Klabund

Pjotr

Roman eines Zaren

 

 

 

Klabund: Pjotr. Roman eines Zaren

 

Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Vassily Pavlovich Khudoyarov, Peter I. der Große bei der Arbeit, 19. Jhdt.

 

ISBN 978-3-7437-0471-8

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-7437-0407-7 (Broschiert)

ISBN 978-3-7437-0408-4 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Erstdruck: Berlin, Reiß, 1923

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

 

 

Pjotr ist geboren.

Don, Dnjepr, Wolga, Oka treten über ihre Ufer.

Schlamm wälzt sich über die Weizenfelder, und viele Menschen ertrinken.

Winterblumen neigen gebrochen ihre Häupter.

Die Haselmäuse pfeifen vor Angst. Der Wind nimmt ihre Pfiffe und bläst sie mit dicken Backen zu Posaunentönen auf, bis sie kreischend zerplatzen.

Die Bäume weinen Harz.

Auf tanzenden Eisschollen segeln erfrorene Schwäne. Ihre grünen Augen glänzen wie Smaragde.

Frösche treiben, die bläulichen Bäuche nach oben. Ihre Leiber sind durchbohrt von Wasserkäfern, die vollgefressen tot in den Löchern nisten: die braunen Rückenschalen weiß glasiert.

Es hat roten Schnee geschneit.

Auf der Waldai blüht mitten im Winter der Fingerhut.

Feuer fiel vom Himmel aus den Händen Gottes. Tausend Dörfer flammten. Die jungen Störche auf den Strohdächern wurden in ihren Nestern lebendig geröstet. In den Rauch- und Rußwolken strichen die alten Störche und klapperten grell und verzweifelt mit ihren langen Schnäbeln, als klirrten Schwerter aneinander.

Sie suchten ihren Feind und fanden ihn nicht.

Im Himmel saß der und schlief auf seinem Thron aus Lapislazuli. Er selber war anzusehen wie ein Diamant: klar und durchsichtig glänzend. Seine Augen helle Saphire, sein Herz ein dunkelroter Rubin. Um seine fröstelnde Schulter lag wie ein seidener Schal ein Regenbogen.

Sieben Fackeln brannten um seinen Thron.

Im Schlaf hatte er mit steinernem Arm eine Fackel, einen Stern vom siebenarmigen goldenen Leuchter herabgefegt. Prasselnd und funkenstiebend sauste der Meteor durch den ewigen Raum und schlug mit seiner roten blinden Stirn donnernd im Erdboden ein, eine ganze Landschaft entzündend und verwüstend.

Die Popen predigten:

»Wehe denen, die auf Erden wohnen! Die Sonne ist schwanger geworden und hat ein goldenes Kind geboren! Das wird uns peitschen mit feuriger Knute!«

Ein Rudel Wölfe heult nachts vor den Fenstern des Palastes Preobraschensk. Die Diener bekreuzen sich.

Sie wispern:

»Ein Wolfskind ist geboren, ein Wolfssohn. Die Brüder eilen, ihn zu begrüßen.«

Eine alte Wölfin gelangt bis in den Hof und jault hungrig nach den Fenstern des ersten Stockes hinauf. Natalia Naryschkina, die Zarenmutter, erwacht davon aus dem Schlaf. Sie hält den Atem an und lauscht.

Niemand wagt, die alte Wölfin zu töten.

»Es ist ihr Kind«, versichert der alte Kutscher Potapoff, der manches denkt und vieles weiß.

»Wenn man sie umbringt, sind wir alle verloren.«

Die Wölfin wird am nächsten Tag von dem siebenjährigen närrischen Iwan, dem derzeitigen Zaren, halb tot in einem leeren Schilderhaus gefunden. Iwan kriecht auf allen Vieren und bellt die Wölfin böse an, die ihn mit müden, traurigen Augen nachsichtig beglotzt. Sie leckt einen eben geborenen jungen Wolf, der noch nicht aus den Augen sehen kann, aber um sich beißt, als der Kutscher Potapoff ihn an sich nimmt. Potapoff legt ihn einer Hündin bei und zieht ihn sorgsam auf.

