M. C. Beaton ist eines der zahlreichen Pseudonyme der schottischen Autorin Marion Chesney. Nachdem sie lange Zeit als Theaterkritikerin und Journalistin für verschiedene britische Zeitungen tätig war, beschloss sie, sich ganz der Schriftstellerei zu widmen. Mit ihren Krimi-Reihen um den schottischen Dorfpolizisten Hamish Macbeth und die englische Detektivin Agatha Raisin feiert sie bis heute große Erfolge in über 15 Ländern. M. C. Beaton lebt und arbeitet in einem Cottage in den Cotswolds.
Agatha Raisin
und
die Tote im Feld
Kriminalroman
Aus dem Englischen von
Sabine Schilasky
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 1995 by M.C. Beaton
Published by Arrangement with Marion Chesney Gibbons
Titel der englischen Originalausgabe: »Agatha Raisin and the Walkers of Dembley«
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Judith Mandt
Textredaktion: Anke Pregler, Rösrath
Titelillustration: © Arndt Drechsler, Regensburg
Umschlaggestaltung: Jana Rumold
E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-8387-5931-9
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Agatha Raisin beobachtete, wie das Sonnenlicht auf die Wand ihres Londoner Büros fiel.
Es kroch in langen Streifen durch die Jalousieschlitze und wanderte im Tagesverlauf langsam an der Wand tiefer. Diese Sonnenstreifen waren Agathas persönliche Sonnenuhr.
Morgen endete ihr Ausflug zurück in die Welt der PR-Manager. Dann durfte sie heimkehren nach Carsely, ihrem Dorf in den Cotswolds. Noch einmal ins Arbeitsleben zu tauchen, hatte ihr keinen Spaß gemacht. In der kurzen Zeit, die sie fort gewesen war und in der sie sich bereits endgültig im Ruhestand wähnte, hatte sie offenbar jene Energie eingebüßt, die nötig war, um bei Journalisten und Fernsehsendern das nötige Interesse für ihre Kunden zu wecken.
Obwohl sie ihre alte Beharrlichkeit und Kraft noch immer nicht ganz verloren hatte und sogar beachtliche Erfolge vorweisen konnte, vermisste sie ihr Dorf und ihre Freunde. Anfangs war sie über die Wochenenden hingefahren, wann immer sie sich loseisen konnte, aber die Rückkehr nach London war jedes Mal eine solche Qual gewesen, dass sie es die letzten zwei Monate bleiben gelassen und samstags wie sonntags durchgearbeitet hatte.
Sie hatte geglaubt, dass ihr neuentdecktes Talent, sich mit Menschen anzufreunden, auch in der Stadt von Nutzen sein könnte. Nur waren die meisten Mitarbeiter der Agentur, gemessen an ihren gut fünfzig Jahren, sehr jung und zogen es vor, in den Mittagspausen und an den Abenden unter sich zu sein. Roy Silver, ihr ehemaliger Assistent und derjenige, der Agatha überredet hatte, sich für sechs Monate bei Pedmans zu verpflichten, hielt seit einiger Zeit ebenfalls Abstand zu ihr. Er behauptete stets, zu beschäftigt zu sein, um sie auf einen Drink zu treffen oder auch nur mit ihr zu reden.
Seufzend sah Agatha zur Uhr. Sie war mit einem Journalisten vom Daily Bugle auf einen Drink und zum anschließenden Abendessen verabredet. Dabei sollte sie die Werbetrommel für einen Popstar rühren: Jeff Loon, mit bürgerlichem Namen Trevor Biles. Und sie freute sich nicht darauf. Es war schwierig, sich hymnisch über einen dürren, aknegeplagten Jugendlichen auszulassen, der sich privat vor allem der Fäkalsprache bediente. Aber er hatte nun mal diese Stimme, die man früher als »irischen Salontenor« bezeichnete, und die alten Liebeslieder, die er kürzlich aufgenommen hatte, waren allesamt Hits. Nun sollte er irgendwie ein Image als Traum aller mittelenglischen Schwiegermütter verpasst bekommen. Deshalb war es das Beste, ihn möglichst von der Presse fernzuhalten und stattdessen Agatha Raisin vorzuschicken.
