SPECIAL UNIT VERGESSEN
VERGESSEN
BIANCA IOSIVONI
© 2014 Romance Edition Verlagsgesellschaft mbH
8712 Niklasdorf, Austria
Covergestaltung: © jdesign.at
Titelabbildung: © GooDAura, © Russ Allen
Korrektorat: Melanie Reichert, www.lekorrektorat.de
Printed in Germany
ISBN-Taschenbuch: 978-3-902972-17-0
ISBN-EPUB: 978-3-902972-27-9
www.romance-edition.com
1. KAPITEL
2. KAPITEL
3. KAPITEL
4. KAPITEL
5. KAPITEL
6. KAPITEL
7. KAPITEL
8. KAPITEL
9. KAPITEL
10. KAPITEL
11. KAPITEL
12. KAPITEL
13. KAPITEL
14. KAPITEL
15. KAPITEL
16. KAPITEL
17. KAPITEL
18. KAPITEL
19. KAPITEL
20. KAPITEL
21. KAPITEL
22. KAPITEL
23. KAPITEL
24. KAPITEL
25. KAPITEL
26. KAPITEL
27. KAPITEL
28. KAPITEL
29. KAPITEL
30. KAPITEL
31. KAPITEL
DANKSAGUNG
DIE AUTORIN
Sie rannte. Nicht nur um ihr Leben, sondern auch um ihre Seele. Oder das, was davon übriggeblieben war.
Äste schlugen ihr entgegen und verfingen sich in ihren Haaren. Ihre Lunge brannte, aber ihre Füße trugen sie weiter. Immer weiter, über unebenen Waldboden und Wurzelwerk, vorbei an Dornensträuchern, die wie geisterhafte Klauen nach ihr griffen und ihre nackten Oberarme zerkratzten. Sie hielt nicht an, denn wenn sie das tat, würde sie sterben. Also lief sie weiter, stolperte, fiel, zog sich auf die Beine.
Weiter. Immer weiter.
Hämmernde Schritte mischten sich mit dem Pochen in ihren Ohren. Ihr Atem ging rasselnd, ihre Seiten schmerzten. Hinter ihr erklangen Schreie. Stimmen von Männern, die Befehle brüllten. Sie kamen aus allen Richtungen, als wollten sie sie einkreisen.
Keuchend blieb sie stehen und versuchte, sich zu orientieren. Ein Ding der Unmöglichkeit in der Finsternis, die sie umgab. Verzweifelt presste sie sich die Hand auf den Mund, um ihre Panik zu unterdrücken. Sie würden sie finden – und dann würde sie die Nacht nicht überleben. Alles andere mochte aus ihrem Gedächtnis ausgelöscht sein, aber diese eine Sache hatte sich hineingebrannt: Wenn die Männer sie fanden, erwartete sie ein schlimmeres Schicksal als der Tod.
Ein Rascheln hinter ihr ließ sie zusammenfahren. Sie wirbelte herum. Ein Lichtkegel zuckte durch die Dunkelheit, tastete den Boden und die nähere Umgebung nach ihr ab. Schutzsuchend drückte sie sich gegen einen Baumstamm und versuchte, mit der rauen Rinde zu verschmelzen. Ein Blick nach oben verriet ihr, dass es unmöglich war, schnell genug hinaufzuklettern.
Die Mondsichel stand hoch am Himmel und blitzte zwischen den Baumkronen hindurch. Ein paar Sterne leuchteten in der Ferne, zu klein und einsam, um ihr eine Richtung zu weisen.
Die Schritte kamen näher.
Hektisch sah sie sich um. Inzwischen hatten sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnt, doch sie entdeckte nichts, das ihr weiterhelfen konnte. Kein Stein, nicht einmal ein herumliegender Ast, der groß genug wäre, um sich zu verteidigen.
Sie hielt den Atem an, als der Mann stehen blieb. Sein schweres Schnaufen drang an ihr Ohr. Eine falsche Bewegung und er würde sie bemerken.
Ihr Herz raste. Das Haar klebte feucht an ihren Schläfen und in ihrem Nacken. Schmerz brannte in ihrer Brust, je länger sie die Luft in ihrer Lunge gefangen hielt. Sie schloss die Augen und zählte.
Eins.
Zwei.
Irgendetwas krabbelte über ihren Hals.
Drei.
Vier.
Ein Windhauch trug den beißenden Geruch von Schweiß und süßlichem Aftershave in ihre Nase.
Fünf.
Sechs.
Sieben.
Ein Rascheln ganz in der Nähe. Sie riss die Augen auf.
Eine große Gestalt trat hinter einem der Baumstämme nur zwei Meter neben ihr hervor, eine Pistole in der einen Hand, die Taschenlampe in der anderen. Der Lichtkegel streifte über Bäume und trockenes Gestrüpp einige Meter weiter.
Vielleicht würde er sie nicht bemerken, wenn sie sich weiterhin still verhielt. Vielleicht würde er einfach vorbeigehen. Oder aber er drehte den Kopf nur ein winziges Stück nach links und erkannte, dass sein Opfer direkt neben ihm stand.
Schweißtropfen rannen über ihren Rücken. Der Stoff des Tanktops klebte an ihrer Haut. Ihr blieb keine Wahl. Sie musste handeln.
Bevor sie es sich anders überlegen konnte, stieß sie sich von dem Baumstamm ab. Mit einem gezielten Tritt gegen die Kniekehlen brachte sie ihn zum Straucheln. Den Rest erledigten ihre Arme schneller, als ihr Verstand folgen konnte. Drei Sekunden später stand sie breitbeinig über dem am Boden liegenden Mann, die Pistole in den Händen und atmete endlich die angehaltene Luft aus.
Schmerz explodierte in ihrer Lunge und breitete sich zusammen mit einem absurden Gefühl von Erleichterung in ihrem Körper aus. Erleichterung darüber, dass ihr Verfolger bewusstlos im trockenen Gras lag. Erleichterung darüber, wieder atmen zu können, obwohl die Panik ihr noch immer die Brust zuschnürte. Sie musste weiter. Es waren noch mehr von ihnen da draußen.
Zittrig setzte sie sich in Bewegung, die Pistole fest umklammert. Ihre Beine protestierten, aber sie ignorierte es. Ihre Schritte wurden schneller, immer schneller, bis sie jede Vorsicht außer Acht ließ und durch den Wald sprintete. Keuchend hastete sie einen Hügel hinauf, strauchelte und kämpfte sich weiter. Sie wusste nicht, wie lange sie gerannt war, geschweige denn, wo sie sich befand. Hier draußen schien es nur Bäume zu geben. Irgendwo mussten andere Menschen sein. Eine Stadt. Eine Straße. Ein Haus mit Bewohnern, die ihr Schutz bieten konnten.
Die Stimmen wurden lauter. Irgendjemand musste sie gehört haben. Am höchsten Punkt des Waldes lehnte sie sich erschöpft gegen einen der Baumstämme. Vor sich sah sie weitere Hügel und am Horizont eine dunkle Masse, die sich seltsam im Mondlicht zu bewegen schien. Das Meer?
