Georg Weerth

Skizzen, Feuilletons, Reportagen

 

 

 

Georg Weerth: Skizzen, Feuilletons, Reportagen

 

Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Georg Weerth (Daguerrotypie, um 1851/52)

 

ISBN 978-3-7437-0708-5

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-7437-0687-3 (Broschiert)

ISBN 978-3-7437-0688-0 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Die Armen in der Senne

Entstanden 1843/44. Erstdruck in: Deutsches Bürgerbuch für 1845. Herausgegeben von Hermann Püttmann, Darmstadt (Leske) 1845.

Die Wohltaten des Herzogs von Marlborough

Erstdruck in: Gesellschaftsspiegel. Organ zur Vertretung der besitzlosen Volksklassen und zur Beleuchtung der gesellschaftlichen Zustände der Gegenwart (Elberfeld), 1. Jg., 1845.

Die englischen Arbeiter

Bei dem Text handelt es sich um die erweiterte Neufassung zweier älterer Aufsätze für das unpubliziert gebliebene Buch »Skizzen aus dem sozialen und politischen Leben der Briten«. Erstdruck in: Sämtliche Werke, Berlin (Aufbau) 1957. Die zugrundegelegten Aufsätze erschienen zuerst in: Rheinische Jahrbücher zur gesellschaftlichen Reform, Darmstadt 1845, bzw. in: Gesellschaftsspiegel. Organ zur Vertretung der besitzlosen Volksklassen und zur Beleuchtung der gesellschaftlichen Zustände der Gegenwart (Elberfeld), 1. Jg., 1845.

Das Blumenfest der englischen Arbeiter

Erstdruck in: Gesellschaftsspiegel (Elberfeld), 1. Jg., 1845.

Rede auf dem Freihandelskongreß in Brüssel

Erstdruck in: Die Ameise. Vaterländische Blätter für Haus und Leben (Grimma), 15.10.1847.

Ein Besuch in den Tuilerien

Erstdruck in: Kölnische Zeitung (Köln), 1./2.4.1848.

Aus dem Tagebuche eines Heulers

Erstdruck in: Neue Rheinische Zeitung (Köln), Nr. 51, 53 und 63 vom 21.7., 23.7. und 2.8.1848.

Kriegserklärung der schwarz-weißen gegen die schwarz-rot-goldnen Annoncen

Erstdruck in: Neue Rheinische Zeitung (Köln), Nr. 65, 66 vom 4.8. bzw. 5.8.1848.

Fragment einer Warnung vor der »Neuen Rheinischen Zeitung«

Entstanden Anfang September 1848. Erstdruck in: Sämtliche Werke, Berlin (Aufbau) 1957.

Blödsinn deutscher Zeitungen

Erstdruck in: Neue Rheinische Zeitung (Köln), Nr. 139 vom 10.11.1848, Nr. 180 vom 18.12.1848, Nr. 252 vom 22.3.1848 und Nr. 253 vom 23.3.1849.

Die Langeweile, der Spleen und die Seekrankheit

Erstdruck in: Neue Rheinische Zeitung (Köln), Nr. 238 bis 258 vom 6.-29.3.1849.

Großbritannien

Erstdruck in: Neue Rheinische Zeitung (Köln), Nr. 301 vom 19.5.1849.

Proklamation an die Frauen

Erstdruck in: Neue Rheinische Zeitung (Köln), Nr. 301 vom 19.5.1849.

 

Der Text dieser Ausgabe folgt:

Georg Weerth: Sämtliche Werke in fünf Bänden. Herausgegeben von Bruno Kaiser, Berlin: Aufbau, 1956/57.

 

Die Paginierung obiger Ausgaben wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

Die Armen in der Senne

Von den Höhen des Teutoburger Waldes sieht man in eine weite Ebene, die Senne genannt, deren ödester Teil sich zwischen Paderborn, Bielefeld und dem Fürstentum Lippe hinzieht. Sie gewährt einen eigentümlichen Anblick, der sich wohl am besten mit der Aussicht vergleichen läßt, die man in der Abenddämmerung von einem höhern Punkte des Strandes auf die See hat. Die Täuschung wird noch größer, wenn in den Strahlen der untergehenden Sonne, oder im Mondlicht, die dunklen Wasserflächen einiger Teiche zu leuchten beginnen, die hin und wieder den Sand durchschneiden und gewöhnlich von kleinen Fichtengehölzen umgeben sind. In solchen Augenblicken gewinnt die Gegend keineswegs einen schönen, vielmehr einen höchst unheimlichen und wahrhaft geisterhaften Anstrich. – Die Umrisse einiger Meierhöfe und zerstreuter Baumgruppen verschwinden, und bald gewahrt das Auge nur noch den schwarzblauen Farbenton der Ebene, über welche die Nebel in weißen Wogen hereinbrechen.