Sie ging in den Personalwaschraum und wechselte in ein schwarzes Kleid mit Perlenkette, passend zum gewünscht seriösen Image des Kunden, den sie vertrat. Agatha kannte den Journalisten nicht, den sie treffen sollte, hatte sich allerdings über ihn informiert. Sein Name war Ross Andrews, und er hatte früher in der Oberliga des Journalismus mitgespielt, ehe man ihn auf die Gesellschaftsseiten verbannte. Alternden Medienleuten passierte es oft, dass sie von den Titelseiten in die Star- und Klatschspalten gedrängt wurden – oder, schlimmer noch, Leserbriefe beantworten durften.
Sie sollten sich in der City treffen, da mittlerweile alle großen Zeitungen von der Fleet Street nach East End umgezogen waren.
Es war ausgemacht, dass sie sich in der Bar des City Hotels trafen, wo sie auch essen würden, weil das Restaurant passabel war und die Fenster einen schönen Ausblick auf die Themse boten.
Agatha drehte sich vor dem Spiegel hin und her. Ihr Kleid, das sie erst kürzlich gekauft hatte, sah verdächtig eng aus. Zu viele Mittag- und Abendessen auf Spesen. Sobald sie wieder in Carsely war, musste sie abspecken.
Als sie hinunter in die Eingangshalle ging, sprang Jock, der Portier, auf, um ihr zu öffnen. »Einen schönen Abend, Mrs. Raisin«, wünschte er mit schmierigem Lächeln und ergänzte murmelnd, kaum dass Agatha außer Hörweite war, »Blöde Kuh.« Agatha hatte ihn nämlich einmal angefahren: »Wenn Sie ein Portier sind, dann öffnen Sie gefälligst die verdammte Tür, wenn Sie mich sehen. Wird’s bald?« Das hatte ihr der faule Jock nie verziehen.
Agatha ließ sich mit dem dünner werdenden Strom von Berufstätigen auf dem Heimweg treiben: eine nicht ganz schlanke, kämpferische Frau mit kurzem Haar, Augen wie ein Bär und recht vorzeigbaren Beinen.
Das Hotel lag nur wenige Straßen entfernt. Agatha trat aus dem Licht der Abendsonne in die dämmrige Hotelbar. Obwohl sie Andrew Ross noch nie begegnet war, machte ihr geübtes Auge ihn sofort aus. Er trug einen dunklen Anzug, Hemd und Krawatte, hatte aber diese ordinäre Schäbigkeit, wie sie typisch für Zeitungsjournalisten war. Sein schütteres Haar war unnatürlich schwarz. Er hatte ein breites Gesicht, eine winzige Nase und wässrige blaue Augen. Früher hat er vielleicht mal gut ausgesehen, dachte Agatha, als sie auf ihn zuging, aber jahrelanger Alkoholkonsum hatte seine Spuren hinterlassen.
»Mr. Andrews?«
»Mrs. Raisin. Sagen Sie Ross. Ich hatte mir schon einen Drink bestellt und auf Ihre Rechnung setzen lassen«, sagte er unbekümmert. »Geht ja sowieso alles auf Spesen.«
Agatha wusste genau, dass viele Journalisten Experten darin waren, gefälschte Restaurantquittungen für Kunden einzureichen, die sie hätten einladen sollen, ohne es getan zu haben. Das Geld steckten sie dann in die eigene Tasche. Übernahm hingegen jemand anderes die Rechnung, kannten sie kein Halten.
Sie nickte, nahm ihm gegenüber Platz und winkte den Kellner herbei, bei dem sie einen Gin Tonic bestellte. »Nennen Sie mich Agatha«, sagte sie zu Andrews.
»Wie steht es um den Daily Bugle?«, fragte sie dann. Es wäre zwecklos, mit ihm über ihr eigentliches Anliegen zu sprechen, bevor er nicht genügend intus hatte, um ihr einige Zeilen zu versprechen.