Etwas Helles blitzte zwischen den Hügeln auf und aus der Ferne drangen Motorengeräusche zu ihr herüber. Zwei Scheinwerfer flammten in der Dunkelheit auf wie ein Licht am Ende eines langen Tunnels. Das Auto folgte einer gewundenen Landstraße. Wenn sie die Straße erreichen konnte, wäre sie in Sicherheit.
Sie klammerte sich an diesen Gedanken, klammerte sich an diese leise Hoffnung, weil es das Einzige war, das ihr blieb. Aufgeben kam nicht infrage.
Sie sammelte ihre letzten Kraftreserven und begann mit dem Abstieg. Inzwischen hatte sie kaum noch Gefühl in ihren Beinen, was kein gutes Zeichen sein konnte, doch die Stimmen und Schritte hinter ihr waren leiser geworden. War es ihr tatsächlich gelungen, ihre Verfolger abzuschütteln?
Als die Bäume sich lichteten und die schmale Landstraße dahinter sichtbar wurde, hätte sie vor Erleichterung beinahe geweint. Aber es waren Schweißtropfen und keine Tränen, die in ihren Augen brannten. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal geweint hatte. Sie konnte sich an überhaupt nichts erinnern.
Auf einmal nahm sie eine Bewegung rechts von sich wahr. Hätte sie nur einen Moment innegehalten, hätte sie die Gestalt gesehen, die sich am Rande des Waldes postiert hatte, um sie abzufangen. Zu spät. Zu langsam. Ein massiger Körper riss sie zu Boden, wo sich Äste und Gestrüpp schmerzhaft in ihren Rücken bohrten. Sie wollte schreien und um sich treten, brachte aber nur ein Krächzen und schwache Schläge zustande.
Grob wurde sie hochgerissen. Bevor sie die Pistole heben konnte, landete eine Faust in ihrem Gesicht. Ihr Kopf flog zur Seite, und Schmerz bohrte sich so tief in sie hinein, dass sie einen unmenschlichen Laut von sich gab. Blut füllte ihren Mund und Übelkeit machte sich in ihr breit. Sie spuckte aus und tastete nach der Pistole, die ihren Händen entglitten war.
Der Angreifer packte sie im Haar, zog sie auf die Knie und zwang sie dazu, ihm ins Gesicht zu sehen, das über ihr schwebte. Hellblondes Haar, harte Züge und kalte graue Augen. Die Andeutung eines Lächelns in den Mundwinkeln.
Nackte Panik brach in ihr aus.
In einem letzten Aufbegehren warf sie sich nach vorn. Sie rollte mit dem Mann über den Waldboden. Eine Faust krachte in ihre Rippen, aber sie ließ nicht von ihm ab. Das Funkgerät lag irgendwo im Gestrüpp, genau wie ihre Pistole. Als er sie unter sich begrub, drohte ihr die Luft wegzubleiben. Schwarze Punkte tauchten vor ihren Augen auf. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Suchend tasteten ihre Finger durch das Laub und fanden etwas Hartes, Kantiges. Sie schloss ihre Hand darum und schlug zu, wieder und wieder, bis der Mann bewusstlos auf ihr zusammenbrach. Blut sickerte aus der Wunde an seiner Schläfe und tropfte auf ihr Oberteil.
Mit einer Kraft, von der sie nicht wusste, woher sie kam, schob sie den leblosen Körper von sich hinunter und stand auf. Ihr war kalt, obwohl ihr Körper vor Hitze glühte. Ihr Herz raste und der metallene Geschmack in ihrem Mund löste eine weitere Welle von Übelkeit in ihr aus. Angeekelt ließ sie den blutigen Stein fallen und rannte los.
Vorbei an Sträuchern und über unebenen Boden stolperte sie auf die Landstraße. Beinahe hätte sie das herannahende Auto nicht bemerkt, wenn das laute Hupen nicht gewesen wäre. Bremsen quietschten. Der rostrote Pick-up blieb schlitternd stehen und wirbelte Staub auf.
Das war ihre Rettung. Die einzige Chance, ihren Verfolgern lebend zu entkommen. Sie musste den Fahrer davon überzeugen, sie mitzunehmen. Sie musste.
Ohne zurückzusehen, rannte sie auf die Fahrerseite.
»Bitte«, keuchte sie, sobald sie hinter der Glasscheibe das Gesicht eines Mannes erkannte. Er musste um die dreißig sein, trug ein Flanellhemd und einen braunen Vollbart. Im Gegensatz zu den Augen ihres Verfolgers waren seine nicht kalt. Nachdem der Schock aus seinem Gesicht gewichen war, blickte er sie besorgt an.
»Bitte!«, wiederholte sie atemlos und hielt sich nur mit bloßer Willenskraft aufrecht.
Das Seitenfenster öffnete sich Stück für Stück und zwang sie dazu, ihre Hände zurückzuziehen, die sie darauf abgestützt hatte.
»Heilige Scheiße!«, fluchte der Mann und musterte sie von oben bis unten. »Alles in Ordnung? Bist du verletzt?«
Seine Fragen klangen so grotesk in ihren Ohren, dass sie beinahe schrill aufgelacht hätte, den Impuls jedoch gerade noch unterdrückte. Wenn er sie für verrückt hielt, würde er ihr mit Sicherheit nicht helfen.
»Ich bin …«, begann sie, doch die Leere in ihrem Kopf ließ sie innehalten. »Jemand ist hinter mir her.« Als ob ihre Verfolger diese Worte gehört hätten, bemerkte sie eine Bewegung auf der anderen Straßenseite. Ohne den Blick von der dunkel gekleideten Gestalt abzuwenden, wurde ihr Ton drängender. »Bitte. Können Sie mich mitnehmen?«
Der Fremde zögerte nicht lang und entriegelte die Beifahrertür. Sie rannte um den Pick-up herum, riss die Tür auf und ließ sich auf den Sitz fallen. Ohne weitere Fragen zu stellen, trat er aufs Gaspedal und fuhr los. Im Seitenspiegel erkannte sie den bewaffneten Mann, der an den Straßenrand trat und ihnen nachsah. Sie war entwischt – doch die Erleichterung wollte sich nicht einstellen. Jemand, der so viel Mühe darauf verwendete, sie zu jagen, würde nicht so leicht aufgeben. Vor allem nicht, wenn demjenigen Waffen und ein ganzer Suchtrupp zur Verfügung standen. Sie war noch immer eine Flüchtige – aber der fremde Fahrer ermöglichte ihr immerhin einen Vorsprung.
Im Inneren des Wagens roch es nach Salz und Essig. Schnell hatte sie den Grund dafür gefunden: Zwischen ihnen lag eine geöffnete Tüte Salt & Vinegar Chips.
Ihr Retter schien ihren Blick zu bemerken. »Hungrig?«
Mit zusammengebissenen Zähnen schüttelte sie den Kopf. Der Geruch löste statt eines Hungergefühls vielmehr Übelkeit in ihr aus.
»Ich bin Travis Mendez«, sagte er mit einem lateinamerikanischen Akzent, der ihr vorher nicht aufgefallen war. »Wie heißt du?«
Sie starrte auf die Packung mit den bunten Jelly Beans neben den Chips und ein Name formte sich in ihrem Kopf. »Jennifer«, erwiderte sie langsam und sah auf. »Jennifer Bell.« Die Bereitschaft, mit der sie diesen Mann anlog und ihm dabei auch noch ins Gesicht sah, erschreckte sie. Allerdings nicht genug, um ihre Lüge zurückzunehmen.
