Klabund: Spuk. Roman
Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.
Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:
Edvard Munch, Der Schrei, 1893
ISBN 978-3-7437-0364-3
Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:
ISBN 978-3-7437-0348-3 (Broschiert)
ISBN 978-3-7437-0349-0 (Gebunden)
Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.
Erstdruck: Berlin, Erich Reiß Verlag, 1922. Die doppelte Zählung der Kapitel 22 und 38 folgt der zweiten Auflage, 1922.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.
Der Sturm
Die Äste beugt
Und der Rabe singt.
So wandert das Wetter Gottes
Zu den Sternen.
Hölderlin
Geschrieben im Fieber einer Krankheit,
Januar bis April 1921.
Ich hatte ein Gesicht. Aus meinem Unter-bewußtsein hob sich die Unterwelt nach oben. Der Acheron brauste. Charon, der Höllenfährmann, landete mit seinem Kahn. Der Kahn knirschte im Sand. Charon sprang ans Ufer. Er fluchte:
»Da lande ich in der Hölle – mit einem leeren Kahn. Nicht eine schlechte Seele wartete heute an der Überfahrt. Seit Jesus Christus dem Menschen erschienen ist, liegt mein Hand- und Höllenwerk übel brach.«
Er wühlte im Beutel, der ihm am Gürtel hing.
»Mein Beutel ist leer. Nicht ein Fährpfennig. Zum Teufel mit der Tugend der Menschen, wenn ich dabei zugrunde gehe. Ich hasse diesen Christus, ich hasse Gott, ich hasse die Güte, die Sanftmut, die Opferbereitschaft, die Wahrheit und die Liebe.«
Er schlug das Höllenzeichen und schrie:
»He, Pluto, Höllenfürst, erscheine! Charon, der Höllenfährmann, wünscht dich in dienstwilliger Ergebenheit zu sprechen.«
Es donnerte. Die Nebel der Unterwelt teilten sich. Ein Blitz riß die Dunkelheit mittendurch wie einen schwarzen Samtvorhang, und Pluto wurde sichtbar auf feurigem Thron. Charon beugte das Knie:
»Voll Betrübnis und Bitterkeit erscheine ich vor Deiner Majestät. Treu und unablässig diene ich dir seit Tausenden von Jahren. Millionen Seelen hab ich über diesen dunklen Fluß gefahren zu dir: daß sie auf ewig deine Sklaven seien. Auf der Erde herrschten deine finsteren Dämonen, deine Furien und Geister, und schickten Seele auf Seele herab. Dann aber ist ein Wunder über die Welt gekommen: Gott sandte seinen einzigen Sohn, begleitet von Scharen der silbernen Cherubim und Seraphim. Sie hatten keine Waffen in den Händen als Lilienstengel und Sonnenblumen. Aber sie schlugen deine fauchenden Furien in die Flucht. Gottes Sohn weckte das Gewissen der Menschheit. Der Mensch, so lange unserem finsteren Wesen verfallen, beginnt, Gottes Geschöpf zu werden. Mein Kahn fährt täglich weniger Seelen, und heute war er völlig leer. Es steht schlecht, Pluto, um deine, um meine, um unsere Sache.«
Pluto schüttelte sein Schlangenhaupt.
»Ich lobe deinen Eifer, Diener des Bösen.«
Und seine Stimme kreischte, wie wenn tausend Maulesel schreien. »Ihr Furien, ihr Erinnyen, ihr Dämonen, ihr Teufel und Teufelinnen, herbei! Pluto, Euer Fürst und Gebieter, ruft Euch!«
Unter Donner und Blitz erschienen die geifernden Geister und flatternden Furien.