»Das Blatt ist auf dem absteigenden Ast, wenn Sie mich fragen«, sagte er finster. »Das Problem ist, dass diese jungen Journalisten keinen Schimmer von irgendwas haben. Die kommen aus den verfluchten Journalistenschulen und sind so ganz anders als wir damals. Wir haben gelernt, uns auf unser Gefühl zu verlassen. Die kommen von einem Interview zurück und sagen: ›Also nein, ich konnte ihn dies oder das nicht fragen. Seine Frau ist ja gerade gestorben.‹ Irgend so einen Blödsinn. Ich sage denen: ›Kinder, zu meiner Zeit haben wir an die Titelseite gedacht und einen Dreck auf die Gefühle von irgendwem gegeben.‹ Die wollen gemocht werden. Aber ein guter Reporter wird nie gemocht.«
»Stimmt«, pflichtete Agatha ihm aus tiefstem Herzen bei.
Er gab dem Kellner ein Zeichen, dass er ihm noch einen Whisky mit Wasser bringen sollte, ohne Agatha zu fragen, ob sie einen zweiten Drink wollte.
»Das ganze Elend ging damit los, dass sie das Zeitungsgeschäft in die Hände der Buchhalter gelegt haben. Die sind doch nichts als Neidhammel, streichen die Spesenkonten zusammen und streiten mit einem um jeden Penny. Mann, ich erinnere mich da an einen …«
Agatha lächelte und schaltete ab. Wie oft war sie schon bei ganz ähnlichen Treffen gewesen und hatte sich dieselben Beschwerden angehört? Doch ab morgen war sie frei und würde nie wieder zur Arbeit zurückkehren müssen, jedenfalls nicht als PR-Agentin. Sie hatte ihre eigene Agentur verkauft, um frühzeitig in den Ruhestand zu gehen und sich in die Cotswolds zurückzuziehen, in das Dörfchen Carsely, das sie ganz langsam mit seiner sanften Wärme eingehüllt hatte. Es fehlte ihr. Ihr fehlte der Frauenverein von Carsely, das Geplauder bei Tee im Pfarrhaus, das beschauliche Dorfleben. Während sie ihren geübt wohlwollenden Gesichtsausdruck beibehielt, als Ross weiterwetterte, schweiften ihre Gedanken zu ihrem Nachbarn James Lacey ab. Bei ihrem letzten Besuch zu Hause hatte sie sich mit ihm auf einen Drink getroffen, doch ihre unbeschwerte Freundschaft schien dahin. Agatha sagte sich, dass ihre alberne Besessenheit, was ihn betraf, endgültig Vergangenheit war. Trotzdem hatten sie ihren Spaß gehabt, als sie gemeinsam mehrere Morde aufklärten.
Als Ross den Arm heben wollte, um einen weiteren Whisky zu bestellen, hielt sie ihn davon ab, indem sie recht bestimmt vorschlug, dass sie etwas aßen.
Sie gingen in den Speisesaal. »Ihr üblicher Tisch, Mrs. Raisin«, sagte der Oberkellner und führte sie zum Fenstertisch.
Es gab einmal eine Zeit, dachte Agatha, da hatte es ihr gefallen, von Oberkellnern erkannt zu werden. Es war eine Bestätigung dafür gewesen, wie weit sie es vom Armenviertel in Birmingham gebracht hatte. Natürlich sagte heute keiner mehr »Armenviertel«. Man sprach von der »Innenstadt«, höchstens vom »sozialen Brennpunkt«, als würde das den Dreck, die Gewalt und die Verzweiflung mildern. An Armut litt in solchen Vierteln auch die Seele, weil die Fantasie nur von Gewaltvideos, Alkohol und Drogen genährt wurde.
»Und als ich aus Beirut zurückkomme, sagte der alte Chalmers zu mir: ›Du bist ein viel zu gerissener und scharfer Hund, Ross, um dich kidnappen zu lassen.‹«
»Richtig«, sagte Agatha. »Was möchten Sie trinken?«
»Macht es Ihnen was aus, wenn ich aussuche? Ich stelle immer wieder fest, dass die Damen nichts von Wein verstehen.« Im Klartext sollte das heißen, dass »die Damen« womöglich bezahlbaren Wein orderten oder nur eine halbe Flasche oder etwas ähnlich Inakzeptables. Vermutlich wird er den zweitteuersten Wein auswählen, weil er zwar gierig ist, jedoch nicht so wirken will, ging es Agatha durch den Kopf. Und genau das tat er auch. Wie es für Männer seines Schlages bezeichnend war, wählte er dann auch das Essen eher danach aus, was er glaubte, seiner Position schuldig zu sein, als danach, was ihm tatsächlich schmeckte. Folglich aß er auch nicht viel und sehnte sich ganz offensichtlich nach dem Brandy hinterher und jemandem, der die teuren Gerichte vor seiner Nase wegräumte. Dabei hatte er die Weinbergschnecken, das Lammkarree und die Profiteroles kaum angerührt.
