Inhalt

Vorwort

Marie

1. Kapitel

Leeres Nest oder endlich Ruhe ?

Im Tal der Tränen

Leeres Nest und Hotel Mama sind zwei Seiten derselben Medaille

Kinder weg, Krise da ?

Immer länger im Elternhaus

Eltern und Kinder  : Freunde fürs Leben

Die blöden Alten von einst

Die digitale Nabelschnur

Zimmer frei

Marie

2. Kapitel

Wie Liebeskummer, nur schlimmer

Aus lauter Liebe

Als wär's ein Teil von mir …

Wie die Eltern-Monde heute um die Kinder-Planeten kreisen

Wir brauchen die Kinder, um uns gebraucht zu fühlen

Mein Kind, mein Partner ?

Kinder sind (keine) Freunde

Marie

3. Kapitel

Ihr Kinderlein, bleibt doch !

Verhandeln bis der Arzt kommt …

Nur nicht unbeliebt machen …

Eltern kommt von älter  !

Vom Generationenkonflikt zum Generationenneid

Jugendlichkeit als Lifestyle-Produkt

Digitale Placebos und ihre Nebenwirkungen

Gleiche Augenhöhe – in Sichtweite

Marie

4. Kapitel

Empty Nesters  : Im Fadenkreuz der Marktforschung

Jungalt, altjung

Geld und Gefühl

Konsumgewohnheiten ersetzen Altersgrenzen

Alt ? Ich doch nicht !

Gönnt euch was

Noch einmal mit Gefühl  : Geld regiert auch in der Familienwelt

Marie

5. Kapitel

Machen Kinder glücklich ?

Mein Ein und Alles

Pubertät macht (Eltern) krank

Illusionen sind dringend notwendig

Altruismus oder Austausch ?

Kinderkult und Elternschelte

Marie

6. Kapitel

Vermessung der Lage

Vom Konfliktherd über den Kuschelkurs …

… zum Klammerblues

Wann sind Kinder eigentlich erwachsen ?

Erwachsen werdende Menschen  : Tore fallen in der Nachspielzeit

Zwischen den Stühlen

Wie geht das eigentlich bei den Tieren ?

Tierische Muttersöhnchen Gastbeitrag von Dr. Mario Ludwig

7. Kapitel

Leerstelle Kinderzimmer

Von der Keimzelle zum Saustall

Horror vacui oder Zimmer frei ?

Im eigenen Haus oder zur Miete wohnen

Fifty ways to leave your room

Zimmer mit Aussicht

Marie

8. Kapitel

Betreutes Studieren

Familienprojekt Studium

Von der Alma Mater zur Alma Mama ?

Helikopter-Verdacht jetzt auch im Hochschulgebäude

Elternfreie Zonen

Eltern-Engagement von der Wiege bis zur Bahre …

Marie

9. Kapitel

Nesthocker im Schlepptau

Mehrgenerationenurlaub liegt im Trend

Urlaub ohne Nesthocker im Schlepptau

Marie

10. Kapitel

Die Reiferoute führt nach Down Under

Arbeiten und reisen

Ein modernes Must  : das Auslandsjahr

Reisen bildet …

Marie

11. Kapitel

Nicht weit vom Stamm

Hotel, Motel, Hostel Mama ?

WG mit meinen Eltern ?

Wer wohnt wie mit wem und warum ?

Unter einem Dach

Die Generationenbeziehungen sind intakt

Elternliebe  : serve and protect forever ?

Abnabelung geht heute anders …

Marie

12. Kapitel

Alles auf Anfang

Von Margarine zu Magenta

Wir gucken sie klein, um uns selbst groß zu fühlen

Unterwegs im Spiegelkabinett

Was alles passieren kann !

Selten so harmonisch wie ausgemalt

Abschiedsschmerz ist nicht nur für die Eltern reserviert und Aufbruchsfreude nicht nur für die Kinder !

Raus aus dem Klammerblues  : Mein Tanzbereich, dein Tanzbereich.

So viel Anfang war nie

Marie

Verwendete und zitierte Literatur

Vorwort

Dass ich gerade sehr viel nachzudenken hätte und gerne mal ausführlich darüber schreiben wollte, warum der Auszug der Kinder aus dem Elternhaus heute so ein großes, einschneidendes Erlebnis für die Eltern sei und nicht wenige in eine tiefe Krise stürze, und wie es eigentlich kommt, dass Eltern und Kinder heute so eng miteinander sind, erzählte ich dem sprechenden Bildschirm vor mir, auf dem meine Tochter Marie herumwackelte. Zwischen uns knisterten und rauschten etwa 24 000 Kilometer. Am anderen Ende der Welt hatte sie sich mit ihrem Handy auf die Stufen der geschlossenen Bibliothek gehockt und ans Internet gekuschelt, wie sie sagte, denn das sei in Neuseeland längst nicht überall zu haben. Um ihre Schultern hatte sie eine wärmende Wolldecke gelegt, denn an ihrem Ende der Welt war Winter. In einem kleinen Anflug von Triumph schilderte ich ihr die Plagen des heißen Sommers in Berlin. Sie unterbrach mich. »Du willst also darüber schreiben, wie traurig die Mütter sind, wenn die Kinder ausziehen.« – »Na ja«, murmelte ich, »also es bringt ja auch viele neue Chancen, wenn das Haus wieder leer ist. Viele Mütter freuen sich wie verrückt, wenn sie endlich aus der Verantwortung entlassen sind«, log ich. In Wahrheit kannte ich keine einzige. »Klar«, gab Marie ungerührt zurück. »Die Mütter sind die Verantwortung los, weil sie das alles an uns abgegeben haben.« Wie das denn  ? »Hast du überhaupt eine Ahnung, wie viele von den Leuten, die ich hier treffe, die Verantwortung für ihre Eltern übernehmen ? Irgendwie denkt ihr immer nur an euch  ! Wir sind nämlich auch traurig und verwirrt und manchmal haben wir Angst vor dem, was kommt. Darüber solltest du mal schreiben. Oder ich.«

Diese vor Unternehmungslust, Gesundheit, jugendlicher Schönheit und unermesslicher Energie strotzenden und über alles geliebten Kinder, denen die Welt zu Füßen zu liegen scheint, die noch so viele Jahrzehnte vor sich haben und mehr Gelegenheiten, alles auszuprobieren, als unsereins, traurig ? Worüber denn um Himmels willen ?

