Minouche Shafik
Was wir einander schulden
Ein Gesellschaftsvertrag für das 21. Jahrhundert
Aus dem Englischen von Karen Genschow
Ullstein
Das Buch
Die Klimakatastrophe sowie der demografische und technologische Wandel werden unsere Welt in einem schwer fassbaren Ausmaß verändern. Minouche Shafik stützt sich in dieser bahnbrechenden Studie auf Erkenntnisse aus der ganzen Welt und ermittelt so die wichtigsten Grundsätze, auf die sich jede Gesellschaft einigen muss, um die Herausforderungen des kommenden Jahrhunderts zu bewältigen. Wie können Gesellschaften mit Risiken umgehen, Ressourcen aufteilen und individuelle und kollektive Verantwortung in Einklang bringen? Shafik bietet neue Antworten auf diese Fragen, die die Menschheit schon seit Generationen beschäftigen, und gibt uns das Wissen an die Hand, das wir alle benötigen, um uns den Herausforderungen der Zukunft zu stellen.
Die Autorin
NEMAT (MINOUCHE) SHAFIK ist seit 2017 Direktorin der London School of Economics and Political Science. Sie wurde 1962 in Ägypten geboren, zog als Kind in die USA und studierte Wirtschaftswissenschaften an der LSE sowie an der Oxford University. Bereits im Alter von 36 Jahren wurde sie Vizepräsidentin der Weltbank.
Minouche Shafik
Was wir einander schulden
Ein Gesellschaftsvertrag für das 21. Jahrhundert
Aus dem Englischen von Karen Genschow
Ullstein
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel
What We Owe Each Other: A New Social Contract
bei The Bodley Head, London.
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ISBN 978-3-8437-2621-4
© Nemat (Minouche) Shafik 2021
© der deutschsprachigen Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021
Lektorat: Christian Seeger
E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Für Adam, Hanna, Hans-Silas, Maissa,
Nora, Olivia und Raffael
INHALT
Über das Buch und die Autorin
Titelseite
Impressum
Widmung
Danksagung
Vorwort
1 WAS IST DER GESELLSCHAFTSVERTRAG?
2 KINDER
3 BILDUNG
4 GESUNDHEIT
5 ARBEIT
6 ALTER
7 GENERATIONEN
8 EIN NEUER GESELLSCHAFTSVERTRAG
Abbildungsnachweise
Feedback an den Verlag
Empfehlungen
DANKSAGUNG
Es dürfte kaum überraschen, dass ich vielen Menschen, die mir dabei geholfen haben, dieses Buch zu schreiben, zu großem Dank verpflichtet bin.
Die Idee, ein Buch zu schreiben, trug Rupert Lancaster an mich heran, nachdem er 2018 einen Vortrag von mir bei der Leverhulme Foundation besucht hatte. An der London School of Economics habe ich davon profitiert, von Menschen umgeben zu sein, die interessant und interessiert sind, angefangen bei meinen Kollegen und Kolleginnen im Direktorium und im Rat. Viele Kollegen teilten ihre Ideen mit mir und gaben großzügig Rückmeldungen zu frühen Entwürfen; hierfür bin ich Oriana Bandiera, Nick Barr, Tim Besley, Tania Burchardt, Dilly Fung, John Hills, Emily Jackson, Julian LeGrand, Steve Machin, Nick Stern, Andrew Summers, Andres Velasco und Alex Voorhoeve besonders dankbar. Etliche Freunde und ehemalige Kolleginnen und Kollegen wiesen mich auf relevante Literatur hin, lieferten hilfreiche Kommentare und dringend benötigte Ermutigung: Patricia Alonso-Gamo, Sonya Branch, Elizabeth Corley, Diana Gerald, Antonio Estache, Hillary Leone, Gus O’Donnell, Sebastian Mallaby, Truman Packard, Michael Sandel und Alison Wolf. Ich bin ihnen für ihre guten Ideen zu Dank verpflichtet; etwaige Fehler gehen ausschließlich auf mein Konto.