Beim Brandy kam Agatha genervt zum eigentlichen Anlass ihres Treffens. Sie beschrieb Jeff Loon als einen netten Jungen, »zu nett für die Popwelt«, der seine Mutter und seine zwei Brüder von ganzem Herzen liebte. Dann erzählte sie von seinem bald erscheinenden Album und überreichte Ross Fotos und Pressemitteilungen.
»Das ist ein Haufen Scheiße, wenn Sie mich fragen«, sagte Ross und lächelte sie mit glasigen Augen an. »Ich meine, ich habe über diesen Jeff Loon recherchiert, und der hat eine Akte, ich meine, eine Polizeiakte! Er wurde zweimal wegen Körperverletzung verurteilt, und man hat ihn auch schon wegen Drogenmissbrauchs drangekriegt. Also wieso kommen Sie mir hier mit diesem Mist, dass er der Traum aller Schwiegermütter ist?«
Die harmlose Mittfünfzigerin, die er bis jetzt in Agatha Raisin gesehen hatte, verschwand, und stattdessen saß ihm auf einmal ein knallharter PR-Profi mit stechendem Blick gegenüber.
»Und Sie hören sofort auf mit diesem Bockmist, Herzchen«, knurrte Agatha. »Sie wissen sehr gut, weshalb Sie heute eingeladen sind. Falls Sie nicht vorhatten, irgendetwas halbwegs Anständiges zu schreiben, hätten Sie nicht kommen sollen, Sie Gierhals! Und ich sage Ihnen noch was: Mir ist völlig schnurz, was Sie schreiben. Ich will bloß nie wieder Typen wie Sie sehen. Sie mit Ihrem Schmatzen und Schlürfen sind der klassische Fall eines abgehalfterten Journalisten. Erst langweilen Sie mich mit fragwürdigen Geschichten Ihrer angeblichen Glanzleistungen, und dann haben Sie die Stirn zu behaupten, Jeff wäre ein Schwindler! Was ist los mit Ihnen?
Ach ja, PR-Leute dürfen sich nicht beschweren, aber wissen Sie was? Ich tue es trotzdem! Ihr Chefredakteur wird ein Protokoll dieses Abends bekommen, von all Ihren tollen Geschichten, und ich werde ihm auch mitteilen, was dieses Treffen gekostet hat.«
»Der glaubt Ihnen sowieso nicht!«, konterte Ross.
Agatha angelte ein kleines, aber höchst nützliches Diktiergerät unter der Serviette auf ihrem Schoß hervor. »Lächeln! Sie sind bei Versteckte Kamera.«
Er lachte matt. »Aggie, Aggie.« Er legte seine Hand auf ihre. »Können Sie keinen Scherz vertragen? Natürlich schreibe ich was Nettes über Jeff.«
Agatha winkte nach der Rechnung. »Mir ist so egal, was Sie schreiben.«
Ross Andrews wurde verblüffend schnell nüchtern. »Hören Sie, Aggie …«
»Für Sie Agatha oder besser noch Mrs. Raisin, nachdem wir uns nun so gut kennengelernt haben.«
»Hören Sie, ich verspreche Ihnen, dass es ein überaus positiver Artikel wird.«
Agatha unterschrieb den Kreditkartenbeleg. »Sie kriegen das Band, nachdem ich den Artikel gelesen habe«, sagte sie und stand auf. »Guten Abend, Mr. Andrews.«
Ross Andrews fluchte leise vor sich hin. Pressefuzzis! Er hoffte, nie wieder jemandem wie Agatha Raisin zu begegnen. Er hätte weinen können. Ach, was waren das für Zeiten, als Frauen noch richtige Frauen waren!