»Du hast echt keine Ahnung«, bemerkte Marie freundlich. »Wie das ist, wenn man als Backpacker unterwegs ist und sich dauernd fragt, wie die Eltern zu Hause ohne einen klarkommen. Oder dass die Mütter niemanden mehr haben, bei dem sie sich ausweinen können. Oder die Väter plötzlich neue Freundinnen haben.«

So kam die Idee in die Welt, wehte durch unsere Gespräche und begann Wurzeln zu schlagen wie ein Birkensamen auf einem maroden Balkon. Unbekümmert überwand das Pflänzchen meinen Widerstand und wuchs fröhlich vor sich hin  : Zu den paar Freuden, die ich nicht mit meinen vier Kindern teile, gehört meine Arbeit. Wer so viele Jahre wie ich mit meinungsstarken Teenagern im Haushalt verbracht hat, kann der Versuchung gemeinsamen Schreibens ganz gut widerstehen. Und doch  : Wie wäre es, wenn Marie in jedem Kapitel, das ich längst zu schreiben begonnen hatte, am Ende auf fünf, sechs Seiten ihre Sicht der Dinge aufschreiben würde ? Und zwar ohne meinen Text zu kennen, schlug sie vor, denn das würde sie zu sehr beeinflussen. Es würde genügen, wenn ich ihr in ein paar Stichworten sagen würde, worum es in meinem Kapitel ging, meinte sie, damit sie die Dinge vielleicht ergänzen und von der anderen Seite beleuchten könnte. Ob sie mir auch widersprechen dürfte, wollte sie noch wissen.

Wir wechselten viele Worte in den nächsten Monaten. E-Mails, Briefe, Telefonate – ein Austausch von Gedanken über Gott, die Welt und das Buch. »Du bist meine beste Freundin«, seufzte sie mehr als einmal, wenn ich geduldig zugehört hatte. Zu groß war meine Freude über diese Beförderung, meine Skepsis habe ich einfach heruntergeschluckt. Mütter und Töchter sind genau das, aber keine Freundinnen – das alte Mantra hatte ich plötzlich und gern vergessen.

Man muss sich voneinander entfernen, bevor man aufeinander zugehen kann  : Die große räumliche Entfernung zwischen ihr und mir erlaubte auf einmal auch eine vorher nicht gekannte gedankliche Nähe, die dem späteren Schreiben dieses Buches den Boden bereitet hat – einer doppelten Perspektive auf das emotionale Epizentrum der Generation ziemlich beste Freunde.

Nein, wir sind nicht die Gilmore Girls von Berlin-Schöneberg und wollen das auch gar nicht sein, oder ?

Danke, Marie !

Marie

Ich muss zugeben, dass ich mir jahrelang gewünscht habe, die Gilmore Girls von Berlin-Schöneberg zu sein, denn keiner hat mich so bestärkt, ermutigt und verstanden wie meine Mutter. Bei keinem meiner Freunde habe ich mich so gut aufgehoben und verstanden gefühlt wie bei meiner Mutter ; dass mit so einer Nähe auch ein extremes Verantwortungsgefühl mitschwingt, mit dem ich nicht umgehen konnte, merkte ich in den folgenden Jahren. Was ich allerdings nicht wusste und erst im Laufe meiner Reise feststellte   : wie viel wunderbarer und tiefer eine Beziehung sein kann, wenn das gegenseitige Verantwortungsgefühl in den Hintergrund rückt. Wenn man an zwei verschiedenen Orten der Welt plötzlich bemerkt, wie viel mehr man sich zu sagen hat, sobald der übliche Mutter-Tochter-Rahmen zerfällt und ähnliche Charakterzüge und gleiche Gewohnheiten und Interessen den neuen, festeren Rahmen schreinern. Ohne diese Weite hätte ich die wahre Nähe zu meiner Mutter niemals kennengelernt und ich hoffe, in diesem Buch nicht nur für sie die richtigen Worte dafür gefunden zu haben. Ich wünsche mir mittlerweile nicht mehr, ein Gilmore Girl zu sein, denn in dieser Serie wird jegliche Nähe zwischen Mutter und Tochter auf deren geringen Altersabstand reduziert. Dieses Beispiel ist nicht tief gehend genug, weil es nur unzureichend das vielseitige und meistens harmonische Duett skizziert, das Mütter und Töchter bilden können, wenn sie die Einseitigkeit des Familienlebens mit all seinen Regeln hinter sich lassen.

1. Kapitel

Leeres Nest oder endlich Ruhe ?

Der Witz geht so   : Drei Rabbis debattieren über die Frage, wann genau das Leben beginnt. Mit der Zeugung, dem Moment der Verschmelzung von Ei und Samenzelle, betont der Erste. Wenn das Kind auf die Welt kommt, hält der Zweite dagegen. Der Dritte überlegt noch etwas länger, dann sagt er  : Das Leben beginnt, wenn die Kinder aus dem Haus sind und der Hund tot ist.

