ihn aufhorchen. Sollte sich der öffentliche Nahverkehr endlich erbarmen? Er stand auf …

»Is nicht wahr«, hauchte er.

Der schwarze Hummer hielt direkt vor dem Bushäuschen, und als das Fenster herunterfuhr, saß dieser durchgeknallte Weiße doch tatsächlich hinter dem Steuer. Aus dem Wagen dröhnte ihm Cypress Hill entgegen.

»Steig ein! Komm schon! Los, steig ein!«

»Bist du bescheuert?«, stammelte Jonsey, rannte um den Hummer herum und sprang auf den Beifahrersitz.

Heilige Scheiße – dieser Penner war ja doch kein kompletter Loser, nicht, wenn er so was brachte.

Der Kerl drückte auf die Tube, und der Motor heulte auf. Die Lamellen der Reifen gruben sich in den Schnee und schleuderten den Wagen dann mit achtzig Sachen vorwärts. Jonsey hielt sich an allem fest, dessen er habhaft werden konnte, während sie bei Rot über die Kreuzung preschten und dann über den Randstein und über einen Supermarktparkplatz rasten. Als sie am anderen Ende wieder auf die Straße schossen, übertönte die Musik das Piepen, das bemängelte, dass sie nicht angeschnallt waren.

Jonsey grinste. »Yeah! Cool! Du verrücktes Arschloch! Du verrücktes weißes Arschloch …!«

»Ich glaube, das ist Justin Bieber.«

Qhuinn stand vor dem Chipsregal und schielte zum Lautsprecher, der in die Deckenverschalung eingelassen war. »Ganz genau, ich habe recht und könnte kotzen, dass ich das weiß.«

Woher weißt du das?, gebärdete John Matthew neben ihm.

»Dieser kleine Scheißer ist einfach überall.« Als Beweis deutete er auf einen Grußkartenständer, wo es einige besonders hübsche Exemplare mit diesem Schleimer gab. »Ich schwöre, dieser Kerl ist der Beweis für die nahende Ankunft des Antichristen.«

Vielleicht ist er schon da.

»Das wäre eine Erklärung für Miley Cyrus.«

Da könntest du recht haben.

Während John sich wieder der Auswahl seines Knabberspaßes widmete, sah Qhuinn sich im Drogeriemarkt um. Es war vier Uhr morgens, alle Regale waren aufgefüllt, aber der Laden war vollkommen leer – mal abgesehen von ihnen beiden und dem Kerl an der Kasse, der den National Enquirer las und einen Schokoriegel mampfte.

Keine Lesser. Niemand von Xcors Bande.

Nichts, worauf man schießen konnte.

Den Justin-Bieber-Aufsteller mal nicht mitgerechnet.

Was willst du?, gebärdete John.

Qhuinn zuckte die Schultern und sah sich weiter um. Als Johns Ahstrux Nohtrum war er dafür verantwortlich, dass sein Freund Nacht für Nacht in einem Stück zum Anwesen der Bruderschaft zurückkehrte, und das war jetzt immerhin schon über ein Jahr gutgegangen …

Himmel, wie er Blay vermisste.

Er schüttelte den Kopf und griff wahllos ins Regal. Als er seinen Arm wieder zurückzog, hielt er Chips mit Geschmacksrichtung Sour Cream and Onion in der Hand.

Während er die Packung anstarrte, die die Großaufnahme eines Kartoffelchips zierte, war er in Gedanken bei der Zeit, als er und John mit Blay im Haus von Blays Eltern abgehangen waren. Sie hatten Xbox gespielt, Bier getrunken und von einem aufregenderen, besseren Leben nach der Transition geträumt.

Leider hatte sich bis auf ihre körperlichen Eigenschaften nur wenig zum Besseren verändert. Obwohl das vielleicht nur er so sah. Schließlich war John glücklich verbunden. Und Blay war zusammen mit …

Scheiße, nicht einmal in Gedanken konnte er den Namen seines Cousins aussprechen.

»Alles klar, John?«, fragte er mit kratziger Stimme.

John Matthew schnappte sich eine klassische Packung Nachos und nickte. Holen wir uns was zu trinken.

Als sie weiter durch den Laden zogen, wünschte Qhuinn, sie wären in der Innenstadt, um in den Gassen zu kämpfen, jeder gegen zwei ihrer Feinde. Diese Kontrollbesuche in der Vorstadt waren nicht eben abendfüllend, und damit blieb viel zu viel Zeit, darüber nachzudenken, wie …

Er schob diesen Gedanken weit von sich.

Egal. Außerdem hasste er den Kontakt mit der Glymera – und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Leider kehrte der Adel allmählich wieder zurück nach Caldwell, und deswegen liefen bei Wrath die Telefone heiß, weil ständig jemand glaubte, einen Lesser gesehen zu haben.

Als ob Omegas Untote nichts Besseres zu tun hätten, als um kahle Obstbäume und gefrorene Swimmingpools zu schleichen.

Trotzdem war der König nicht in der Position, diesen Dandys zu sagen, dass sie ihn mal konnten. Nicht, seit ihm Xcor und seine Bande eine um ein Haar tödliche Kugel in den Hals gejagt hatten.