»Freut mich, Jennifer.« Travis hielt ihr seine Hand hin, die sie zögernd ergriff und schüttelte. Im Gegensatz zu seinen Arbeiterhänden waren ihre schmal, mit langen Fingern und aufgerissenen Nagelbetten. Ihre Knöchel waren wund, die Haut zerkratzt – eine Folge ihrer Flucht durch den Wald und des erbitterten Kampfes.
Travis räusperte sich. So wie er auf dem Sitz herumrutschte, schien er sich in seiner Rolle als Fluchthelfer nicht besonders wohlzufühlen. »Bist du vor deinem Ex davongelaufen?«, fragte er auf einmal.
Überrascht hob sie den Kopf. Wie kam er denn auf diese Idee? Dennoch ertappte sie sich dabei, wie sie nickte, als hätte er mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen. Wenn er glaubte, ihr gewalttätiger Ex-Freund sei hinter ihr her, würde er hoffentlich keine weiteren Fragen stellen. Denn Fragen konnte sie nicht beantworten.
»Fuck.« Seine Finger umklammerten das Lenkrad fester, sein Blick war geradeaus auf die unbefestigte Straße gerichtet. »Soll ich dich zur Polizei bringen? Oder hast du Verwandte in der Stadt? Freunde? Jemand, bei dem du für ’ne Weile unterkommen kannst?«
Hatte sie das? Sie wusste es nicht. In ihrem Kopf herrschte eine Dunkelheit, die noch viel erschreckender war, als die, die sie hier draußen in den Wäldern umgab. Wie spät es wohl sein mochte? Welcher Tag war heute? Welches Jahr und welcher Monat? Sie biss sich auf die Unterlippe, um die beginnende Panik zu unterdrücken und schmeckte Blut. Angewidert verzog sie das Gesicht.
»Ich …« Sie versuchte das schmerzhafte Pochen in ihren Rippen, die unliebsame Bekanntschaft mit der Faust ihres Verfolgers gemacht hatten, zu verdrängen. »Zur Polizei, bitte.« Sie musste ihnen sagen, dass sie verfolgt wurde, obwohl sie keinen der Männer kannte. Wer würde ihr glauben, solange sie sich an nichts erinnern konnte? Wo sollte sie hingehen, wenn sie nicht einmal mehr ihren eigenen Namen wusste?
So sehr diese Fragen auch an ihr nagten, so wusste sie doch mit Bestimmtheit, dass jeder Ort der Welt besser war, als der, von dem sie geflohen war. Sie hatte keine Bilder davon im Kopf, doch das dumpfe Gefühl in ihrem Inneren versprach ihr die Hölle auf Erden, sollte sie je wieder dorthin zurückkehren.
Die Hände fest im Schoß verkrampft, begann sie, in der kühlen Luft der Klimaanlage zu frieren, obwohl ihre Haut fiebrig brannte und die Kleidung noch immer an ihrem Körper klebte. Sie wagte es nicht, die Sonnenblende herunterzuklappen und in den Spiegel zu sehen, aus Angst vor dem, was sie dort möglicherweise entdecken würde. Also blieb sie still sitzen, die geschundene Unterlippe zwischen den Zähnen eingeklemmt und starrte in die Nacht hinaus.
Im Zickzack verlief die Strecke durch die Landschaft. Auf der rechten Seite ragten Hügel mit trockenen Bäumen und Sträuchern in den Nachthimmel auf, während das Meer auf der linken im Mondlicht funkelte. Nach einer weiteren Kurve erkannte sie die beleuchteten orangefarbenen Pfeiler einer Hängebrücke in der Ferne.
Die Golden Gate Bridge.
Sie war in San Francisco.
Aber bedeutete das auch, dass sie in Sicherheit war?
Die Stadtlichter glitzerten auf der anderen Seite der Brücke. Ihr blieben nur noch wenige Minuten, sich zu überlegen, was sie tun sollte. Sie folgten der Route 101 entlang der Küste, bis Travis in Richtung Central North abbog. Mit jeder Meile, die sie hinter sich ließen, schlug ihr Herz schneller und ihre Fingernägel bohrten sich tiefer in ihre Handflächen.
Was sollte sie den Polizisten erzählen? Und warum sollten sie ihr glauben, statt sie für verrückt zu erklären? Im Grunde konnte sie ihnen überhaupt nichts sagen. Nicht, wer sie war oder was sie mit diesen Männern zu schaffen hatte noch, warum diese sie verfolgt hatten. Großer Gott, vielleicht hielten die Polizisten sie sogar für eine Kriminelle auf der Flucht? Oder für eine Irre, die aus der Anstalt geflohen war, statt brav ihre Happy-Pillen zu schlucken?
»Jennifer?«
Sie reagierte nicht auf den fremden Namen. Erst als der Pickup am Straßenrand hielt, kam wieder Leben in sie. Langsam hob sie den Kopf und betrachtete das einstöckige Gebäude. Die blauen und grauen Fliesen entlang der Außenwände halfen nicht dabei, den trübseligen Eindruck zu mildern. Genauso wenig der Name, der in großen Lettern neben dem Eingang prangte: Northern District Police Station.
Statt Sicherheit zu empfinden, stieg Panik in ihr auf. Sie grub die Fingernägel so fest in ihr Fleisch, dass sie zusammenzuckte.
»Alles in Ordnung …?«, fragte Travis zögerlich, als wüsste er nicht mit der Situation umzugehen. Sein Blick wanderte zwischen dem Gebäude und ihr hin und her. »Soll ich vielleicht mitko…«
»Nein«, unterbrach sie ihn schnell und tastete nach dem Türöffner. »Danke fürs Mitnehmen.«
»Kein Problem«, murmelte er, aber ihm war anzusehen, dass er noch immer nicht sicher war, wie er sich verhalten sollte.
Sie zwang sich zu einem Lächeln, ohne zu wissen, ob es ihr gelang oder bei ihm nicht eher den Eindruck einer durchgeknallten Ausreißerin bestärkte. »Danke«, wiederholte sie mit fester Stimme und stieg aus.
Sie sah dem Wagen nach, wie er um die Ecke bog und in der Dunkelheit verschwand. Reglos stand sie neben dem schlichten Gebäude, während Leute an ihr vorbeigingen und ihr seltsame Blicke zuwarfen. Zögerlich drehte sie sich um. Selbst unter einer armseligen Straßenlampe stehend, spiegelte sie sich in den blank geputzten Fliesen wider. Darin war eine großgewachsene, schlanke Frau mit verschmutztem Gesicht und kastanienbraunen Haaren zu sehen, die ihr in wirren Wellen über die Schultern fielen. Ihre Statur wirkte sportlich, doch ihre Haut war so blass, als hätte sie in den vergangenen Monaten nicht viel Zeit unter freiem Himmel verbracht. Gehetzte graugrüne Augen starrten ihr entgegen und über ihrer linken Braue glänzte frisches Blut.