Dem Beschauenden scheint dann der geheimnisvolle Geist jener Wüste vorüberzuschweben, jener Wüste, in welcher schon so vieles auf und nieder ging, in deren Sand die Waffen der Römer verrosteten, in der Franken und Sachsen im Kampf aneinanderrannten, in welcher der tollste Hexenspuk sein Wesen trieb – und die jetzt[48] wohl die unglücklichsten Bewohner des einst so gewaltigen Westfalens bevölkern. –

Wir wollen von den Bergen hinuntersteigen und uns auf dem eigentlichen Terrain näher umsehen. – Eine Wüste nannten wir jenen Landstrich, und dennoch bevölkert! Leider ist dies nur zu wahr; denn auch hier, wo die Natur dem Menschen geradezu untersagt zu haben scheint, sich anzubauen, hat der Arme, dem kein besserer Boden zuteil wurde, sein Korn der Erde anvertraut. Hier und dort, wo der Sand fester und feuchter ist, sieht man Buchweizen und Hafer in dünnen Halmen aufschießen; gleich daneben, hinter einem Zaun aus Birken geflochten, weidet eine magere, buntgefleckte Kuh, wohl die einzige Trösterin des Bauers, der nicht weit davon aus Lehm und Baumzweigen seine niedrige Hütte aufgeschlagen hat. Treten wir an die Tür derselben, da schlägt uns ein dichter Rauch entgegen, denn für einen Schornstein hat man nicht gesorgt. Ist im Winter der Herd erloschen, da muß der in der Hütte zurückgebliebene Rauch und Dunst noch wärmen. Gehen wir vorüber, da laufen uns einige zerlumpte Kinder nach; sie halten die Hände gefalten und murmeln eine Sprache, welche niemand versteht. Aber in den kümmerlichen Blicken kann man lesen, was sie wollen, und gebt ihr einem kleinen Mädchen mit hellblonden Haaren eine Silbermünze, da ist es mehr, als sie je besaß, mehr, als sie in mehreren Wochen durch Flachsspinnen verdienen kann. – Es ist so rührend komisch, wenn man mit einem Bauer spricht, welcher eben aus Friesland zurückkommt, wo er einige Monate für Lohn arbeitete. Seine Augen blitzen vor Freude; er bringt Geld mit, Geld in dem kleinen ledernen Beutel; das kleine Feld ist unterdes leidlich gediehen; die Kuh ist noch am Leben;[49] er dünkt sich reich und glücklich! Da sieht er plötzlich seine Kinder herbeilaufen, und er wird ernst und still; es fällt ihm ein, daß alles vielleicht nicht hinreicht, um die junge Brut durch den Winter zu bringen.

»Aber beim Teufel, lieber Mann, weshalb hat er auch so viele Kinder!« – »Ja«, sagt der Bauer dann, »die Obrigkeit ist auch gar nicht damit zufrieden. Sehn Sie, wenn unsereins heiraten will, da muß er erst auf dem Amt 150 harte Taler vorzeigen können, und kann er dies nicht, da mag er gehn, – er wird nicht kopuliert. Wenn ich nun unsers Nachbars junge Liese gern leiden mag und kein Geld habe, was tue ich dann? Entweder muß ich bei einem Paderborner Juden das Geld borgen und abscheuliche Prozente bezahlen, oder –«, und dann sieht mancher junge Bauer verschämt zur Erde.

Am schlimmsten sind die Leute daran, welche sich durch irgendeinen günstigen Ackerfleck verleiten ließen, mitten in die eigentliche Senne zu ziehen, denn dort sind sie, wenn im Winter die ohnehin ungangbaren Wege ganz verschneien, von aller Welt abgeschnitten. Der Vorrat von Kartoffeln geht bald zu Ende; durch die schlechte Witterung, welche die Lehmwände der Hütten naß und feucht macht, brechen Krankheiten ins Haus herein; – mehrere Glieder der Familie liegen schon, die Alten an der Gicht, die Jungen am Nervenfieber darnieder – da macht der Gesundeste sich auf und eilt zu dem Prediger des nächsten Dorfes. Der soll trösten, helfen, retten. Man sagt ihm, ein Sterbender wünsche die Sakramente. Er kommt an Ort und Stelle, sieht den Jammer und die Not, sieht aber auch ein, daß das Heiligtum hier weniger helfen kann als eine wollene Decke, als ein gutes Brot. Ist es in seiner Macht, so unterstützt er aus eignen Mitteln,[50] bescheinigt aber gewiß den kläglichen Zustand jener Armen, damit sie aus der nächsten Ortschaft ihren Pfennig von der Behörde und die Hilfe eines Arztes bekommen.