Max Kiefel leistete hervorragende Recherchehilfe, spürte interessantes Material auf und gab hilfreiche Anregungen, obwohl wir uns aufgrund der Pandemie nur einmal persönlich treffen konnten. James Pullen, mein Agent bei Wylie, half mir, mich in der Verlagswelt zurechtzufinden, und war eine ständige Quelle für gute Ratschläge. Will Hammond, mein Lektor bei Penguin Random House, ermutigte mich, akademischen Jargon zu vermeiden, und half dabei, den Text sehr viel lesbarer zu machen. Auch von Joe Jackson von der Princeton University Press erhielt ich hilfreiches Feedback.
Besonders viel verdanke ich meiner Mutter Maissa, die mich zu all den Bibliotheken chauffiert und mich immer unterstützt hat, komme was wolle. Dankbar bin ich meiner Schwester Nazli, meiner Nichte Leila und meiner großen Familie, die ein wunderbares Beispiel für einen Gesellschaftsvertrag bietet, der großzügig ist und jedem nützt. Meinem Ehemann Raffael schulde ich Dank dafür, dass er mich couragierter macht und mich dazu ermutigt, immer größere Herausforderungen anzunehmen. An unsere Kinder – Adam, Hanna, Hans-Silas, Nora und Olivia – dachte ich zuallererst, als ich das Kapitel über den generationenübergreifenden Gesellschaftsvertrag schrieb. Für sie und alle unsere Kinder und künftigen Enkelkinder hoffe ich, dass es uns gelingt, einen besseren Gesellschaftsvertrag zu gestalten, damit sie alle gedeihen können.
VORWORT
»Alles zerfällt, die Mitte hält nicht mehr […] Gewiß, eine Offenbarung steht bevor.« Diese Worte schrieb W. B. Yeats in seinem Gedicht »Das zweite Kommen« (»The Second Coming«) unmittelbar nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs, als seine schwangere Frau während der Grippeepidemie 1918/19 schwer krank darniederlag. Die Formulierung »alles zerfällt« wurde 2016 häufiger zitiert als je zuvor.1 Yeats’ Gedicht hält eine Stimmung düsterer Vorahnung fest, von bevorstehender unvermeidlicher Veränderung. In den letzten Jahren haben wir die wirtschaftlichen Folgen der Finanzkrise von 2008 erlebt, eine zunehmend spaltende politische Entwicklung, Umweltproteste und die Covid-19-Pandemie. Perioden großer Instabilität können zu einer radikalen Neuordnung unserer Gesellschaften führen. Welche Gestalt diese Neuordnung annimmt, hängt davon ab, welche Institutionen existieren, welche Führer oder Führerinnen an der Macht sind und welche Ideen Konjunktur haben.2
In den vergangenen Jahren habe ich viele der Annahmen, Institutionen und Normen, die meine Welt geprägt haben, mehr und mehr zerfallen sehen. Ich war 25 Jahre in der internationalen Entwicklungspolitik tätig und habe aus erster Hand erfahren, wie die Kampagne »Make Poverty History« (in Deutschland »Deine Stimme gegen Armut«) die Lebensbedingungen der Menschen enorm verbessert hat. Die Menschen hatten es in der Tat noch nie so gut wie heute; dennoch sind sie in vielen Teilen der Welt enttäuscht, was in der Politik, in den Medien und im öffentlichen Diskurs zum Ausdruck kommt. Die Zunahme von Wut und Angst hat damit zu tun, dass die Menschen mehr Unsicherheit und Machtlosigkeit in Bezug auf ihre eigene Zukunft verspüren. Auch lässt die Unterstützung für das System internationaler Zusammenarbeit, das seit der Nachkriegszeit existiert und in dem ich einen großen Teil meiner beruflichen Laufbahn verbracht habe, in dem Maße nach, in dem Nationalismus und Protektionismus stärker werden.
Die globale Pandemie von 2020 brachte dies alles deutlich zum Vorschein. Die Risiken, denen die Armen sowie die in prekären Arbeitsverhältnissen und ohne medizinische Versorgung Lebenden ausgesetzt sind, traten offen zutage. Unsere Abhängigkeiten wurden sichtbar, da die »systemrelevanten Arbeitskräfte«, ohne die unsere Gesellschaften nicht funktionieren können, mit Abstand am schlechtesten bezahlt waren. Wir könnten ohne Banker und Rechtsanwältinnen überleben, aber Verkaufs- sowie Pflegepersonal und Sicherheitskräfte sind unverzichtbar. Die Pandemie zeigte, wie sehr wir für unser Überleben, aber auch für ein sozial verantwortliches Handeln aufeinander angewiesen sind.