Sollte sie das sein? Jennifer oder wie auch immer sie heißen mochte? Sie schlang die Arme fester um sich, als könne sie so diesem Bild entfliehen und spürte, wie etwas Hartes zwischen ihren Brüsten in ihre Haut stach.
Beklommen sah sie an sich hinab und zog die Kugelkette unter ihrem Oberteil hervor, bis ein kleines Metallstück am Ende sichtbar wurde. Eine Hundemarke. Darauf standen ein Name, eine Zahlenabfolge und eine Blutgruppenbezeichnung. Sie las die Worte mehrmals, ohne dass sie etwas in ihr auslösten.
Jessica K. Neville.
Es könnte genauso gut der Name einer Fremden sein.
In diesem Moment ging die Tür zum Polizeigebäude auf und ein Mann kam heraus. Schnell schob sie die Hundemarke zurück unter ihr verschwitztes Top und trat in den Schatten. Leider nicht schnell genug, denn der Mann wandte sich ihr zu.
»Hey, keine Angst.« Er näherte sich ihr mit gehobenen Händen und bedächtigen Schritten. Obwohl er nur legere Straßenkleidung trug, blitzte die Polizeimarke an seinem Gürtel im Licht der Straßenlampe auf. »Wollten Sie reingehen? Eine Anzeige aufgeben?« Blaue Augen musterten sie von oben bis unten, als versuchte er einzuschätzen, was mit ihr passiert war. »Keine Angst«, wiederholte er mit ruhiger Stimme und deutete auf den Eingang. »Hier sind Sie sicher. Niemand wird Ihnen wehtun.«
Seine Worte erinnerten sie an das unangenehme Pochen in ihrer Rippengegend und die aufgeplatzte Lippe. Die wenigen Erinnerungen, die sie besaß, hatten sich so tief in ihr Bewusstsein gebohrt, dass allein das Denken daran schmerzte.
Zögerlich machte sie einen Schritt auf ihn zu. Er war Polizist, richtig? Die Polizeimarke bewies es. Wenn es irgendwo jemanden gab, der ihr helfen konnte, dann dieser Mann und seine Kollegen. Sie ging noch einen Schritt auf ihn zu.
Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Obwohl er die Hand nach ihr ausstreckte, berührte er sie nicht und hielt gebührenden Abstand, als er sie zum Eingang begleitete. »Wie ist Ihr Name?«, fragte er, während er ihr die Tür aufhielt.
»Jen… Jessica«, verbesserte sie sich schnell, obwohl sich auch dieser Name nicht richtig anfühlte. Irgendetwas daran war falsch, auch wenn sie nicht sagen konnte, woher dieses Gefühl rührte.
»Freut mich, Jessica. Ich bin Inspector Colby. Möchten Sie ein Glas Wasser?« Er deutete auf einen der freien Stühle neben dem Informationsschalter am Haupteingang. Offensichtlich war ihm ihr heruntergekommener Zustand nicht entgangen. Sie nickte dankbar und setzte sich auf den harten Plastikstuhl.
Die rege Betriebsamkeit hatte eine beruhigende Wirkung. Das Summen der unterschiedlichen Stimmen begann sie einzulullen. Ein paar der uniformierten Männer und Frauen warfen ihr im Vorbeigehen einen Blick zu, ließen sie jedoch in Ruhe. Seufzend lehnte sie den Kopf gegen die Wand in ihrem Rücken und begann, ihre Umgebung genauer in Augenschein zu nehmen. Ein geordnetes Chaos war der erste Eindruck, den sie gewann. Mehrere Türen führten vom Warteraum ab, links befanden sich die Anzeigenaufnahme und mehrere Büros. Überall liefen Leute herum, hauptsächlich Polizisten, die meisten von ihnen in Uniform, bewaffnet mit Schlagstock und Pistole. Bereit für den Einsatz. Bereit zum Töten.
Woher kam dieser Gedanke auf einmal?
Mit Daumen und Zeigefinger rieb sie sich über die müden Augenlider. Eine schrille Frauenstimme aus dem Raum, in dem die Anzeigen aufgenommen wurden, ließ sie zusammenzucken. Die Frau schrie weiter, ohne den beruhigenden Worten einer jungen Polizistin Beachtung zu schenken. Ein Mann mittleren Alters wurde in Handschellen abgeführt. Zwei Polizisten eilten an ihr vorbei und riefen einem dritten etwas zu, das sie aufhorchen ließ. Offenbar hatte sich einige Blocks weiter ein Verkehrsunfall ereignet. Der Fahrer eines roten Pick-ups mit kalifornischem Kennzeichen war von der Fahrbahn abgekommen und in eine Baustelle gerast.
Die drei Männer verschwanden nach draußen. Ihre Stimmen verstummten.
Sie befeuchtete sich die trockenen Lippen. Ein roter Pick-up. Der Fahrer war tot. Travis Mendez. Oh Gott … das konnte kein Zufall sein.
»Hier.«
Sie zuckte zusammen, als Inspector Colby ihr einen Plastikbecher unter die Nase hielt, dann griff sie danach. »Danke.« Gierig trank sie das Wasser aus, wobei sie sich mehrmals verschluckte.
»Immer mit der Ruhe.« Behutsam klopfte er ihr auf den Rücken. »Wo das herkommt, gibt es noch mehr.«
Ein weiterer Mann trat zu ihnen. Groß und imposant, dunkelhäutig, mit breiten Schultern. Sein harter Blick schien keine Gnade zu kennen, aber er wurde etwas weicher, als er auf ihr zum Ruhen kam. »Wen haben wir denn hier?«
»Das ist Jessica Neville, Sir«, erklärte Colby dem anderen Mann, der ohne Zweifel sein Vorgesetzter war. »Sie stand draußen ein wenig verloren vor der Station herum.«
In ihrem Inneren zog sich etwas zusammen. Von einer Sekunde auf die andere war ihr Körper in Alarmbereitschaft, ohne dass sie wusste, warum. Vielleicht war sie tatsächlich verrückt geworden.
Der andere Polizist ging vor ihr in die Hocke. Im Gegensatz zu Colby trug er eine Uniform mit Abzeichen auf den Schultern, die ihn als Captain auszeichneten. Sein Blick hatte ihr Gesicht nicht verlassen und schien Dinge zu sehen, die sie selbst nicht wahrnehmen konnte.
»Tatsächlich?« Seine Frage richtete sich an niemand Bestimmtes. »Können Sie uns sagen, was passiert ist, Miss?«
Sie öffnete den Mund, aber kein Ton kam über ihre trockenen Lippen. Auf einmal raste ihr Herz. Sie sah zu Colby, der sie noch immer musterte, wie ein verloren gegangenes Kind, das er am Straßenrand aufgesammelt hatte. In seinen Augen lag nichts als Freundlichkeit und leise Besorgnis. Dennoch wusste sie eine Sache mit absoluter Bestimmtheit: Er war ein verdammter Lügner.
Sie hatte Colby nie ihren Nachnamen genannt.
Woher wusste er ihn also?
Schnell schüttelte sie den Kopf und richtete ihr Augenmerk wieder auf den anderen Polizisten. »Nein …« Ihre Hände wurden feucht. »Es ist alles in Ordnung. Tut mir leid, dass ich Sie bei der Arbeit gestört habe«, würgte sie hervor und erhob sich mit zittrigen Knien. Sie musste hier raus. Sofort.