Weit weg, im Herzen von Gloucestershire, genauer gesagt im Marktstädtchen Dembley, saß Jeffrey Benson in einem Klassenzimmer, in dem das wöchentliche Treffen des Wanderkreises von Dembley stattfand. Kurioserweise ging ihm fast der gleiche Gedanke durch den Kopf wie Ross Andrews, als er seiner Freundin Jessica Tartinck bei ihrer Ansprache vor der Gruppe zuschaute. Diese Feminismus-Sache mochte ja gut und schön sein, und, bei Gott, er war unbedingt dafür, dass Frauen gleichberechtigt waren, aber warum mussten sie sich wie Männer anziehen und benehmen?
Jessica trug Jeans und ein weites Arbeiterhemd. Sie hatte ein blasses, kluges Gesicht – immerhin hatte sie in Oxford ein Einser-Examen in Englisch gemacht – und dichtes schwarzes Haar, das ihr lang über den Rücken fiel. Sie hatte fantastische Brüste, groß und fest, war allerdings ein bisschen füllig um die Schenkel und hatte keine besonders schönen Beine. Andererseits steckten die sowieso immer in Hosen. Wie Jeffrey war auch Jessica Lehrerin an der hiesigen Gesamtschule. Bevor sie sich quasi selbst zur Leiterin des Wanderkreises ernannt hatte, waren sie eine lockere Truppe gewesen, die an den Wochenenden gerne gemeinsam wanderte.
Aber Jessica liebte es anscheinend, sich mit Grundbesitzern anzulegen, die sie wie die Pest hasste. Sie war Stammgast im Grundbuchamt von Gloucester, wo sie über Flurkarten brütete und Wegerechte von anno dazumal ausgrub. Es schien ein Hobby von ihr zu sein, alte Wege ausfindig zu machen, wo seit Langem Äcker angelegt waren.
Als Jessica vor wenigen Monaten ihre Stelle an der Schule antrat, hatte sie sich sofort nach EINER SACHE umgesehen, für die sie eintreten konnte. Überhaupt dachte Jessica viel in Versalien. Eine Lehrerkollegin hatte ihr von dem Wanderkreis Dembley erzählt: die schüchterne, blonde Deborah Camden, die Physik unterrichtete. Prompt hatte Jessica ihre Sache gefunden, und in Nullkommanichts, ohne dass irgendeiner der Wanderer recht wusste, wie ihm geschah, hatte sie die Leitung übernommen. Dass sich der Eifer, mit dem sie Wegerechte auf privatem Grund geltend machte, womöglich aus Verbitterung, Neid und dem Wunsch nach Macht nährte, kam ihr gar nicht in den Sinn. Dabei war es bei ihren vorangegangenen Protestaktionen, etwa ihrer Beteiligung am Anti-Atomwaffen-Camp in Greenham Common, nicht anders gewesen. Jessica jedoch hatte nicht das Geringste an Jessica auszusetzen, und das war ihre große Stärke. Sie strahlte ein unerschütterliches Selbstbewusstsein aus. Es war politisch unkorrekt, nicht ihrer Meinung zu sein. Da die meisten der ursprünglichen Wanderer, die nichts als ein wenig Bewegung in netter Gesellschaft wollten, die Gruppe verlassen hatten und durch solche nach Jessicas Geschmack ersetzt wurden, konnte sie ihre Position mühelos halten. Unter ihren ergebensten Bewunderern befand sich neben Deborah auch Mary Trapp, eine hagere, missmutige junge Frau mit Hautproblemen und sehr, sehr großen Füßen. Dann war da Kelvin Hamilton, ein Berufsschotte, der stets einen Kilt trug und Witze aus seiner angeblichen Heimat riss, um sich als schottisches Urgestein auszuweisen. Er behauptete, aus einem Dorf in den Highlands zu stammen, kam aber tatsächlich aus Glasgow. Ebenfalls zum Jessica-Zirkel gehörte Alice Dewhurst, eine große kräftige Frau mit einem Kreuz wie ein Preisboxer. Sie kannte Jessica schon in den Greenham-Common-Tagen. Alice’ Freundin, Gemma Queen, war dünn und anämisch und nahm sich neben Alice erst recht wie ein Mäuschen aus. Zudem sagte sie nur etwas, wenn gefordert war, dass sie Alice zustimmte. Und letztlich zählten noch zwei Herren zu dem Kreis, Peter Hatfield und Terry Brice, die beide im Restaurant Copper Kettle in Dembley kellnerten. Beide waren dürr und still, wirkten affektiert und tuschelten und kicherten viel miteinander.
