»Für all jene, die noch nicht wissen,
welch unendliche Kraft in ihren Herzen schlummert«
Wie winzige purpurrote Botschaften aus dem All spiegelt sich das Licht der Sterne auf seinem Schuppenkleid. In eleganter Haltung liegt er am Boden, wartend, wachend und doch tief schlafend. Er blickt in seine Seele.
Seine Augen sind geschlossen, als träume er von jenen Sphären, die er noch nicht spüren kann, weil seine Flügel noch wachsen müssen. Leicht abgespreizt ruhen sie auf dem trockenen, staubigen Wüstengrund, während sein Atem gleichmäßig durch seinen Körper strömt.
Doch sobald der warme Wind ihn streift, schwellen die Klänge um ihn herum an – das sanfte Klingeln von Messingglöckchen, erzitternde Felle von kreisrunden Trommeln und der Nachhall eines Gongs, der so groß ist, dass seine Vibrationen die Tiefen meines Herzens durchdringen.
Ich muss zu ihm. Ihn bitten, aufzuwachen und mich zu tragen – damit wir gemeinsam fliegen können.
Und endlich eins werden.
Morgenrot
Mona
»Pass auf dich auf. Bitte.«
Sie benehmen sich, als würde ich für ein Jahr in den Dschungel gehen und versuchen, dort ohne Führer, Proviant und medizinische Hilfe zu überleben.
»Keine Sorge, werde ich. Ich hatte ja jahrelang Zeit, es zu üben.«
»Willst du nicht doch noch mal darüber nachdenken, ob …«
»Nein, möchte ich nicht«, entgegne ich und richte mich auf, so gut es in Mamas Klammergriff möglich ist.
»Vergiss nicht, dass du …«
»Ja, ich weiß. Ich bin etwas Besonderes«, unterbreche ich sie ein zweites Mal. »Deshalb ist es Zeit, etwas Besonderes zu erleben.«
Keiner lacht über meinen Versuch, die Situation mit einem Scherz zu entkrampfen. Stattdessen seufzt Mama ein weiteres Mal tief durch und Papa wendet sich kurz ab, als müsse er sich sammeln. Ohne Mama anzusehen, weiß ich, dass die Tränen ihre Augen längst verlassen haben. Ich will sie nicht direkt anschauen, ebenso wenig wie Papa, der ununterbrochen mein Handgelenk hält – mit zwei Fingern nur, doch in der Hoffnung, ich könne es mir anders überlegen und beschließen hierzubleiben, in unserem Haus, wo mir nichts passieren kann und ich sicher bin. Genau deshalb kann ich kaum erwarten, es hinter mir zu lassen. Seit Wochen fiebere ich diesem Moment entgegen und nun ist er endlich da. Niemand wird mir ihn jetzt noch nehmen; das lasse ich nicht zu.
»Hast du deine Tabletten dabei? Und sie heute früh genommen? Hat sie die Tabletten genommen, Manuel?«
»Das kann ich prima allein, Mama, und ja, ich habe sie genommen. Alles gut.« Die Lüge klebt in meinem Hals, süß und bitter zugleich. Weder habe ich meine Tabletten nach dem Frühstück geschluckt, noch weiß ich, ob alles gut wird – aber ich glaube daran. Ich habe sie im Waschbecken hinuntergespült, wie schon seit Wochen, was mir weniger kriminell vorkommt, als wenn ich sie im Klo entsorgen würde. Bis auf ein paar kleinere Zwischenfälle ist mir die Abstinenz gut bekommen, sehr gut sogar. Denn ich empfange wieder mehr Bilder und Töne – vor allem über ihn. Wenn nur ein Bruchteil von ihnen die Wahrheit sagt, fahre ich nicht meinem Unglück entgegen, wie Mama und Papa wochenlang unkten, sondern meinem Glück. Ich weiß, dass mein Vorhaben waghalsig ist – aber noch verrückter fühlte es sich an, nichts zu riskieren, sondern weiterhin zu Hause rumzuhocken und auf etwas zu warten, das niemals geschehen wird. Das kann keiner von mir verlangen.
»Es gibt keine Zufälle«, höre ich Wills tiefe, sanfte Stimme in meinem Kopf und ich muss augenblicklich lächeln. Hat er mit diesen Worten recht – und ich vertraue darauf, dass er recht hat –, dann schreit das Schicksal mich geradezu an, den vielen Zeichen der vergangenen Wochen zu folgen.
Widerwillig gibt Mama mich frei und ich wende mich sofort ab, um zum Wohnmobil zu laufen. Erst, als mein Arm gestreckt in der Luft hängt, lässt auch Vater mit einem Seufzen los. »Es ist nur ein Musikfestival«, brummt Manuel, als Mama ihn zum Abschied fest in ihre Arme schließt. Doch auch ihm höre ich seine Sorge an, während Sina nur ein weiteres Mal auf ihre grasgrüne Uhr schaut. Schon vor einer Stunde hatten wir starten wollen, doch Mama und Papa sind unentwegt neue Möglichkeiten eingefallen, Zeit zu schinden. Erst, als sie Anstalten machten, mein Gepäck zu kontrollieren, und Papa mir wieder einmal eintrichterte, dass man anderen Menschen nie hinter die Stirn sehen kann und gerade in meinem Fall Vorsicht überlebenswichtig sei, griff Manuel durch und machte ihnen klar, dass wir niemals einen guten Platz für den Caravan bekommen, wenn wir jetzt nicht losfahren – und je besser der Platz, desto besser für mich. Dagegen konnten sie nichts einwenden. Manchmal ist es durchaus praktisch, eine Schwester mit »Dachschaden« zu haben.
»Mona, ich kann dich besser verstehen, als du denkst, und ich möchte, dass du glücklich bist, aber wenn ich überlege, was auf so einem Festival alles passieren kann … so viele Menschen! Menschen, die du nicht kennst.« Mama schüttelt den Kopf und legt ihre Handflächen auf die Wangen, um sich zu beruhigen, während Papa ein weiteres Mal versucht, Blickkontakt mit mir aufzunehmen. Keine Chance, Papa. Nicht jetzt.
»Wir fahren wegen der Musik hin. Okay? Wegen der Musik. Nicht um uns zu besaufen.« Manuel klingt nicht freudig, sondern als hätte er sich den Magen verdorben. Sina hingegen hat demonstrativ die Augen geschlossen, als würde sie im Stehen schlafen, während ihre Finger nervös gegen den Bauch des Wohnmobils trommeln.
»Lass sie niemals allein. Keine Minute. Versprich mir das, ja?«
»Mama, es ist gut jetzt, das macht er doch sowieso, schon seit Jahren!«, bricht es aus mir heraus. Verwundert öffnet Sina die Augen. Das Klappern ihrer Nägel verstummt. »Immer und überall, wenn ihr es nicht tut. Ich bin besser bewacht als eine hochgradig gefährliche Straftäterin. Aber lasst mich wenigstens ein Mal in einem anderen Umfeld bewacht werden! Und bei Musik! Damit es für uns alle nicht so gotterbärmlich langweilig ist.«
Mama und Papa werfen sich einen Blick zu – fragend und erschrocken zugleich. Sosehr ich in den vergangenen Wochen auch für dieses Wochenende gekämpft habe: Niemals habe ich mich dabei gegen sie gerichtet. Ich habe nur für mich gesprochen. Manuel zieht zischend die Luft ein. Ich spüre unter meiner eigenen Haut, wie angespannt er ist. Meine offenen Worte waren taktisch nicht klug. Wenn ich nun doch hierbleiben muss, muss auch er hierbleiben. Denn Mama und Papa fahren zu Opas Hochzeit nach Sylt. Davor können sie sich nicht drücken, auch wenn Mama ihre Stiefmutter am liebsten persönlich erschießen würde. Und sie können mich nicht allein lassen. Irgendeinen Wachhund brauche ich. Sina wird mich killen, wenn es so ausgeht.