»Sind Sie sicher?«
»Ja.« Sie schob sich an den Männern vorbei. »Tut mir leid.«
»Miss!«, rief der Polizist ihr nach, aber sie ignorierte ihn.
Mit drei großen Schritten war sie bei der Tür und stieß sie auf. Die kühle Nachtluft ließ sie schaudern, aber es war die Stimme hinter ihr, die ihr eine Gänsehaut verursachte.
»Jessica!« Colby war ihr bis nach draußen gefolgt.
Sie wirbelte zu ihm herum. »Neville? Wirklich?« Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Woher sie die Kraft nahm, diesem Mann die Stirn zu bieten, wusste sie nicht.
Erst jetzt schien er seinen Fehler zu bemerken, denn Freundlichkeit und Sorge verschwanden aus seinem Gesicht. Mit einem Fingerschnippen konnte er auf eine eisige Distanz umschalten, die sie ein weiteres Mal erschauern ließ. Wer war dieser Mann? Warum kannte er den Namen, der auf ihrer Hundemarke stand? Gehörte ihr die Marke überhaupt? Oder war auch das eine Lüge?
»Sie müssen mit mir kommen.« Colby setzte sich in Bewegung. »Glauben Sie mir, es ist zu Ihrer eigenen Sicherheit.« Diesmal hatte sein Näherkommen nichts Sanftes an sich. Seine Schritte waren zielgerichtet, sein Blick bedrohlich.
»Auf keinen Fall.« Instinktiv wich sie zurück. Noch immer wusste sie nicht, was geschehen war. Aber wenn jemand sie gegen ihren Willen mitnehmen wollte, konnte das nicht zu ihrem Besten sein. So viel Verstand besaß sie noch, auch wenn alles andere aus ihrem Bewusstsein ausgelöscht war.
Sie machte auf dem Absatz kehrt und rannte los, Colbys zornige Stimme in ihrem Nacken, seine hämmernden Schritte dicht hinter ihr. Sie rannte, weil es das Einzige war, das sie kannte.
Einen Block weiter hielt ein Bus an der Haltestelle. Das war ihre Chance. Sie sprintete darauf zu, wich entgegenkommenden Passanten aus – bis ein unerwarteter Schmerz sie zurückriss. Colby hatte ihr Haar gepackt und zog brutal daran.
»Nein!« Sie schlug um sich, wehrte sich, so gut sie konnte. Panik brach über sie herein wie eine Sturmflut und aktivierte Kraftreserven in ihr, die sie längst verbraucht geglaubt hatte.
Mit dem Ellbogen zielte sie auf Colbys Magen, der ein hörbares Uff von sich gab und sich vornüber beugte. Sie nutzte den Moment, um ihre Haarsträhnen aus seinem Griff zu befreien. Grob zerrte sie daran, aber der Polizist war schneller. Wieder riss er sie zurück und sie stöhnte vor Schmerz auf.
Niemand kam ihr zur Hilfe. Die Menschen sahen weg und stiegen in den Bus ein. Autos fuhren vorbei, ohne langsamer zu werden. Niemand schien sie zu beachten. Als wäre sie eine Kriminelle und Colby der brave Cop, der sie fasste. Aber er war keiner der Guten – er kämpfte nicht fair. Doch das konnte sie genauso.
Fest trat sie ihm mit der Ferse auf den Fuß. Für ein, zwei Sekunden war er perplex genug, damit sie ausholen und ihre Faust seine Nase treffen konnte. Gleich danach die Niere. Colby krümmte sich vor Schmerzen und ließ ihr Haar los.
Sie sprang zurück, rannte auf den Bus zu, aber er fuhr bereits los. Hektisch sah sie sich um, sprintete um die nächste Ecke in eine Seitenstraße. Schlitternd kam sie neben einer älteren Dame zum Stehen, die gerade in ein Taxi steigen wollte. Ohne jede Rücksicht schob sie die Frau beiseite, glitt auf den Rücksitz und zog die Tür hinter sich zu.
»Painted Ladies, Alamo Square«, sagte sie dem Fahrer. Das aufgebrachte Gezeter der Frau ignorierte sie.
Warum ihr ausgerechnet dieser Ort in San Francisco einfiel, wusste sie nicht und es interessierte sie auch nicht. Mit hämmerndem Herzen machte sie sich so klein wie möglich, jeden Moment damit rechnend, dass Colby auftauchen und sie festnehmen würde. Aber nichts dergleichen geschah. Das Taxi fuhr los und fädelte sich in den nächtlichen Stadtverkehr ein.
Sie war zum zweiten Mal an diesem Tag entkommen, aber an ein Aufatmen war nicht zu denken.
Sie erinnerte sich nicht an ihre Vergangenheit. An ihr Leben. Und sie wusste noch immer nicht, wer hinter ihr her war – oder warum.
Adam Blackbourne war ein Jäger. Immer gewesen. Als Siebenjähriger hatte er andere Kinder beim Spielen von Räuber und Gendarm gejagt, als Erwachsener jagte er die wahren Verbrecher dort draußen.
Blitzschnell schoss er vor, packte die Glock in Henriksons Hand und schlug seinen rechten Arm mit einer gezielten Bewegung beiseite. Einen Sekundenbruchteil später blickte sein jüngerer Kollege in den Lauf der Pistole. »Scheiße, Blackbourne. Ich hab dich nicht mal kommen sehen.«
Inzwischen kannte er Henrikson gut genug, um zu wissen, dass seine Worte nur eine Ablenkung darstellten. Mit erhobenen Händen näherte sich Henrikson ihm, dann wiederholte er die Bewegungsabfolge und nahm ihm die Waffe ab.
»Gut.« Adam nickte ihm zu. »Noch mal. Diesmal schneller.«
Sie wiederholten die Entwaffnung, dann gingen sie zu weiteren Manövern über, bis ihnen beiden der Schweiß auf der Stirn stand. Am Rande der Trainingshalle der FBI-Zentrale ließ sich Adam auf eine Bank fallen und griff nach seiner Wasserflasche. Ein kurzer Blick auf die Wanduhr verriet ihm, dass es bereits später Nachmittag war. Seine Finger zuckten ungeduldig in der Hoffnung auf eine Zigarette, aber er unterdrückte das Verlangen. Er hatte schon vor Jahren mit dem Rauchen aufgehört und würde jetzt nicht wieder damit anfangen. Egal, wie sehr dieses Warten seine Nerven strapazierte. Kaffee war die einzige Sucht, die er sich erlaubte.
Auf der anderen Seite der Halle begannen zwei Kollegen mit dem Nahkampftraining. Adam beobachtete die beiden eine Weile, während er sich in Gedanken damit beschäftigte, ihren Kampfstil zu analysieren. Roberts war ein bulliger Mann, der problemlos als Türsteher oder Bodyguard durchgehen konnte. Sein Vorteil lag in seiner Körperkraft, aber wenn es um Schnelligkeit ging, hatte sein Partner ihm einiges voraus.
»Weißt du schon, wann sie dich wieder in den Außendienst lassen?« Henriksons Stimme riss Adam aus seinen Gedanken. Seine Frage erinnerte ihn daran, warum er hier saß und anderen beim Training zusah, statt selbst dort draußen zu sein, um an einem neuen Fall zu arbeiten.
