Platon: Protagoras
Übersetzt von Franz Susemihl
Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.
Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:
Raffael, Die Schule von Athen (Detail)
ISBN 978-3-8430-9355-2
Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:
ISBN 978-3-8430-7849-8 (Broschiert)
ISBN 978-3-8430-7871-9 (Gebunden)
Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.
Entstanden etwa zwischen 399 und 393 v. Chr. Erstdruck (in lateinischer Übersetzung durch Marsilio Ficino) in: Opera, Florenz o. J. (ca. 1482/84). Erstdruck des griechischen Originals in: Hapanta ta tu Platônos, herausgegeben von M. Musoros, Venedig 1513. Erste deutsche Übersetzung durch Johann Friedrich Kleuker in: Werke, Band 3, Lemgo 1783. Der Text folgt der Übersetzung durch Franz Susemihl von 1856.
Der Text dieser Ausgabe folgt:
Platon: Sämtliche Werke. Berlin: Lambert Schneider, [1940].
Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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In der Erzählung des Sokrates treten auf:
Sokrates · Hippokrates · Protagoras · Alkibiades · Kallias · Kritias · Prodikos · Hippias
Der Freund: Ei, Sokrates, woher kommst du denn? Oder was frage ich? Sicherlich von der Jagd auf die Reize des Alkibiades. Und in der Tat, als ich ihn nur erst neulich sah, schien er mir doch immer ein schöner Mann zu sein, aber doch schon ein Mann, lieber Sokrates, unter uns gesagt, mit bereits ziemlich vollem Bartwuchse.
Sokrates: Was verschlägt denn das? Bist du denn wirklich nicht mit dem Homeros einverstanden, der da sagte, daß die Zeit der reizendsten Jugendblüte die des ersten kräftigen Bartwuchses sei, in welcher eben jetzt sich Alkibiades befindet?
Der Freund: Nun, wie steht es also damit? Kommst du von ihm? Und wie ist der junge Mann gegen dich gesinnt?
Sokrates: Ich denke, gut, und zumal an dem heutigen Tage. Sprach er doch vieles zu meinen Gunsten und leistete mir Beistand, und so komme ich auch eben erst von ihm. Etwas Seltsames jedoch muß ich dir berichten. Trotz seiner Anwesenheit nämlich schenkte ich ihm doch gar keine Aufmerksamkeit, ja, ich dachte oft gar nicht an ihn.
Der Freund: Was kann denn so Wichtiges mit dir und ihm vorgegangen sein? Denn schwerlich bist du doch wohl auf einen anderen, schöneren Mann getroffen, wenigstens nicht hier in der Stadt.
Sokrates: Doch, und noch dazu auf einen viel schöneren.
Der Freund: Das wäre! Aus der Stadt oder aus der Fremde?
Sokrates: Aus der Fremde.
Der Freund: Woher denn?
Sokrates: Aus Abdera.
Der Freund: Und so schön dünkte dich der Fremde zu sein, daß er dir noch schöner als des Kleinias Sohn erschien?
[57] Sokrates: Wie hätte mir denn nicht, mein Guter, das Weisere auch als das Schönere erscheinen sollen?
Der Freund: Also von einer Zusammenkunft mit einem weisen Mann kommst du uns her, lieber Sokrates?
Sokrates: Und zwar mit dem weisesten sogar, wenigstens unter den Jetztlebenden, wenn dir anders Protagoras dafür gilt.
Der Freund: Was du sagst! Protagoras ist bei uns eingezogen?
Sokrates: Es ist heute schon der dritte Tag.
Der Freund: Und eben also bist du mit ihm beisammen gewesen?
Sokrates: Jawohl, und ich habe viel mit ihm gesprochen und seinen Reden zugehört.
Der Freund: So erzähle uns denn schnell diese Unterhaltung wieder, wenn dich anders nichts davon abhält! Komm, setze dich hier zu uns und laß jenen Burschen da aufstehen!
Sokrates: Recht gern, ich werde es euch sogar noch Dank wissen, wenn ihr zuhören wollt.
Der Freund: Wahrlich auch wir dir, wenn du erzählen willst.
Sokrates: Da wäre also der Dank beiderseitig. So höret denn!
In dieser vergangenen Nacht, als kaum der Morgen graute, klopfte Hippokrates, der Sohn des Apollodoros, Phasons Bruder, gar heftig mit dem Stocke an meine Türe, und sobald man ihm aufgemacht hatte, stürzte er sofort zu mir herein und rief mit lauter Stimme: Sokrates, wachst du oder schläfst du?