Das ist natürlich überhaupt nicht lustig. Je nachdem, wie viel Mutterfreude man sich gegönnt hat, leert sich das Nest abrupt oder schleichend. Doch eines Tages ist es so weit  : Die einst turbulente Wohnung wirkt gespenstisch still. Rund zwanzig Jahre lang drehte sich alles mehr oder weniger um die Kinder. Und dann gehen sie ihrer Wege, ziehen vielleicht sogar in eine andere Stadt. Worüber sollen wir Eltern nun reden, wenn nicht über die Kinder ? Statistisch gesehen werden die meisten Ehen geschieden, wenn die Kinder kommen – und wenn die Kinder gehen.

Experten nennen es das »Empty-Nest-Syndrom«, das leere Nest. Es beschreibt die Trauer der Eltern, wenn die Kinder flügge werden. Viele Mütter und manche Väter leiden unter Schlaflosigkeit und Unruhe, in schweren Fällen verursacht das leere Nest sogar Lebenskrisen bis zur Depression. Doch der Auszug der Kinder birgt auch ganz neue Chancen  : sich als Paar neu erleben, große Reisen unternehmen und die fernen Orte aufsuchen, an denen die großen Kinder längst waren, beruflich durchstarten, schlummernde Träume wecken – eben all die Dinge tun, auf die man wegen der Kinder jahrzehntelang verzichtet hat.

Dass man Kinder nicht kriegt, um sie zu behalten, sondern um sie eines Tages in ihr eigenes Leben aufbrechen zu lassen, ist natürlich allen Müttern klar. Doch die Freude darüber, endlich entbehrlich geworden zu sein, will sich oft nicht einstellen. Mit dem Auszug der Kinder beginnt eine schwierige Zeit für die Mütter, weiß Bettina Teubert aus ihrer Arbeit als Heilpraktikerin und Familientherapeutin, aber auch aus eigener Erfahrung. Ihre beiden Kinder sind erwachsen, die Tochter zog vor vier Jahren, der Sohn vor drei Jahren aus. »Als sie da mit dem gepackten Anhänger stand und weinte, musste ich mich schwer zusammenreißen, um nicht auch in Tränen auszubrechen.« Es muss ja nicht so schlimm kommen wie bei einer Freundin, die ihr anvertraute  : »Ich bin ein halbes Jahr im Wald herumgelaufen und hatte Selbstmordgedanken. Aber mit so ’nem Scheiß belastet man doch keinen.«

In Deutschland ist es eher unüblich, über die Trennung von den erwachsenen Kindern und den Zustand der Leere, wenn sie das Haus verlassen haben, allzu offen zu sprechen. Anderswo gibt es Gesprächskreise, Workshops und Seminare, im Internet gibt es ein paar versprengte Blogs und Foren für Eltern, die sich auf ihre neue Rolle einstimmen wollen. Amerika hat’s da schon besser  : Übergänge in neue Lebensabschnitte geraten dort schon unter den hungrigen Augen der Konsumindustrie routiniert zu Anlässen für Partys, die die Anschaffung von Gegenständen erforderlich machen – von »Baby Shower« bis »Spring Break« und längst haben auch die Empty Nester ihre Devotionalien  : Tassen, Thermoskannen, Taschen und T-Shirts mit Aufdrucken, Autoaufkleber, Buttons mit Aufschriften wie »Midlife-Boulevard« oder »Find adventure« – die ganze Maschinerie kommerzieller Aufbereitung beim Start in die neue Lebensphase läuft auf Hochtouren. Doch auch hierzulande geraten die Eltern über 45 und ohne minderjährige Kinder im Haushalt immer stärker ins Visier werblicher Aufmerksamkeiten. Die Empty Nester als Zielgruppe werden längst genauestens vermessen. Schließlich haben sie alles zu bieten, was Marketing schön macht  : Geld, Zeit, Lust – und das für viele Jahre. Das macht die Empty Nester zur Zielgruppe mit der zweitgrößten Konsumneigung, direkt nach den Dinks, den kinderlosen Doppelverdienern (double income no kids).

Im Tal der Tränen

Wir können in Wenn-das-Kind-auszieht-Ratgebern stöbern, uns der besten Freundin anvertrauen, im Internet nach fachlicher Unterstützung suchen und das Thema ansonsten eher meiden – aus Furcht, belächelt zu werden, weil es sich anfühlt wie Liebeskummer, nur schlimmer. Das Kind ist weg, die gemeinsame Zeit unwiderruflich vorbei. Doch im Gegensatz sogar zum allerschlimmsten Liebeskummer, der irgendwann abklingt, wird es nach einer Zeit der Trauer kein neues eigenes Kind geben, das den Platz des alten einnimmt.

Dass offen darüber geredet werden muss, wie Frauen zwischen 40 und 60 Jahren den Übergang von der aktiven zur passiven Mutterschaft bewältigen, fand Bettina Teubert wichtig und hat vor einem Jahr in Berlin Deutschlands erste und bislang einzige Selbsthilfegruppe für verlassene Mütter ins Leben gerufen, die Empty Nest Moms (Enmoms). Die Frauenrunde hier am Tisch freut sich schon mächtig auf Weihnachten – und das schon Monate vorher ! Denn an Heiligabend werden alle Kinder wieder zu Hause sein. Weihnachten ist Wiedersehen. »Da fallen wir dann alle wieder ins Mutterloch«, spottet Bettina Teubert liebevoll, »kochen und wirbeln, und alle spielen für ein paar Tage die alten Rollen.« Die Mütter, die sich in den Räumen des Frauenvereins »Eulalia Eigensinn« in Berlin-Spandau versammelt haben, nicken. »Und dann ist die Wohnung wieder leer«, sagt eine und seufzt. »Wenn sie länger blieben, würde es aber auch schwierig werden«, wirft Bettina Teubert ein.