Leider sind manchmal die Einkünfte einer Gemeinde aber nicht so groß, um jedem unglücklichen Einlieger helfen zu können, und, was noch schlimmer ist, oft findet sich auch, daß ein Bauer, nachdem er bei dem Gemeindevorstand um Unterstützung angehalten hat, gar nicht zu dieser gehört, also kein Recht darauf hat. Die Grenzen der Länder, in jener Ebene durch nichts Hervorstechendes markiert, waren ihm nicht bekannt; er weiß nicht, ob er ein Preuße, ein Lipper oder was sonst ist, und ehe er sich von der einen Behörde an die andere wenden konnte, ist der Tod in seine Hütte hereingebrochen und hat mit seinem kalten Kuß allem Leid ein Ende gemacht. –

Vor nicht gar langer Zeit fuhren wir von der lippeschen Grenze ins Preußische hinüber und wurden auf dieser Postwagenreise durch den Sand mehr hin- und hergeworfen als in dem lustigsten Sturm auf dem Kanal. Hinter uns lagen die altsassischen Wälder, in denen wir noch am Morgen einen der größten Hirsche ventre à terre vorüberrennen sahen – vor uns dehnte sich die Ebene mit ihrem rotblühenden Heidekraut, das immer höher aufwuchert, wo ein Teich den Boden feuchter macht. Einige Kiebitze, die schlanken Bewohner der Heiden, hüpften über das Moor und ergötzten uns durch ihr helles Geschrei, in das bisweilen ein alter Frosch mit verständiger ernster Stimme einfiel. Nebenbei lenkte ein alter Förster unsre Aufmerksamkeit auf einige Fichten, in deren Umzäunung wir die Trümmer einer Hütte bemerkten, die das Feuer jüngst zerstört zu haben schien. Die Geschichte,[51] welche der alte Mann darauf erzählte, machte bald unsrer heitren Stimmung ein Ende:

»Im letzten Winter, als abwechselnd durch Schnee und Regen alle Wege durch die Senne ungangbar gemacht waren, hatte in jener Hütte, welche jetzt als Trümmer vor uns lag, die Not ihren Gipfel erreicht. – Ein junger Bauer verlor sein Weib, was ihm sechs kleine Kinder hinterließ. Sie zu ernähren, war das wenige Geld, was er aus Friesland mitbrachte, bald draufgegangen, und eine gänzliche Mißernte machte, daß seine Scheune diesen Winter ohne den gehörigen Vorrat von Früchten blieb. Dazu kam noch das lange Darniederliegen des Leinenhandels, der von England aus mit so großem Erfolg betrieben wird und der den Bauern jener Gegend, welche früher das Garn mit Nutzen zu Markte trugen, jetzt jede Möglichkeit nimmt, ihr Leben dadurch zu fristen. Alles hätte den jungen Bauer indes noch nicht niederbeugen können, denn noch blieben ihm ja zwei tüchtige Fäuste, die zu jeder Arbeit bereit waren und bei dem Bau des Armindenkmals in jener Zeit gerade die beste Gelegenheit dazu fanden. Aber, wie durfte er sich tagelang von seiner Hütte entfernen – sechs Kinder kauerten halb nackt am Feuer, und im Winkel der Stube lag auf hartem Strohlager der alte Vater, krummgezogen von der Gicht, von den fürchterlichsten Schmerzen geplagt, der weinend seine Knie umfaßte und ihn bat, nicht davonzugehen. Mehrere Male war schon das größeste der Kinder in das nächste Dorf geschickt zu dem Prediger. Der Vater sei so krank, ließ man ihm sagen, er möge doch mit den Sterbesakramenten kommen.

Der Pastor war jedesmal erschienen – aber wozu der Trost schöner Worte? – Man ließ ihn rufen, weniger der[52] Gottseligkeit wegen, als daß er noch einmal die Not sähe, noch einmal eine Unterstützung auswirkte oder vielleicht noch einmal in die eigene Tasche griffe; denn der kranke Vater machte noch keine Sterbemiene; sechzehn Wochen lag er schon am Boden, er war an Schmerzen gewöhnt, er wollte leider noch nicht sterben. – So ging der halbe Winter vorüber, die Gegend war von dichtem Nebel umhüllt; bald konnte man kein Kind mehr hinausschicken – es wäre in den sumpfigen Wegen, im Schnee, auf den unsichern Sandschichten unrettbar verloren gewesen; die Hilfe der Nachbarn wurde durch die vielen Armen immer kleiner, manchmal blieb sie ganz aus, und vom Hunger gestachelt, jammerten dann die Kinder in der Hütte umher.

Als die Sonne wieder einmal rot hinter den fernen Bergen hinabgesunken war und in der und um die Hütte das tiefste Dunkel lag, schleicht der junge Bauer aus der Tür, geht an die Wand, hinter welcher der kranke Vater lag, er schauert zusammen, zerdrückt noch eine Träne im Auge – und mit kräftigem Stoß reißt er die morsche Lehmwand auseinander. – Der Kranke, gänzlich erschöpft, ist gerade in festen Schlaf versunken, er merkt nicht, daß ihm der kalte Nachtwind über das Gesicht streicht, und als er endlich wach wird, sich nicht von der Stelle bewegen kann und um Hilfe wimmert – da hört ihn niemand – man ist an das Jammern gewöhnt; der Sohn verbirgt sein Gesicht im Stroh, die Kinder schlafen. – Der Nebel ist indes verschwunden, in der Nacht wird es sternhell, es wird bitterkalt. – Um Mitternacht ist der Alte schon besinnungslos, als der Morgen kommt, ist er tot. –