An diesem Abend sah Jessica besonders attraktiv aus, weil sie frische Beute entdeckt hatte, was ihre Wange leuchten ließ: ein altes Wegerecht über das Land eines Baronets, Sir Charles Fraith. Sie hatte sich die Strecke selbst angesehen und festgestellt, dass der alte Weg inzwischen landwirtschaftlich genutzt wurde. Also schrieb sie an Sir Charles, um ihm mitzuteilen, dass sie am übernächsten Samstag quer über seinen Acker wandern würden und er nichts dagegen tun könnte.
Wie von selbst reckte sich Deborahs Hand in die Höhe. »Ja, Deborah?«, fragte Jessica und zog ihre schmalen schwarzen Brauen hoch.
»K-könnten wir n-nicht einfach mal wieder w-wandern, wie früher?«, stammelte Deborah. »Es hat Spaß gemacht, als uns der alte Mr. Jones die Touren ausgesucht hat. Wir haben Picknicks gemacht und …«
Sie verstummte, eingeschüchtert von Jessicas hochmütiger Miene.
»Also wirklich, Deborah, das sieht dir überhaupt nicht ähnlich. Ohne Wandergruppen wie unsere gäbe es heute kein einziges Wegerecht mehr.«
Einer von den Urwanderern aus der Vor-Jessica-Zeit, Harry Southern, sagte plötzlich: »Sie hat recht. Diesen Samstag gehen wir zurück zu Farmer Stones Land. Er hat uns vor einem Monat mit einer Schrotflinte verscheucht, und einige der Damen bekamen Angst.«
»Du meinst, du hast Angst gekriegt«, sagte Jessica überheblich. »Na gut. Stimmen wir ab. Gehen wir dieses Wochenende zu Farmer Stone oder nicht?«
Ihre Gefolgsleute waren den anderen zahlenmäßig deutlich überlegen, so dass es eine unkomplizierte Abstimmung war. Nicht einmal Deborah brachte mehr den Mut auf, zu widersprechen. Nach dem offiziellen Teil legte Jessica einen Arm um Deborahs Schultern und drückte sie, womit Deborahs letzte Zweifel schwanden und ihre übliche sklavische Ergebenheit wieder die Oberhand gewann.
Endlich war es Freitag, und Agatha Raisin räumte ihren Schreibtisch. Sie verspürte eine geradezu kindische Lust, sämtliche Telefonnummern von Geschäftskontakten aus dem Filofax zu reißen, um es ihrem Nachfolger schwer zu machen. Doch sie beherrschte sich. Draußen konnte sie ihre Sekretärin fröhlich vor sich hin summen hören. Agatha hatte in ihrer kurzen Zeit drei Sekretärinnen verschlissen. Die gegenwärtige, Bunty Dunton, war ein großes, fröhliches Mädchen vom Lande mit einer Elefantenhaut, weshalb sämtliche Temperamentsausbrüche Agathas schlicht an ihr abprallten. So vergnügt wie heute hatte sie vorher trotzdem nicht geklungen.
Aber alles würde wieder gut, wenn sie erst zurück in Carsely war, sagte Agatha sich. Denn dort war sie beliebt.
Ihre Bürotür ging auf, und Roy Silver schlüpfte herein. Sein Haar war mit Gel nach hinten gekämmt und zum Zopf gebunden. Er hatte einen Pickel am Kinn, und seine Anzugjacke schien ihm von den Schultern zu hängen. Gleichzeitig waren seine Ärmel aufgekrempelt. Seine Seidenkrawatte war breit und ein Mix aus grellen Neonfarben, neben denen sein blasser Teint erst recht ungesund aussah.
»Geht’s los?«, fragte er. Seine Körperhaltung sah aus, als wäre er jederzeit zur Flucht bereit.
