Chefarzt Dr. Norden
– 1193 –

Wenn die Wunden endlich heilen

… sucht sich die Liebe ihren Weg

Jenny Pergelt

Impressum:

Epub-Version © 2021 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74098-021-4

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Jan Richter kehrte erst am Nachmittag von seinem Termin zurück. »Wir haben den Auftrag!« Zufrieden lächelnd übergab er seiner Assistentin die Mappe mit den Vertragsunterlagen. »Ich werde mich sofort an die Expertise setzen und die Fotos hochladen. Es wäre schön, wenn Sie das Angebot dann noch heute veröffentlichen.«

»Kein Problem, das schiebe ich dazwischen.« Gaby Kröger warf nur einen kurzen Blick in die Mappe. »Ich bin mir sicher, dass die Wohnung nicht lange auf dem Markt sein wird. Wahrscheinlich wird das Telefon nicht mehr stillstehen, sobald die Anzeige online ist.«

Davon war auch Jan überzeugt. Die renovierte Altbauwohnung in bester Lage würde viele Interessenten finden. Jans Aufgabe war es, aus ihnen den passenden Mieter auszuwählen.

In der nächsten Stunde saß er an seinem Schreibtisch und erstellte das Gutachten für die Wohnung. Es kam nur noch selten vor, dass sich Jan persönlich der Wohnungen und Häuser, die sein Immobilienbüro vermittelte, annahm. Noch seltener traf er sich mit Kunden zu einem Besichtigungstermin. Seit seine Firma so stark gewachsen war, dass mehrere Makler und Bürokräfte für ihn tätig waren, lagen seine Aufgaben vor allem im administrativen, geschäftsführenden Bereich. Für aufwändige Außentermine fand er kaum noch Zeit.

Mit etwas Wehmut dachte er an die Anfänge zurück. Vor zwei Jahrzehnten hatten Lara und er den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt. Vorher hatten sie für dasselbe Immobilienbüro gearbeitet. Sie hatten sich schnell angefreundet, und aus dieser Freundschaft war bald Liebe geworden. Die Arbeit hatte ihnen Spaß gemacht, trotzdem hatten sie sich in der Firma nie so richtig wohl gefühlt. Lara war diejenige gewesen, die an einem weinseligen Abend die Idae in den Raum warf, eine eigene Immobilienfirma aufzumachen. Am nächsten Morgen hatten sie darüber gelacht, aber die Idee hatte sich in ihren Köpfen festgesetzt und sie nicht mehr in Ruhe gelassen. Und Wochen später gaben sie ihre Kündigung ab, mieteten eigene Geschäftsräume und stürzten sich voller Elan und Optimismus in die Arbeit.

Die Firma wuchs schnell. Nach einem Jahr beschäftigten sie bereits zwei Mitarbeiter; nach zwei Jahren kamen größere Büroräume und drei Filialen dazu. In diesem rasanten Tempo ging es weiter – bis alles jäh zum Stillstand kam.

Jan nahm das Foto, das auf seinem Schreibtisch stand, in die Hand. Zärtlich strich er mit einem Finger darüber. Es war das Bild einer perfekten Familie: ein glückliches Paar mit ihrem Sohn, dem damals zwölfjährigen Max. Sie waren zum Skilaufen in den Bergen gewesen – zum letzten Mal. Doch das hatten sie zu diesem Zeitpunkt nicht gewusst.

Manchmal erschreckte es Jan, dass sich Laras Tod so anfühlte, als würde er eine Ewigkeit zurückliegen, obwohl seitdem noch keine drei Jahre vergangen waren. Hatte er sich von der Frau, die er ein Leben lang lieben wollte, schon so weit entfernt? Oder verdrängte er die Erinnerungen und den Schmerz über diesen schrecklichen Verlust nur erfolgreich, damit er nicht daran zerbrach?

Sein Telefon klingelte, und als er die Nummer auf dem Display erkannte, setzte sein Herz kurz aus. Max’ Schule …

Minuten später stürmte er aus seinem Büro. Am Schreibtisch seiner Assistentin hielt er kurz an.

»Die Schule hat angerufen«, berichtete er mit einem Anflug von Panik in der Stimme. »Max hatte einen Sportunfall.«

»Ach, du liebes bisschen! Hoffentlich nichts Schlimmes?«

Max war hier kein Unbekannter. Jeder kannte den Sohn des Chefs. Diejenigen, die hier schon länger arbeiteten, hatten ihn quasi aufwachsen sehen. Sie nahmen Anteil an seinem Leben, besonders nach dem Tod seiner Mutter.