Jetzt hat der junge Bauer nur noch für die Kinder zu[53] sorgen. Nach einigen Tagen sieht man die Hütte in Flammen aufgehn. – Der Eigentümer steckte sie selbst in Brand und zieht mit den Kindern auf die nächsten Dörfer, um zu betteln.«

Wir schreiben dies in einer Fabrikstadt Englands, in einem echt chartistischen Loch, in dem Armut und Unheil zu Hause ist; man hat uns manche Sachen erzählt, die das Herz beben machen können, aber Geschichten, wie die erzählte aus der lieben Heimat, sind doch auch des Schauderns wert.[54]

 

Die Wohltaten des Herzogs von Marlborough

Wie erfreulich auch das jetzt überall sich hervortuende Streben ist, den arbeitenden und armen Volksklassen mit Rat und Tat beizuspringen, so bedauernswert ist es andrerseits, daß auch hier nur zu oft Eitelkeit, Scharlatanerie und noch schlimmere Dinge sich einmischen und das reine Werk der Liebe durch unedle Nebenrücksichten trüben und beschmutzen, was um so mehr gegeißelt zu werden verdient, als es noch Leute genug gibt, die das ernste Streben der Sozialisten in eine Kategorie mit jener Scharlatanerie und Modesucht werfen möchten. Diese heuchlerische Wohltätigkeitsschwärmerei nach der Mode treibt leider auch schon überall ihr Wesen. Vetter Michel und sein Nachbar John Bull gebärden sich aber dabei am possierlichsten.

Vor einigen Tagen hieß es in allen englischen Zeitungen, der Herzog von Marlborough habe 200 Stück Rotwild, Hirsche und Rehe, in seinem Park erschießen und dieses schöne, saftige Wildbret an die armen Leute der Umgegend verteilen lassen. Diese Nachricht verbreitete Freude durch das ganze Land. Man sprach von der altenglischen Gastfreiheit, welche sich wieder geltend mache, sang das Lied von dem feinen Gentleman und erhob den Herzog bis in den Himmel. Unglaublich schien die Sache freilich noch immer, da der Herzog sich bisher nur als ein Geizhals erster Größe gezeigt hatte. Es blieb aber[55] dabei, daß die unendliche Not der Armen das Herz des reichen Aristokraten besiegt habe. Leider wird aber in London ein kleines Volksblatt gedruckt, »Punch« geheißen – dieser »Punch« steckt seine Nase in jeden Dreck, und mancher weiß davon zu erzählen. »Punch« ist nicht zufrieden mit den Wildbret-Gerüchten und sendet einen Abgeordneten, um sich an Ort und Stelle von der Großmut des Herzogs zu überzeugen. – Da kam denn die folgende artige Geschichte zum Vorschein: »Als der Herzog von Marlborough vor wenigen Tagen in seinem Park lustwandelte und, wie Patrioten und Philanthropen zu tun pflegen, über die Lage seiner Mitmenschen, der Armen, nachdachte, da fand er sich plötzlich umringt von zirka 2.000 Stück Rotwild. Sämtliche Tiere gehörten ihm. Bei andern Gelegenheiten zeigten die Hirsche, welche den Herzog sehr wohl kannten, stets ihre Leichtfüßigkeit und entfernten sich so rasch wie möglich. Zu der Zeit, wovon wir sprechen, war dies nicht so. Die Hirsche blieben stehen und blickten auf Se. Hoheit. Die Wahrheit ist, daß sie nicht soviel Kraft mehr hatten, um ihre Beine zu bewegen. Auch rollten einigen die hellen Tränen aus den großen Augen, und hätten die Tiere sprechen können, so würden sie alle gesagt haben: ›Ach, lieber Herzog, wir verhungern, du gibst uns kein Heu mehr, das Futter ist rar – ach, Hunger, du bitteres Kraut!‹

Der Herzog verstand die wehmütigen Blicke seiner Hirsche. Er zählte die Rippen derjenigen, die ihm zunächst standen, und wurde sehr nachdenklich. Er dachte an die Lage seines Viehs, und er dachte an den hohen Preis des Heus. ›Was soll ich tun?‹ sprach der Herzog. ›Wenn ich die ganze Bande den Winter hindurch erhalte, verliere ich enorme Summen – ein paar hundert Stück[56] sind außerdem schon zu Schatten herabgesunken – sie werden morgen krepieren, und dann gibt es große Arbeit, sie alle unter die Erde zu schaffen.‹ Plötzlich kam ihm ein herrlicher Gedanke: ›Du rufst die Armen aus der Gegend zusammen, erklärst ihnen, Gott habe dein Herz zur Milde gestimmt, und dann machst du ihnen 200 Stück der abgemagertsten Hirsche zum Geschenk.‹ – Also geschah's, die Hirsche wurden mit allen Ehren erschossen, – die Bauern schleiften sie heim und haben sich an den Knochen die Zähne weidlich zerbissen.«

Dies sind die Wohlfahrtsbestrebungen eines englischen Aristokraten. Wir wollen jetzt sehen, ob sie durch die Taten eines deutschen Gewerb-Vereins übertroffen werden. – Der Herzog erquickt die arbeitenden Klassen durch Haut und Knochen, der Leipziger Gewerb-Verein erfrischt sie durch eine Annonce in der Augsburger »Allgemeinen Zeitung«.