»Ist nicht böse gemeint«, versuche ich meinen Worten ihre Schärfe zu nehmen. »Aber wir haben wochenlang darüber diskutiert, ich bin achtzehn und ich …«
»Ist gut. Wir haben zugestimmt und dabei bleibt es. Lass es uns kurz machen, Jenny.« Papa nimmt sich ein Herz und tritt ein paar Schritte in den Schatten des Hausflurs zurück, während Mama in der grellen Morgensonne stehen bleibt und verzweifelt gegen ihre Tränen anblinzelt, die glitzernd über ihre Wangen rinnen. Papa versucht sie zu sich zu ziehen, aber sie rührt sich nicht.
»Meldet euch mal, wenn ihr angekommen seid, ja? Und viel Spaß!«, ruft er uns zu. Sein »viel Spaß« klingt bemüht locker, doch ich fühle die Angst dahinter. Spaß und Mona, das war bisher keine ganz so glückliche Kombination. Spaß ist etwas Unkontrolliertes. Das widerspricht sich mit mir. Genauso wie Liebe – und all das, womit sie ihren Anfang nimmt. Wie nur können sie glauben, dass ich mich damit abfinde, mein Leben lang? Niemals werde ich das, auch wenn mein wahres Vorhaben eine Gleichung mit unzähligen x ist. Gut, dass niemand davon weiß, nicht einmal Will.
»Los, rein jetzt«, flüstert Sina und schiebt mich Richtung Tür, doch ich flitze noch einmal zu Mama, wische ihr die Tränen von der linken Wange und küsse sie gleichzeitig auf die salzige rechte. »Vertrau mir«, wispere ich in ihr Ohr. Sie seufzt, versucht aber, mich tapfer anzulächeln. Ja, ich weiß. Vertrauen ist eine schwierige Sache, wenn die eigene Tochter immer wieder bodenlos ins Nichts fällt und keine Chance hat, diese Stürze in irgendeiner Weise zu kontrollieren. Doch daran will ich nicht mehr denken. Vertrauen ins Leben ist nur möglich, wenn ich nicht daran denke und wage, an das zu glauben, was ich in meinen Träumen sehe – ohne zu wissen, ob es etwas ist, woran man glauben kann. Diese Bilder sind mein Schatz, mein gleißender Wegweiser ins Leben. Hätte ich mit Will darüber sprechen sollen? Wäre von ihm jenes »Ja« gekommen, das mir von meiner Familie nicht gegeben werden kann? Doch jetzt ist es zu spät. Ein paar Sekunden lang sehe ich seine Augen vor mir, deren gütiger, tiefer Blick mich jedes Mal vergessen lässt, welche Farbe sie haben, und muss erneut lächeln.
»Jetzt aber …« Sina nimmt meine Hand, als wäre ich ein Kind, und zieht mich hinter sich her. Ihre Finger sind verschwitzt, obwohl die Luft noch frisch ist und der Wind kühl. Sie ist sauer, weil ich ihr das erste Liebeswochenende mit meinem Bruder versaue. Vermutlich zu Recht. Ohne Krieg wird dieses Wochenende nicht vorüberziehen, sofern mein Plan glückt. Aber manchmal braucht es eben ein paar Schlachten, um freizukommen. Lieber denke ich an das, weshalb ich das alles überhaupt mache – nein, an den Menschen, dessentwegen ich das Risiko auf mich nehme, obwohl ich nicht einmal seinen richtigen Namen kenne.
Han-Ryu nennt er sich auf YouTube – offenbar inspiriert von jenem Drachen der japanischen Mythologie, der niemals den Himmel erreicht, egal, wie sehr er sich anstrengt.
Was für ein exotischer Name für einen jungen, braun gebrannten Kerl mit wilden Locken und Leberflecken im Gesicht, dessen Wangen glühen, wenn er wieder einen ganzen Tag lang über eine Wiese gerannt ist, um jene Böe zu erwischen, die ihn nach oben trägt … Der danach nichts anderes im Sinn hat, als sich in seine Werkstatt zu setzen, die Kamera anzuschalten und davon zu erzählen, obwohl die Bilder doch so viel mehr sagen können als seine Worte. Allein die Art und Weise, wie er die Leinen des Kites hält und ihn führt, um wiederum sich selbst führen zu lassen, wie er dabei seinen Körper dehnt und biegt wie ein Baum im Wind, spricht Bände. Ja, er ist es. Han-Ryu. Doch bevor ich die Bedeutung googelte, erschien mir seine Drachengestalt bereits in meinen Schlafbildern, ohne dass ich sie zuordnen konnte. Meine Seele ahnte längst, mit wem sie es zu tun hatte, und malte die entsprechenden Bilder dazu.
Han-Ryu, mein roter Drache, denke ich zärtlich und lasse meine Lider bereitwillig nach unten gleiten. Verstohlen taste ich meine rechte Hosentasche ab und anschließend das vordere Fach meines Rucksacks. Alles da, mein Handy, die Kopfhörer, das Ladegerät, von dem ich noch nicht weiß, wo ich es anschließen soll. Doch das ist mein kleinstes Problem. So oder so wird der Akku genügend Energie haben, damit ich mir Han-Ryus Videos heute Abend noch einmal ansehen kann. Sie beflügeln meine Bilder, nähren sie, sodass sie mir noch mehr innere Gewissheit geben.
Doch im Moment genügt das Brummen des Motors, um mich aus der Realität zu locken. Es müsste gleich so weit sein, mein Gehör verliert bereits seine Schärfe, wie immer, wenn der Wagen gleichmäßig dahinzugleiten beginnt. Wir haben die Autobahn erreicht und freie Fahrt, über uns ein strahlender Sommerhimmel, kein Wölkchen weit und breit. Wie glücklich wir sein könnten, wenn ich normal wäre! Manuel sagt etwas zu Sina und legt im Fahren seine Hand auf ihr Knie. Doch ich höre seine Worte nicht mehr. Auch die Musik, die er aufgelegt hat, dringt nicht mehr zu mir durch.
Wenn es nur immer so behutsam und gemächlich geschehen würde wie beim Autofahren … Bilder. Bitte, ich brauche die Bilder, beschwöre ich mein Unterbewusstsein. Lass mich den Drachen berühren und mich auf seinen Rücken klettern, bevor er seine Schwingen ausbreitet und davonfliegt, dem Himmel entgegen.
Gestern hatte ich ihn fast berührt – und ich erschrak, als ich sah, wie groß seine Flügel geworden waren und wie weit er sie schon anheben kann. Es gibt keine Zufälle. Was meine Träume mir sagen, ist ein Zeichen, dass unsere Zeit gekommen ist. Ich muss ihm begegnen, diesem Drachen in Menschengestalt, in seine Augen sehen, ihm sagen, was er mir bedeutet und dass wir zusammengehören – falls er es nicht ohne Worte versteht. Ich möchte sein Haar anfassen, in dem der Wind sein ewiges Spiel treibt. Seine Lippen auf meinen spüren.