Krisenmomente sind auch Chancen. Einige Krisen führen zu Entscheidungen, die die Gesellschaft zum Besseren verändern – so wie die Maßnahmen des New Deal, die zur Bekämpfung der Weltwirtschaftskrise eingeführt wurden, oder die regelbasierte internationale Ordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstand. Andere Krisen legen den Keim zu neuen Problemen, etwa die unzureichenden Antworten auf den Ersten Weltkrieg oder die Finanzkrise von 2008 mit ihren populistischen Gegenreaktionen. Die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie werden sich erst noch zeigen. Ob sie zu Verbesserungen führen oder nicht, hängt davon ab, welche alternativen Ideen zur Verfügung stehen und für welche von ihnen sich die Politik entscheidet.3 Nach viel Lesen, Zuhören und Nachdenken und nach vielen Gesprächen scheint mir, dass das Konzept eines Gesellschaftsvertrags – die politischen Entscheidungen und Normen, die unser gesellschaftliches Zusammenleben regeln – ein nützliches Konstrukt ist, um alternative Lösungen für die Herausforderungen, denen wir uns gegenübersehen, greifbar zu machen und zu definieren.
Viele der Ideen, die das Nachdenken über Gesellschaftsverträge überall in der Welt geprägt haben, entstanden in den vergangenen Jahren an der London School of Economics and Political Science (LSE), deren Direktorin ich derzeit bin. Es gibt dort eine lange Tradition des Nachdenkens über das Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft, angefangen bei den Gründern der Fabian Society und der LSE, Beatrice und Sidney Webb. Beatrice verbrachte Jahre damit, die Zustände in den ärmsten Gegenden von London zu untersuchen und die Auswirkungen von Entbehrung mit eigenen Augen zu sehen. Als Mitglied einer vom Parlament eingesetzten Kommission zur Überprüfung des Armenrechts verantwortete sie 1909 einen abweichenden Minderheitsbericht, der das strenge System der Arbeitshäuser und Großbritanniens unsystematischen Ansatz zur Unterstützung von Menschen in Armut verurteilte. Darin argumentierte sie, ein neuer Gesellschaftsvertrag für das Vereinigte Königreich würde »landesweit ein Minimum an zivilisiertem Leben sichern, für alle gleichermaßen, für beide Geschlechter und alle Klassen, womit wir ausreichende Ernährung und Bildung für die Jungen, ein Existenzminimum für Gesunde, medizinische Behandlung für Kranke und ein bescheidenes, aber sicheres Auskommen für die Älteren oder Behinderten meinen«.4 Mehr als hundert Jahre später ist dies weiterhin ein in den meisten Ländern der Welt unerreichtes Ziel.
Ihre Argumente fanden Widerhall in dem überaus einflussreichen Bericht von William Beveridge (Direktor der LSE von 1919 bis 1937), der eine Blaupause des modernen Wohlfahrtsstaats im Vereinigten Königreich erstellte, einschließlich des National Health Service (NHS) und umfassender Vorschläge für Mindestlöhne, Arbeitslosenversicherung und Altersvorsorge. Der Beveridge-Bericht (1942) war bahnbrechend, und es wurden so viele Exemplare davon verkauft wie noch von keinem Regierungsdokument zuvor; die Bevölkerung stand Schlange, um ein Exemplar zu erwerben und Einblick zu erhalten in diese grundlegende Neuordnung der Rechte und Pflichten der Bürger und Bürgerinnen Großbritanniens. Ein großer Teil der Umsetzung erfolgte unter Premierminister Clement Attlee, der zuvor Dozent an der LSE gewesen war und die Wahlen 1945 nicht zuletzt aufgrund seiner Unterstützung des Beveridge-Berichts gewonnen hatte. Während der Fokus der Webbs und Beveridges auf Großbritannien lag, übten ihre Ideen überall in Europa und in weiten Teilen der postkolonialen Welt erheblichen Einfluss aus, vor allem in Indien, Pakistan, Ostasien, Afrika und im Nahen Osten.5
Die LSE stand auch im Mittelpunkt der nächsten Neuordnung der Gesellschaften, als Friedrich August von Hayek, Emigrant aus Wien, LSE-Professor und Nobelpreisträger, 1944 sein Werk Der Weg zur Knechtschaft veröffentlichte. Hayek war der Auffassung, dass das Modell des interventionistischen Staates, das Beveridge vertrat, die Gesellschaft auf den Pfad des Totalitarismus führen würde. Mit seinem Fokus auf individueller Freiheit und der Effizienz der Märkte schuf er die Grundlage für den klassischen Wirtschaftsliberalismus. Er verließ die LSE 1950 und ging an die Universität von Chicago, wo seine Ideen Milton Friedman beeinflussten und das Fundament legten für das, was später als Chicagoer Schule bekannt wurde, die sich dem Liberalismus und einer Laissez-faire-Wirtschaft verschrieb. Sowohl Margaret Thatcher als auch Ronald Reagan beriefen sich mit ihren politischen Programmen und ihrer Betonung von Individualismus und freien Märkten auf Hayek.6 Er war auch in Mittel- und Osteuropa höchst einflussreich, wo seine Bücher von vielen Dissidenten und Dissidentinnen gelesen wurden, die schließlich zum Zerfall der Sowjetunion beitrugen.