 

Die Sonne tritt aus den Wolken, besieht sich ihr neues Söhnchen, besieht sich Pjotr.

Die Glieder verkrüppelt, die Augen verschmiert, die kleinen Fäuste vor dem zerknitterten Greisengesicht geballt, liegt Pjotr in der Wiege und winselt wie ein junger Wolf.

Er winselt, er weint, weil er geboren ist.

Wie warm und gut war es in jener feuchten, dunklen Höhle, die ihn nun wider seinen Willen ans Licht gespien. Er zittert in der rauhen Luft. Er wehrte sich mit Händen und Füßen gegen das Geborenwerden. Das Licht blendete ihn. Er war eine Schale, die rotes, heißes Blut trank, neun Monate lang. Sein ganzer Leib war ein Pokal gewesen.

Er schnappt mit dem Mund wie ein Fisch.

Er hat Durst.

Er weint.

Die Hebamme reicht Pjotr seiner Mutter, der Fürstin Natalia Naryschkina, die blaß in blauweiß karierten, wie Gebirge über sie getürmten Kissen liegt.

Die Hebamme hebt ihr die Brust aus dem Hemd. Pjotr krallt sich mit seinen kleinen Fingern darein. Dann beginnt er mit geschlossenen Augen zu schlucken, zu schnaufen, zu grunzen, wie der junge Wolf an den Zitzen der Wölfin.

Die Hebamme wiegt sich in den Hüften.

Natalia Naryschkina lächelt.

Pjotr ist so klein und Rußland ist so groß – was wird aus Pjotr werden?

Je je.

Was wird aus Rußland werden?

 

Fürst Galizyn kommt zu Besuch, zugeknöpft, in einem schwarzen Rock, als ginge es zum Begräbnis.

»Nun, Natalia Naryschkina, wie geht's?«

Sie muß lächeln.

Seine Brille sitzt ihm vorn auf der Nase. Sie droht jeden Augenblick herabzufallen. Er ist der einzige Mensch in Rußland, der eine Brille trägt. Wenn sie ihn sehr liebt, nennt sie ihn: Uhu.

Seine blauen, wässerigen Augen funkeln trübe und unbestimmt.

Sie denkt: Der große Liebhaber Galizyn. So sieht mein Liebhaber aus. Der Liebhaber der schönen Natalia Naryschkina. Er gilt als der gebildetste Mensch in Rußland. Deshalb habe ich mich in ihn verliebt. Er hat Shakespeare und Dante in ihren Sprachen gelesen. Ich beherrsche nicht einmal die russische Sprache. Aber ich beherrsche – ihn. In Hemd und Brille sieht er übrigens zum Schreien komisch aus. Wie ein Vogel. Wie ein bestimmter Vogel. Wie heißt doch dieser sonderbare Vogel gleich?

Fürst Galizyn, der sich scharf beobachtet fühlt, rückt auf dem Korbstuhl, den die Sträflinge sibirischer Zuchthäuser haben flechten müssen, unruhig hin und her:

»Was haben Sie an mir auszusetzen, Natalia Naryschkina?«

»Nichts, mein Lieber, nichts ... Gehn Sie einmal an die Wiege – wie gefällt sie Ihnen? Ich habe sie mit lauter hübschen Tieren bemalen lassen: Störchen und Schwänen und Wölfen. – Schauen Sie sich den kleinen Barbaren an. Wem ähnelt er wohl?«

Fürst Galizyn schreitet gravitätisch an die Wiege.

Jetzt weiß sie, wie der Vogel heißt: wie ein Marabu.

Pjotr schläft.

Der Fürst nimmt seine Brille ab und setzt sie Pjotr auf die weiche Nase, die sich einbiegt unter dem Stahl.

Pjotr verzieht im Schlaf weinerlich das Gesicht.

»Ganz der Vater, ganz der Vater.«

Des Fürsten wässerige Augen funkeln vergnügt wie trübe Teiche in der Sonne.

Sie seufzte.