Pluto hob das Szepter: einen Stab, aus dem Baum der Erkenntnis geschnitzt, und um den Stab ringelte sich eine lebende Otter mit einem kleinen Menschenkopf:
»Vernehmt, was ich Euch zu sagen habe. Charon, der Höllenfährmann, beklagt sich, daß sein Kahn täglich geringere Seelenfracht führe. Mit Unwillen erfahre ich, daß Euer Eifer im Dienst des plutonischen Reiches nachgelassen.« Er schwang sein Szepter: »Hütet Euch, ihr Pflichtvergessenen!«
Ein Teufel wagte zu flüstern:
»Allzumächtig ist die Gewalt des Guten –«
Pluto fuhr auf:
»Nicht mächtig genug, daß wir sie nicht zu brechen vermöchten. Fahrt auf die Oberwelt. Bedient Euch jeglicher Gestalt: sei du ein Pfaffe, du ein König, du ein Philosoph, du ein Reichstagsabgeordneter, du ein Feldherr, du ein Börsenmakler, du ein Bauer, du ein Kohlenbaron, du ein Schankwirt, du ein altes Weib, du eine Dirne: scheut kein Mittel, die Menschen zu jeglicher Untat, zu Mord, Diebstahl, Raub, Krieg, Unzucht, Lug, Trug, Haß und Heuchelei zu verführen. Lehrt sie, das Unterste nach oben, das Oberste nach unten kehren. Lehrt sie das Hohe erniedrigen, das Niedrige erhöhen, daß sie verderben und ihre Seelen zur Hölle taumeln ... Fahrt von hinnen. Du aber, oberster der Teufel, Satanas, verbleibe, da ich dir einen besonderen Auftrag zu geben habe.«
Die Dämonen entschwanden unter Heulen und Zischen.
Ich aber trat an Plutos Thron, neigte das Knie, über das sich der rote Mantel, der Mantel des Henkers, bauschte und sprach: »Was wünschest du, Herr der Hölle, von deinem ergebensten Knecht?«
Pluto sprach:
»Mir ist berichtet von einem Mädchen, bald Maria, bald Marianne geheißen. Sie ist über alle Begriffe schön und sanft. Ihr Wille will das Gute, aber ihre Jugend ist beschwert mit Ahnungen, Wünschen und Gedanken. Sie ist Wachs in der Hand eines entschlossenen Formers. Derart Überschwengliches haben meine Geister mir von ihr berichtet, daß mich ein heftiges Verlangen anwandelt, diese Seele zu besitzen und ganz mein eigen zu nennen. Ich gedenke, sie zu meiner Gemahlin zu erheben. Du, Satanas, sollst mein Brautwerber sein.«
Ich neigte das Knie, und der rote Mantel rauschte:
»Ich werde es an keiner Verführung und Verlockung mangeln lassen. Pluto wird seinen untertänigsten Diener loben.«
Pluto wandte sich an Charon:
»Und du, Charon, bist du's zufrieden?«
Charon nickte:
»Ich bin's, Fürst der Hölle. Mein Schiff wartet. Ich bin gerüstet.«
Geboren bin ich in dem Haus mit den beiden Eselsköpfen. Es steht in einer windschiefen Seitengasse der Stadt, mit dem Giebel nach vorn.
Wenn ich den Kopf zur Dachluke herausstreckte und mein Vater hantierte zufällig auf der Straße, schrie er:
Da stecken ja drei Esel die Köpfe heraus!
Ich zuckte die Schultern und lachte unhörbar.
Ich war weder beleidigt noch gekränkt. Ich hatte von früh eine zarte Zuneigung zu den grauen, gutmütigen aber auch boshaften Einhufern.
Als einst der Esel der Molkerei geschlagen wurde, warf ich mich zwischen ihn und seinen Peiniger und fühlte die Peitsche um meine Ohren sausen.
»Verrecken sollt Ihr Menschen«, schrie ich, »insgesamt verrecken.«
Ob meine Eltern mich liebten, weiß ich nicht. Vielleicht mein Vater. Meine Mutter haßte mich, denn sie hatte keine Kinder gewollt, und ich kam ihr sehr unerwünscht. Wenn ich bei Tisch saß und sie sprach mit mir, sprach und sah sie immer an mir vorbei.