Nur hinter vorgehaltener Hand, unsicher und voller Selbstzweifel wagten Mütter, ihren Schmerz zuzugeben, hat Bettina Teubert beobachtet. Sie fürchteten, einen Makel zu offenbaren, wenn sie ehrlich darüber sprächen, wie sie sich im leeren Nest fühlten. Sie wollen stark wirken, auch wenn sie sehr trauern. Der verwirrend wabernde deutsche Mutter-Mythos nimmt aber auch die an die Kandare, die nicht sehr trauern. »Ich habe doch keine Kinder in die Welt gesetzt, um sie bis zu meinem Ende zu bemuttern«, schreibt eine Mutter in einem Internetforum und nimmt den Vorwurf vorweg: »Ich muss wohl eine Rabenmutter sein, aber ich empfinde es nicht als schmerzhaft, wenn die Kinder ausziehen.«

Ob am Boden zerstört bleibend oder nur ein paar Wochen lang niedergeschlagen und sich dann nüchtern-pragmatisch in die neuen Lebensumstände findend oder vielleicht auch jubelnd über wiedergewonnene Freiheiten – den Auszug der Kinder umweht ein Schmerz, der heute viele Mütter durchaus auf ihren eigenen verschlungenen Wegen durchs Tal der Tränen schickt.

Leeres Nest und Hotel Mama sind zwei Seiten derselben Medaille

Aber über die unterschiedlichen Leidenswege hinaus wirken große gesellschaftliche Veränderungen auf das sehr private Geschehen ein, die den Abschiedsschmerz noch zusätzlich befeuern, aber auch lindern können, in jedem Fall aber relativieren. Das leere Nest und das sprichwörtliche Hotel Mama, von erwachsenen Nesthockern belegt, zeigen sich als zwei Seiten derselben Medaille. Wie sich im Detail die Ablösung von Eltern und Kindern vollzieht und welchen Kräften dieser Prozess gehorcht, ist immer auch in den Hintergrund des jeweiligen Zeitgeistes eingebettet. Dass sich noch nie zwei Generationen so nahestanden wie heute, hat nicht nur mit klammernden Eltern oder bequemlichen Kindern auf lebenslangem Kuschelkurs zu tun. Veränderte Rollenbilder, ein gewandelter Erziehungsstil, der grassierende Jugendwahnsinn oder die Herausforderungen des digitalen Wandels stellen Eltern und Kinder heute vor ganz neue Herausforderungen. Wie im Zerrspiegel liegen ihre Bedürfnisse und Wünsche in marketingstrategischen Überlegungen zur ökonomischen Verwertbarkeit dieser heiklen Lebensphase nackt und bloß. Aber auch die verstörenden Botschaften eines höchst widersprüchlichen Mutterbildes und wohlfeil gewordenen Eltern-Bashings orchestrieren das individuelle Empfinden und setzen eigene Akzente. Der Erwartung, die Abnabelung der Kinder ohne größere Einbrüche zu schaffen, steht eine andere gegenüber, die ebenfalls Druckpotenzial entfaltet. »Für meine Kinder tue ich alles« oder »Wenn es um meine Kinder geht, kenne ich nichts !« und »Meine Kinder kommen immer zuerst !« sind Sätze, mit denen sich Eltern gern offenbaren  : Sich für seine Kinder aufopfern zu müssen, ist ein universeller Glaubenssatz im Eltern-Dogma, der längst zum Bekenntnis gereift ist. Wie man sich früher fragte (und vom Pfarrer fragen lassen musste), ob man ein guter Christ sei, fragt man sich heute, ob man eine gute Mutter, ein guter Vater ist. Dabei ist nicht abschließend geklärt, was gute von schlechten Eltern unterscheidet. Doch wen fragen wir überhaupt ? Die Kinder ? Ist ihr Lebenserfolg oder ihre Liebe zu uns der Pokal der guten Elternschaft, den sie uns überreichen ? Was all die Jahre täglich als bohrende Frage wiederkehrte, steht mit dem Auszug der Kinder erneut und mit enormer Wucht zur Debatte. Anders gesagt  : Wenn die Kinder früh und gerne ausziehen, hat dann die Mutter alles richtig oder alles falsch gemacht ? Wenn sie lieber noch daheim bleiben wollen und sich pudelwohl unter Mutters Fittichen fühlen – dieselbe Frage.

Seit wir uns angewöhnt haben zu glauben, dass gezielte Handlungen von Erwachsenen die Entwicklung der Kinder positiv oder negativ beeinflussen, steht die Frage im Raum, wie Eltern eigentlich sein müssen, um ihre Aufgabe gut zu erfüllen. Die Ansicht, das Kind sei mehr oder weniger das Produkt seiner Eltern, hat deren Status gehoben und gleichzeitig erniedrigt, weil sie zur Zielscheibe von Expertise geworden sind. Kinder sollen die Kompetenz ihrer Eltern belegen  : Das Verhalten eines Kindes, seine Fähigkeiten, sein Wesen und seine Intelligenz dienen als Zeugnis über Fähigkeiten und Fehler seiner Eltern. Für Tugenden wie Gelassenheit ist die Luft dabei immer dünner geworden. Mittlerweile ist Elternschaft zu einem festen Bestandteil des Selbstbildes geworden, die Elternrolle prägt die Persönlichkeit. »Für mich zählen nur meine Kinder« beschreibt deshalb mehr als die große emotionale Bedeutung, die Kinder für das Leben ihrer Eltern nun mal haben. Es drückt eine Selbstdefinition aus  : Es kommt nicht allein darauf an, dass es dem Kind gut geht, sondern dass es uns zu guten Eltern macht. So heilen wir in unseren Kindern eigene Verletzungen, befriedigen eigene unerfüllte Wünsche und verwirklichen eigene ungelebte Träume. Und wir entwickeln ein großes Stück Identität über die Kinder. Früher ging man davon aus, dass Eltern ihre Entwicklung im Großen und Ganzen abgeschlossen haben. Heute wollen wir mit unseren Kindern weiter wachsen und wähnen uns beide in einem Entwicklungsprozess befindlich. Indem wir Kinder großziehen, ziehen wir uns selbst groß. Auch aus dieser Quelle speist sich der Wunsch, den Kindern nahe sein zu wollen – wie auch der Schmerz, wenn sie gehen. »Für mich gibt es nichts Wichtigeres als meine Kinder« ist auch eine Möglichkeit zu sagen, dass wir Mitglieder im Club der guten Eltern sind.

