Heinrich Hansjakob: Der Vogt auf Mühlstein. Eine Erzählung aus dem Schwarzwald
Neuausgabe.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.
Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:
Wilhelm Hasemann, Pfarrer Heinrich Hansjakob, undatiert
ISBN 978-3-7437-0718-4
Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:
ISBN 978-3-7437-0620-0 (Broschiert)
ISBN 978-3-7437-0689-7 (Gebunden)
Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.
Erstdruck in: »Schneeballen. Neue Folge«, Heidelberg, Weiss, 1892.
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Zwei Stunden unterhalb meiner Vaterstadt Hasle mündet in das Tal der Kinzig das des Harmersbachs, ein Waldtal, das fast bis zu seiner Mündung rechts und links hohe, langgestreckte Tannenberge begleiten, an deren Gehängen stolze Bauernhöfe zerstreut liegen.
Tal und Bach tragen ihren Namen von einem fränkischen Adeligen Hademar, in dessen Besitz einst beide gewesen sind.
Einer der höchstgelegenen Höfe auf der rechten Seite des Harmersbaches in der Mitte seines Tales ist das große Bauerngut »auf Mühlstein«. Ein enges Seitentälchen führt hinauf zu diesem Hof.
Mühlen gibt's dort oben keine, kaum so viel Rieselwasser von der nahen Bergspitze herab, daß Mensch und Vieh sich tränken können, auch keine Steine, die zu Mühlsteinen sich eignen. Wohl aber stand dort oben unfern des heutigen Hofes einst, wie das Volk jetzt noch erzählt, ein »Schloß«. Und in dem Schloß saß vor alten Zeiten ein alemannischer freier Mann, dem die leibeigen gewordenen Keltenbauern drunten im kleinen Tale dienstbar waren, und denen er wie seinen Stammesgenossen an der Malstätte, die ein großer Stein bezeichnete, Recht sprach. Ans dem Malstein haben die Bauern späterer Jahrhunderte den ihnen mundgerechteren »Mühlstein« gemacht.
Im 4. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung waren die Alemannen den Rhein hinaufgedrungen, hatten die Römer verjagt und die Kelten zu Knechten gemacht oder in die tiefsten Täler der Gebirge zurückgetrieben.
Soweit es schön war und fruchtbar, setzten sich die Eroberer selbst nieder. Und schön ist's im Kinzigtal und in seinem großen Seitentale, dem Harmersbacher, erst recht schön aber oben auf dem Mühlstein.
Nicht gar lange saßen die Alemannen als Herren im Kinzigtal, als ein Stärkerer über sie kam in Gestalt fränkischer Herzoge.
Der Frankenherzog Arnulf, ein Enkel Pipins von Heristal, brachte um das Jahr 712 diesen Teil Alemanniens unter seine Herrschaft, und es mag von da ab ein fränkischer Edelmann auf jener Höhe gesessen sein und auf Mühlstein Recht gesprochen haben.
»Seine Enkelin«, so erzählt heute noch der kundige Bauer, »habe als die letzte ihres Geschlechts allein auf dem Schloß gewohnt. Dieses Edelfräulein habe eines Tages mit einem ›Spektive‹1 ins Tal hinabgeschaut und drunten drei Bauernknechte auf einer grünen, grünen Wiese mähen sehen. Der mittlere von ihnen sei ein so schöner Bursche gewesen, daß sie ihn aufs Schloß kommen ließ und ihm ihre Güter, in sechs großen Bauernhöfen bestehend, schenkte.«
Deutsch wird das wohl heißen sollen: die Erbtochter des letzten fränkischen Herrn fand Gefallen an einem schönen, jungen Knecht und schenkte ihm ihr Herz und ihre Habe, indem sie ihn zu ihrem Mann und zum Burgherrn erkor.
»Der habe«, so sagt das Volk weiter, »bei seinem kinderlosen Ableben sein Besitztum dem Kloster Gengenbach hinterlassen, wo er Christ geworden sei.«
Geschichtlich wissen wir, daß der Sohn des Franken Arnulf, Herzog Ruthard, durch irische Glaubensboten, d. i. durch aus Schottland und Irland gekommene Benediktinermönche – die deshalb vielfach nur »Schotten« hießen – das Heidentum unter den Alemannen der Mortenau, wie damals noch der Gau hieß, auszurotten suchte.
Er gründete das Kloster Gengenbach für die genannten Mönche, und diese bekehrten wohl auch den frau- und kinderlosen Herrn auf Mühlstein, der dann sein Gut an dies Kloster vergabte.