In Nr. 14 der Augsb. Zeitung heißt es:

 
Bekanntmachung

In Gemäßheit des von der Versammlung deutscher Gewerbetreibenden am 7. Oktober v. J. in Leipzig gefaßten Beschlusses wird hiermit ein Preis von 100 Stück Dukaten für die beste schriftliche Lösung der Frage ausgesetzt: Bei welchen Gewerben im deutschen Zollverbande finden sich vorzugsweise Hilfsbedürftige unter den arbeitenden Klassen, und welches sind die geeigneten Mittel, ihrer Not sicher und dauernd abzuhelfen?

Preisschriften mit Angabe des Verfassers bis 31. August 1845 an J.G. Günther in Leipzig einzusenden.

Der diesjährige Ausschuß für die Versammlungen deutscher Gewerbetreibender.

 

Also ihr deutschen Leipziger Gewerbetreibenden habt noch nötig, einem Literaten 100 Stück Dukaten zu bieten,[57] um etwas über die Not der arbeitenden Klassen zu erfahren? Habt ihr denn nie die »Rheinische Zeitung« gelesen, wenn sie ihre Korrespondenzen aus der Eifel, von der Lahn oder der Mosel brachte? Habt ihr nie von den Armen Berlins gehört? Nichts über die Bauern in Westfalen, im Ravensbergischen, in der Senne? Sind euch die Vorfälle in Schlesien unbekannt? – Es scheint, daß ihr lange Zeit in festem Schlafe gelegen habt.

Wie viele von euch, ihr Gewerbetreibenden, stolpern in ihren Fabriken, in ihren Spinnereien über bleiche, weinende, verkrüppelte Kinder, über schwindsüchtige Frauen, über ruinierte Männer. Und während ein Schrei der Entrüstung durch die ganze Welt geht, daß in solchen Etablissements die heranwachsenden Geschlechter im Keim verdorben werden, tut ihr, als wenn ihr gar nichts davon wüßtet, und seid naiv genug, euch zu erkundigen, bei welchen Gewerben im deutschen Zollvereine sich vorzugsweise Hilfsbedürftige finden. Gebt doch dem ersten besten Arbeiter eurer Fabriken einen einzigen Dukaten, unter der Bedingung, euch sein Inneres aufzuschließen und einmal ganz so zu sprechen, wie es ihm ums Herz sei, und ihr werdet mehr erfahren wie von zehn Literaten, die euch für 100 Stück Dukaten ihre Meinung sagen sollen. Auf diese Weise spart ihr 99 Stück – die Sache ist so viel billiger.

Ihr nennt euch »eine Versammlung deutscher Gewerbetreibender«; da ist es doch möglich, daß einige Fabrikanten aus Schlesien oder aus Rheinpreußen in eurer Mitte sind. Vielleicht sind sogar Fabrikherren unter euch, in deren Säle die Kinder genötigt sind, bei dem Anmachen der Fäden stets gebückt zu stehen – eine notwendige Folge der zu niedrig liegenden Maschinen –, so[58] daß die Kinder in Zeit von einem Jahre krumme Beine und krumme Rücken kriegen.

Die Gewerbetreibenden in Leipzig machen es nicht wie die Herren von Köln, welche zusammenkommen und sagen: »Die Not ist da, hier sind wir und helfen!«, nein, sie wollen wissen, wo es denn eigentlich am schauderhaftesten hergeht; sie müssen erst Krüppel und Leichen sehen, ehe sie mit ihrer Hilfe Ernst machen; sie sind nicht damit zufrieden, daß es wirklich Not gibt – sie wollen auch das Blut und die Fetzen beriechen. Als ob es nicht im Grunde einerlei wäre, daß hier ein Winzer am Verhungern ist, dort die Kinder der Fabriken malträtiert werden, daß hier ein Handwerker in dumpfigen Kellergeschossen zugrunde geht, dort ein Weber in seinem Stuhl verkrüppelt. Als ob sich ein so genauer Unterschied zwischen den Leiden der arbeitenden Klassen machen ließe!

Die Not der arbeitenden Klassen liegt gerade euch am allernächsten, und wie dieser Not abzuhelfen ist und wie man der entstehenden vorbeugen kann, das ist auch bereits ausgesprochen und wird es noch täglich, ohne 100 Dukaten. Wäre die Bekanntmachung der Gewerbetreibenden auch in der reinsten Absicht geschehen, so wäre sie mindestens – zwecklos.