Ich aber, der ich seine Stimme erkannte, erwiderte: Das ist Hippokrates! Du bringst doch wohl keine schlimmen Neuigkeiten?
Keineswegs, versetzte er, sondern nur gute.
Mögest du wahr sprechen! sagte ich. Was gibt es aber und warum kommst du schon so früh?
Protagoras ist angekommen, antwortete er, indem er zu mir herantrat.
Schon vorgestern, entgegnete ich, und du hast es erst eben erfahren?
Ja, bei den Göttern, versetzte er, erst gestern abend. Und dabei tastete er nach dem Bettgestell, setzte sich zu meinen Füßen und fuhr fort: Freilich erst gestern abend, weil ich nämlich erst ganz spät aus Oinoë zurückkehrte. Denn mein Sklave, der[58] Satyros, war mir entlaufen, und ich hatte denn auch die Absicht, dir zu sagen, daß ich ihm nachsetzen wollte, vergaß es aber über einer anderen Besorgung. Als ich nun zurückgekehrt war und wir zu Abend gegessen hatten und uns zur Ruhe begeben wollten, da sagt mir mein Bruder, Protagoras sei angekommen. Da hatte ich denn nicht übel Lust, noch sogleich zu dir zu gehen: hinterher aber schien es mir doch schon allzu spät in der Nacht zu sein. Sobald mich aber nach einer solchen Anstrengung der Schlaf nur verlassen hatte, stand ich sofort auf und machte mich hierher auf den Weg.
Ich nun, der ich sein heftiges und ungestümes Wesen kenne, fragte ihn darauf: Was verschlägt denn das dir? Hat dir Protagoras etwas zu Leide getan?
Da lachte er und sagte: Ja, bei den Göttern, Sokrates, daß er allein weise ist und mich nicht dazu macht!
O doch, beim Zeus, entgegnete ich, wenn du ihm Geld und gute Worte gibst, wird er auch dich weise machen.
Möchte es doch, rief er aus, o Zeus und ihr Götter, nur daran liegen, so wollte ich weder mit meinem eigenen Vermögen irgendwie kargen, noch auch mit dem meiner Freunde. Abei gerade deswegen komme ich eben jetzt zu dir, um dich zu bitten, meinetwegen mit ihm zu sprechen. Denn ich selber bin teils noch zu jung, teils habe ich den Protagoras niemals weder gesehen noch gehört: denn ich war noch ein Kind, als er das vorige Mal sich hier aufhielt. Aber alle, mein Sokrates, loben ja den Mann und schreiben ihm die höchste Gewandtheit der Rede zu. Laß uns denn also gleich zu ihm gehen, damit wir ihn zu Hause treffen; er wohnt aber, wie ich gehört habe, bei Kallias, dem Sohne des Hipponikos. Auf, laß uns gehen!
Ich aber wandte ein: Noch nicht, mein Guter, denn es ist noch zu früh: sondern hier in den Hof wollen wir hinabgehen und dort so lange umherwandeln, bis es Tag wird; dann ist es Zeit. Überdies hält sich ja Protagoras meistens zu Hause auf, so daß wir ihn aller Wahrscheinlichkeit nach auch dort antreffen werden; sei deshalb unbesorgt!
Und damit erhoben wir uns und wandelten im Hofe herum. Ich aber, um die Beharrlichkeit des Hippokrates zu erproben, faßte ihn scharf ins Auge und fragte ihn: Sage mir, Hippokrates, zum Protagoras hast du jetzt vor zu gehen, um ihm Geld[59] für seinen dir zu erteilenden Unterricht als Ehrensold zu bezahlen: was denkst du denn dabei in ihm zu finden und was durch ihn zu werden? Wenn du nämlich zum Beispiel zu deinem Namensvetter, dem Hippokrates aus Kos, dem Asklepiaden, gehen und ihm Lehrgeld für dich bezahlen wolltest und nun jemand dich fragte: »Sage mir, Hippokrates, was denkst du denn in dem Hippokrates zu finden, wofür du ihm Lehrgeld zahlen willst?« – was würdest du dann wohl antworten?
Ich würde sagen, erwiderte er, »einen Arzt«.
Und um was zu werden?
Ein Arzt, sprach er.
Wenn du aber zum Argeier Polykleitos oder zum Athener Pheidias zu gehen und ihnen Lehrgeld für dich zu zahlen gedächtest, und es fragte dich jemand: »Für was gelten dir Polykleitos und Pheidias, daß du ihnen diese Geldsumme zu zahlen im Sinne hast?« – was würdest du wohl antworten?
