Klabund

Die Krankheit

Eine Erzählung

 

 

 

Klabund: Die Krankheit. Eine Erzählung

 

Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Nikolay Bogdanov-Belsky, Im Krankenhaus, 1910

 

ISBN 978-3-7437-0365-0

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-7437-0346-9 (Broschiert)

ISBN 978-3-7437-0347-6 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Geschrieben im Februar und März 1916. Erstdruck: Berlin, Erich Reiß Verlag, 1917. Die Widmung lautet: »Sybil Smolowa zu eigen«.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

1.

»Sie sind also nur deshalb hierhergekommen, um zu sterben?« sagte der junge Deutsche und lief, die Hände in den unteren Taschen seiner kamelhaarbraunen Sportweste, aufgeregt und hustend durch den Zigarettenqualm.

»Weshalb sonst?« sagte Sybil, die rauchend auf dem Bett lag, schlank und blond.

»Scharmant, scharmant«, wisperte der kleine Japaner, der oben im Sanatorium Beaurivage Assistentendienste versah, und hielt ein blaues Speiglas, auf dem eine sonderbare Tabelle angebracht war, gegen das Licht.

»Zehn Kubikzentimeter Auswurf«, lächelte er, von irgendeiner inneren Fröhlichkeit betroffen.

Er sprach fließend Deutsch und fließend Portugiesisch und gab sich zuweilen, wenn es nötig schien, als Portugiese aus. Er unterhielt geheime Beziehungen zu dem Dienstmädchen des portugiesischen Konsuls. Das war eine dicke Schwyzerin aus Bern, die wie geknetet aussah. An Stelle einer Kuhglocke trug sie eine Doublémedaille um den fettigen Hals, die das Bild des kleinen Japaners – in seiner seidenen und faltenreichen Nationaltracht – in sich verbarg.

»Ich habe früher nur dunkle Frauen geliebt«, sagte der junge Deutsche und sah durch die Balkontür in den stürmenden Schnee, »Frauen mit schwarzen Haaren und schwarzen Augen. Als ich selber noch im Dunkeln tappte mit meinen neunzehn, zwanzig Jahren. Dann wurde es licht in mir. Ich liebte eine Frau mit braunen Haaren und Hirschaugen. Dann eine mit roten Haaren und beinah blauen Augen, die violett glänzten. Meine Freunde verspotteten mich mit ihr und meinten, sie hätte neben ihren roten Haaren auch rote Augen, und ich liebte ein Kaninchen. – Endlich wurde es ganz hell um mich. Die Sonne ging auf. Rasend blond aus einem Himmel blauer Blicke. Ich sah in den Mittag meines Lebens. Blauer Himmel, holde Sonne, warum wollen Sie mir nicht glauben, Sybil, daß Sie mein Tag sind?«

»Oh!« Sybil wehrte leise ab. Sie schlug die Asche ihrer Zigarette auf den Bettvorleger.

Der kleine Japaner stellte die blaue Flasche auf den Nachttisch und tanzte in eine dunkle Ecke des Zimmers. Man hörte ihn lachen: wie einen fremdartigen Wasservogel. Er unterhielt sich in seiner zischenden Sprache mit dem ausgestopften Papagei.

Der bleiche bulgarische Offizier, der gekrümmt auf einem Hocker saß und in den Boden starrte, räusperte sich. Er hatte beide Balkankriege mitgemacht; die Schlacht bei Lüleburgas; die Belagerung von Adrianopel; den Stellungskampf an der Tschataldschalinie. Niemand durfte in seiner Anwesenheit vom Krieg sprechen. Ihm trat sofort der Schaum auf die Lippen.

Als Professor Ronken, der Weißbart mit dem Rotkehlchenkopf, ihn das erstemal untersuchte und mit seinem eleganten weichen Hammer beklopfte, fiel er in Ohnmacht in dem Augenblick, als Dr. Froidevaux von einer chirurgischen Operation kommend, den weißen Mantel ein wenig mit Blut bespritzt, das Zimmer betrat.

»Sybil«, sagte der Bulgare, »es wäre schlimm, wenn Sie stürben. Sylvester Glonner hat recht. Sie sind unsere blonde Sonne. Bei Ihnen im verqualmten Zimmer zu sitzen wärmt mehr, als auf der Liegehalle in der Mittagssonne schläfrig zu liegen. Die Davoser Sonne macht schläfrig. Sie machen wach.«

Er fiel auf seinen Hocker zurück.

Der junge Deutsche lehnte sich schwerfällig an den weiß polierten Schrank. Er erinnerte sich eines Verses von Hölderlin: Wo bist du? Trunken dämmert die Seele mir von aller deiner Wonne.

»Wo bist du?« sagte er laut.

Der Japaner lachte.

Sylvester war, als hätte ein Blick von Sybil ihn flüchtig gestreift. Wie ein warmer Wind. Der Bulgare sah auf die Uhr:

»Ich muß zur Liegekur. Es geht auf sechs.« Er klapperte an seinem Krückstock ohne Gruß zur Tür hinaus.

Der kleine Japaner schwebte freundlich hinter ihm her.

»Sie bleiben allein«, sagte Sylvester.

»Wie immer ...«

Sie blies den Zigarettenrauch in wahllosen Ornamenten zur Decke.

Er gab ihr die Hand und ging.

 

2.

Davos lag in der Abenddämmerung wie eine amerikanische Stadt am Rande der Rocky mountains ... am Rande der Welt ... Wie improvisiert, zum Abbruch jederzeit bereit, waren die großen Sanatorien und Hotels mit ihren funkelnden Liegehallen da und dort und kreuz und quer im Tal und an den Berglehnen errichtet. Obgleich sie selten über vier Stockwerke zählten, schienen sie mit den himmelauf kletternden Lichtern der Liegehallen Wolkenkratzer.

Ernste Deutsche, flüchtige Italiener, behäbige Holländer, zwitschernde Brasilianer, duftende Französinnen, dunkle Russen wandelten im gleichmäßig getragenen Kurschritt des Kranken über die Promenade. Von der Post am Kurhaus und den glitzernden Läden vorbei bis zum Grand-Hotel Belvedere und wieder zurück.

Hin und wieder raste ein Engländer mit eiligen Skischritten, oder ein Amerikaner, einen Skeleton wie einen Hund hinter sich herzerrend, über die Straße.

Aus den verhangenen Fenstern des Restaurants Kolbinger tönte Zigeunermusik. Ein schattenhafter Frack schwang eine graue Geige. »Soupers de luxe en commande« blinkte in goldenen Lettern unter der grau hüpfenden Geige.

Dr. Ronken, der Weißbart mit dem Rotkehlchenkopf, fuhr in seinem schlanken Schlitten, sorgfältig in Heidschnuckenpelze gehüllt, einen grüngestreiften Schal vorm Mund, königlich über die Promenade. Er war seit dreißig Jahren in Davos ansässig und nunmehriger Chefarzt und alleiniger Besitzer des renommierten und wohlflorierenden Sanatoriums Beaurivage, welches oben am Walde, dicht beim Rütiweg gelegen ist. Er war selber einmal krank gewesen und hatte sich nach seinen Prinzipien in neunjähriger Kur ausgeheilt.