»Nein«, erwiderte er knapp.
Adam trank noch einen Schluck, bevor er die Flasche zurück auf den Boden stellte und aufstand. Zu Hause warteten jede Menge Akten auf ihn. Akten zu dem einzigen Fall, der ihn im Moment interessierte. Denn nur weil sein Boss ihn nicht zurück an die Front ließ, bedeutete das nicht, dass er die Hände in den Schoß legte und nichts tat.
Henrikson fluchte neben ihm. Diese Eigenart mussten sie ihm noch austreiben, sonst würde er es sich früher oder später mit einigen Vorgesetzten verscherzen. Aber Henrikson war gerade mal Anfang zwanzig und galt als einer der talentiertesten Agenten in seinem Alter. Adams Aufgabe war es, ihn im Nahkampf und im Umgang mit Waffen auszubilden – nicht, an seinen Manieren zu feilen.
»Lass uns weitermachen.« Mit großen Schritten steuerte er die Trainingsmatten an und winkte Henrikson zu sich.
»Wie lang ist es jetzt her?«
Nach außen hin zeigte Adam keine Regung, doch innerlich brodelte die Wut noch immer. Zu deutlich sah er die Bilder jener Nacht vor sich, sah, wie das Leben aus den Augen seines Partners wich und hörte den Schuss, der nicht nur seine Karriere, sondern auch sein Leben auf Eis gelegt hatte.
»Drei Monate.« Einhundert Tage und neun Stunden, um präzise zu sein, aber wer zählte schon genau?
Wie ein Echo seiner Gedanken begann seine Schulter, dumpf zu pochen. Adam hasste dieses Gefühl, aber er hatte gelernt, es nicht zu ignorieren, sondern damit zu arbeiten. Langsam rollte er die Schultern, bis der Schmerz nachließ und er sich auf den Übungskampf konzentrieren konnte. Nachdem er so lange schon die Füße stillhalten und Büroarbeit leisten musste, waren sein morgendliches Workout samt dem regelmäßigen Training mit seinen Kollegen der einzige Grund, warum er noch nicht durchgedreht war.
Das und die Spur, die er bis heute verfolgte. Eine Spur, die ihm hoffentlich irgendwann begreiflich machen konnte, warum er vor drei Monaten mit verbundener Schulter vor Patricia Vances Tür gestanden und ihr die Nachricht vom Tod ihres Mannes hatte überbringen müssen. In jenem Moment schwor er sich, erst wieder dort aufzutauchen, wenn er den Tod seines Partners aufgeklärt hatte – koste es, was es wolle. Nicht nur, damit er eines Tages wieder ruhig schlafen konnte, sondern damit die nächste Nachricht, die er Vances Familie überbrachte, davon handelte, dass er die Schuldigen gefasst hatte.
Als er an diesem Mittwochabend vor Ernie’s, einem abgelegenen Diner am äußersten Rande San Franciscos, hielt und aus dem Wagen stieg, war der Schmerz in seiner Schulter wieder da. Es war schon spät; inzwischen war seine achte Tasse Kaffee fällig. Adam marschierte über den verlassenen Parkplatz und lockerte die Krawatte, die ihm die Luft abschnürte. Über ihm klingelte die Türglocke und eine Wolke aus verschiedensten Gerüchen schlug ihm entgegen, als er das Diner betrat: Kaffee, fettiges Essen, Schweiß und Parfum. Es war der Kaffee, wegen dem er hier war. Und vielleicht sollte er auch mal wieder etwas essen.
Zielstrebig ging er an der bestuhlten Theke vorbei und ließ sich in der hintersten Ecke in die roten Polster fallen. Den Rücken zur Wand, das gesamte Diner im Blick. Alte Gewohnheiten wurde man nicht los. Nur weil er bei der Arbeit momentan die verdammte Sekretärin spielen musste, bedeutete das nicht, dass es für immer so bleiben würde. Er hatte kein Problem damit, Henrikson und den anderen Agenten in seinem Alter den Vortritt zu lassen. Aber wenn es darauf ankam, wollte er wieder an der Front sein. Das tun, weshalb er überhaupt erst beim FBI angefangen hatte – um Kriminellen das Handwerk zu legen und unschuldige Leben zu beschützen.
Er schnappte sich die Karte und studierte das Angebot, ohne etwas wahrzunehmen. Seit drei Jahren kam er in dieses Diner, aber an der Auswahl hatte sich bis heute nichts verändert. Irgendwie war es beruhigend, dass wenigstens manche Dinge im Leben immer gleich blieben.
Ein Schatten fiel über ihn. »Was darf’s sein?«
»Einen Kaffee, schwarz«, bestellte er und lehnte sich zurück.
Die Kellnerin wirkte blass in ihrer gelben Uniform, aber vielleicht lag das auch nur am fahlen Licht hier drin. Auf dem Schild an ihrer Brust stand ihr Name – Cindy. Sie musste neu sein, denn er hatte sie noch nie zuvor gesehen. Als sie seine Musterung bemerkte, schenkte sie ihm ein kurzes Lächeln, das überraschend ehrlich wirkte. Adam erwiderte es und ertappte sich dabei, wie sein Blick zu ihrem Hintern wanderte, als sie losging, um ihm seine Bestellung zu bringen.
Im gleichen Moment schalt er sich einen Idioten. Hatte er denn gar nichts gelernt? Auch wenn er die Ablenkung dringend gebrauchen könnte, würde er sich nicht mehr auf irgendeine dahergelaufene Frau einlassen.
Er ließ seinen Blick weiterwandern. Um diese Uhrzeit waren nur wenige Menschen hier. An der Theke ein alter Kerl mit krummem Rücken und Zeitung. Am zweiten Tisch neben dem Eingang saßen zwei Frauen, Mitte bis Ende dreißig, und unterhielten sich angeregt. Adam schnappte ein paar Worte auf, danach wusste er genug. Betrügende Ehemänner, rebellierende Teenager – nein, danke. Einen Tisch weiter hockte ein in sich zusammengesunkenes Mädchen im Kapuzenpulli, die schwarze Baseballkappe mit dem Logo der Giants tief ins Gesicht gezogen. Sie wirkte ärmlich, vielleicht kam sie von der Straße und wollte sich hier aufwärmen oder war eine der vielen Ausreißerinnen, die sich ein neues Leben in einer anderen Stadt erhofften.
Niemand wirkte auffällig oder schien ihn zu beobachten, also begann er, sich langsam zu entspannen. Seufzend fuhr er sich mit der flachen Hand über den Nacken. Vielleicht hatte sein Vorgesetzter recht und er hätte nicht schon kurz nach seinem Krankenhausaufenthalt zurückkehren sollen. Wenn es nach Wallace ging, sollte sich Adam ein paar Wochen freinehmen, am besten an irgendeinem einsamen Strand in der Südsee und dann gesund, aber vor allem ohne Rachegedanken zurückkommen. Sein überarbeiteter Körper könnte den Urlaub gut gebrauchen, aber er gönnte sich keine Pause. Er würde durchdrehen, wenn er seine Gedanken und Erinnerungen nicht in Arbeit ersticken konnte. In Arbeit und jeder Menge Kaffee.