Besonders Mütter stünden allerdings unter Druck, das alles nebenher zu erledigen, sagt Bettina Teubert. Im Bekanntenkreis reagiere man unterschiedlich auf die Traurigkeit der Mütter. Manche mitfühlend und verständnisvoll. Viele auch irritiert. Das sei doch normal und gut so, dass Kinder ausziehen. Ist es ja auch, doch bevor man die neuen Freiheiten richtig genießen könne, müsse man eben erst mal durch eine schwere Zeit. Zweimal im Monat treffen sich jetzt Mütter in der Selbsthilfegruppe, um sich über die neue Lebenssituation auszutauschen. »Super hier. Wie Krabbelgruppe ohne Kinder«, habe eine mal gesagt, und eine andere freute sich darüber, »endlich mal wieder über die Kinder reden zu können«.

»Es ist toll, Frauen in meiner Situation zu treffen, die gerne Mütter sind, darüber kann man ja auch sonst nicht offen sprechen«, sagt Gabi, deren Tochter schon mit 19 Jahren das Nest verließ, um mit ihrem Freund zusammenzuziehen und zu studieren, und zwar in Frankfurt/Oder, nicht in Berlin. »Das hat sie absichtlich so eingerichtet«, vermutet Gabi, »denn hätte sie hier studiert, hätte ich sie wohl nicht so einfach gehen lassen.« Das ist jetzt fünf Jahre her und die Traurigkeit ist Gabi noch immer anzumerken. Sie wird wohl bald wieder größer werden  : Wenn ihre jüngste Tochter, die jetzt fünfzehn ist, ausziehen wird. »Davor graut mir jetzt schon und meinem Mann auch.«

Nur wenige Dinge erschüttern eine Mutter nachhaltiger als die Erkenntnis, dass es ein Leben ohne Kinder gibt. Sogar ein heimlich herbeigesehnter oder gefürchteter, am Ende tränenlos und rundum vernünftiger Abschied, egal ob kalt erwischt oder lange vorbereitet, kann sie völlig am Boden zerstören. »Ein halbes oder sogar ein ganzes Jahr kann das dauern«, weiß Bettina Teubert. »Viele finden sich dann zu zweit, gehen zum Sport oder ins Theater und knüpfen Kontakte zu anderen Frauen.« Zum Beispiel über die Selbsthilfegruppe. »Wir machen jedes Mal eine ausführliche Runde, wo’s gerade drückt, und finden sehr schnell ein Thema, das alle verbindet.« Sie würde sich freuen, wenn sich noch mehr Frauen trauen würden. Die Online-Resonanz auf ihre Website sei riesig. »30 bis 40 Anfragen pro Woche«, sagt sie und liest die E-Mail einer Mutter vor, die stellvertretend für viele steht  : »Ich weine viel und bin tief traurig. Als verlassene Mutter habe ich eine Identitätskrise, denn es ist, als sei ein Bestandteil von mir entfernt worden. Ich fühle mich absolut nicht wohl in meiner Haut, bin appetitlos, antriebslos, lustlos, machtlos, kriege zeitweilig kaum Luft und Kapazitäten für andere Personen habe ich kaum noch.«

Kinder weg, Krise da ?

Das Empty-Nest-Syndrom beschreibt eine Krise, doch manchmal kann es auch die Tür für eine echte Depression öffnen. Dazu müssten dann aber noch andere Faktoren kommen, sagt Bettina Teubert. »Dieses andere Ding taucht dann nämlich auf«, sagt sie, »plötzlich fühlt man sich alt, nutzlos und nicht mehr gebraucht.« Der Auszug der Kinder fällt oft in eine Lebensphase, in der alles auf einmal kommt  : Pensionierung, Wechseljahre, der Tod der eigenen Eltern. Wie kommt man da gut über die Runden ?

»Sich neue, sinnstiftende Beschäftigungsfelder suchen. Darüber nachdenken  : Was ist mir jetzt, in dieser neuen Lebensphase, wirklich wichtig? Was wollte ich schon immer tun, was ich bisher stets aufgeschoben habe ? Und wie hindere ich mich daran, das jetzt zu tun ?«, rät der Kölner Psychotherapeut Peter Groß, der sich seit Jahren mit den Krisen seiner Klienten in der Lebensmitte befasst. »Sicher hat man’s lieber nacheinander. Aber so ist das Leben. Jede Umbruchsituation ist eine Herausforderung. Eine oder zwei verträgt man vielleicht noch ganz gut, aber wenn es mehr werden und einen vielleicht auch noch der Mann verlässt oder die Eltern sterben, wird’s schon mal schwierig, muss man sich ein bisschen zurücknehmen und nicht auf allen Hochzeiten tanzen. Da gibt’s Wege, die Kräfte einzuteilen.«

Auch bei Jutta traten berufliche Belastungen zur Loslösung der Söhne dazu. Als auch der zweite Sohn ausgezogen war, hielt sie dem Stress am Arbeitsplatz nicht mehr stand und verfiel in eine tiefe Depression. Heute bezieht sie Erwerbsunfähigkeitsrente und hat sich zur Tagesmutter ausbilden lassen – eine Arbeit, »bei der ich wieder aufgeblüht bin«, lacht sie, »es ist doch schön, gebraucht zu werden«. Ganz ohne Angst, ein Frauenbild zu vermitteln, bei dem die Frau ihren einzigen Lebenssinn in der Aufzucht der Kinder findet, spricht sie von der Freude, Mutter zu sein, und der Traurigkeit darüber, dass die heiße Phase vorüber ist.