Die sechs Höfe existieren heute noch und tragen heute noch den Namen »Schottenhöfe«.
Jenseits des Berges, auf dem die Burg stand, in südwestlicher Richtung, lagen im Nordracher Tal, in Lindach und am Bäumlisberg, noch fünf weitere Klosterhöfe. Diese elf Höfe zusammen bildeten das ganze spätere Mittelalter hindurch bis zur Klosteraufhebung im 19. Jahrhundert das einzige freie Mönchsgut in diesem Teile des Kinzigtales. Ringsum waren unmittelbar oder mittelbar reichsfreie Bauern.
Die alemannisch-fränkische Burg ist längst vom Erdboden verschwunden. Nur die Namen »Schloßacker« und »Schloßbrunnen« erinnern heute noch an sie. Wo aber der Malstein einst gestanden, da ließen die Klosterherren von Gengenbach auch den Sitz ihrer Gerichtsbarkeit. Sie vereinigten ihre Klosterhöfe in eine Vogtei und machten den Bauer, der sich im Lauf der Zeit beim Malstein niedergelassen hatte, zu ihrem geborenen »Vogt auf Mühlstein«.
Unter dem Krummstab wohnten die elf Bauern weit besser als die stolzen Reichsfreien rings um sie herum. Sie ließen den Zehnten auf dem Felde liegen, wo das Kloster ihn holte, lieferten von jedem Hof jährlich einige Hühner ins Kloster und liehen dem Abte vierzehn Tage im Jahr ihre Pferde hinunter nach Gengenbach, damit er dort die Klostergüter bebauen lassen konnte. Und der »gnädige Herr« sandte ihnen jeweils ihre Gäule wohlgenährt, mit neuen Hufeisen und neuem Geschirr zurück.
Und was sie an barem Gelde dem Gotteshaus zu geben hatten, das zahlte ihnen, wie es sprichwörtlich war, »der Verkauf eines alten Geißbocks an den Klostermetzger«, so wenig war es.
Für all das waren sie Herren auf ihren Höfen; in Feld und Wald gehörte aller Ertrag schuldenfrei ihnen. Und der Klostermetzger kaufte ihnen zudem alles feile Vieh fürs Kloster ab. Er nahm es, so erzählten mir die alten Bauern, wenn es nur noch laufen konnte. Den Preis machten Metzger und Bauern bei Speck und Kirschenwasser ab, und das Kloster bezahlte ihn.
Kam ein Klosterbauer hinab ins Stift, so war er Gast an der Tafel und brauchte im Städtle Gengenbach keinen Schoppen zu trinken, wenn er nicht wollte.
Das war die gute alte Zeit, von der an Winterabenden die alten Leute in den Schottenhöfen heute noch reden und Vergleiche ziehen mit der Jetztzeit und ihren Domänenverwaltungen und Steuereinnehmereien, Vergleiche, deren Einzelheiten ich weglasse, um die Poesie der alten Zeit nicht zu stören und noch weniger die Poesie dessen, was ich jetzt erzählen will.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts saß auf Mühlstein ein Vogt namens Anton Muser, ein Mann nach alter deutscher Art, groß und stark und rauh am Leibe und stark und rauh im Herzen, treu ergeben seinem Abte, ein Freund und Ratgeber seiner Mitbauern und ein besorgter, aber strenger Vater. Hart gegen sich selbst, mutete er auch anderen etwas zu. Unermüdlich in der Arbeit, war er hierin ein Vorbild den Seinigen und den übrigen Klosterbauern.
Wenn er nach Gengenbach geritten kam in seinen kurzen, schwarzen Lederhosen und seinen hohen Kalblederstiefeln, seinem langen, schwarzgefärbten und rotgefütterten Flachsrock, da speiste er mit dem Prälaten, und der Vogt von Mühlstein war bei den zwei letzten Äbten Jakob Trautwein und Bernhard Schwörer ein gerngesehener Mann.
Als ihm 1774 der Sturm in einer Herbstnacht sein Haus zerstörte, baute er es auf eigene Kosten so groß und massiv wieder auf, daß die andern Schottenhöfer glaubten, was er gesagt, er baue ein Schloß. Darum sieht man heute noch seinen Hof weithin leuchten, nicht bloß ob seiner Lage, sondern auch seiner Stattlichkeit halber. Die Planzeichnungen für die Zimmerleute hatte er selber so flott entworfen, daß fortan, wenn ein Bauer seiner Vogtei etwas zu bauen hatte, er den Vogt um einen Plan bat.