Stopp!, ermahne ich mich mit schwindender Kraft, denn meine Gedanken werden immer diffuser. Trotzdem beschwöre ich meine Vernunft, denn ohne sie werde ich keine Chance haben. Noch ist das alles reine Zukunftsmusik, und auch wenn mein Traum nicht unmöglich ist, habe ich bislang keine brauchbare Idee, wie ich ihn verwirklichen soll – und Han-Ryu unter 80.000 Festivalbesuchern finden, mit meinem Handicap, das es mir noch schwerer macht, meinen Plan umzusetzen, als es ohnehin schon wäre. Selbst wenn ich ihn finde, heißt das noch lange nicht, dass er mich wahrnimmt – doch er könnte. Er könnte!
Schließlich wollen wir auf das gleiche Konzert gehen. Und wir beide wollen fliegen. Wir könnten es zusammen tun, er könnte mich mitnehmen, hinauf in den Himmel. In die Freiheit. Ich möchte jetzt schon darin eintauchen, mich darauf freuen, im Schlaf – dort, wo ich ihm schon so oft begegnet bin.
Doch meine Bilder lassen mich im Stich. Ohne meinen Fall steuern zu können, stürze ich in eine schwarze, verschlingende Nacht, deren Tiefe keinen Widerstand zulässt und mir jegliche Kontrolle raubt.
* * *
Adrian
»Hey, Alter! Was geht?«
Noch im Laufen wirft Danny mir eine Bierdose zu und ich fange sie mit einer minimalen Bewegung meiner Rechten auf. Doch meine Regung genügt, um das Blut in meinen Schläfen so stark pulsieren zu lassen, dass sie erneut von einem penetranten Klopfen heim gesucht wird. Instinktiv presse ich die eiskalte Dose gegen meine Stirn und unterdrücke ein Seufzen. Hau ab, blöde Migräne. Nicht jetzt. Nicht hier. Das passt gar nicht. Doch die Farben um mich herum leuchten zu intensiv, auch Dannys Shirt scheint zu grell für mich zu sein. Meine Sonnenbrille vermag es nicht zu dämpfen. Alles Vorboten für einen handfesten Anfall, von denen ich maximal drei pro Jahr bekomme – und davon einen ausgerechnet hier, auf jenem Open-Air-Festival, von dem wir seit Wochen reden.
»Prost.« Zischend öffne ich die Dose, bevor Danny und ich anstoßen und er sich neben mir in den Schatten fallen lässt.
»Alles okay? Wieso hockst du hier?«
»Deshalb«, antworte ich vage. Die Wahrheit ist mal wieder nicht angebracht. »Bin k. o., war eine lange Nacht«, ergänze ich nicht minder unbestimmt, als Danny mich fragend anstarrt.
»Ah, verstehe.« Gönnerhaft rempelt er mir den Ellenbogen in die Seite. »Jemand wie du fängt schon einen Tag vorher mit dem Feiern an.« Danny unterdrückt einen Rülpser und stößt mich noch einmal in die Seite.
»Helen? Hm? War sie bei dir gestern Abend?«
Ich nehme nur einen Schluck Bier und grinse. Diese Kombination hat sich bewährt. Schweigen und Grinsen kommen gut an, wenn man die Rolle des coolen Frauenhelden bewahren möchte, den alle wollen, aber niemand kriegt, weil er lieber allein durch die Natur streift und sich bei seinen Kiteexperimenten in Gefahr begibt. Trotzdem, Danny hat recht. Helen ist der Grund. Helen ist immer der Grund, nicht nur für mich. Es kann kein Zufall sein, dass dieses Mädchen Helen heißt. Man verblödet, wenn man sie zu lange anschaut, und alles, was zählt, ist sie zu berühren. So ist es jedes Mal, wenn sie in meine Nähe kommt. »Ey ….«, raunt Danny und weist mit dem Kinn zu unserem Zeltplatz, wo die Mädels sich über die Kiste mit den Vorräten beugen. Helen streckt uns provokativ ihren Hintern entgegen, über den sich der dünne Stoff ihres schwarzen Rocks spannt. Automatisch legen Danny und ich den Kopf schräg. Wir benehmen uns wie Affen.
Es muss endlich passieren. Deshalb bin ich hier. Ich will es schon so lange. Wenn es nicht bald passiert, halte ich mich selbst nicht mehr aus. Helen interessiert sich ernsthaft für mich. Ich weiß das, sie hat es mir erst vergangene Woche wieder angedeutet und Danny und Robert wissen es auch. Es wird leicht sein, es beginnen zu lassen – und hoffentlich ebenso leicht, es zu vollenden. Mit Eröffnungszügen hatte ich nie Probleme, seitdem meine YouTube-Klicks die Zehntausendermarke überschritten haben. Ich kann quasi wählen. Immer wieder mailen Mädchen mich an und wollen sich mit mir treffen. Das Tückische ist die Durchführung. Aber daran will ich jetzt nicht denken. Das ruiniert alles.
Geschützt durch die dunklen Gläser meiner Sonnenbrille lasse ich meine Augen auf Helens Po ruhen. Allein dieser Anblick reicht, um sie anfassen zu wollen. Wenn ich zu Hause in meinem Zimmer sitze, genügt die reine Vorstellung einer solchen Perspektive und ich kriege eine Erektion. Langsam dreht sie sich zu uns rum, als hätte sie unsere Blicke bemerkt, und grinst herüber.
Plötzlich muss ich an diesen Typen denken, an den ich vor zwei Wochen durch einen blöden Zufall geraten bin, und daran, wie er sich bewegt hat, während er hochkonzentriert seine schrägen Gymnastikübungen vorführte, als würde er von Wasser umgeben sein, obwohl er mit beiden Beinen so fest auf dem Boden stand, als wäre er mit ihm verwachsen.
Oh verdammt, was ist nur los mit mir? Vor mir sitzt die pure Verführung und ich denke an einen Kerl um die fünfzig – werde ich jetzt etwa schwul und lebe dazu noch einen ungeahnten Vater-Sohn-Komplex aus? Wundern würde es mich nicht, denn mein eigener Vater löst bei mir vor allem Beklemmungen aus. Schon allein deshalb muss ich es tun, am besten heute Nacht noch, damit endlich Ruhe in mir einkehrt. Ja, ich finde erst Ruhe, wenn ich mit Helen geschlafen habe. Es wird schön werden, ach, mehr als das, es wird die Erfüllung meiner heimlichen Träume sein.
Wieso musste ich mich auch über ein ungelenkes Häuflein gestresster Hausfrauen lustig machen – nur, weil sie mitten im Park ihr esoterisches Work-out exerzierten, zwischen biertrinkenden Schülern, die blau machten, und den üblichen Gassigehern mit ihren fetten Kötern? Ich fand es amüsant, war sogar kurz davor, mich fremdzuschämen, weil es so bescheuert aussah. Bis ich ihn wahrnahm. Nein, bis er mich wahrnahm und innerhalb von Sekunden zu durchschauen schien, was in meinem Kopf vor sich ging. Eine kurze, sinnlose Diskussion und zwei halbherzige »Nein« später reihte ich mich ein und machte mit, während ich ununterbrochen hoffte, dass mich niemand sah, den ich kenne.