Cindy kehrte an seinen Tisch zurück und stellte ihm eine Tasse mit der dampfenden Flüssigkeit hin. Als sie ihn mit süßer Stimme nach weiteren Wünschen fragte, lehnte er dankend ab.
Adam nippte gerade an dem dunklen Gebräu, als die Tür aufging und eine zweite Kellnerin hereinkam. Als Erstes nahm er ihre Beine wahr. Verboten lange Beine, für die der gelbe Rock ihrer Uniform eindeutig zu kurz war. Dann registrierte er die Kratzer an ihren schlanken Armen und runzelte die Stirn. Entweder hatte sie eine sehr lebhafte Katze zu Hause oder sie steckte in Schwierigkeiten. Vielleicht auch beides.
Er trank einen weiteren Schluck, ohne den Blick von dem Neuankömmling mit den verlockend femininen Kurven abzuwenden.
Ihre Bewegungen wirkten geschmeidig, wenn auch fahrig. Irgendwie gehetzt. Sie ging zum Tresen und fragte nach Ernie. Die Antwort konnte Adam nicht verstehen, dafür sah er genau, wie sich die Brünette nachdenklich mit dem kleinen Finger über die Unterlippe strich. Die Geste hatte etwas so Vertrautes, dass sich unweigerlich alles in ihm zusammenzog. Als ob sie gespürt hätte, dass er sie beobachtete, drehte sie den Kopf und sah in seine Richtung.
Plötzlich brannte der Kaffee in Adams Rachen und ein Hustenanfall schüttelte ihn. Heiße Tropfen landeten auf seiner Hand und dem Tisch, als er die Tasse so kräftig abstellte, dass etwas von dem Getränk überschwappte. Er registrierte es kaum. Mit rasendem Herzschlag beobachtete er, wie die Kellnerin sich abwandte und hinter einer grauen Tür verschwand, während ihre Kollegin mit einem Tuch herbeigeeilt kam.
Adam ignorierte sie und sprang auf. Mit dem Handrücken wischte er sich über den Mund und kämpfte gegen den letzten Hustenreiz an, den Blick unverwandt auf die schwingende Tür gerichtet, die in die Küche führte.
Sie hatte ihn nicht erkannt. Die Feststellung traf ihn härter als gedacht. Wieder und wieder spulten seine Gedanken denselben Satz wie eine gesprungene Schallplatte ab.
Sie hatte ihn nicht erkannt.
Wie konnte das sein? Erinnerte sie sich nicht an ihn? Wollte sie sich nicht erinnern? Oder war das hier nur eines ihrer Spielchen? Eine weitere Lüge? Eine neue Tarnung? Doch selbst mit dunklen Haaren und in diesem schäbigen Kellnerinnen-Outfit erkannte er sie, so wie er sie immer und überall wiedererkannt hätte.
Valerie.
Söldnerin. Lügnerin. Mörderin.
Und seine Ex-Freundin.
Mindestens drei geprellte Rippen. Eher vier. Ein faustgroßer Bluterguss.
Kratzer auf den Armen, an den Händen. Blutverkrustete Knöchel.
Eine aufgeplatzte Unterlippe.
Kleine Narbe am rechten Knie. Vielleicht ein paar Monate alt.
Schnittwunde an der Augenbraue, links.
Immer wieder sagte sie sich die Verletzungen auf, die sie an sich entdeckt hatte.
Vor achtundvierzig Stunden hatte ihr Leben neu begonnen – oder ihre persönliche Hölle. Vermutlich kam das auf die Sichtweise an. Aber egal, ob sie sich als Optimistin versuchte und sich einredete, dass die Erinnerungen ganz sicher zurückkommen würden oder als Pessimistin, die insgeheim wusste, dass diese Männer noch immer hinter ihr her waren. An den Tatsachen änderte das nichts: Ihr fehlten weiterhin jegliche Erinnerungen an ihr früheres Leben. Verdammt, sie wusste ja nicht einmal mehr ihren eigenen Namen.
Vier geprellte Rippen. Faustgroßer Bluterguss. Narbe am Knie …
Sie murmelte die Worte vor sich hin und rief sie sich selbst dann noch in Erinnerung, wenn ihre Augen vor Erschöpfung zufielen. Als sie kurze Zeit später aus einem albtraumhaften Schlaf hochschreckte, war dieses Mantra das Erste, woran sie dachte. Ein Anker in einer Welt voller Dunkelheit, voller Leere. Einer Welt ohne Erinnerung. Ohne Vergangenheit.
Wenn man nichts mehr über sich selbst und sein Leben wusste, waren es die kleinen Dinge, an die man sich klammerte.
Sie hatte gelogen, sogar gestohlen, um an saubere Kleidung, etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf zu kommen. All das hatte sie mit derselben Selbstverständlichkeit und Ruhe getan, mit der sie Travis auf der Fahrt nach San Francisco getäuscht hatte. Travis, der jetzt tot war. Als ob es ihre zweite Natur wäre, anderen Menschen etwas vorzumachen.
Bei jeder Bewegung scheuerte die Hundemarke über ihre Haut, als würde sie diese eine Lügnerin strafen. Eine Betrügerin. Obwohl sich das Stück Metall falsch auf ihrem Körper anfühlte, hatte sie es nicht abgenommen, da es der einzige Hinweis auf ihre Vergangenheit war. Eine Marke wie Soldaten sie trugen. Eine Marke, die nicht zu ihr gehörte.
Sie war keine Soldatin. Sie hieß nicht Jessica Neville. Selbst als sie in einem Internetcafé nach dem Namen recherchiert hatte, war ihr nichts bekannt vorgekommen. Die Fotos zeigten Fremde und die Ergebnisse führten zu allen möglichen Menschen, nur nicht zu ihr. Allein beim Klang des Namens schrie ihr Instinkt auf und alles in ihr wehrte sich dagegen. Aber wenn sie nicht Jessica Neville, die Soldatin auf der Flucht, war, wer war sie dann?
Kratzer an den Armen. Aufgerissene Fingerknöchel. Schnittwunde an der Augenbraue, links …
Diese Dinge waren das Einzige, was sie mit absoluter Bestimmtheit wusste. Sie hielt sich daran fest, als ob ihr diese simplen Tatsachen das Gedächtnis zurückbringen konnten.
Aber das taten sie nicht.
Zehn Minuten zu früh für den Schichtwechsel betrat sie Ernie’s Diner. Sie hatte es keine Sekunde länger in dem winzigen Apartment ausgehalten, das ihr einziger Zufluchtsort geworden war. Aber sobald die Nacht sich auf die Stadt herabsenkte, kehrte die Erschöpfung zurück und mit ihr der Sekundenschlaf – und die Albträume. Sie wollte die Augen nicht schließen, denn das bedeutete keine Erholung für sie, kein Aufatmen, keine Flucht. Sie konnte sich vor den Männern verstecken, die sie jagten, aber nicht vor sich selbst.
Im Diner saßen nur eine Handvoll Leute, von denen kaum jemand aufblickte, als sie zum Tresen hinüberging und ihre Kollegin Cindy nach Ernie fragte. Diese schüttelte den Kopf. Anscheinend war ihr Chef noch nicht da, dabei brauchte sie dringend die vereinbarte Vorauszahlung. Allein vom Trinkgeld konnte sie das Apartment nicht bezahlen.