Er arbeitete im Felde für zwei Knechte, und die Leute sagten von ihm, er »zwinge« in einem Tage einen halben Morgen Feld allein.
Der Vogt hatte auf diese Art bald das schönste Haus, den bestbestellten Hof, das schönste Vieh und das meiste Geld in diesem kleinen Klosterstaat. Aber der »Vogts-Toni«, wie die Bauern ihn nannten, hatte noch etwas, und das war das Allerschönste – seine einzige Tochter neben vier Söhnen. Des Vogts Magdalene war das schönste Mädchen im ganzen Kloster- und Reichsgebiet ringsum.
Schöne Vögel singen in der Regel schlecht oder gar nicht, und bei den Menschenkindern findet man vielfach etwas Ähnliches. Die Mädchen, so am schönsten singen, sind meist körperlich häßlich, und die schönen können in der Regel nur krähen.
Des Vogts Magdalene war eine Ausnahme. Sie war bildschön und sang wunderschön. In jener guten alten Zeit wurde unter unserem Landvolk noch viel mehr gesungen als heutzutag. Es ist daran viel »die Kultur« schuld, die allerlei Lumperei ins Volk gebracht, so das viele, viele Wirtshaussitzen bei den »Mannsvölkern«, und die »Maschine«, welche die Spinnräder abgeschafft und die Spinn- und Singstuben der »Wibervölker« aus unseren Schwarzwaldhöfen vertrieben hat.
Auch aus anderen Gründen ist unserem Landvolk das Singen vergangen. Der Bauersmann kämpft heute vielfach mit Schulden und bureaukratischen Plackereien, und wenn's dem Vater und der Mutter nicht »singerig« zumute ist, so mag die Jugend auch nicht singen.
Unsere Zeit hat zudem kein einziges anständiges Lied aus dem Herzen des Volkes hervorgebracht, während aus den vergangenen Jahrhunderten zahllose auf uns gekommen sind. Das Volk wird eben aus dem Naturkind immer mehr zum Kulturmenschen gemacht, und drum schwinden in ihm Natur, Poesie und Gesang.
Früher war das anders, besonders bei den Schottenhöfer Bauern und ihren reichsunmittelbaren Nachbarn in Nordrach und Harmersbach. Denen war's ums Singen. Keine Schulden und wenig oder gar keine Abgaben. Da lebte der Bauer noch »wie der Vogel im Hanfsamen«, hatte dazu, wie ein Vogel, wenig Bedürfnisse, und die konnte er nach Herzenslust stillen.
Wenn jene Bauern drunten in der Reichsstadt Zell im »Hirschen« oder im »Löwen« oder in ihren Walddörfern Nordrach und Harmersbach in den Wirtshäusern »zur Stube« eine Hochzeit hielten, da wurde nicht nur getrunken und gegessen und getanzt, sondern auch gesungen, besonders von den »Ledigen«. Und wenn des Vogts Magdalene dabei war, da scharte sich alles um sie, denn sie sang wie eine Nachtigall, und jung und alt hörte ihr bewunderungsvoll zu.
Zum schönen Singen, sagt der Bauer, müssen es aber zwei sein. Da lag drüben über dem Berg, auf dessen Morgenseite der Hof auf Mühlstein sich erhebt, ziemlich weit oben im Nordracher Tal, eine stille Strohhütte am Weg, der vom Obertal zu Dorf und Kirche Nordrach führt.
Ihr Besitzer hieß Jakob Öler vulgo Öler-Jok. Der hatte drei Söhne, alle drei gute Sänger, der beste aber war der Hans, auch sonst ein »netter Kerl« und ein braver, frischer Bursche. Wenn des Öler-Joken Hans mit Vogts Magdalene »in der Stube« zu Nordrach ein Duett sang, da wurde auch des rauhesten Bauern Herz bewegt. Und oftmals weinten die Leute vor Rührung über den schönen Zwiegesang.
Aber die zwei sangen nicht bloß andern Leuten, sondern auch sich selbst ins Herz hinein. Und zwischen dem Hans und der Magdalene schloß sich gar bald ein Herzensbund, der dem Gesang entsprossen war und den die Lieder immer wieder neu befestigten.
Der Mühlstein gehörte, wie alle Schottenhöfe, in die Pfarrei Zell. Seine Bewohner hatten aber näher nach Nordrach, darum gingen sie regelmäßig dort hinab in Kirche und Wirtshaus. So sahen sich der Hans und die Magdalene nicht nur an Hochzeits-, sondern auch an allen Sonn- und Festtagen. Und wenn der alte Vogt nicht um den Weg war, begleitete der Hans manchmal die Magdalene ein Stück weit bergauf gen Mühlstein.