Das Ergebnis? Ich sitze auf einem Rockfestival, hab Kopfschmerzen und kriege diesen Typen nicht aus meinem verdrehten Hirn. Er schien so wissend! Als könne er in mir lesen. An die Gesichter der anderen Schüler kann ich mich nicht mehr erinnern, an seines schon. Dauernd taucht es vor meinem inneren Auge auf. Doch vor allem erinnere ich mich daran, wie anders sich sein Work-out anfühlte. Das Gegenteil vom Kiten. Langsame, kontrollierte Bewegungen, die mir anstrengender vorkamen als meine heftigsten Kämpfe mit dem Wind. Auch deshalb ließ ich meine Witzchen bald sein. Deshalb und weil die Lektionen bei dem Trainer aussahen wie eine uralte geheime Kampfkunst, deren schlummernde Kraft im Ernstfall sogar den Wind zum Schweigen bringen kann.
Helen hat sich erhoben und läuft mit wiegenden Hüften auf uns zu. Schon den ganzen Vormittag suchte sie eine Gelegenheit, mit mir allein zu sein. Danny grunzt zufrieden und klopft mir auf die Schulter, fast wie eine Aufforderung. Das Pochen in meiner Schläfe verstärkt sich mit jedem Schritt, den Helen näher kommt. Die Gittertür im Zaun hinter mir ist nicht verriegelt, fällt mir blitzartig ein. Aus einem unerklärlichen Impuls heraus drückte ich die Klinke nach unserer Ankunft testweise hinunter. Jemand muss vergessen haben, das Schloss zu schließen. Der stählerne Zaun, der das gesamte Festivalgelände umgibt, als wären wir Kaninchen in einem überdimensionalen Käfig, hat eine Lücke.
»Na?« Wie selbstverständlich schiebt Helen sich zwischen Danny und mich, sodass ihre nackten Arme meine Schulter streifen, als sie sich setzt. Mein Herz klopft schneller und ein Energiestoß fährt durch meinen Bauch.
»Was machen wir heute Abend?«
Meint sie mich und sie? Oder uns alle? Oder Danny und mich und sie? Ich zucke nur mit den Schultern, während Danny sich feixend erhebt, mir zuzwinkert und zurück zu unseren Zelten schlendert, um uns allein zu lassen.
»Keine Ahnung. Vielleicht mal das Gelände anschauen. Was so los ist.«
»Und dann …?« Helen rückt etwas näher, wieder berühren sich unsere Arme. Sie sehen schön nebeneinander aus, meine gebräunte Haut, unter der sich meine Muskeln abzeichnen und die von goldschimmernden Härchen überzogen ist – und im Kontrast dazu ihr milchig matter, zarter Unterarm. Wir passen gut zusammen. Sacht lässt sie den Knöchel ihres Mittelfingers über meinen Oberarm gleiten, bis unter den Ärmel meines Shirts. Eine Gänsehaut kriecht über meinen Steiß und lässt mich das nervige Pochen in meiner Schläfe vergessen.
»Mal sehen.«
Ihre Hand verliert den Kontakt zu meinem Arm. Stattdessen beugt sie sich vor und schiebt mir die Sonnenbrille von der Nase. Forschend blickt sie in meine Augen, die in der plötzlichen Helligkeit blinzeln. Ihr Gesicht kann ich kaum erkennen, da sie sich im Gegenlicht befindet. Doch ich weiß, wie hübsch es ist.
»Manchmal würde ich gern in deinen Kopf schauen, Adrian.«
»Besser nicht«, erwidere ich knapp, dieses Mal ohne Grinsen, denn ich meine es ernst. Doch sie stupst nur spielerisch ihre Nase gegen meine, steht auf, ohne sich dabei um ihren nach oben rutschenden Rock zu kümmern, und haucht mir im Gehen über die Schulter einen Kuss zu.
»Kannst mich ja in meinem Zelt besuchen, wenn dir langweilig wird …«
Erleichtert atme ich aus und schiebe die Sonnenbrille zurück auf meine Nase. Strike, geschafft. Das war es. Das war die Einladung. Sie will es auch. Jetzt habe ich es sozusagen schwarz auf weiß. Erster Schritt erledigt, wie beim Kiten, wenn ich die passende Location gefunden und den Drachen ausgebreitet habe. Das ist die halbe Miete. Das Einzige, was nicht berechnet werden kann, ist der Wind – obwohl er mir stets so viel berechenbarer erscheint als Frauen.
Doch ich hab mir x-mal ausgemalt, wie es laufen sollte und könnte – selbst, wenn es nur halb so gut wird wie in meinen Fantasien, werde ich mich danach endlich grundlegend entspannen können und anfangen, mich in meinem Leben wohlzufühlen. Ich steh auf Helen, seitdem ich sechzehn bin – drei Jahre sind genug. Drei Jahre, in denen sie immer verführerischer wurde und in denen ich diese seltsame und so unverhoffte Metamorphose vom schüchternen Mittelfeldspieler zum umworbenen YouTube-Starkiter durchlebte. Nachdem ich meinen ersten 15-Sekunden-Flug schaffte, zu Closer To The Edge von 30 Seconds to Mars, fing Helen an, mich wahrzunehmen und seit drei Wochen flirtet sie unentwegt mit mir. Schreibt mir Nachrichten, sendet mir Fotos von sich, sagt mir abends über WhatsApp Gute Nacht. Wir haben uns sogar auf der Abiparty flüchtig geküsst, zwar nur zum Abschied, aber ihr Blick war eindeutig: »Ich will dich.« Es fühlte sich an wie Magie, ja als hätte ich sie mit meinem Drachen zum Leben erweckt. Je kühner und gekonnter meine Stunts wurden, desto näher kam Helen mir.
Morgen Nacht sind 30 Seconds to Mars Headliner. Ich werde Helen im Arm halten, wenn sie diesen Song spielen, und danach nehme ich sie mit in mein Zelt. Ich werde nicht nur mit meinem Kite fliegen und vom Boden abheben. Ich werde es zusammen mit Helen tun.
Wieder muss ich an diesen Typen aus dem Park denken, dessen Namen ich vergessen habe. »Es gibt keine Zufälle«, hat er zwischen zwei Übungseinheiten gesagt, wie nebenbei und doch zutiefst bedeutungsvoll, und dann den »Schwimmenden Drachen« vorgeführt. Zuerst wollte ich die Übung ins Lächerliche ziehen und wieder einen meiner Witze raushauen, weil er dabei so mit dem Hintern wackelte. Aber dann gab ich dem Schwimmenden Drachen doch seine Chance. Während ich mich daran erinnere, spüre ich die fließenden, geschmeidigen Bewegungen der Übung wieder in mir, Weichheit und Kraft in einem, pure Energie – genau so fühle ich mich, wenn die Böe den Kite und mich ergreift und die Schwerkraft von ihren ewigen Gesetzen erlöst.
So muss es auch sein, wenn Helen und ich endlich zusammenkommen – und all die Jahre des Hoffens und Träumens sich gelohnt haben.