Verräter. Wichser. Mit etwas Glück würde Vishous zweifelsfrei beweisen, wer diesen Gewehrschuss abgefeuert hatte, und dann konnten sie diese Horde niedermetzeln, ihre Köpfe auf Pfähle spießen und ihre Leichen in Brand stecken.

Und herausfinden, welche Mitglieder im Rat mit dem neuen Feind gemeinsame Sache machten.

Ganz genau, Serviceorientiertheit lautete neuerdings die Devise – also landete jedes Team einmal pro Woche in dem Viertel, in dem er aufgewachsen war, klopfte an Türen, schaute unter Betten.

In museumsartigen Häusern, die auf ihn unheimlicher wirkten als jede dunkle Unterführung in der Stadt.

Jemand tippte ihn auf die Schulter, und er drehte sich um. »Was denn?«

Das wollte ich dich auch gerade fragen.

»Wie?«

Du bist hier stehen geblieben. Und du starrst auf … na ja, du weißt schon.

Qhuinn runzelte die Stirn und blickte auf das Regal vor sich. Nun verlor er komplett den Faden, und sämtliche Farbe wich ihm aus dem Gesicht. »Oh, äh …« Scheiße, hatte hier jemand die Heizung aufgedreht? »Tja.«

Babyflaschen. Milchpulver. Lätzchen, Feuchttücher und Wattestäbchen. Schnuller. Noch mehr Fläschchen. Irgendein komisches Gerät …

Ach du Scheiße, eine Milchpumpe.

Qhuinn wirbelte herum, stand urplötzlich vor einem zwei Meter hohen Turm aus Pamperskartons, taumelte zurück zu den Saugaufsätzen und prallte von einem Fach mit Wundcremes ab, das ihn wieder aus dem Bereich für Babybedarf herauskatapulierte.

Baby. Baby. Baby …

Cool. Er hatte es zur Kasse geschafft.

Er griff in seine Bikerjacke, zog das Portemonnaie heraus und streckte die Hand nach Johns Einkäufen aus. »Gib mir dein Zeug.«

John widersprach, indem er die Worte mit den Lippen formte, weil er die Hände voll hatte. Da schnappte Qhuinn sich das Bier und die Nachos, die die Kommunikation erschwerten.

»Bitte. Während er die Sachen eintippt, kannst du mir das noch mal genau erklären.«

John gebärdete ausführlich und eindringlich, warum er den Einkauf übernehmen wollte.

»Ist er taub?«, flüsterte der Typ an der Kasse überlaut. Als hielte er jemanden, der die Gebärdensprache benutzte, für eine Art Freak.

»Nein. Blind.«

»Ach so.«

Der Kerl starrte John weiter ungeniert an, und Qhuinn hätte ihn am liebsten abgeknallt. »Wollen Sie jetzt endlich kassieren, oder wie sieht es aus?«

»Oh … ach ja. Hey, Sie haben da eine Tätowierung im Gesicht.« Mr Schnellspanner führte die Einkäufe derart langsam über den Scanner, als würden sie Widerstand leisten. »Wussten Sie das?«

Ach, echt? »Woher sollte ich es wissen.«

»Sind Sie etwa auch blind?«

Bei dem Kerl würde er keinen Schalldämpfer benutzen, ganz bestimmt nicht. »Ja. Bin ich.«

»Ach so, deswegen sehen Ihre Augen wohl auch so komisch aus.«

»Ganz genau. Sie haben es erraten.«

Qhuinn zog einen Zwanziger raus und wartete nicht auf sein Wechselgeld – den Kerl umzulegen schien ihm nur zu verlockend. Er nickte John zu, der den Kassierer ebenfalls gerade abschätzend musterte, als würde er für einen Sarg Maß nehmen, und ging weiter.

»Was ist mit Ihrem Wechselgeld?«, rief ihnen der Typ hinterher.

»Ich bin außerdem taub. Ich kann Sie nicht hören.«

Der Kerl rief noch lauter: »Dann behalte ich es einfach, okay?«

»Klingt gut«, rief Qhuinn ihm über die Schulter zu.

Dieser Typ war echt komplett beschränkt.

Qhuinn trat durch die Sicherheitsschranke und fragte sich, wie solche Menschen auch nur einen Tag lang überleben konnten. Und dem Kerl gelang es sogar, sich die Hose richtig anzuziehen und eine Registrierkasse zu bedienen.

Die Welt war voller Wunder.

Als er die Tür aufstieß, schlug ihm die Kälte entgegen, der Wind blies in sein Haar, Schneeflocken trieben ihm in die Nase …

Qhuinn blieb stehen. Blickte nach rechts. »Was zum … wo ist mein Hummer?«

Aus dem Augenwinkel sah er, wie Johns Hände Gesten beschrieben, als würde er sich dasselbe fragen. Und dann deutete der Kerl auf den frischen Schnee am Boden … und die tiefen Spuren von vier Monsterreifen, die einen fetten Kreis beschrieben und vom Parkplatz auf die Straße führten.

»Verdammte Scheiße!«, fluchte Qhuinn.

Und ausgerechnet er hatte den Schnellspanner aus dem Laden für dumm gehalten.