»Ach, setz dich schon hin, Roy«, sagte Agatha. »Jetzt war ich sechs Monate hier, und wir haben uns kaum gesehen.«
»Ich war beschäftigt, wie du weißt, Aggie. Und du auch. Wie bist du mit der Jeff-Loon-Sache klargekommen?«
»Ganz gut«, antwortete Agatha zögerlich. Inzwischen wusste sie selbst nicht recht, warum sie so außer sich geraten war. Nicht, dass sie den idiotischen Journalisten tatsächlich auf Band aufgenommen hatte. Sie hatte nur zufällig ihr Diktiergerät in der Handtasche gehabt, es spontan herausgenommen und unter ihre Serviette geschoben, während Andrews ganz in seiner Selbstbeweihräucherung aufging. Sie wollte ihn reinlegen, schlicht und ergreifend.
Roy setzte sich. »Du fährst also wieder nach Carsely. Weißt du, was ich glaube? Du hast deine Nische gefunden.«
»PR meinst du? Vergiss es.«
»Nein, ich meine Carsely. Jedenfalls bist du dort weit umgänglicher als hier.«
»Was soll das heißen?«, fragte Agatha angriffslustig. Sie hielt einen silbernen Brieföffner in die Höhe, den sie gerade zu ihren übrigen Sachen in den Karton auf ihrem Schreibtisch packen wollte.
Roy krümmte sich, antwortete aber mit Bestimmtheit: »Na ja, ich bestreite nicht, dass du großartig warst, in alter Höchstform sozusagen, angsteinflößend und alles. Aber ich hatte mich irgendwie an die Dorf-Aggie gewöhnt, für die es vor allem Tee, Törtchen und Klatsch gibt. Komisch, dass nicht mal ein Mord in deiner Gemeinde derart die Bestie in dir rauskitzeln kann, wie es die PR-Arbeit tut.«
»Ich habe keine Persönlichkeitsspaltung, falls du darauf hinauswillst«, sagte Agatha, die deutlich merkte, wie ihr die Röte vom Hals hoch ins Gesicht stieg.
»Ach was?« Roy wurde etwas kühner, weil sie ihn nicht mit irgendwelchen Sachen bewarf. »Tja, und was ist mit deinen Sekretärinnen? Von denen flitzte eine nach der anderen tränenüberströmt in die Personalabteilung und heulte sich das Herz an Mr. Burnhams breiter Brust aus. Oder denken wir an die Königin der Bekleidungsindustrie, Emma Roth.«
»Was soll mit der sein? Ich habe sie groß im Telegraph untergebracht.«
»Aber du hast der alten Schachtel auch gesagt, dass sie sich wie ein Schwein benimmt und ihre Klamotten totaler Schrott sind.«
»Hat sie auch und sind sie. Und? Hat sie uns deshalb gekündigt? Nein.«
Roy verzog das Gesicht. »Mir gefällt es nicht, dich so zu erleben. Geh zurück nach Carsely, bitte, bitte, und lass dieses hässliche London hinter dir. Ich sage dir das nur zu deinem eigenen Besten.«
»Wie kommt es nur, dass immer, wenn dir Leute was zu deinem eigenen Besten sagen, es irgendwie wie eine Beleidigung rüberkommt?«
»Ich meine ja nur, wir waren mal Freunde.« Mit diesen Worten schoss Roy aus dem Zimmer.
Agatha starrte mit leicht offenem Mund auf die Tür. Seine letzte Bemerkung hatte sie getroffen. Die neue Agatha fand neue Freunde, sie verlor keine alten. Sie hatte London und dem Londoner Leben die Schuld für ihre Einsamkeit gegeben, jedoch nie darüber nachgedacht, dass sie andere mit dem Rückfall in alte Verhaltensmuster abschreckte.
Es stand noch ein zweiter Karton auf ihrem Schreibtisch, der voller Make-up und Parfums war, Werbegeschenke von diversen Kosmetikfirmen. Agatha hatte vorgehabt, sie mit nach Hause zu nehmen. Jetzt rief sie: »Bunty, kommen Sie kurz rein!«
Ihre Sekretärin stürmte herein, ungeschminkt, in einem knöchellangen weißen Baumwollrock und mit nackten Füßen. »Hier«, sagte Agatha und schob ihr den Karton hin, »das können Sie haben.«
»Wow, tausend Dank! Das ist ja nett. Haben Sie alles gepackt, Mrs. Raisin?«
»Fast, es fehlen nur noch ein paar Kleinigkeiten.«
In Agathas Bärenaugen lag etwas Verlorenes und Empfindsames. Ihr wollte nicht aus dem Kopf, was Roy gesagt hatte.