»Der Sportlehrer meinte, es sei nur eine ausgekugelte Schulter. Nichts Dramatisches. Max schlägt sich wohl recht tapfer.« Jan versuchte, ruhig zu sprechen, damit seine Assistentin nicht merkte, wie es in ihm aussah. Sie brauchte nicht zu wissen, dass sein Puls raste oder dass er kurz vor einer Panikattacke stand. Er wollte sich wegen einer ausgerenkten Schulter nicht der Lächerlichkeit preisgeben. Es würde ja doch niemand verstehen, warum er vor Angst um sein Kind fast umkam. Oder warum ihm bei dem Gedanken, mit Max in eine Klinik zu fahren, die Luft wegblieb.

»Ich hole ihn jetzt von der Schule ab und fahre mit ihm zur Behnisch-Klinik. Vorsichtshalber melde ich mich für die restliche Woche ab. Ich werde dann besser von zuhause aus arbeiten. Falls also irgendetwas sein sollte …«

»Machen Sie sich deswegen keine Gedanken, Herr Richter. Wir kümmern uns um alles.« Gaby Kröger konnte nicht verbergen, wie besorgt sie war. Sie mochte Max, genau wie sie Lara, seine Mutter, gemocht hatte. »Bestellen Sie Max bitte viele Grüße«, rief sie ihrem Chef noch hinterher, als er die Firma mit großen, eiligen Schritten verließ.

Für die Fahrt zur Schule brauchte Jan heute nur zwanzig statt der üblichen dreißig Minuten. Die Sorge um Max ließ ihn fast vergessen, dass es Geschwindigkeitsbegrenzungen gab. Seinem Sohn ginge es gut, hatte ihm der Lehrer am Telefon versichert. Das rief sich Jan immer wieder ins Gedächtnis, wenn der Drang, das Gaspedal voll durchzutreten, zu groß wurde. Er durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Er war Max’ Vater und trug die Verantwortung für ihn. Max hatte doch nur noch ihn.

Sein Sohn wartete im Sekretariat der Schule auf ihn. Der Sportlehrer, ein ausgebildeter Ersthelfer, hatte ihm eine Armschlinge angelegt, die das Schultergelenk etwas entlastete und es so für Max erträglicher machte. Trotzdem verzog Max schmerzvoll das Gesicht, und Jan brach es fast das Herz, sein einziges Kind so leiden zu sehen.

»Ist es sehr schlimm?«, fragte er, als er mit Max zu seinem Wagen ging.

»Ja«, presste Max zwischen seinen Zähnen hervor. »Das tut höllisch weh. Dieser bescheuerte Tobias! Er hat mich gefoult! Das ist alles nur seine Schuld! Er müsste diese Schmerzen haben und nicht ich!«

Wider Willen musste Jan schmunzeln. »Dann wäre er jetzt aber der Held, mit dem die Mädels Mitleid hätten, und nicht du.«

»Hm«, erwiderte Max nur einsilbig, schien sich aber die Worte seines Vaters ernsthaft durch den Kopf gehen zu lassen.

»Im Krankenhaus wird man dir schnell helfen«, sagte Jan und hoffte inständig, dass das auch der Fall war. Wenigstens seinem Kind sollten sie helfen, wenn sie schon bei seiner Frau versagt hatten. »Deine Schmerzen bist du dann sicher bald los, und du hast den Rest der Woche schulfrei. Klingt das nicht toll?«

»Das klingt vor allem megalangweilig«, maulte Max.

»So langweilig wird’s vielleicht gar nicht. Ich habe mich in der Firma abgemeldet und leiste dir Gesellschaft. Wir könnten lange ausschlafen, deine Lieblingsserien gucken und uns nur von Eis und Popcorn ernähren.«

»Eis und Popcorn? Da wird bestimmt nichts draus. Tante Franka wird schon dafür sorgen, dass nur gesunde Sachen auf den Tisch kommen. Wahrscheinlich wird sie im ganzen Haus kleine Tellerchen mit Obst und Gemüse verteilen, denen wir dann nicht aus dem Weg gehen können.«

»Damit könntest du tatsächlich recht haben«, lachte Jan. »Aber andererseits verteilt Franka auch immer großzügig Süßigkeiten, wenn du krank bist.«

»Dann nennt sie es Medizin«, erwiderte Max grinsend. Der Gedanke, dass sich seine Tante in den nächsten Tagen bestimmt viel Mühe geben würde, um ihn so richtig zu verwöhnen, gefiel ihm. »Tante Franka ist die Beste.«

»Ja, das ist sie.« Jan wusste das schon lange. Auf Franka war Verlass, in jeder Situation. Sie war Laras jüngere Schwester, seine beste Freundin und engste Vertraute. Und sie war der rettende Engel gewesen in einer Zeit, als um ihn herum alles zusammenbrach und er dachte, die Trauer würde ihn erdrücken.