Ich kann mich nicht entsinnen, je einen Blick von meiner Mutter empfangen zu haben, und noch heute weiß ich nicht, ob sie blaue oder braune oder schwarze Augen hatte.
Ich hatte einen Hang ins Weite, in die Ferne, in die Unendlichkeit – und einen Hang zum Nächsten, zur Enge, zur Geborgenheit.
Krieger war ich und Friedlicher zugleich.
Als ich fünf Jahre alt war, ging ich vor ein Spielwarengeschäft. Dort stand ein kleiner Esel auf Rädern. Ich zog ihn an seiner Schnur hinter mir her, marschierte durch die Stadt, über die Brücke, dann die Chaussee entlang.
Die Chausseearbeiter riefen mir Worte zu und nach, die ich nicht verstand.
Die Sonne brannte.
Ich marschierte, die Räder an den Eselsbeinen klirrten.
Ich wurde von einem Bauern aufgelesen, der zur Stadt fuhr und mich von des Vaters Geschäft her kannte.
Er hob mich samt meinem hölzernen Esel auf den Wagen und brachte mich heim.
Da ließ ich den Esel vor der Haustür stehen, ging auf den Boden und legte mich auf den Torf, der in einer Ecke aufgeschüttet lag. Es war dunkel wie in der Nacht. Ich schloß die Augen. Nun war ich nur noch durch Geräusche mit der Welt verbunden. Ein Hund bellte. Ein Kater fauchte. Der Flügel einer Fledermaus rauschte. Auf dem Hof klang der Mörser, den mein Vater stampfte. Wagen rollten. Erwachsene riefen sich allerlei sinnlose Laute zu. Kinder, nicht älter als ich, lachten und weinten.
Ich lag außerhalb dieser Welt, ganz für mich allein.
Nur die beiden Eselsköpfe und der verlassene hölzerne Esel auf der Straße, mein Statthalter draußen in der Welt, waren die Mitwisser meiner stummen Geheimnisse.
Sie aber verstanden zu schweigen – wie ich.
Wer war mein Freund?
Der Esel von der Molkerei oder der verstaubte Kastanienbaum im Hof, der aussah, als hätte er lange auf dem Speicher gestanden, weil ihn ein Kunde bestellt und nicht abgeholt.
Wer war meine Freundin?
Irgendeine Wolke oder glitzernde Mücke oder eine weiße Welle im bewegten Strom.
Meine erste Begegnung mit einem Menschen meines Alters verlief so. Ich hatte zum Geburtstag einen Matrosenanzug und eine Matrosenmütze geschenkt bekommen. In dieser Tracht ging ich, einen kleinen aus Borke geschnitzten Kahn auf den Armen, über die Aue zur sogenannten Gänselache. Dort setzte ich mich ins Gras und ließ den Kahn schwimmen. Es dauerte nicht lange, so stand neben mir ein Junge meines Alters, aber völlig verwildert und verlaust, mit einem bösen Blick in den Kateraugen. Er plantschte mit seinen nackten Füßen im Wasser. Seine Augen streiften meine Uniform.
»Schenk mir die Mütze«, sagte er plötzlich unvermittelt.
Ich wußte nichts darauf zu erwidern und schwieg.
Da zog der Junge aus der hinteren Hosentasche, ganz wie ein Großer, ein Messer und ging auf mich los.
Ich erschrak derart, daß ich den Bindfaden fahren ließ und der Borkenkahn, den ich mit vieler Mühe geschnitzt, in einem Strudel verschwand.
Schon glaubte ich das Messer im Hals zu spüren, als ich die Stimme eines Erwachsenen hörte. Ich muß gestehen, daß ich sie, trotzdem ich gleichsam in Todesgefahr schwebte, höchst ärgerlich aufnahm. Erwachsene haben eine unleidliche Art, sich mit hochfahrender Geste in die Geschäfte und Beschäftigungen der Kinder zu mischen, die sie erstens nichts angehen und von denen sie zweitens nichts verstehen.