Nautische Dämmerung
Mona
»Mona? Hey, Moony …«
Keine Musik, keine Farben. Die Welt ist schwarz-weiß und ihr Klang sind dumpfe Schattierungen aus Grau. Der zottige Wolf vor mir wird blasser, verschwimmt, aber kommt näher, anstatt zurückzuweichen. Manuel. Ich wusste immer, dass er der Wolf ist. Er hatte sich mir als Erstes gezeigt. Selbst, wenn ich dem Drachen begegne, ist er da – im Hintergrund, ohne dass ich ihn sehe, aber ich spüre ihn, wie einen vertrauten Schatten. Auch jetzt habe ich weder Angst noch grolle ich ihm. Er tut mir nichts und obwohl ich seine Gefangene bin und er mich bewacht, habe ich das Gefühl, ihn freilassen zu wollen.
Den Drachen aber konnte ich nicht erreichen.
»Hörst du mich? Kannst du dich bewegen, Moony?«
»Ja, kann ich«, nuschle ich mit schwerer Zunge und fahre mit der Linken suchend über das abgewetzte Polster des Sitzes, um zu prüfen, ob mir Speichel aus dem Mundwinkel gelaufen ist. Es ist mir erst ein Mal passiert, ausgerechnet auf der einzigen richtigen Party, zu der ich jemals eingeladen war, und machte mich zum Gespött aller Leute. Dieses eine Mal hat gereicht, mich fürchten zu lassen, es könnte wieder geschehen.
Ich habe keine Kontrolle darüber, wann ich in den Schlaf falle und was dann passiert. Diese verdammte Narkolepsie … Allein das Wort ist mir verhasst und doch begleitet es jeden Tag meines Lebens. Es ist der Grund, warum meine Eltern mich seit meiner Kindheit am liebsten dauerhaft in Watte packen würden und mein Bruder mir folgt wie ein Schatten. Dabei ist eigentlich noch nie etwas wahrhaft Dramatisches geschehen. Doch ich habe keine Kontrolle mehr über mich und meinen Körper, wenn mich eine Attacke ereilt, und ebensowenig kann ich sie verhindern, denn ich verliere die Macht über meine Muskeln – das ist es, was mich fast in den Wahnsinn treibt, wenn ich darüber nachdenke. Deshalb vermeide ich es, zu viel darüber nachzudenken, und prüfe nur wie immer, ob an mir und um mich herum alles in Ordnung ist. Gut, ich habe nicht gesabbert, das Polster ist trocken. Ich fühle es genau, obwohl meine Fingerspitzen fast taub sind und mein Körper seine Mitte noch nicht wiedergefunden hat.
»Wir sind da. Soll ich dir …«
»Ich bin kein gebrechliches altes Mütterchen, okay? Geht schon.« Sanft schiebe ich Manuels helfende Hand weg, die es wie immer nur gut meint, und richte mich auf, um aus dem Fenster zu schauen. Sina steht bereits draußen und streckt sich, wobei ihre Schulterblätter deutlich hervortreten und ihr Top nach oben rutscht. Doch meine Aufmerksamkeit wandert sofort weiter, Sina ist nur ein winziges Detail von all dem, was uns umgibt. Ein farbiger Punkt in einem impressionistischen Gemälde, das mich aufzusaugen scheint.
»Oh Mann … wow …« Ich klettere nach vorn und schiebe mich durch die Tür, um einen tiefen Zug frische Luft einzuatmen. Doch das flaue Gefühl in meinem Magen bleibt und verstärkt sich mit jedem neuen Detail, das meine Augen erfassen. Es ist genau das, wovon ich träumte – und gleichzeitig erschlägt es mich.
»Das ist also die ruhige Ecke, die du für mich suchen wolltest.« Meine Stimme klingt trotz meines Grinsens müde und meine Silben folgen einander nur behäbig, wie immer, wenn es passiert ist – doch meine plötzlichen Zweifel verrät sie nicht. Wie soll es mir nur gelingen, Han-Ryu hier zu finden? Ich wusste, dass es schwierig würde – aber es zu erleben, ist eine andere Kategorie. Jetzt fühle ich, was ich mir vorher nur vorstellen konnte. Tausende von Menschen, die durcheinanderwimmeln wie Ameisen und versuchen, ihren Platz zu finden. Wie leicht man hier verloren gehen kann …Doch wo man leicht verloren gehen kann, kann man nicht leicht gefunden werden. Das ist die Kehrseite der Medaille. Das eine geht nicht ohne das andere. »Das ist eine ruhige Ecke.« Manuel legt mir seine Hand auf den unteren Rücken, als wolle er mich stützen. Mein Blick klärt sich ein wenig. Ich atme tief in den Bauch, wie Will es mir beigebracht hat. Angst ist die andere Seite von Liebe. Liebe ist die andere Seite von Angst. Wenn ich Liebe erleben möchte, muss ich auf die andere Seite der Angst gehen. »Du hast die normalen Zeltplätze nicht gesehen. Das hier ist Luxus. Wir sind echte Festivalspießer.« Manuel lacht schnaubend und schüttelt den Kopf, als könne er selbst nicht glauben, was er gerade gesagt hat. »Ich hab dich gewarnt, Mona, das ist kein Spaziergang. Und selbst ein Spaziergang kann für dich …«
»Hey, ist doch kein Problem! Ich finde es cool, dass wir mittendrin sind. Genau das wollte ich ja. – Ja, ich weiß, und du nicht …«, füge ich an, als ich Manuels Miene sehe.
Dieses Festival muss gigantische Ausmaße haben, denn ich sehe einen Caravan neben dem anderen, es müssen Hunderte sein. Ich wusste, dass eine Rennstrecke kein Kinderspielplatz ist, aber es ist mir ein Rätsel, wie ich mich innerhalb der kurzen Zeit, die mir zur Verfügung stehen wird, orientieren soll. Wenn ich Han-Ryus Kommentare unter seinem neuesten Video richtig verstanden habe, schlägt er sein Zelt im ersten Abschnitt der Nordschleife auf, recht nah bei uns, und in meiner Vorstellung war jede Zone des Festivals ohne Probleme fußläufig erreichbar. Jetzt sehe ich einen Shuttle vorüberfahren, der die Festivalgäste von A nach B bringt. Den werde ich nicht nehmen können. Das Dröhnen eines Motors und das Gefühl, gefahren zu werden, ist der tückischste Trigger überhaupt. Egal, wie riesig das Gelände ist und welche Menschenmassen sich hier bewegen – ich werde es zu Fuß erkunden müssen. Aber was sind schon Blasen an den Zehen, wenn ich endlich meine eigenen Schritte mache, mir das Konzert meines Lebens ansehen darf und – und vielleicht sogar Han-Ryu begegnen werde?
»Bleib einfach in meiner Nähe, dann kann nichts schiefgehen. Es gibt Zonen für Rollstuhlfahrer an den Stages, auf einer separaten Ebene. Von dort aus sehen wir uns das Konzert an, du hast ja deinen …«
»Ich gehöre nicht in die Krüppelzone«, erwidere ich ruhig, ein schwacher Einwand, denn diese geschützte Zone oberhalb der Menge war nun mal eine der Bedingungen und ich habe einen Behindertenausweis.
»Du weißt, warum«, erwidert Manuel mit einer Härte, die ich nur zu gut an ihm kenne und Sina inzwischen offenbar auch. Ihr Seufzer kann kein Zufall sein. Er gilt jedoch vor allem mir, dem Klotz am Bein, der ihr Festivalwochenende zur Kinderbetreuung im Dauereinsatz verkommen lässt. Sie werden ihren Freiraum noch kriegen – und ihn keine Sekunde genießen können, weil Manuel vor Sorge Amok laufen wird, wenn er registriert, was geschehen ist. So oder so, ich werde ihnen das Wochenende vermiesen.