Der Redensarten ist man so ziemlich satt – die haben noch keinen auf die Beine gebracht; und wenn ihr Gewerbetreibenden die Arbeiter durch Traktätchen und Bibelsprüche zu mästen und zu trösten hofft, so werden sie wahrscheinlich bei dem Spruch des alten, zornigen Jesaias stehenbleiben: »Wir brummen alle wie die Bären und ächzen wie die Tauben, denn wir harren aufs Recht, so ist's nicht da, aufs Heil, so ist's ferne von uns.«[59]

 

Die englischen Arbeiter

Wir sind es bei den Buchhändlern der ganzen Welt gewohnt, daß sie die Rückseiten neu erschienener Werke mit den Annoncen ihrer übrigen Verlagsartikel behängen. So muß z.B. ein nagelneues Gebetbuch die Titel und[189] die Preise von einem Dutzend ähnlicher Erbauungsschriften durch die Welt schleifen; die Rückseite eines Kochbuches macht uns mit den neuesten Abhandlungen über Heringsfang und Käsebereitung bekannt. Eine neue Ausgabe selig verstorbener Klassiker hat einen förmlichen Kometenschweif von noch lebenden unglückseligen Autoren hinter sich. Der »Don Quijote« hat stets den »Gil Blas« und den »Chevalier Faublas« auf dem Nacken; der Shakespeare trägt fast immer den Byron und den Milton huckepack. Der Walther von der Vogelweide hat die »Gudrun« und den »Wieland den Schmied« und den »König Orendel« und »Parzival« und »Titurel« im Schlepptau usw., und das ist ganz recht. Es ist ganz in der Ordnung, daß man ein Kochbuch mit einer Käseschrift anzeigt, daß man das Wort Gottes mit den Worten eines evangelischen Kandidaten ausposaunt, daß man die meisten unserer jüngeren Poeten stets an der Nabelschnur ihrer guten poetischen Großmutter herumlaufen läßt. Unverzeihlich ist es indes, wenn es den industriellen buchhändlerischen Käuzen auch mitunter einfällt, die Gebetbücher unter die Käserubrik zu bringen, die Poesie unter den Heringsfang oder die evangelischen Kandidaten unter den »Chevalier Faublas«. In Deutschland geschieht dies freilich seltener; in England ist es aber an der Tagesordnung; so ein englischer Buchhändler ist nun einmal determiniert, seine Bagagen an den Mann zu bringen; er druckt nicht allein sämtliche ältern Verlagssachen auf die Rückblätter seiner neuern Bücher, sondern er fertigt sich auch separat einige tausend Annoncenbogen an, und du magst bei ihm kaufen, was du willst, er dreht dir einen solchen Bogen um dein erstandenes Werk. Ein englischer Buchhändler gehört immer einer gewissen Farbe,[190] einer bestimmten Partei an; er ist entweder ein Tory oder ein Whig, ein Freetrader oder ein Chartist, ein Anglikaner oder ein Dissenter; nicht daß er deswegen nur Tory-Bücher verkaufte, wenn er ein Tory wäre, oder nur ausschließlich chartistische, wenn er zu der Partei der Chartisten gehörte – nein, keineswegs! Ein englischer Buchhändler ist ebensogut ein Mensch wie jeder andere auch; vor allen Dingen ist er ein Kaufmann, und wie jener Birminghamer Fabrikant sich für Missionsgesellschaften verwandte, zu gleicher Zeit aber doch Götzenbilder fabrizieren konnte, so kann ein englischer Buchhändler ein entsetzlicher Tory sein, ohne es gerade zu verschmähen, unter der Hand auch einige Schillinge an einem chartistischen Buche zu verdienen.

Jedenfalls bleibt er indes stets seiner Partei getreu; er wird dir das bestellte chartistische Buch schicken, er dreht aber einen Bogen aristokratischer Bücherannoncen darum; bestelltest du bei einem Teetotaler einen Band Trinklieder, so wird er die Trinklieder in den Prospektus einer Mäßigkeitsgesellschaft binden; forderst du bei einem frommen Buchhändler ein gottloses Buch, so wird er dir zwar das gottlose Buch nicht vorenthalten, er wird dich aber jedesmal auf eine ganze Liste heiliger und erbaulicher Schriften aufmerksam machen, und wirst du umgekehrt bei einem atheistischen Krämer ein gottesfürchtiges Traktätchen erhandeln, so wird er nicht unterlassen, dir das Gift seines Verlags in Gestalt einer zierlich gedruckten Annonce beizufügen. Wenn ich manchmal im Laufe der Woche verschiedene Bücher aus allerlei Läden zusammengetragen hatte, da entdeckte ich plötzlich auf meinem Tische die unheiligsten Spottgedichte, die schlechtesten Liebeslieder und die rührendsten Missionsberichte –[191] Sachen, welche doch alle gar nicht in mein Fach schlagen –, die wie durch ein Wunder in mein Zimmer geflogen zu sein schienen. Mit der Zeit kam ich erst hinter die Geschichte und habe mich später oft über einen sehr eifrigen Shopkeeper gefreut, der sieben Jahre lang um jeden Bleistift und um jedes Stück Siegellack, was er verkaufte, eine Abhandlung über die Notwendigkeit der Abschaffung der Korngesetze wickelte. Eine solche Manier, Propaganda zu machen, ist wirklich gar zu herrlich, und ich bin fest davon überzeugt, daß jener Shopkeeper auch seiner Zeit von der Anti-Corn-Law-League reichlich für seinen Patriotismus belohnt worden ist.