Ich blickte auf und sah den Schuster Leidl, einen übelbeleumdeten Menschen, wie er dem zerlumpten Jungen das Messer entriß und es in den Fluß warf. Der Junge biß ihm die Hand blutig. Aber der Schuster lächelte nur und sprach die Worte, die er immer zu sprechen pflegte und die ihm die Straßenbengels nachriefen: »Nicht böse sein ...!«
Dann lächelte er, das erste Lächeln, das ich auf einem Menschenanlitz erscheinen sah und sprach:
»Was kann der Junge dafür, daß sein Vater Geld hat und der deine keins?«
Und zu mir sprach er:
»Du hast dem Jungen Unrecht getan, ohne daß du es weißt.
Gib ihm die Hand.«
Ich machte erstaunt den Mund auf und begriff ganz und gar nicht, was der Schuster meine. Der Junge war mit dem Messer auf mich losgegangen, und ich hätte ihm Unrecht getan?
Aber ich gab dem Jungen, von Zweifeln zernagt, die Hand, in die jener widerstrebend einschlug.
»Spielt nun zusammen!« sagte der Schuster und ging von dannen.
Da saßen wir nebeneinander am Ufersand.
Ich sah ihn an, da senkte er den Kopf.
Er sah mich an, da senkte ich den Kopf.
Schließlich kam ein Gedanke über mich. Ich nahm die Mütze vom Kopf und sagte:
»Da hast du die Mütze. Ich schenke sie dir.«
Er schien in meine Aufrichtigkeit Zweifel zu setzen.
»Wenn du aber lügst? – Die Menschen lügen alle.«
»Du kannst meine Matrosenmütze haben. Ich mag sie gar nicht.«
Ein bitterer Geschmack im Munde verzog sein Gesicht.
»Also, weil du sie nicht magst, darum ist sie gut für mich.«
»Nein, nein«, ich schämte mich, »ich mag sie sehr gern, denn ich habe sie heute zum Geburtstag bekommen.«
Da nahm sie der Junge, setzte sie auf, sprach: »Ich heiße Munk und bin der Sohn des Metzgers Munk.«
Ich nannte ihm meinen Namen, verschwieg aber den Beruf meines Vaters, der an Wucht und Wichtigkeit es mit dem eines Metzgers und Schlächters nicht aufnehmen konnte, wenn er auch mehr Geld verdiente.
»Wir wollen Blutsbrüderschaft schließen«, sprach Munk. »Verdammt«, er runzelte die Stirn wie ein Erwachsener, »da hat dieses Schwein, welches man schlachten müßte, da hat dieser Schuster Leidl mein Messer in den Fluß geworfen. Nicht böse sein, nicht böse sein«, äffte er den Schuster nach. »Nur böse sein! nur böse sein!« brach er aus. »Das, was mein Vater den Tieren antut, den Menschen antun. Jawohl. Da kommt dieser Schuster, der sein Geschäft versoffen und seine Frau zu Tode geprügelt hat, und will unsereines Mores lehren.«
Er sagte: Mores lehren. Weiß Gott, wo er das aufgeschnappt hatte. Er ging suchend am Ufer hin.
Aus dem seichten Strandgewässer ragte Schilf. Er bog ein Rohr zu sich heran und brach es so geschickt, daß eine Spitze erschien. Mit dieser bohrte er sich ein kleines Loch in den Oberarm, bis das Blut kam.
»Da trink!« sagte er.
Und ich trank sein Blut.
Es hatte einen faden, süßlichen Geschmack.
Hätte ich es nie getrunken!