Aber 30 Seconds to Mars spielen erst morgen um Mitternacht und sind die einzige Band, die mich hier wirklich interessiert – ach, sie ist mehr als das: Sie ist mein wichtigstes Zeichen von allen. Seit Jahren höre ich Tag für Tag nach dem Aufwachen Closer To The Edge und jedes Mal lässt der Sog dieses Songs meine Zellen kribbeln und meine Sehnsucht wachsen. Das Video dazu kenne ich auswendig, könnte jede Einstellung davon nachzeichnen, die Worte der Jugendlichen nachsprechen, Jared Letos Posen nachahmen, in denen ich so viel von dem spüre, was in mir selbst darauf wartet, auszubrechen. Closer To The Edge ist mein Lebenssong, mein ewiger Schrei nach Freiheit. Ich mag auch die anderen Songs der Band, ja, aber keiner kommt an diesen heran. Abends würde ich ihn nicht hören wollen, auch nicht nachts. Dann ist mir nach ruhigerer Musik. Morgens aber erinnert er mich daran, wozu ich auf der Welt bin – um zu leben, um glücklich zu sein und das auszukosten, was mir verwehrt bleiben soll. Das Sehnen danach in mir schmerzt, als wäre mein Herz vergiftet. Ich möchte frei sein.
Dieser Song ist bereits Grund genug, hier zu sein und darum gekämpft zu haben, ihn live hören zu dürfen und mitzuschreien, wenn die Masse »No! No! No!« ruft. Allein diese Vorstellung gibt mir das Gefühl, keine Sekunde länger darauf warten zu können, selbst wenn ich mich dabei abseits der anderen befinde. Doch vollkommen klar wurde mir seine Bedeutung, als ich eines Tages Han-Ryus längsten Flug anschaute – jenes Video, in dem eine Böe ihn urplötzlich vom Boden reißt und so weit in die Höhe zieht, dass ich Angst um ihn bekam. Für einen Moment schwindet er aus dem Objektiv der Kamera, hinauf in den Himmel, dann gleitet er wieder hinein, schwerelos, die Beine angewinkelt und die Arme lang gestreckt, trunken vor Glück. Wie bei all seinen Flügen steckten Kopfhörer in seinen Ohren – und anschließend erzählt er, was er gehört hat. Closer To The Edge. Seine Worte kenne ich ebenso auswendig wie die von Jared Leto.
»Leute, das war … das war …« Han-Ryu lacht, schaut verträumt in die Ferne, als würde er noch den Wind spüren – doch jetzt im warmen Licht seines Bastelkellers anstatt in der weißen Wintersonne. Seine Wangen sind rot angelaufen, seine Haare locken sich wild in alle Richtungen. Wie in jedem Clip, das ihn an seinem Werktisch im Keller zeigt, fällt ihm eine Locke in die Stirn, sodass er sie immer wieder wegschieben muss. An seinen Händen kleben Pflaster und auch er trägt Narben, wie ich, im Gesicht und an den Armen. Wir leben beide gefährlich, jeder auf seine Weise. Zwei Mal hat es ihn auf den gefrorenen Ackerboden geschleudert, bevor er endlich fliegen durfte. Der kleine Riss an seiner Schläfe blutet noch. Doch es kümmert ihn nicht. »Ich kann nicht beschreiben, wie es war. Gigantisch. Besser als Sex, ich schwöre es euch!« Er lacht und schließt die Augen. »Und das zu Closer To The Edge. Wahnsinn. Ich werde diesen Song immer beim Fliegen hören … Er war mein Glücksbringer.«
Besser als Sex. Mir rann ein heißer Schauer über den Nacken, als ich den Clip das erste Mal anschaute. Bestimmt hat er eine Freundin. Vielleicht sogar mehrere. Man muss ihn nur ansehen, um zu diesem Schluss zu gelangen.
Ich bin eine von vielen, die seine Videos aufrufen – eine von Zehntausenden. Aber wenn ich weiterhin vor dem Computer sitze und ihn von fern anschaue, werden wir uns niemals in der Realität begegnen. Und es ist immer eine von zehntausend, die schließlich den Weg in das Herz eines anderen findet. Meine inneren Bilder lügen nicht. Obwohl ich ihn nur von seinen Videos kenne, ist mir kein Energiewesen so nahe wie seines – und keines zeigt sich mir so deutlich, so greifbar und auch so zutraulich. In seiner Drachenseele fühle ich nicht nur Schönheit und Kraft, sondern auch Nachgiebigkeit, Ruhe, ein unergründlich sanftes Wesen. Mit dem Verstand kann ich all dies nicht fassen – mein Herz wiederum weiß es. Ich muss mir seine Videos heute Abend im Caravan erneut anschauen, allein, und darauf hoffen, dass dadurch die Bilder zu mir kommen. Ich kann mich erst auf die Suche nach dem echten Han-Ryu machen, wenn ich dem Drachen noch einmal begegnet bin. Da ich meine Tabletten seit Wochen nicht genommen habe, stehen die Chancen gut, dass mich dabei eine Attacke erwischt.
»Ist sie … ist sie … Bekommt sie wieder …?«
»Nein, bekommt sie nicht«, beende ich Sinas Gestotter so freundlich, wie es mir möglich ist. Ich weiß, dass ich meine Mitmenschen verunsichere, aber sie übertreibt. »Passt auf, ich habe eine Idee. Ihr könnt heute Abend zu den Warm-up-Konzerten gehen und euch in Ruhe umsehen. Ohne mich. Ich bleibe hier.«
»Kommt nicht infrage. Ich hab versprochen, auf dich aufzupassen, und ich werde dich nicht mutterseelenallein zwischen fremden Menschen auf einem Campingplatz lassen, das …«
»Ich werde im Caravan bleiben, etwas essen, Musik hören und schlafen – was soll denn schon dabei passieren?«, unterbreche ich Manuel und schaue Sina lächelnd an, in der Hoffnung, dass sie mir zur Seite springt. Sie will doch mit ihm allein sein – oder nicht?
»Und wenn du zur Toilette musst?«
Stumm deute ich auf den Caravan. Das Chemieklo ist nur für den Notfall gedacht, doch ich allein im Wohnmobil – das ist für Manuel eine Notsituation. In seinem Gesicht wechseln sich Licht und Schatten ab, in Bruchteilen von Sekunden. Er ist hin- und hergerissen.
»Komm schon, Manuel. Zu Hause bin ich auch manchmal allein. Wir haben beide unsere Handys, und wenn etwas ist …«
»… bist du nicht in der Lage anzurufen. Mona, wir haben darüber schon so oft diskutiert. Wenn etwas ist, kannst du nichts mehr tun, weil du … weil du nicht mehr da bist!«
»Ich bin sehr wohl da.«
»Bist du nicht.«
Wir stehen uns gegenüber wie zwei bockige Stiere, beide mit verschränkten Armen und die Stirn gesenkt. Noch nie sind wir aufeinander losgegangen. Ich habe stets nachgegeben, weil mir die Argumente fehlten. Doch ich bin diese Diskussionen so leid.