Am gewandtesten und eifrigsten sind die kleineren Buch- und Zeitungshändler in dieser Art des Annoncierens; sie haben größtenteils die arbeitende Klasse zu ihrer Kundschaft, und sie verfehlen nicht, jedem armen Teufel, der sich am Samstagabend eine Zeitung kauft, irgendeinen Vers, einen Spruch, ein Bild oder einen Aufruf mit in den Kauf zu geben. Während einer politischen Agitation kann dies Verfahren von unendlichem Nutzen für gewisse Parteien sein. Manchmal enthält der Umschlag einer Zeitung mehr als die ganze Zeitung selbst. Ich habe oft bemerkt, daß ein Holzschnitt, der die Gesichter bekannter Personen getreu wiedergab und auf Dinge Bezug hatte, welche die Arbeiterwelt im höchsten Grade interessierte, mit einem Schlage einen solchen Enthusiasmus unter den Leuten hervorrief, daß sie vor Freude laut aufjauchzten. Durch ein einziges Bildchen, durch wenige Striche, durch die winzigste Zeichnung eines einigermaßen geschickten Künstlers wurde oft eine größere Wirkung hervorgebracht als durch das längste Zeitungsräsonnement.

Von den vielen derartigen Bildern will ich nur eins[192] erwähnen, welches mir ein Bradforder Zeitungshändler mehr wie zehnmal um meine Blätter wickelte. Es frappierte mich seinerzeit um so mehr, weil es gerade in einem Augenblick verteilt wurde, wo die Verkehrtheiten unserer heutigen gesellschaftlichen Einrichtungen wieder einmal in ihrer ganzen Scheußlichkeit ans Licht kamen; wo in Bradford, in jenem Orte des blühendsten Handels und der ausgedehntesten Industrie, mit einem Male Tausende von Menschen auf den Straßen standen, welche weder Arbeit noch Brot hatten, welche nach einem Leben voller Not und Mühe nur eine Zukunft voll Verderben und Verzweiflung vor Augen sahen.

Ach, wüßte ich es zu zeichnen, dies kleine unbedeutende Bildchen! Es wäre das beste Gegenstück zu dem Gemälde der industriellen Prosperität Englands, zu jenen kolossalen Summen, zu jenen enormen Zahlen, mit denen ich vorher die Glückseligkeit der unternehmenden Briten zu schildern suchte.