Danach brachte er mir eine kleine Wunde bei und trank das meine. »Jetzt sind wir auf ewig verbunden, wir sind Blutsbrüder«, sagte Munk und sah mich sonderbar von der Seite an. »Besuch mich doch mal, wenn wir Schlachttag haben.«
Es ist halb zwölf Uhr mittag. Ich sitze an meinem Tisch. Ich habe nur einen Tisch: er ist mein Arbeits-, mein Spiel-, mein Eßtisch. Die kleine gelbe Lampe brennt: mein Zimmer geht nach hinten auf den Hof und hier wird es nie Tag. Auf dem Hof stehen die seit vielen Wochen nicht abgeholten Mülleimer. Die Müllkutscher streiken. Ich darf das Fenster kaum öffnen, sonst weht der Wind eine gelbe, samumähnliche, übel duftende Wolke in mein Zimmer. Ich bin sehr früh aufgestanden heute. Sonst pflege ich bis zwei, drei, ja manchmal bis vier, fünf im Bett zu bleiben.
Das heißt: ein Bett besitze ich nicht. Dazu hat das Zimmer keinen Platz. Es ist eine Art Schlafsofa.
Es ist kalt im Zimmer. Draußen pfeift der Ostwind. Das gelbe Licht der Lampe tut mir wohl. Es erinnert mich an ein Zimmer weit unten im Süden, wo man nicht fror und wo der gleiche gelbe Lampenschirm um die Lampe hing. Maria selbst hatte ihn aus einem Fetzen Seide zurechtgeschnitten. Seitdem ist mir die Sonne zuwider und dieses gelbe Licht mir grade recht.
Bis jetzt hielt ich die Augen geschlossen. Nun öffne ich sie und sehe ein wenig verwundert mich wieder in die Welt gestellt. An der Wand ein Kupferstich: Liebesfrühling. Ein Portokassenkavalier in römischer Tunika, der sich über ein etruskisches Barmädchen neigt. Ein Bücherschrank mit einer Glastür, dahinter man die Büchertitel lesen kann. Der Schrank ist stets verschlossen. Denn die Bücher gehören meinem Wirt.
Das Zimmer riecht ein wenig nach aromatischem Essig; damit reibe ich mich früh ab, weil ich des Nachts leicht in Schweiß gerate.
Es hat vorhin geklingelt, und ich habe das Gefühl, daß irgendein Telegramm oder ein Expreßbrief für mich auf dem Korridortisch liegt. Ich habe dem Mädchen verboten, mich zu stören. Soll ich nachsehen? Es ist wohl gleich. Manchmal mache ich Telegramme vier Wochen nicht auf. Vielleicht ist das Haus mit den Eselsköpfen eingestürzt oder eine Brandkatastrophe hat es verheert. Es ist mir alles gleich. Womit ich keine Banalität gesagt haben will. Sondern: es – ist – alles – gleich. Ich bin mein Schicksal, und dieses Telegramm wird mich so wenig aus dem Gleichgewicht bringen wie der Tod eines geliebten Menschen oder mein eigener Tod. Ich bin über den Tod und über mich hinaus. Ich habe zu viel gelitten. Es ist alles nur noch da, mich zu bestätigen: der Ostwind, der aromatische Essig, die gelbe Lampe, die geliebte Frau, der Tod.
Als ich Maria zu lieben begann, da wußte ich mit einer schmerzlichen, bitteren und süßen Gewißheit vom ersten Tage an: daß ich sie töten würde. Töten: ohne Absicht, ohne Bewußtsein um Zweck und Ziel. So wie Munk mich hatte töten wollen, als er mit einem Messer auf mich losging, weil ich um eine Antwort verlegen war.
Das Schicksal stellte eine Frage an mich, und ich tötete Maria – weil ich um eine Antwort verlegen war. Ich wehrte mich mit aller meiner seelischen Kraft gegen die Todeswünsche, die ich gerade in den holdesten Augenblicken der Erfüllung und Vollendung für sie hatte. Als wäre es gestern geschehen, so erinnere ich mich jener Sommernacht am Silbersee. Ein betäubender Wohlgeruch von Blumen und Sternen lag in der Luft. Die Blumen strahlten. Die Sterne dufteten. In meinen Ohren zirpen noch die sommerlichen Grillen. Wir lagen auf der Veranda, nur in die veilchenblaue Dämmerung gehüllt. Maria lächelte, daß ich ihr Lächeln körperlich spürte: »So glücklich bin ich, daß dieses Glück nicht dauern kann.« Ich wandte den Kopf.