»Sie hat recht, Manuel. Was soll passieren? Wenn sie im Bett bleibt, kann nichts geschehen.«
»Weißt du, was hier für Typen rumlaufen?« Manuel klingt schwächer als eben noch. Dennoch dreht er sich einmal um sich selbst und deutet wie zum Beweis zum Nachbarparkplatz, wo ein Mittvierzigerehepaar gerade Kaffee unter dem Vordach trinkt und dazu ein Stück Käsekuchen verspeist. Nicht unbedingt das, was man sich unter unberechenbaren Hardrockfans vorstellt, auch wenn der Mann seine wenigen Haare zu einem grauen Pferdeschwanz gebunden hat und ein schlecht gestochenes Rosentattoo auf dem Oberarm trägt. Freundlich hebt seine Frau die Hand und ruft uns ein Hallo zu.
»Hi«, grüßt mein Bruder verlegen zurück und lässt seinen Zeigefinger wieder sinken.
»Das ging wohl nach hinten los«, kommentiert Sina grinsend und hakt sich bei ihm ein. »Gib dir einen Ruck, Ele. Nur eine Stunde oder zwei. Mona verriegelt den Caravan von innen und dann ist sie sicher. Es wird schon gut gehen.«
»Das wird es. Ich bleibe die ganze Zeit im Wohnmobil, versprochen.« Jetzt, wo ich mir sicher bin, dass ich das tun werde, fühle ich mich ruhiger und klarer. Manuel und Sina sollen wenigstens einen schönen Abend haben, das ist nur fair. Währenddessen warte ich auf den Drachen und entscheide, was ich tue, nachdem er sich gezeigt hat. Zeigt er sich nicht, begrabe ich meinen Traum und schaue mir Jared Leto von der Behindertenarea aus an, bewacht von meinem Bruder und seiner Freundin. Wird todlangweilig, aber todlangweilig kenne ich ja nun gut genug. Ich werde immerhin ein Livekonzert erleben und später erzählen können, dass ich bei Rock am Ring war.
Zeigt der Drache sich und lässt sich von mir berühren, verschwinde ich morgen und mache mich auf die Suche nach ihm. Morgen. Nicht heute. Heute wird alles in Ordnung sein.
»Na gut, ihr sturen Weiber.« Manuel fährt sich stöhnend über den Nacken. »Aber kein Wort zu Mama, falls sie anruft, okay? Und lass dein Handy neben deinem Bett liegen, ja?«
»Yes!« Wie befreit haut Sina ihre Faust in die Luft. »Rock am Ring, wir kommen! Danke, Moony.« Zum ersten Mal lächelt sie mir offen ins Gesicht. Ich möchte öfter auf diese Weise angelächelt werden, frei von Sorge und Beklemmung.
»Viel Spaß. Bis später.« Ohne mich weiter umzusehen – ich kann ohnehin nicht viel erkennen außer Wohnmobilen, Menschen, Asphalt und weiter hinten den dunkelgrünen Wald –, schlüpfe ich zurück in den Caravan, lege mich auf meine Pritsche und ziehe die Rollos vor den Fenstern neben mir herunter.
Wie so oft nach einer Attacke bin ich hellwach. Niemals könnte ich jetzt schlafen. Wahrscheinlich werde ich die ganze Nacht kein Auge zutun.
Aber ich habe Han-Ryus Videos, und zwei davon lösten bisher immer Attacken aus – jene langatmigen 30-Minuten-Clips, in denen er komplizierte Anleitungen zum Kite-Konstruieren zum Besten gibt und sich über Windphänomene, geeignete Locations und die Tücken der Aerodynamik auslässt. Irgendetwas daran triggert mich innerhalb weniger Minuten, doch wenn seine Stimme mich in meine Attacken begleitet, liebe ich ihre Allmacht – denn sobald ich wieder zu mir komme, höre ich ihn immer noch sprechen. Seine Worte klingen in diesen Sekunden wie Musik, die mich umarmt. Der Inhalt ist egal. Es genügt, dass seine Stimme da ist und mich warm und weich ins Jetzt zurückführt.
Ich halte mein Handy in meiner Hand, bis Manuel sich von mir verabschiedet hat. Ein letztes Mal stehe ich auf, um den Wagen zu verriegeln, bevor ich Han-Ryus YouTube-Kanal aufrufe.
Bitte komm. Steig aus den Himmeln hinab zu mir. Zeig dich mir, damit ich weiß, dass du hier bist. Jeder Drache braucht seine Jungfrau, denn beide müssen sich gegenseitig befreien.
* * *
Adrian
»Vielleicht hilft es ja«, murmle ich und beginne im Stehen, meine Handflächen aneinanderzureiben, so schnell, dass sie nach einigen Sekunden heiß werden, als hätte ich ein Feuer in ihnen entfacht. Jemand, der mich beobachtet, muss denken, ich habe nicht alle Tassen im Schrank. Aber es ist einen Versuch wert, nachdem ich vorhin festgestellt habe, dass ich meine Ibuprofen-Tabletten zu Hause vergessen habe und der Rest unserer Truppe nur Aspirin mitgenommen hat. Wenn ich Aspirin schlucke, habe ich nach zwei Stunden Magenschmerzen und dazu immer noch Migräne.
Also muss ich alternative Heilmethoden testen, so wenig ich auch daran glaube. Gegen Migräne hilft meiner Erfahrung nach nur Chemie. Was hat dieser Typ noch mal gesagt? Wir können selbst Energie freisetzen und damit Schmerzen in unserem Körper behandeln. Als er anschließend zur Demonstration seine Hände aneinanderrieb und mir auf meine angeknackste Schulter legte, floss entspannende Wärme durch meinen Arm. Die Schmerzen verschwanden dadurch nicht, aber sie störten mich kaum mehr, als hätte ich Frieden mit ihnen geschlossen. Also probiere ich es nun mit meinem Kopf, auch wenn ich mir vorkomme, als würde ich einen schlechten Zaubertrick vorführen.
Doch alles andere habe ich bereits versucht – Kaffee mit Zitrone, auf dem Rücken im kühlen Gras liegen und die Augen schließen, kaltes Wasser ins Gesicht. Es brachte nur kurze Linderung, bevor das Pochen noch stärker wurde. In meinem Zelt ist es zwar schattig und ich kann mich ausstrecken, aber die Luft wird immer drückender. Während ich die Hitze aus der Handinnenfläche in meine Schläfe strömen lasse, stelle ich mir fest vor, dass sie die Schmerzen auflöst, und wenn das nicht klappt, dann …
»Was machst du denn da?«
»Nichts«, erwidere ich rasch und nehme die Hand wieder von meinem Kopf, um sie gemächlich sinken zu lassen, als wäre es das Normalste der Welt, dass ich an einem wunderschönen Sommertag mitten in meinem Zelt stehe und krude Eigenbehandlungen durchführe. »Beziehungsweise nachdenken.« Durch das Reiben meiner Hände hat sich das Pflaster am Mittelfinger gelöst. Unauffällig drücke ich ihn gegen meinen Oberschenkel, um es zu befestigen.
»Wieder über deine Kites …? Ehrlich?«
Im Halbdämmer des Zeltes wirkt Helen, als wäre sie von rotem Licht umgeben. Sogar ihre Augen, sonst so hell und rein, schimmern auf fast teuflische Weise purpurfarben. Es macht sie nur noch schöner.