»Daß Zar Alexej Michailowitsch seinen Sohn nicht mehr erlebt hat –wie traurig. Er war ein guter Mensch.«

»Gewiß«, der Fürst stimmte höflich zu, »gewiß. Aber ein guter Mensch: das besagt noch nicht viel. Wir in Rußland sind über gute Menschen ja immer unendlich leicht gerührt und führen das Wort ›gut‹ im Munde wie die Preußen das Wort ›Pflicht‹ und die Franzosen das Wort ›Liebe‹. Die Dämonie des Schicksals wird durch Güte nicht begriffen oder bewältigt.«

»Und Gott – ist Gott nicht gut?«

Sie richtete sich in den Kissen auf. Erwartungsvoll gespannt sah sie auf seine schmalen Lippen.

»Gott ist allgütig, allweise, allmächtig. Und das bedeutet wohl mehr.«

Sie sank in die Kissen zurück.

»Laß mich schlafen ...« Sie drehte den Kopf nach der Wand: »Du machst mich müde, wenn du so gescheit bist.«

Sie drehte den Kopf noch einmal zurück:

»Fürst – vielleicht lebe ich nicht mehr lange. Die Geburt dieses kleinen wilden Menschen, er wog fünfzehn Pfund und hat mir vorher schon schwer zu schaffen gemacht, hat mich arg mitgenommen. Ich habe ihm all mein Blut gegeben. Er hat mich ausgetrunken wie ein kleiner Vampir. Ich habe Sie in meinem Testament als Reichsverweser bestimmt, Fürst. Nehmen Sie sich meiner drei Kinder an. Iwan, der Zar, ist närrisch. Spielen Sie mit ihm Hoppereiter, und verwechselt das Bäumchen, verwechselt das Seelchen. Von Pjotr weiß ich noch gar nichts, als daß er sehr ungestüm sein wird, aber da er der Jüngste ist und mir schon jetzt die meisten Schmerzen verursacht hat, liebe ich ihn mehr als Iwan und Sofija zusammen. Vor allem Sofija lege ich Ihnen ans Herz. Sie ist sechzehn Jahre alt und schon ein Weib. Sie werden sie lieben, wehren Sie nicht ab. Ich kenne Sie. Und Sofija wird gescheit und eitel genug sein, Sie wiederzulieben. Aber sie braucht eine feste Hand.«

Sie griff nach der zarten, eleganten Hand des Fürsten.

»Ich weiß, diese Hand ist klein und schmal. Aber was sie einmal ergriffen hat, das hält sie fest. Halten Sie Sofija, halten Sie Rußland fest mit dieser winzigen Hand.«

Der Fürst neigte sich über das Bett und küßte Natalia Naryschkina leicht die Stirn.

Natalia Naryschkina schwebte auf einer weißen Abendwolke zum Himmel. Die Wolke schien ein Schwan, wie er auf Pjotrs Wiege abgebildet war. Er regte majestätisch seine sanften Schwingen. Seine Augen glänzten wie grüne Smaragde.

Weit aufgetan war das kupferne Tor des Himmels. An der Pforte stand ein Engel in einem Zobelpelz, eine weiße Lammfellmütze auf dem Kopf. Er neigte sich, die Arme über der Brust gekreuzt wie ein Leibeigener. Schon stand ein mit zwei geflügelten Schimmeln bespannter Schlitten bereit, Natalia Naryschkina über die Schneefelder des Himmels zu IHM zu führen, der wie ein Eisberg kristallisch und kühn auf dem Polarstern thront. Sein Stuhl ist aus Lapislazuli. Seine Augen sind helle Saphire, sein Herz ist ein dunkelroter Rubin, der durch seine diamantne Brust leuchtet. Im kühlen roten Licht seines Herzens vergeht und schmilzt alles dahin wie Schnee im Frühlingswind: Gut und Böse, Haß und Liebe, Glück und Schmerz.

 

Natalia Naryschkina wollte die Lippen öffnen. Er aber wußte schon alles, was sie getan, gedacht, gewollt. Er nahm ihren Willen für Vollendung und ihre Untaten für nicht getan. Daß sie Alexej Michailowitsch betrogen – er rechnete es ihr nicht an. Daß sie den Fürsten Galizyn geliebt: er war darüber froh und beglückt. Väterlich zog er sie an seine Brust. Wie wohl das tat: diese Kühle nach all dem Fieber. Diese Ruhe nach all der Unrast.