Seufzend fuhr sie sich mit dem kleinen Finger über die aufgeplatzte Unterlippe. Die Wunde schmerzte noch immer, aber das Brennen erinnerte sie daran, dass sie keine leere Hülle ohne Vergangenheit, sondern am Leben war – was auch immer das für ein Leben sein mochte.
Ein Prickeln in ihrem Nacken ließ sie erstarren. Langsam wanderte es ihren Rücken hinunter und hinterließ ein unruhiges Summen auf ihrer Haut.
Mit Blicken suchte sie das spärlich besuchte Diner ab und blieb an einem Mann im Anzug hängen. Er saß in der hintersten Ecke und passte überhaupt nicht hierher. Seine Krawatte hing schief und die kurzen braunen Haare waren verstrubbelt, als wäre er mehrmals mit der Hand hindurchgefahren. Er schien groß zu sein, war unrasiert und hatte stechend braune Augen. Augen, die sie geradezu anstarrten, während er an seiner Tasse nippte – und sich gleich darauf verschluckte.
Ein beklemmendes Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Mit klopfendem Herzen wandte sie sich ab und ging in die Küche. Sie versuchte sich einzureden, dass der Fremde sie nur derart intensiv angesehen hatte, weil sie eben hereingekommen war, nicht, weil er zu jenen gehörte, die sie verfolgten. Nicht jeder Mann, der ihr begegnete, wollte sie umbringen.
Aber noch während sie sich diese Worte wie ein Mantra vorsagte, griffen ihre Finger nach einem Küchenmesser und ließen es in die Tasche ihrer Schürze gleiten. Dann schnappte sie sich ein Tuch, um mit der Arbeit zu beginnen. Lautlos schob sie die Tür auf. Sie wollte nicht hinsehen, aber als ihr Blick auf die hintere Ecke im Diner fiel, war von dem Fremden nichts mehr zu sehen. Die Luft, die sie unbewusst angehalten hatte, entwich ihrer Lunge mit einem erleichterten Seufzen. Sie hatte es sich bloß eingebildet. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie noch paranoid werden.
»Hallo, Valerie.«
Die tiefe Stimme ließ sie erstarren. Langsam drehte sie sich um und sah in das Gesicht des Anzugträgers. Durch seine Größe wirkte er aus der Nähe sogar noch einschüchternder. Dunkle Ringe lagen unter seinen braunen Augen, die sie mit solch unverhohlenem Zorn musterten, dass sie unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Soviel dazu, dass nicht jeder Mann sie umbringen wollte.
»Oder nennst du dich jetzt Jennifer?«, wollte er mit einem herablassenden Blick auf das Namensschild an ihrer Arbeitskleidung wissen. Dass sie vor ihm zurückschreckte, schien ihn nur noch wütender zu machen, denn jetzt setzte er sich in Bewegung und kam Schritt für Schritt auf sie zu. »Ganz schön mutig von dir, wieder in Frisco aufzutauchen. Oder sollte ich sagen – dumm?«
»Ich …« Sie stieß mit dem Rücken gegen den Tresen, direkt neben der Kühltheke mit den Kuchen und den aufgetürmten Menükarten. Ihre Finger zuckten, und ihr fiel das Küchenmesser in ihrer Tasche wieder ein. Schön, dass sie sich überhaupt mal an etwas erinnerte. »Sie müssen mich verwechseln …«
»Bullshit!«, unterbrach er sie und wischte ihren Einwand mit einer herrischen Geste beiseite. »Dachtest du wirklich, du könntest wieder hier auftauchen und so tun, als wäre nichts gewesen?« Zu ihrem Entsetzen zog er ein Paar Handschellen unter seinem schwarzen Jackett hervor.
Der Anblick der metallenen Fesseln schien einen Schalter in ihrem Kopf umzulegen, denn ehe sie sich versah, schlossen sich ihre Finger um den Messergriff. Der Fremde bemerkte die Bewegung und seine Augen weiteten sich für einen Sekundenbruchteil.
Dann reagierte er schneller, als sie blinzeln konnte.
Er packte ihr rechtes Handgelenk und schlug es hart gegen die Kühltheke. Schmerz durchzuckte sie, aber sie ließ das Messer nicht los. Mit der anderen Hand versuchte sie, den Mann wegzudrücken, aber er schien sich in eine Wand aus Muskeln verwandelt zu haben, die keinen Zentimeter zurückwich. Er presste sie gegen den Tresen, dann drückte er ihren linken Arm gegen ihre Seite, bis sie bewegungsunfähig war. Ein zweites Mal krachte ihre Hand gegen die Vitrine und ließ einen Riss im Glas zurück. Klirrend landete das Messer auf dem Boden.
Irgendwo schrie eine Frau auf. Cindy. Ihre schrille Stimme drang durch das Rauschen in ihren Ohren und durchbrach ihren Schockzustand. Sie ballte die Hand zur Faust und riss den freien Arm hoch. Ihr Ellbogen prallte hart gegen den Kiefer des Angreifers. Sein Kopf schnellte zurück. Die unerwartete Gegenwehr lockerte seinen Griff um ihre Taille. Sie nutzte das Überraschungsmoment, um ihn von sich zu stoßen. Aber anstatt wegzulaufen, holte sie von einem tödlichen Instinkt getrieben aus. Ihre Faust krachte zielgenau in den Solarplexus des Mannes. Sie sah noch, wie alles Blut aus seinem Gesicht wich, bevor er sich vor Schmerz krümmte.
Die plötzliche Stille im Diner wurde nur durch ihre schwere Atmung unterbrochen. Alle starrten sie an. Niemand wagte es, auch nur einen Muskel zu rühren.
Sie musste hier raus. Sie war nicht mehr sicher, war es vielleicht nie gewesen.
Sie setzte sich in Bewegung und flüchtete nach draußen. Erst als die Tür mit einem verstörenden Klingeln hinter ihr zuknallte, begann sie zu rennen.
Autos hupten und Reifen quietschten, als sie über die Straße hetzte, ohne sich nach links und rechts umzusehen. Wieder und wieder spielte sich die Szene im Diner vor ihrem inneren Auge ab. Der fremde Mann und die Art, wie er sie angesehen, wie er sie genannt hatte. Valerie.
Was hatte sie Schreckliches getan, um eine solche Wut, eine solche Attacke zu verdienen? Sie schloss ihre Finger um das Handgelenk, das er gegen das Glas geschlagen hatte. Noch spürte sie nichts, aber in ein paar Stunden, wenn das Adrenalin in ihrem Körper nachließ, würde die Sache anders aussehen. Mit Schmerzen kannte sie sich aus.
Ziellos irrte sie durch die Straßen, schlug Haken und nahm im Vorbeigehen eine Jacke vom Aushang eines Kleidungsgeschäfts mit, um die verräterische Uniform darunter zu verbergen. Wenige Schritte darauf folgte eine Mütze, unter der sie ihr Haar versteckte. Sie ging so selbstverständlich weiter, als hätte sie nicht soeben etwas gestohlen.