Der sogenannte Dritte Weg war dann der Versuch, eine Alternative zum interventionistischen Staat der Fabianer und dem Laissez-faire-Marktliberalismus Hayeks zu entwerfen. Viele Ideen darüber, wie man Märkte nutzt, um egalitärere Ziele zu erreichen, entstanden an der LSE, etwa von Anthony Giddens (einem weiteren Direktor der Schule in den Jahren 1997 bis 2003), der 1998 das Buch Der dritte Weg veröffentlichte.7 Diese Ansichten machten sich sozialdemokratische Politiker überall auf der Welt zu eigen, darunter Bill Clinton in den USA, Tony Blair in Großbritannien, Luiz Inácio Lula da Silva in Brasilien, Gerhard Schröder in Deutschland, Thabo Mbeki in Südafrika und viele weitere. Mit der Großen Rezession von 2008 brach der Rückhalt für den Dritten Weg zusammen, der seine Glaubwürdigkeit infolge der Finanzkrise verlor, als Führer und Führerinnen der politischen Mitte auf der ganzen Welt zunehmend durch Populisten und Populistinnen ersetzt wurden.
Und so sind wir wieder an einem Punkt angelangt, an dem ein neues Paradigma benötigt wird. Grundlegende Veränderungen in Technologie und Demografie fordern die alten Strukturen heraus. Die Klimakrise und die globale Pandemie mit ihren unvermeidlichen wirtschaftlichen Folgen haben gezeigt, wie wenig unser derzeitiger Gesellschaftsvertrag noch funktioniert. Dieses Buch ist ein Versuch, die diesen Herausforderungen zugrunde liegenden Ursachen zu verstehen und, noch wichtiger, eine neue Sicht auf die Frage zu bieten, wie ein dem 21. Jahrhundert angemessener Gesellschaftsvertrag aussehen könnte. Es handelt sich nicht um eine Blaupause, aber ich hoffe, damit einen bescheidenen Beitrag zu leisten, um die Debatte voranzubringen und eine Marschroute für künftige politische Entscheidungen zur Verfügung zu stellen.
Ich habe versucht, mich kurz zu fassen und viele Fragen aus einer globalen Perspektive zu behandeln, und einige Leserinnen und Leser werden zu manchen der Punkte, die ich ausführe, Ausnahmen finden. Ich beziehe mich stark auf akademische Forschungsergebnisse in Peer-Review-Zeitschriften und Metaanalysen – zusammengefasste Befunde aus manchmal Hunderten von Forschungsarbeiten. Die Quellen für die meisten dieser Fachartikel finden sich in den Endnoten. Ich glaube fest an Beweise, an den Wert von Expertise und an die Bedeutung präziser Debatten, gebe aber auch meine eigenen Urteile dazu ab, was diese Literatur uns darüber lehrt, wie verschiedene Länder Lösungen für das gefunden haben, was wir einander in der Gesellschaft schulden.