Da fielen ihr die Kinder ein.

Er schob mit seiner steinernen Hand die Wolken auseinander: da sah sie unten auf der Erde ihre drei Kinder. Pjotr schlief in der Wiege und verzog im Traum sein Gesicht. Iwan lag in einer Hundehütte und bellte. Sofija blickte dem Fürsten Galizyn über die Schulter, der nachdenklich an einer lateinischen Trauerode auf den Tod der unvergleichlichen Natalia Naryschkina feilte. Er markierte mit dem Gänsekiel den Takt der Verse:

»Das sind Daktylen. Oder sollte man lieber den Anapäst wählen: was meinen Sie, Sofija?«

Sofija blickte hilflos zu ihm nieder. Daktylen? Anapäste: was ging das sie an? Waren das Leibeigene, die man peitschen, Untertanen, denen man befehlen konnte? Ach, Daktylen, sie glitten leicht und sinnlos dahin wie die Wellen der Wolga.

»Ich glaube, Fürst, Daktylen passen sehr gut für die arme Mama. Sie hatte so etwas Gleitendes, Schwebendes wie diese Verse, die Sie mir eben vorlasen und die ich nicht verstehe. Ich verstand übrigens auch Mama nicht. Wenn ich einmal gestorben sein werde, können Sie es bei Ihrem Trauercarmen auf mich ja einmal mit Anapästen versuchen. Die klingen härter, männlicher.«

Der Fürst:

»Sind Sie denn ein Mann, Sofija?«

Sofija blickte trotzig ihm auf die Stirn.

Pjotr wurde im Kinderwagen vorübergefahren.

Er heulte wie ein Wolf.

Die Amme zog entschuldigend die Schulter schief:

»Er schreit Tag und Nacht und ist nicht zur Ruhe zu kriegen.«

Sofija sah zum Fürsten hinüber:

»Vielleicht gelingt es mir einmal, ihn stumm zu machen.« –

Sie ging. Der Kies knarrte unter ihren festen, harten Schritten.

Der Fürst sah ihr tief erschrocken nach.

»Dieses Kind hat entsetzliche Pläne. Werde ich es zu bändigen wissen?«

Er sah zum Himmel empor, wo Natalia Naryschkina an der Brust des weißen Herrn lag und auf ihn niederblickte.

»Hilf mir, heilige Natalia!«

Eine Träne tropfte aus ihrem Auge.

Über Preobraschensk begann es zu regnen.

 

Nach zwei Jahren befällt Pjotr eine plötzliche Lähmung.

Seine Beine müssen geschient werden.

Der alte Kutscher Potapoff schüttelt bedenklich sein Haupt. Es geht ihm ganz wie Ilja, dem gewaltigen Sohn des Bauern Iwan, dem Helden von Kiew. Dreißig Jahre konnte er sich nicht bewegen, weder Hände noch Füße regen, saß unbeweglich auf einem Fleck. Bis der fremde Pilger eines Tages zu ihm trat und sprach: »Steh auf!« – da konnte er stehen – »Geh!« – da konnte er gehen. »Nimm dieses Schwert und bekämpfe die Drachen- und Schlangenbrut!« Und er gab ihm das Schwert, das einst der Engel Gabriel gegen Luzifer geschwungen hatte. »Kämpfe damit! Aber nenne deinen Feinden nie deinen Namen. Zeige dein Angesicht, aber verbirg dein Herz unter einem eisernen Panzer. Seinen Namen nennt nur der Besiegte. Sein Herz zeigt nur der Tor. Der Held kämpft namen- und herzlos. Wer den Namen seines Gottes vor seinen Feinden ruft, der gibt sich aus der Hand.«

So sprach der alte Kutscher Potapoff.

»Pjotr mag dreißig Jahre ruhig gelähmt bleiben. Ich habe keine Angst um ihn.«