Da würde ich sagen: »für Bildhauer«.
Und was gedenkst du selber bei ihnen zu werden?
Offenbar ein Bildhauer.
Gut, sagte ich. Nun aber gehen wir beide jetzt zum Protagoras und sind bereit, ihm das Lehrgeld für dich zu bezahlen, indem wir unser eigenes Vermögen, wenn es anders dazu ausreicht und wir ihn damit zu gewinnen imstande sind, wo aber nicht, auch noch das unserer Freunde mit darauf verwenden. Wenn nun jemand uns, da wir so eifrig hierauf aus sind, fragte: »Sagt mir doch, Sokrates und Hippokrates, für was haltet ihr denn den Protagoras, daß ihr willens seid, ihm Geld zu bezahlen?« -was würden wir ihm wohl antworten? Mit was für einem Namen hören wir den Protagoras sonst noch bezeichnen, wie den Pheidias als einen Bildhauer und den Homeros als einen Dichter? Was für einen Namen dieser Art hören wir dem Protagoras geben?
Einen Sophisten, lieber Sokrates, nennen ja die Leute den Mann, erwiderte er.
Als einem Sophisten also wollen wir ihm Lehrgeld zahlen?
Allerdings.
Wenn dir nun aber jemand auch noch die weitere Frage vorlegte: »Um was denn selber zu werden gehst du zum Protagoras?« – – –[60]
Da errötete er – denn der Tag brach schon etwas hindurch, so daß man es deutlich an ihm bemerken konnte – und sprach: Wenn es sich damit irgendwie ebenso wie mit den vorigen Beispielen verhält, offenbar, um ein Sophist zu werden.
Du aber, fuhr ich fort, bei den Göttern, würdest dich nicht schämen, vor den Hellenen dich selber als einen Sophisten hinzustellen?
Ja, beim Zeus, Sokrates, wenn ich doch sagen soll, was ich denke.
Aber vielleicht, mein Hippokrates, erwartest du auch gar nicht, daß deine Unterweisung beim Protagoras von dieser Art sein soll, sondern ähnlich wie sie dir von deinem Elementarlehrer, deinem Musiklehrer und deinem Turnlehrer zuteil ward. Denn alle diese Gegenstände lerntest du nicht zum Zwecke ihrer gewerbsmäßigen Ausübung, um einst selber als Meister in ihnen aufzutreten, sondern zum Zwecke deiner Bildung, wie es sich für einen freien Mann geziemt, welcher ganz aus eigenen Mitteln und seinen eigenen Zwecken lebt.
Allerdings, antwortete er, scheint mir die Unterweisung beim Protagoras mehr von dieser Art zu sein.
Weißt du denn nun, was du jetzt zu tun im Begriffe bist, oder entgeht es dir? sagte ich.
Inwiefern?
Daß du im Begriffe bist, deine Seele zur Pflege einem Manne anzuvertrauen, den du einen Sophisten nennst, während es doch mich wundern sollte, wenn du weißt, was denn eigentlich ein Sophist ist. Und doch, wenn dir dies unbekannt ist, weißt du auch nicht, wem du deine Seele übergibst, noch ob zu etwas Gutem oder Schlechtem.
Das glaube ich wenigstens, entgegnete er, denn doch zu wissen.
So sprich: Was denkst du dir denn unter einem Sophisten?
Ich meinesteils, versetzte er, wie dies der Name besagt, einen Mann, der im Besitze von Kenntnissen ist.
Aber ganz dasselbe, wandte ich ein, kann man ja auch von Malern und Baumeistern sagen, daß sie Leute sind, welche Kenntnisse besitzen; und wenn uns daher jemand fragte; »Worauf erstrecken sich denn die Kenntnisse, welche die Maler besitzen?« – so würden wir ihm wohl erwidern: »Auf alles,[61] was dazu erforderlich ist, um Gemälde zu schaffen« und ähnlich verhält es sich auch mit allen anderen Fällen. Wenn uns nun jemand ebenso fragte: »Auf was erstrecken sich denn die Kenntnisse eines Sophisten?« – was mögen wir ihm dann antworten? Was für ein Werk versteht ein solcher zu schaffen?
Was für ein anderes Werk sollten wir ihm zuschreiben, lieber Sokrates, als daß er sich darauf verstehe, Leute heranzubilden, welche geübt im Reden sind?