Man sah einen Baum, eine prächtige Eiche, deren Äste sich nach allen Seiten hin ausbreiteten, deren Krone hinauf in die Wolken reichte. Die Wurzeln des gewaltigen Stammes schlugen tief hinab in den Boden. Unwillkürlich blickte man zuerst hinauf nach dem Gipfel; da sproßte das junge Laub aus den saftigen Reisern, und ein Kranz von grünen Büschen umgab eine schlanke Frauengestalt, die sich leicht auf den Zweigen zu schaukeln schien. Sie trug eine Krone auf ihren Locken und ein Szepter in der Hand, und jede ihrer Mienen schien zu sagen: ich bin Victoria Regina. Neben ihr blitzten Herzogskronen, Bischofsmützen und Hermelinmäntel durch das Grün des Laubes; die Schafsnase des alten Wellington nickte einem vertraulich innig entgegen, und die[193] karierten Hosen des Lord Brougham schimmerten deutlich hinter dem Gewirr der Zweige. Rechts hingen wie Äpfel an einem Christbaume die Minister der Königin, der eine in Akten vergraben, der andere wie in einer Rede begriffen, alle in verschiedenen Stellungen, und auf den ersten Blick erkannte man den wohlbeleibten Sir Robert Peel und den verschmitzten Sir James Graham. Links bemerkte man die Leiter der Opposition, an ihrer Spitze den kleinen Lord John Russell und den alten Dandy Palmerston; alle mehr oder weniger beschäftigt, aber wohlgenährt und lächelnd wie Leute, die ihres Glückes gewiß sind. Unter ihnen trieb sich rechts und links eine Schar Edelleute; der eine auf dem flüchtigen Renner daherspringend; der andere mit vielen Hunden auf der Jagd; der dritte bei einem Diner, das Champagnerglas in der Hand; der vierte in den Armen eines lieblichen Mädchens. Diese Gesellschaft nahm die Krone des Baumes ein. In dem mittleren Teile bemerkte man vornan einen feisten, wohlgenährten Mann, wahrscheinlich einen Bankier, umgeben von Geldsäcken und Schuldverschreibungen; neben und um ihn stattliche Handelsherren auf Ballen gelehnt, Seeleute auf das Anker gestützt und hin und wieder auch einen runden Pächter mit rosenroten Wangen. Doktoren, Advokaten und Pastoren, hübsch gekleidet, aber mit unzufriedenen Gesichtern, schwärmten in großer Menge um die in der Mitte Versammelten und schienen mit gierigen Blicken nach den Geldsäcken der Handelsleute hinüberzublicken. Dann folgten Ackerknechte hinter dem Pfluge, Weber hinter dem Webstuhl, Spinner an der Spinnmaschine und Männer in Bergmannstracht, die eben ihren Schachten entstiegen zu sein schienen. Dann Handwerker mit ihren Gerätschaften in der[194] Hand, der fleißige Schneider, der geschickte Tischler; Holzhacker dann und Mistschieber und Nähterinnen und Lastträger, und je weiter man an den Ästen des Baumes hinuntersah, desto mehr beschäftigte, rastlos arbeitende Menschen fand man. Wo aber der Stamm anfing, da schlang sich ein solches Gewirr von sonderbaren Gestalten durcheinander, daß man nur mit einiger Aufmerksamkeit das eine von dem andern unterscheiden konnte. Hunderte von Menschen, Männer, Weiber und Kinder, die meisten in Lumpen und Fetzen gehüllt, schienen sich mit Fäusten und Bettelstöcken um die letzten Brocken des Verdienstes zu prügeln. Der eine überstürzte den andern, jeder wollte nach oben streben, und unerbittlich trat man die Schädel mit den forteilenden Füßen. Rechts und links sanken die Schwächsten und Unglücklichsten aus den Reihen ihrer Genossen, der eine die Hände faltend, der andere das Haar zerraufend, der dritte die Brust mit Fäusten schlagend, und wie Leichen nach dem Kugelregen einer Schlacht sammelten sich die Kadaver der Gefallenen zu grauenhaften, entsetzlichen Gruppen am Fuße des gewaltigen Baumes. Bleiche, fahle Gesichter, stiere Augen, krampfhaft geballte Fäuste und magere, entfleischte Beine lagen in vollem Gewirr durcheinander, und wie gierige Blutegel und Nattern schlangen sich die Wurzeln des Baumes um die halbverwesten Leiber, ja sie drangen hinab bis in die Herzen dieser Unglücklichen, als ob dort die rechte Nahrung zu saugen sei für den ganzen Baum und für alles, was in seinen Ästen und Zweigen lebe, von dem fleißigen Spinner und Weber an bis zu dem frohen Handelsherrn, bis zu dem faulenzenden Edelmann, ja hinauf bis zu den glückseligen Lords und bis zu der lächelnden Königin.[195]

Das war der Baum der englischen Glückseligkeit; und wenn ein Arbeiter nach sechs Leidenstagen vielleicht am Samstagabend zu jenem Buchhändler in den Laden trat, um sich für seine letzten Pfennige eine Zeitung zu kaufen, damit er sehen könne, ob sich denn niemand in der ganzen Welt seiner Leiden annehme, ob niemand den Mut habe, für ihn und seine Kinder aufzutreten, ach, da mochte er auf dem kleinen Bilde, was man um seine Zeitung drehte, da mochte er in jenen zerschmetterten Kadavern nur gar zu bald die Gestalten seiner früheren Freunde wiederfinden, da mochte es ihm mit Schrecken einfallen, daß ihm wahrscheinlich nur eine ähnliche Zukunft bevorstehe, weil die lustigen Handelsherren und die seligen Lords noch so unbekümmert und so zufrieden lächelnd dort oben auf den Zweigen des schönen Baumes sitzen konnten, jenes schönen Baumes, dem das Herzblut, dem der Schweiß eines untergehenden Geschlechtes als Dünger diente.

Es ist ein leichtes Ding, sich des Großen und Schönen in der Welt zu erfreuen, aber man frage nicht nach den Seufzern und Tränen, mit denen es geschaffen wurde!

Bei meinem Aufenthalt in Bradford hatte ich die beste Gelegenheit, die Opfer aufzuzählen, mit denen der reiche Brite seine industrielle Größe erkauft. Manches hatte ich gelesen, was mir eine Idee hierüber geben konnte, aber ich wollte alles mit eigenen Augen sehen, ich wollte noch mehr sehen, als was man auf einem flüchtigen Gange durch die schlechtesten Gassen einer Fabrikstadt zu bemerken pflegt.

Ich schloß mich daher einem schottischen Doktor an, der vom Morgen bis zum Abend in allen Arbeiterhütten herumkriechen mußte. Das war das beste Mittel, um[196] hinter die Kulissen jenes grandiosen Schauspieles zu kommen, dessen kolossale Fülle an Pracht und Reichtum uns nur gar zu oft vergessen läßt, welche Not und welche Verzweiflung den Hintergrund der Bühne ausfüllen.

Eines Abends hatten wir länger als gewöhnlich in einem Wirtshause des untern Stadtteils gesessen, da trat der Wirt zu uns herein und meldete dem Doktor, daß im »Weißen Hause« eine junge Frau eben im Begriff stehe, die Welt mit einem überflüssigen Menschen zu bereichern, der Herr Doktor also aufbrechen und helfen müsse.