Diese Urteile wurzeln zwangsläufig in meinen persönlichen Erfahrungen von Familie, Bildung, Arbeit und dem Einfluss von Gesellschaft und Staat. Mein Interesse an Wirtschaftsfragen entstand aus dem Wunsch, die Architektur der Chancen in der Gesellschaft zu verstehen. Als Kind besuchte ich das Dorf in Ägypten, aus dem die Familie meiner Mutter stammt, und sah Mädchen, die genauso aussahen wie ich, die aber nicht in die Schule gehen konnten, sondern auf den Feldern hart arbeiteten und kaum die Wahl hatten, wen sie heiraten oder wie viele Kinder sie bekommen würden. Es erschien mir so willkürlich und unfair, dass ich Chancen erhielt, die sie nicht hatten – ich hätte ohne Weiteres sie sein können und sie ich. Diese Chancen änderten sich drastisch, als der ägyptische Staat in den 1960er-Jahren den Großteil des Grundbesitzes und Eigentums meiner Familie verstaatlichte und wir in die USA auswanderten, wo mein Vater studiert hatte.
Für meinen Vater, der außer einem Doktortitel in Chemie wenig besaß, war Bildung der einzige Weg zum Erfolg. »Man kann dir alles wegnehmen, nur deine Bildung nicht«, lautete seine häufig wiederholte Lebensweisheit. Aber die Bildungschancen, die uns offenstanden, waren im US-amerikanischen Süden während der Unruhen und Spannungen im Zuge der Aufhebung der Rassentrennung durchwachsen. Der Schulbus brachte mich zu mehr Schulen, als ich mich erinnern kann; an einigen gab es inspirierte Lehrkräfte, an anderen bestand das Hauptziel im Überleben. Die örtlichen Büchereien, zu denen meine Mutter mich an den Wochenenden pflichtschuldig mitnahm, waren meine Rettung. Gleich in mehreren hatte ich Mitgliedsausweise, um die Anzahl der Bücher zu maximieren, die ich an jedem Wochenende ausleihen konnte, um dann lange Stunden auf dem heimischen Sofa damit zu verbringen, die Welt zu entdecken.
Nachdem ich die Leiter der höheren Bildung erklommen hatte, führte mich meine Neugier, mehr über die Architektur der Chancen herauszufinden, zu einer Karriere in der Wirtschafts- und Entwicklungspolitik mit Stationen in der Weltbank, im britischen Entwicklungshilfeministerium, im Internationalen Währungsfonds und in der Bank of England. Ich liebe Universitäten und habe achtzehn Jahre in ihnen verbracht, aber der größte Teil meiner Laufbahn vollzog sich in den Schützengräben der Politik. Ungewöhnlich ist es vielleicht, dies in einer so großen Zahl von Ländern getan zu haben – von einigen der ärmsten der Welt wie Südsudan und Bangladesch bis zu einigen der reichsten wie Großbritannien oder die Eurozone. Auch habe ich mit Politikerinnen und Politikern des gesamten politischen Spektrums zusammengearbeitet – in England war ich Staatssekretärin sowohl für die Labour-Regierung als auch für die Koalition von Tories und Liberaldemokraten. In meinen Jahren bei der Weltbank und beim IWF habe ich mit Hunderten von Politikerinnen und Politikern jeglicher vorstellbaren Couleur zusammengearbeitet. Von dieser Perspektive sowohl der politischen Praxis als auch der Politikwissenschaft ist dieses Buch durchdrungen.
Nachdem ich 25 Jahre lang in internationalen Wirtschaftsinstitutionen tätig war, konnte ich ermessen, wie viel Nutzen daraus entsteht, Erfahrungen über Ländergrenzen hinweg zu teilen. Natürlich hat jedes Land seine Besonderheiten, vor allem bei Themen wie dem Ausgleich zwischen Individuum und Kollektiv im Gesellschaftsvertrag. Länder wie die USA legen mehr Wert auf individuelle Freiheit; asiatische Länder neigen dazu, kollektiven Interessen gegenüber individuellen Präferenzen Priorität einzuräumen. Europa liegt irgendwo dazwischen und versucht, eine Balance zwischen individueller Freiheit und gemeinschaftlichen Interessen herzustellen. Hinter jeder dieser Verallgemeinerungen stehen viele Ausnahmen und Beispiele, die uns lehren können, maßgeschneiderte Lösungen für unterschiedliche Kontexte zu finden. Selten gibt es die eine richtige Antwort, häufiger eine Reihe von Optionen und Kompromissen, die verschiedene Kosten und Nutzen mit sich bringen und verschiedene Werturteile widerspiegeln.