Vielleicht, erwiderte ich, würden wir uns damit richtig ausdrücken, aber doch nicht erschöpfend; denn diese unsere Antwort macht eine neue Frage nötig, nämlich was denn der Gegenstand der Reden ist, in welchen der Sophist geübt macht, gleichwie der Zitherspieler doch wohl über eben denselben Gegenstand auch zu reden geübt macht, dessen Kunde er überhaupt mitteilt, nämlich über das Zitherspiel. Nicht wahr?
Ja.
Gut; also der Sophist – im Reden worüber macht er denn geübt? Offenbar im Reden über das, worauf er sich auch versteht?
Natürlich.
Was für ein Gegenstand ist es denn also, dessen der Sophist sowohl selber kundig ist, als auch dessen er seinen Schüler kundig macht?
Beim Zeus, versetzte er, das weiß ich dir nicht weiter zu sagen.
Und ich sagte darauf: Wie nun? Weißt du, welcher Gefahr du deine Seele auszusetzen auf dem Wege bist? Oder würdest du, wenn du deinen Körper jemandem anvertrauen solltest, auf die Gefahr hin, daß derselbe dabei gedeihe oder verderbe, es nicht reiflich zuvor überlegen, ob du ihn ihm auch anvertrauen dürfest oder nicht, und deine Freunde und Anverwandten dabei zu Rate ziehen und ganze Tage lang die Sache in Erwägung nehmen? Was du aber höher anschlägst als den Körper, und von dessen Gedeihen oder Verderben dein ganzes Wohl und Wehe abhängt, ich meine deine Seele, – hierüber hast du dich weder mit deinem Vater noch mit deinem Bruder noch mit irgend einem von uns, deinen Freunden, beraten, ob du nämlich sie diesem gerade herzukommenden Fremdlinge anvertrauen dürftest oder nicht; sondern kaum hast du gestern abend, wie du selber sagst, von seiner Ankunft gehört, da kommst du schon heute in aller Frühe und verlierst kein Wort[62] noch verlangst Rat darüber, ob du dich ihm anvertrauen sollest oder nicht, sondern bist bereit, dein und deiner Freunde Vermögen daran zu wenden, als wärest du darüber schon im klaren, daß du dich jedenfalls dem Protagoras anschließen müssest, da du doch nach deiner eigenen Aussage ihn weder kennst noch jemals mit ihm gesprochen hast, sondern ihn nur als einen Sophisten zu bezeichnen weißt, dabei aber darüber, was ein Sophist eigentlich ist, eine offenbare Unkenntnis an den Tag legst, und dich doch ohne weiteres einem solchen anzuvertrauen gedenkst.
Als er das vernommen, gab er zu: So scheint es allerdings, lieber Sokrates, nach deiner Erörterung zu stehen. Ist nun nicht, Hippokrates, der Sophist eine Art Großhändler oder Krämer mit solchen Waren, welche der Seele zur Nahrung dienen?
Mir scheint er ein solcher zu sein.
Was dient aber, fuhr ich fort, der Seele zur Nahrung?
Kenntnisse doch wohl, lieber Sokrates.
Nun, daß da nur nicht, lieber Freund, der Sophist durch Anpreisung dessen, was er verkauft, uns betrüge, wie die Großhändler und Krämer mit Nahrungsmitteln für den Leib! Denn auch diese wissen schwerlich weder selbst etwas davon, was von den Waren, die sie führen, heilsam oder schädlich für den Körper ist, preisen aber doch alles beim Verkaufe an, noch auch wissen die etwas davon, welche von ihnen kaufen, es müßte denn der Käufer gerade ein Turnlehrer oder ein Arzt sein. Ebenso nun preisen auch diejenigen, welche mit ihren Kenntnissen von Stadt zu Stadt umherziehen, um diese einem jeden, welcher gerade nach ihnen Begehr trägt, im großen zu verhandeln und im kleinen zu verhökern, ihm alles an, was sie feilbieten, und leicht möchten auch von diesen, mein Bester, manche nicht wissen, was von ihren Handelsartikeln heilsam oder schädlich für die Seele ist, und ebensowenig ihre Abnehmer, wenn nicht auch hier wieder einer von ihnen gerade ein Seelenarzt ist. Verstehst du dich also gerade darauf, was davon heilsam und schädlich ist, so kannst du ohne Gefahr Kenntnisse vom Protagoras so gut wie von jedem anderen einkaufen: wenn aber nicht, dann siehe dich vor, mein Bester, daß du nicht dein Teuerstes auf das Spiel setzest und gefährdest! Denn weit[63]