»Früher wurden wir fürs Loslassen mit Enkelkindern belohnt«, formuliert Bettina Teubert eine steile These, »das ist heute nicht mehr in jedem Fall so.« Jutta konnte die Belohnung allerdings bereits einstreichen. »Ich habe schon ein Enkelkind bekommen«, sagt sie und schaut mit blitzenden Augen in die Runde, »aber dann ist mein Sohn nach Norwegen ausgewandert.« Da hilft jetzt nur die Technik. Skypen mit Kamera, das ist doch schon fast wie ein Gespräch. Nur knuddeln kann man noch nicht übers Internet. »Die Kleine fehlt mir schon sehr«, sagt Jutta, »aber wir haben uns schon fünfmal in diesem Jahr besucht.«

Enkelkinder, ja, das wär’s – da sind die Mütter sich einig. Doch man weiß ja nicht, wie die Kinder sich entscheiden. »Wenn bei meiner Tochter mit 35 noch nichts passiert ist, fange ich an zu drängeln«, lacht Bettina Teubert den Ernst dieser Ankündigung weg und alle anderen lachen mit. Doch vorerst gelte es, an der guten Beziehung zu den Kindern zu arbeiten. »Kinder brauchen die Trennung, um dann wieder Nähe zuzulassen«, sagt Bettina Teubert. »Heute haben meine Kinder und ich ein neues, aber sehr enges und partnerschaftliches Verhältnis.« Auch Jutta schwebt eher Freundschaft vor, wenn sie an die Beziehung zu ihren erwachsenen Söhnen denkt, in der auch sie lernen musste, sich zurückzuhalten. Es sei wichtig, dass man seine Meinung sage, wenn man gefragt werde, aber nicht versuche, sie zu bevormunden. Gabi stimmt ein. »Ich unterbreche mich im Satz, wenn ich sagen will, hast du schon … oder warum machst du nicht …« Die ständige Angst davor, sich zu sehr einzumischen, betonen alle Mütter hier. »Damit verjagt man sie«, sagt Jutta, »und das will man ja nicht.«

Immer länger im Elternhaus

Ganz loslassen, so scheint es, will heute niemand mehr so richtig. Eltern bleiben immer Eltern, Kinder immer Kinder – die Unauflöslichkeit der Konstellation schimmert auch in den Hoffnungen der Eltern auf ein freundschaftliches und enges Verhältnis mit den erwachsenen Kindern durch. Ein gewisser Unwille der Kinder, auf eigenen Füßen zu stehen, lässt sich auch am durchschnittlichen Alter ablesen, in dem die Kinder das Nest verlassen  : Zogen 1970 noch etwa um den 20. Geburtstag herum die Kinder aus, hat sich das Ereignis heute bei etwa der Hälfte aller jungen Erwachsenen um fast zehn Jahre nach hinten verschoben – wobei junge Frauen den Schritt in die Unabhängigkeit zwei Jahre früher gehen als junge Männer. In Deutschland leben etwa dreißig Prozent der 25- bis 34-Jährigen noch bei ihren Eltern, zwei Drittel davon sind Söhne. Das Phänomen, dass Kinder immer länger bei ihren Eltern wohnen oder wieder zu ihnen zurückkehren, ist nicht neu. Längere Ausbildungszeiten, wirtschaftliche Erfordernisse und was mehr man für diese Entwicklung verantwortlich machen will, mag dahingestellt sein. Neu aber ist, dass sich zwischen Kindern und ihren Eltern etwas Grundlegendes verändert hat  : Noch nie waren zwei Generationen so nah beieinander. Eltern und Kinder können heutzutage rund 50 bis 60 Jahre gemeinsam erleben, den größeren Teil davon als Erwachsene. Sie halten nicht nur engen Kontakt, sondern fühlen sich auch eng verbunden – zwei, manchmal sogar drei Generationen, die den Modus ziemlich bester Freundschaft untereinander pflegen, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Auch wenn die Eltern ihre Beziehung zu den Kindern oft enger einschätzen als umgekehrt, »auch für den Nachwuchs rangiert die Beziehung zu den eigenen Eltern in ihrer emotionalen Bedeutsamkeit gleichauf oder sogar höher als die zu guten Freunden. Getoppt wird sie lediglich von der Beziehung zur Partnerin oder zum Partner oder zum eigenen Kind.« Dies ist das Ergebnis einer Fragebogenstudie, die an den Universitäten von Jena und Paderborn die Qualität der Beziehungen zwischen 25- bis 45-jährigen Erwachsenen und ihren Eltern erkundet. »Wie ist es mit Abgrenzung und Verbundenheit im Erwachsenenalter bestellt ?«, fragten die Wissenschaftler um die Psychologieprofessorin Heike Buhl und fanden ein positives Bild  : »Erwachsene Kinder wünschen sich zu den Eltern eine symmetrische Beziehung – jedoch nicht in allen Bereichen. So sehen Erwachsene ihre Eltern weiterhin gerne als sicheren Hafen und als Ratgeber.«