»Wissen Sie was«, sagte Bunty, »ich bin heute mit meinem Wagen in die Stadt gefahren. Wenn Sie so weit sind, kann ich Sie bis Paddington Station mitnehmen.«
»Danke«, antwortete Agatha kleinlaut.
Und so geschah es, dass eine ungewöhnlich stille Agatha bis zur Paddington Station mitgenommen wurde und nicht selbst chauffierte. »Ich wohne in den Cotswolds«, erzählte Bunty, um das Schweigen zu brechen. »Aber ich kann natürlich nur an den Wochenenden nach Hause. Dort ist es richtig schön. Wir wohnen in Bibury, nicht weit von Moreton-in-Marsh. Wenn ich mal in der Woche zu Hause bin, fahre ich dienstags mit Ma zum Markt.« Und so plapperte sie eine Weile weiter. Unterdes dachte Agatha daran, wie einsam ihre Zeit in London gewesen war und wie leicht es gewesen wäre, sich mit dieser Sekretärin anzufreunden.
Als Agatha an der Paddington Station ausstieg, sagte sie: »Sie haben meine Adresse, Bunty. Wann immer Ihnen danach ist, mal zum Essen oder auch nur auf einen Kaffee vorbeizukommen, tun Sie das, bitte.«
»Danke«, antwortete Bunty. »Bis dann!«
Agatha trottete zum Zug, stieg ein und blockierte den Sitz neben sich mit ihren Kartons. Der Zug fuhr los, wurde schneller, und London verschwand hinter ihr. Agatha holte tief Luft. Jene andere Agatha ließ sie ein für alle Mal hinter sich.
Zurück in Carsely schien nach einem langen öden Winter und einem nasskalten Frühling die Sonne. Die Lilac Lane, in der Agathas Cottage stand, machte ihrem Namen alle Ehre, denn überall blühte der Flieder in Weiß, Mauve und Dunkelrot. Agatha war froh, James Laceys Wagen vor dessen Haus geparkt zu sehen. Sie musste zugeben, dass sie ihn vermisst hatte – wie auch alle anderen in Carsely, ergänzte sie energisch in Gedanken. Ihre Putzhilfe, Doris Simpson, hatte sich während Agathas Abwesenheit um deren beide Kater gekümmert, weshalb sie bereits drinnen nach Agatha Ausschau gehalten hatte und nun lächelnd vor die Tür trat, als diese schließlich eintraf. Ursprünglich hatte James Lacey die Kater bei sich aufgenommen, doch da die Tiere immer wieder nach nebenan zu Agathas Cottage liefen, hatte Doris Simpson schließlich vorgeschlagen, sie dort zu füttern und gelegentlich in den Garten zu lassen.
»Endlich daheim, Agatha«, begrüßte sie Agatha. »Kaffee ist fertig, und ich habe ein schönes Steak für Sie zum Abendessen.«
»Vielen Dank, Doris.« Agatha blieb für einen Moment stehen und betrachtete liebevoll ihr Cottage. Mit seinem ausladenden Reetdach hatte es etwas von einem friedlich kauernden Raubtier an sich. Dann ging sie hinein, wo ihre Kater sie frostig begrüßten, denn auf typische Katzenart wären sie natürlich nie in Begeisterung ausgebrochen, wenn eine Besitzerin zurückkehrte, die gar nicht erst so unverschämt hätte sein dürfen, einfach zu verschwinden.
Doris trug Agathas Kartons ins Haus und stellte sie in den kleinen Flur, bevor sie in die Küche ging, wo sie Agatha einen Kaffee einschenkte.
»Ich hatte den Garten völlig vergessen«, sagte Agatha. »Der muss ja hoffnungslos verwildert sein.«
»Oh nein, die Damen vom Frauenverein haben sich mit dem Unkrautjäten abgewechselt, und Mr. Lacey hat ziemlich viel darin gearbeitet. Aber, Agatha, was ist denn?«
Das musste sie fragen, weil Agatha in Tränen ausgebrochen war.
Agatha zückte ein Taschentuch und putzte sich die Nase. »Ich bin so froh, zu Hause zu sein«, murmelte sie.