Und lustig singend und jodelnd sandte er ihr noch weithin seine Grüße nach, wenn beide sich am »Stollengrund« verabschiedet hatten.
Die Mägde von Mühlstein, welche mit der Tochter in die Kirche gingen, hatten es der Vögtin längst verraten, warum die Magdalene immer etwas später und allein heimkehre.
Die Mutter hatte aber dem Vogt weiter nichts gesagt, weil Bauer und Bäuerin in jenen Tälern nicht viel einzuwenden haben, wenn die Tochter den oder jenen Burschen gerne sieht und bisweilen mit ihm tanzt und geht. Wenn's einmal Ernst gilt, das Mädchen zu verheiraten, so machen die Eltern den Hof aus, wo die Tochter hin soll, und die folgt in der Regel ohne jedes Herzweh, und der verabschiedete Liebhaber und der auserwählte Bräutigam duellieren sich deswegen nicht.
Das Landvolk aus dem Schwarzwald ist in diesen Dingen, wie wir in den »Wilden Kirschen« schon erzählt, viel vernünftiger als das gebildete Publikum in den Städten mit seinem sogenannten Ehrgefühl und seinem sentimentalen Liebeskummer.
Flammt's aber einmal in einem Naturherzen auf, so ist es kein Strohfeuer, wie bei den blasierten Kulturmenschen, sondern ein verzehrendes Feuer, das tötet – aber nie und nimmermehr durch Selbstmord, wie es bei den sogenannten »besseren und gebildeteren« Ständen so oft der Fall ist.
So ging es dem Hans und der Magdalene, vorab aber der letzteren. Sie beide gehörten zu den Ausnahmen im Liebes- und Herzensleben des Landvolkes. Darum sollte ihre Liebe auch tragisch enden.
Manches Jahr war ins Tal gegangen, seitdem des Öler-Joken Hans und des Vogts Magdalene als die besten Sänger galten, und seitdem der Hans das Mädchen an Sonntagen nach dem Kirchgang begleitete am Grafenberg hinaus gen Mühlstein.
Wenn sie auch bisweilen vom Heiraten redeten, so wurde es ihnen doch angst und bange bei diesem Thema, denn wohin sollten sie heiraten? Der alte Öler-Jok hatte drei Buben, und der Hans war der »mittlere«, also ohne Aussichten, das kleine Gut des Vaters zu bekommen, und auf Mühlstein waren Buben genug, da kam die Herrschaft an kein »Maidle«. Und als Knecht und Magd zu heiraten, das ging nicht. Es war damals noch nicht Mode, daß Leute heirateten, die kein eigenes Heim hatten.
Alle Höfe und Taglöhnergütchen ringsum waren in festen Händen und hatten sichere Erben. Zu kaufen gab es also auch nichts.
Oft sprachen sie im Walde, den der Heimweg der Magdalene durchzog, von der Hoffnungslosigkeit ihrer Liebe, die gerade wegen dieser Hoffnungslosigkeit immer stärker wurde. Und wenn der Hans bisweilen meinte, sie, die Magdalene, werde als Tochter des Vogts und als das schönste Mädchen im Kirchspiel schon »Hochziter« genug finden, und es werde Tag und Stunde kommen, wo sie ihn verlassen müsse, ihn, den Sohn des Kleinbauern am Talbach, er wolle aber dann nicht »vor ihr Glück stehen« und gerne zurücktreten, – so wollte der guten Magdalene das Herz brechen vor Weh.
So kam der Sommer des Jahres 1784 und mit ihm, wie alljährlich, die Zeit der Kirchweihen.
Bis zur Stunde haben die ehemaligen freien Reichsbauern im Harmersbacher und im Nordracher Tal und mit ihnen die Klosterbauern in den Schottenhöfen, in Lindach und Bäumlisberg ihre eigenen Kirchweihen und damit eine Reihe von festlichen Tagen.
Am zweiten Sonntag im August findet die Kirchweih in Entersbach statt, am letzten die in Nordrach, am ersten Sonntag im September in Oberharmersbach und am zweiten die in Unterharmersbach.
Da kommen die verwandten und bekannten Bauern aus all den Bergen und Tälern sich gegenseitig zu Gast auf die Höfe, wo herrliches Essen und Trinken, alles in Hülle und Fülle, aufgetragen wird; eine Reihe von Gängen, von der Nudelsupp' bis zum Kalbsbraten und vom Apfelmost bis zum Zeller Roten.