Nach Laras Tod war Franka in die kleine Einliegerwohnung seines Hauses gezogen, um sich um ihn und seinen Sohn zu kümmern. Er hatte sie nicht darum gebeten, aber sie musste gespürt haben, wie sehr er es sich gewünscht hatte. Ohne sie – da war er sich ganz sicher – wären weder Max noch er mit dem Verlust von Lara zurechtgekommen. Dass sie es taten, verdankten sie nur ihr.

»Weiß Tante Franka schon Bescheid?«, fragte Max in seine Gedanken hinein.

»Nein, ich rufe sie an, wenn wir in der Klinik ankommen.«

»Vergiss das bloß nicht, Papa. Sie wird sonst bestimmt sauer.« Max seufzte traurig. »Du hättest sie gleich anrufen sollen, noch bevor du zu mir in die Schule gekommen bist. Dann wäre sie jetzt auch hier. Tante Franka wäre ganz sicher sofort gekommen.«

»Ja, aber denkst du nicht, wir schaffen das auch allein?«

»Mhm … klar …« Max starrte aus dem Fenster. »Darum geht’s doch gar nicht«, brummte er dann.

»Natürlich nicht«, erwiderte Jan leise und ärgerte sich über seine unbedachte Bemerkung. Er wusste doch, wie sehr sein Sohn an Franka hing. Das war schon immer so gewesen. Selbst als Lara noch lebte, war das Verhältnis zwischen Max und seiner Tante etwas ganz Besonderes gewesen. Nach Laras Tod war ihre Verbundenheit noch stärker geworden – Franka war für Max die Mutter, die er viel zu früh verloren hatte. Aus diesem Grund und wegen der Tatsache, dass Franka ihren Neffen von ganzem Herzen liebte, hätte Jan sie längst anrufen müssen.

Er holte es nach, kaum dass er seinen Wagen auf dem Parkplatz der Behnisch-Klinik abgestellt hatte.

»Ich komme sofort«, sagte Franka am Telefon, nachdem sie sich von dem ersten Schreck erholt hatte.

»Nein, ich denke, das wird nicht nötig sein.« Jan sah fragend seinen Sohn an, der betont lässig abwinkte. »Du kannst hier nichts tun, Franka. Wer weiß, wie lange wir hier warten müssen. Zum Röntgen müssen wir sicher auch noch. Ich habe dich nur angerufen, damit du Bescheid weißt und dir keine Sorgen machst, wenn Max nicht pünktlich nach Hause kommt.«

»Oh! Nun gut, wenn du meinst … dann danke ich dir für den Anruf.« Franka zögerte kurz, bevor sie weitersprach: »Jan, bitte, mach dir keine Sorgen. Es wird alles wieder gut.«

»Ich weiß«, antwortete er mit belegter Stimme. Dann sah er zur Behnisch-Klinik hinüber, und das Atmen fiel ihm plötzlich schwer. »Mach dir keine Gedanken, Franka, das bekomme ich irgendwie hin. Diesmal ist es ja anders. Es ist ja nur ein harmloser Sportunfall.«

»Genau, Jan«, stimmte ihm Franka sofort zu. »Max hatte nur einen kleinen Unfall. Es ist nichts Lebensbedrohliches, und er braucht bestimmt nicht in der Klinik zu bleiben. In ein oder zwei Stunden seid ihr wieder daheim.« Jan konnte hören, dass Franka in diesem Augenblick lächelte. »Gib Max bitte einen Kuss von mir und sag ihm, dass ich mit ihm leide. Und dass er sich auf etwas Leckeres zum Abendbrot freuen darf.«

Nach dem Anruf ging es Jan ein wenig besser. Er schaffte sogar ein aufmunterndes Lächeln, als er seinen Sohn ansah. »Na, dann los, Großer. jetzt wollen wir mal sehen, ob die Ärzte deine Schulter wieder hinbekommen.«

*

Dr. Erik Berger, der Leiter der Notaufnahme, sah sich die Röntgenbilder an, obwohl sie für seine Diagnose keine große Rolle spielten. Er brauchte sie nicht, um zu wissen, dass das Schultergelenk des Jungen ausgerenkt war.

»Was ist es denn nun?«, fragte Jan Richter ungeduldig. Er stand ganz dicht hinter dem Arzt und sah auf die Aufnahme, die im Leuchtkasten steckte. »Können Sie erkennen, was genau mein Sohn hat? Ist es sehr schlimm?«

Erik drehte sich betont langsam um. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenigstens einen Schritt zurückzutreten? Zwischen uns passt ja kaum ein Blatt Papier.«