Eltern und Kinder  : Freunde fürs Leben

Freundschaft zu pflegen ist das erklärte Ziel vieler Eltern, die Nähe soll aufrechterhalten werden, auch wenn man sich räumlich trennt. Nach wie vor wohnt nur ein kleiner Anteil junger Erwachsener weiter als eine Stunde vom Elternhaus entfernt, heißt es beim Deutschen Jugendinstitut in München. Aber Eltern und Kinder sind auch bei Facebook befreundet, tägliche Telefonate zwischen Müttern und Töchtern sind keine Ausnahme, sondern die Regel. Das gegenseitige Festhalten ist offenbar zur Norm geworden, und das macht die Trennung heute auch so knifflig, verglichen mit den Auszügen früherer Generationen aus dem Elternhaus. Nicht im Traum wäre mir eingefallen, mit meiner Mutter in die Sauna, ins Kino oder zum Pilates-Kurs zu gehen. Beim Gedanken, dass sie mit mir zur Studienberatung hätte gehen wollen und mich dann auch in der Erstsemester-Einführungswoche begleitet hätte, falle ich noch rückwärtig tot um. Heute machen die das alles ! Niemals hätte ich mir Klamotten von ihr geborgt oder wäre gar im reifen Alter von 16 Jahren noch mit meinen Eltern in den Urlaub gefahren. Nur eine Generation zuvor war es eine Unabhängigkeitserklärung zu sagen, ach, Ferienhaus in Dänemark ? Lass mal gut sein, ich will mit zwei Freunden nach Portugal trampen.

Auch mein Bruder hätte unseren Vater nur zuerst verständnislos und dann mitleidig angeschaut, wenn der ihn zu einem Angelwochenende oder einem Konzertbesuch bei den »Toten Hosen« eingeladen hätte. Aber meine Geschwister, ich und alle unsere Freunde und Freundinnen von damals hätten uns auch niemals dazugesetzt, wenn die Freunde unserer Eltern abends auf ein Bier vorbeischauten, und wir hätten uns die Ohren zugehalten, wenn Mama oder Papa unseren Rat in ihren Ehestreitigkeiten erfragt hätten, geschweige denn, dass wir unsere Herzensangelegenheiten mit den Eltern besprochen hätten. Dafür hatten wir Freunde !

Die blöden Alten von einst

Wir fanden an unseren Eltern alles schlimm  : wie sie sich kleideten, welche Musik sie hörten, mit welchen Möbeln sie sich umgaben, welche Bilder an ihren Wänden hingen, wen sie wählten, wie sie feierten und welche Ansichten über Politik sie kundtaten. Da gab es keine Überschneidung und schon gar keine gemeinsamen Interessen. Und die waren auch nicht gewollt, beiderseits. Was immer man darüber denken mag – die Abnabelung von den Eltern, die wir erlebt haben, ging glatter, weil die Grenzen klar gezogen und die Fronten abgesteckt waren. Es ist auch leichter, sich von einer harten Wand abzustoßen als von einem weichen Kissen.

Nichts wie weg. Nach der Devise haben wohl die meisten Eltern der Kinder von heute damals den Auszug gestaltet, sobald die Schule ein Ende hatte. Danach sah man sich häufig monatelang nicht – hin und wieder gab es Telefonate, die pflichtbewusst erledigt wurden. Weihnachtsbesuche, die absolviert wurden. Aber sonst ? Der Sprung ins eigene Leben war spannend und ließ Heimweh erst gar nicht aufkommen, das Ende der nervtötenden Bevormundung war ein Grund zu feiern.

Die digitale Nabelschnur

Nestflucht geht heute anders und nicht nur später als früher vonstatten. Ausgezogen wird noch immer analog, aber dank der digitalen Zaubermedien bleiben wir zusammen. Trennung light statt Abschieds-Leid  : Kam früher die Tochter auf einen Schwatz am Schreibtisch vorbei, meldet sie heute per Skype Gesprächsbedarf an. Aus Neuseeland ! Wie schön, dich zu sehen, mein Schatz ! Geht’s dir gut ? Und dann entschuldigt sie sich als Erstes, dass sie sich jetzt schon seit vier Tagen ( !) nicht gemeldet hat. Unterwegs sei sie gewesen, ohne WiFi. »Aber«, sie räuspert sich, »könntest du meine Online-Bewerbung um den Medizinstudienplatz abschicken ? Heute noch ?« Sie hat das Passwort vergessen und ihr ist so, als würde da bald eine Frist ablaufen … »Klar, mein Schatz«, sage ich wie ferngesteuert und schlucke den anderen Satz herunter, den meine Mutter mit Sicherheit gesagt hätte  : Das ist doch deine Sache ! Nur kurz wundere ich mich einmal mehr über meine Verwandlung von einer Person in eine Präsenz, die das Füttern auf Verlangen der ersten Monate klaglos noch ins dritte Lebensjahrzehnt ihrer Babys ausdehnt.