»Ich hab da ein technisches Problem, das ich gern lösen würde, aber …« Statt weiterzureden, zucke ich mit den Schultern. Das technische Problem heißt Kopfschmerzen. Ich kann nicht mit ihr schlafen, während mein Kopf explodiert. Ich könnte es mir im Moment nicht mal selbst machen. Bereits der Gedanke daran tut weh.
»Es gibt auch noch andere Dinge im Leben als Powerkiten und Videos drehen.« Helen steht nun so nah vor mir, dass ich die Mascaraklümpchen in ihrer Wimperntusche erkennen kann. Ihr Atem riecht nach sauren Drops und Bier. Der Atem eines so hübschen Mädchens sollte nicht nach Bier riechen. Vielleicht bin ich ein Spießer, aber wenn es nach mir ginge, hätten schöne Frauen wie Helen Biertrinkverbot. Klickend berührt der Knopf ihres Rocks meine Gürtelschnalle. Mann, ist das heiß in diesem Zelt. Helen kommt noch ein Stückchen näher und drückt ihre Lippen auf meinen Hals.
»Das zum Beispiel …«
Nun wandert ihr Mund abwärts, über meine Kehle bis zu der weichen Kuhle oberhalb der Brust. Ich würde mich gern anlehnen, doch wenn ich das tue, kracht das Zelt über uns zusammen. Ich kann hier sowieso kaum aufrecht stehen, obwohl ich Papas altes XXL-Familienzelt mitgenommen habe, in dem gut und gern fünf Leute schlafen könnten. Ich brauche diesen Platz, sonst kriege ich Atemnot.
»Oder das hier.« Helens Stimme ist nur noch ein Hauch. Wie zufällig lässt sie ihren runden Busen gegen meine Rippen sinken. Ich kann sogar ihre Brustwarzen spüren. Sie trägt keinen BH. Ich müsste nur ihr Top über ihren Kopf ziehen und …
»Alles schöne Dinge«, höre ich mich mit belegter Stimme sagen. »Aber nicht der richtige Zeitpunkt. Sorry. Hab tierische Kopfschmerzen.« Entgeistert schaue ich mir dabei zu, wie ich sie wegschiebe und ihr dabei einen Kuss auf die Wange drücke, mehr brüderlich als liebevoll. Ihre Augen werden dunkel, selbst die Purpurfunken darin erlöschen.
»Du verarschst mich, oder?«
»Nein. Mir dröhnt der Schädel, seitdem wir angekommen sind, ehrlich …« Oh Mann, eine Frauenausrede. Ich will nicht, weil ich Migräne habe. Ich hätte die Klappe halten sollen. »Hab zu viel getrunken gestern Abend.«
»Gestern Abend …«Argwöhnisch blickt Helen zu mir hoch. »Wo warst du da eigentlich? Ich hab dich nicht erreicht.«
»Na ja, unterwegs. Vorglühen.« Sie hat mich angerufen, angesimst und über WhatsApp angeschrieben; mehrfach. Ich habe nicht geantwortet. Das nimmt sie mir übel, jetzt erst recht.
»Na dann. Ich hoffe, es war schön. Gute Besserung.«
Mit verschränkten Armen rauscht Helen an mir vorüber und zwängt sich durch den Zelteingang. Doch bevor sie mich allein lässt, dreht sie sich noch einmal zu mir um. Ihr Mund ist hart und schmal geworden und ihre Augen bestehen aus purem Eis.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße …«, fluche ich halblaut, sobald sie außer Hörweite ist. Ich weiß nicht, was mich mehr ärgert, mein dämliches Verhalten oder die Schmerzen in meiner Schläfe, die immer übermächtiger werden. Aber ich kann mich nicht besser verhalten, wenn ich nichts gegen die Schmerzen unternehme. Auf diesem Festivalgelände muss es irgendwo eine Apotheke geben – hier wird jede Nacht bis zum Umfallen gesoffen, also gehören Apotheken zur Basisversorgung. So eine blöde Migräne ist es nicht wert, Helen zu verlieren. Nicht jetzt, wo ich so nah an der Erfüllung meiner Träume bin.
Ich zerre eine Halbliter-Wasserflasche aus meinem Rucksack, schiebe mir die Sonnenbrille über die Augen und quetsche mich durch den Zelteingang. Nun ist jeder Schritt eine Qual, aber ich kenne das Ziel – jene erlösende Entspannung im Nacken, wenn der Schmerz endlich nachlässt. Hätte Mama mir nicht etwas anderes vererben können? Warum ausgerechnet Migräne? Hätten es nicht ihre Altersflecken oder ihre Kurzsichtigkeit sein können? Aber bevor ich die Apotheke suche, muss ich noch etwas gutmachen.
Helen hat sich abseits der anderen in den Schatten gesetzt und ihre Sandalen ausgezogen. Sie sieht müde aus. Doch immerhin schaut sie nicht weg, sondern mir entgegen, und auch ihr Mund ist wieder weicher geworden.
»Hey, Süße, tut mir leid wegen gestern. Hab einfach nicht aufs Handy geschaut. War nicht persönlich gemeint.« Ich hasse es, wenn mir jemand sagt, sein Verhalten wäre nicht persönlich gemeint. Seit einem Jahr benutze ich diesen Satz ständig selbst. Das fühlt sich nicht besonders gut an.
»Der Tag ist ja noch nicht zu Ende. Ich lauf mal rüber zum Festivalgelände, um meinen Kopf durchzulüften. – Allein«, füge ich hinzu, als ich sehe, wie ihre Augen aufleuchten. »Ich bin gern ab und zu allein, weißt du doch.«
Jeder weiß das. Selbst beim Kiten bleibe ich am liebsten allein. Immer wieder finden Szenetreffen statt, vor allem in Holland am Meer. Manche Kiter sparen das ganze Jahr auf nichts anderes, als daran teilzunehmen, sich untereinander auszutauschen und ihre Drachen zu vergleichen. Ich hab es einmal gemacht, es war okay, aber es ist etwas anderes, wenn mein Drache und ich die Einzigen sind, die mit dem Wind spielen und ihn zugleich bezwingen. Ich fühle mich in diesen Stunden weniger getrennt vom Rest der Welt, als wenn ich wie hier von Tausenden Menschen umgeben bin.
»Warum bist du dann überhaupt mitgekommen? Zum Alleinsein ist ein Open-Air-Festival nicht gerade ideal.«
Helen zickt nicht, sie meint es ernst. Dabei müsste sie am besten wissen, warum ich mitgefahren bin. Das eine widerspricht sich ja nicht mit dem anderen. Obwohl ich mich immer stärker nach einer Tablette sehne, gehe ich vor ihr in die Hocke und umfasse ihre Knöchel. Mehr kriege ich jetzt nicht zustande.
»Muss ich dir nicht sagen, oder?« Mein Grinsen tut weh. Oberstes Alarmzeichen. Die nächste Stufe bedeutet, dass ich nicht mehr richtig sprechen kann. Dann wandert der Schmerz in die Gesichtsnerven. Nun muss ich mir meine Worte gut einteilen.
Mit dem Handrücken streiche ich über ihre Wange, doch ihr Gesicht bleibt skeptisch.
»Sehen wir uns später bei den Warm-up-Konzerten auf dem Müllenbachplatz? Sollen ganz gut sein.«