Der gleitende Flügel eines Nachtpfauenauges hatte mich berührt.
Ich zog mir meinen Mantel an und ging auf die Straße. Der erste Schnee hatte das Pflaster mit einer dünnen weißen Glasur überzogen. Die Engel im Himmel zupften Scharpie. Es gab so viele Wunden zu verbinden: in allen Welten, bei allen Wesen: dies- und jenseits. Am Halleschen Tor kaufte ich bei einer Zeitungsverkäuferin, wegen ihres roten Gesichtsausschlages Tomate genannt, eine Zeitung. Die neuesten politischen Ereignisse interessierten mich nicht, ich blätterte nur hinten im Anzeigenteil nach den Trauerannoncen, ob einer gestorben sei, der meinen Namen trüge. Ich bin abergläubisch wie ein Wilder. Der Tag fing mit einer schlimmen Vorbedeutung an. In der Tat: es war jemand gestorben. Der Direktor einer Aktiengesellschaft. Fünf Nachrufe waren abgedruckt: von der Familie, dem Aufsichtsrat, den Beamten, dem Büropersonal, der Arbeiterschaft. Fünfmal las ich meinen Namen mit einem Trauerrand umgeben. Ich nahm den Hut ab. Die Tomate meckerte: »Sie werden sich den Kopf erkälten, Herr. Es schneit.« Ich bog in die Belle-Alliance-Straße. Der Friedhof lag mitten in der Stadt, wie eine mittelalterliche Festung von einer roten Mauer umgeben. Noch im Tode werden die Menschen kaserniert. Außerhalb der Mauern haben, im Leben wie im Tode, nur die Verfemten, die Verbrecher, die Mörder und Juden ihre Stätte. Ich klinkte das verrostete Friedhofstor, das sich ächzend in den Angeln drehte wie eine überjährige Tänzerin. Ich schritt den Hauptgang entlang. Alle Gräber hatte der Schnee mit zartem, weißem Spitzentuch bedeckt. Ihr Benedeiten! Ihr Seligen! Ihr ruht! Ich taumle, fiebere, brenne noch immer. Ihr himmlisch Kühlen! Paradiesisch Schweigsamen! Ich fühle eine Schlinge um meinen Hals, eine Schlange um meinen Hals wie ein Derwisch. Die Schlinge über das Horn des Mondes geworfen – und die Erde muß von hoch oben betrachtet tief unten aussehen. – Ich spürte, daß ein Schatten hinter mir her war. Der Friedhof menschenleer.
»Wer bist du?« rief ich.
»Weder Freund noch Feind«, tönte die Antwort.
Ich wagte nicht, mich umzusehen.
»Du verfolgst mich.«
»Du ziehst mich hinter dir her.«
Ich verließ die Hauptallee und trat in einen Seitengang, der bis zur Mauer führte. Dort an der Mauer lag ein Grab, das ich liebte und fürchtete. Das ich seit Monaten nicht mehr besucht hatte. Eine weiße Marmortafel wies den Namen: »Maria«, sonst nichts.
Ich setzte mich auf die Umfassung des Grabes.
Der Schnee fiel auf die Erde, durch die Erde auf den Sarg, durch den Sarg auf das Herz. Schnee fiel auf das Herz.
Der Schatten stand drohend hinter mir.
Drüben auf der Straße, über der roten Mauer, war ein Fenster offen. Eine Klavierlehrerin übte mit einem Zögling die Don-Juan-Ouvertüre.
»Hier liegt Donna Anna, Donna Maria begraben«, sagte der Schatten. Ich spürte seinen eisigen Atem im Nacken. »Du hast sie unter die Erde gebracht. Hüte dich, daß der steinerne Gast dich nicht zum Totenmahl ladet.«
Ich blickte auf.