Ich habe versucht, dieses Buch nicht nur global und lösungsorientiert zu gestalten, sondern auch persönlich. Für mich sind die Begriffe des Gesellschaftsvertrags keine abstrakten Aktivitäten, die Technokraten und Technokratinnen sowie Politikbesessenen vorbehalten bleiben. Politische Entscheidungen darüber, wie ein Bildungssystem organisiert ist oder wie Gesundheitsfürsorge finanziert wird oder was geschieht, wenn man seine Arbeit verliert, haben enorme Auswirkungen auf uns alle. Sie begründen den Unterschied zwischen dem Leben, das ich geführt habe, und dem Leben jener Mädchen im Dorf. Deshalb ist dieses Buch entlang der Stadien des Lebens aufgebaut, die die meisten von uns durchleben – Kindererziehung, Schulbildung, Krankheit, Arbeitssuche und Altwerden. Meine Hoffnung ist, dass diese Perspektive diese wichtigen Themen zugänglich machen und uns alle ermutigen wird, zu diesen grundlegenden Fragen eine Meinung zu haben.
Anmerkungen zum Kapitel
1. Dies basiert auf Daten der Mediendatenbank Factiva für die letzten dreißig Jahre. Kommentatoren zitierten »Alles zerfällt« insbesondere in Bezug auf den Anstieg der terroristischen Gewalt in Frankreich, das Brexit-Referendum in Großbritannien und die Wahl von Donald Trump in den USA. Fintan O’Toole, »Yeats Test Criteria Reveal We Are Doomed«, Irish Times, 28. Juli 2018.
2. In ihrem Buch Warum Nationen scheitern sprechen Acemoglu und Robinson von »kritischen Wendepunkten«, wenn Zeiten großer Instabilität Gelegenheiten für weitreichende institutionelle Veränderungen schaffen, ohne dass Klarheit über das Ergebnis besteht. Daron Acemoglu und James A. Robinson, Warum Nationen scheitern: Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut, Frankfurt am Main 2013.
3. Milton Friedman sagte bekanntlich: »Nur eine tatsächliche oder vermeintliche Krise bringt echten Wandel hervor. Welche Maßnahmen nach dem Eintreten der Krise ergriffen werden, hängt davon ab, welche Ideen im Umlauf sind. Das ist, meine ich, unsere wichtigste Aufgabe: Alternativen zu bestehenden politischen Strategien zu entwickeln und sie zu bewahren, bis das politisch Unmögliche politisch alternativlos wird.« Milton Friedman, Kapitalismus und Freiheit, Stuttgart 1971. (Zitat aus dem Vorwort der Originalausgabe, das nicht in der deutschen Übersetzung enthalten ist; zitiert nach https://www.ipg-journal.de/regionen/global/artikel/den-neoliberalismus-knacken-3940/).
4. Carole Seymour-Jones, Beatrice Webb: Woman of Conflict, London 1992.
5. Viele postkoloniale Führer wurden von den Fabianern beeinflusst, darunter Jawaharlal Nehru in Indien, Obafemi Awolowo in Nigeria, Muhammad Ali Jinnah in Pakistan, Lee Kuan Yew in Singapur und Michel Aflaq in der arabischen Welt.
6. Es gibt eine interessante Anekdote über den einzigen Besuch von Margaret Thatcher in der Forschungsabteilung der Konservativen im Sommer 1975. Als ihr die Argumente präsentiert wurden, warum sich die Partei für einen pragmatischen »Mittelweg« entscheiden sollte, um mehr politische Unterstützung zu gewinnen, griff sie in ihre Aktentasche, zog ein Exemplar von Hayeks Die Verfassung der Freiheit heraus, verkündete: »Das ist es, was wir glauben«, und schlug Hayeks Buch mit voller Wucht auf den Tisch. John Ranelagh, Thatcher’s People: An Insider’s Account of the Politics, the Power, and the Personalities, London 1992. Ronald Reagan würdigte den Einfluss von Hayek auf sein eigenes Denken und ehrte ihn im Weißen Haus.
7. Anthony Giddens, Der Dritte Weg, Frankfurt am Main 1999. Siehe auch Julian LeGrand und Saul Estrin, Market Socialism, Oxford 1989.