Stolpersteine beim Selbstständigwerden hätten wir früher experimentell gelöst und ungefragt ratschlagende Mütter selbstbewusst und etwas gelangweilt abgewimmelt. Fragen wie die, wie man die beste Hausratversicherung ermittelt, Kaffeeflecken aus Bettdecken rauskriegt und welche Zutaten noch mal für einen Marmorkuchen gebraucht werden, beantworte ich heute mit dem linken Daumen, per SMS und jederzeit. Andere Mütter halten es ebenso. Wie die Kollegin, deren Handy während einer Besprechung fiept. Sie entschuldigt sich, schaut auf das Display, lächelt plötzlich weich. »Meine Tochter. Da muss ich rangehen.« Bald stellt sich heraus, dass die 20-jährige Tochter am nächsten Tag auf Reisen gehen will und dafür gern Mamas schicken Koffer hätte. Klar, nickt die Mutter und setzt wenig später entschuldigend in die Runde hinzu  : »Bevor sie gar nichts mehr von mir braucht.«

Dank der digitalen Medien bleiben meine Kinder und ich zusammen, während wir uns voneinander entfernen. Und simsen, skypen, whatsappen, mailen täglich. Dass es in Bangkok heiß ist und stinkt, erfahre ich von der reisenden Tochter per WhatsApp. Und antworte, dass es in Berlin kalt ist und regnet. Da stellt sich doch die Frage, was das eigentlich soll ? Unwillkürlich frage ich mich, wie es wohl der Mama von Columbus ergangen sein mag. Monatelang hat sie nichts von ihrem kleinen Cristóbal gehört. Ob ihr darüber das Herz gebrochen ist ? Vielleicht hat sie sich auch in Hoffnung und Zuversicht geübt, still um den guten Ausgang des Abenteuers gebetet, das Schicksal ihres Jungen in die Hände des Herrn gelegt und sich ergeben ihren eigenen Belangen gewidmet.

Wir hingegen nuscheln hin und wieder etwas von Funklöchern, leeren Akkus und schwachem WiFi, um dem sanften Terror der immerwährenden Erreichbarkeit ein paar kostbare Momente lang zu entgehen – und zwar beiderseits.

Man könnte meinen, dass, wenn beide Seiten, also Eltern und Kinder, sich in dieser engen Konstellation am wohlsten fühlen, doch alles bestens sei. Aber kann Selbstständigkeit ohne Eigenständigkeit gelingen ? Die Verbindung halten und sich gleichzeitig abnabeln ist eine schwierige Aufgabe und gleicht der, den Bus zu schieben, in dem man sitzt. Das kann auch für die Kinder zum Problem werden. Höheres Heiratsalter, längere Ausbildungszeiten, finanzielle Gründe hin oder her – könnte es auch sein, dass all diese großen und vielen alleinerzogenen Kinder im Nest verharren, weil sie sich mehr oder weniger verantwortlich fühlen für das Wohlergehen ihrer Mütter ?

Zimmer frei

Hat das Ausziehen nicht auch sein Gutes ? Wenn die Kinder erst einmal weg sind, hat man mehr Geld, mehr Zeit und mehr Platz. »Das habe ich auch versucht, mir einzureden«, sagt Gabi leise und die anderen Frauen in der Runde nicken still. »Der Arbeit, meiner Leidenschaft«, sagt Bettina Teubert fröhlich, »kann ich jetzt mehr Zeit widmen.« Eines der leeren Kinderzimmer bewohnt sie jetzt. »Es ist meins. Dorthin kann ich mich zum Lesen zurückziehen und da kann ich auch mal einfach alles rumliegen lassen.«

Und auch andere Mütter, außerhalb der Selbsthilfegruppe, sehen das so. Die Erste kichert etwas Altmodisches von dem attraktiven möblierten Herrn, den sie sich zuzulegen gedenkt. Die Nächste hat allen Familienballast abgeworfen, sagt sie, sich freigeschwommen und ist im Begriff, eine schicke Penthousewohnung mit zweieinhalb Zimmern für sich allein zu beziehen. Eine andere plant, sich neu zu verlieben. Bei Elternpaaren ausgezogener Kinder gestaltet sich die räumliche Herausforderung, die Leerstelle mit neuem Leben zu füllen, nicht weniger heikel. »Mütter lassen gerne alles so, wie’s ist, und stellen Gläser mit Sand und getrockneten Hortensien in das verwaiste Kinderzimmer, das dann zu ihrem Rückzugsort wird«, sagt eine Freundin. Eine andere berichtet von Vätern, die flugs den Billard-Tisch oder den Crosstrainer ins leere Kinderzimmer gestellt haben. Dann erzählt sie von ihren eigenen jüngeren Geschwistern, die damals im Elternhaus jedes leer werdende Zimmer einfach besetzten und bewohnten. »Wir nannten sie nur die Kammerjäger.«

Bündig fasst sie zusammen  : Die erste Frage ist, wem gehört das Zimmer, Mutter oder Vater ? Der Konflikt ist da, wenn das Kind zurückkommen will. »Nach einer Party, einfach zum Ausruhen oder nach einer gescheiterten Beziehung«, sagt sie, »und wenn es dann wieder in sein altes Zimmer will.« Hm, vielleicht ist das genau das Problem. Wenn die Leerstelle gefüllt ist, gibt’s keinen Platz mehr für das Kind, dem wir bislang den größten Platz in unserem Leben eingeräumt haben. Und das doch so gerne !

Hin- und hergerissen zwischen Veränderungs- und Beharrungskräften steht das leere Kinderzimmer als Chiffre für den Stand der Auseinandersetzung mit der Realität. Die gemeinsame Familienzeit unter einem Dach mit überquellenden Kinderzimmern ist vorbei. Soll man also weiter die Kräfte im inneren Widerstand gegen das Unabänderliche verschleißen oder hinnehmen, was nicht zu ändern ist, und den Rest der Wirklichkeit nach eigenen Wünschen gestalten ?

Doch was ist die Realität zwischen den Generationen heute ? Was sind das für äußere Einflüsse, die eine nie da gewesene Nähe zwischen Eltern und Kindern schaffen und den Abnabelungsprozess heute so heikel gestalten ? Welche Zuflüsse lassen den Strom der Freundschaft heute so anschwellen, wo sich früher Eltern und Kinder auf verschiedenen Seiten des Flusses gegenüberstanden ? Beginnen wir mit der viel beschworenen Liebe, die heute das Feld beherrscht …