Cover

Dr. Rick Hanson ist Neuropsychologe und hat es als Autor mehrmals auf die Bestsellerliste der New York Times geschafft. Seine Bücher, darunter Denken wie ein Buddha, Das resiliente Gehirn und Das Gehirn eines Buddha, wurden in 28 Sprachen veröffentlicht und erreichten allein auf Englisch eine Auflage von über 900000 Exemplaren. Der Gründer des Wellspring Institute for Neuroscience and Contemplative Wisdom hat schon Vorträge in Oxford und Harvard gehalten und in Meditationszentren auf der ganzen Welt unterrichtet. Er lebt gemeinsam mit seiner Frau in Nordkalifornien, hat zwei erwachsene Kinder und hält sich gern in der Natur auf, wo er sich von den vielen E-Mails erholt.

Rick Hansons Online-Kurs »Achtsam wie ein Buddha« mit zahlreichen angeleiteten Meditationen und weiterem Begleitmaterial zur praktischen Umsetzung der Inhalte dieses Buches finden Sie hier: https://www.arbor-online-center.de/online-kurse/achtsam-wie-ein-buddha-von-rick-hanson.

»Voll weiser und wundervoller Anleitungen,
um Herz und Bewusstsein zu schulen.«
– Jack Kornfield

Der Psychologe und angesehene Achtsamkeitsexperte Rick Hanson zeigt in seinem neuen Werk die sieben Wege zu einem erwachten Geist auf. Hierbei verbindet er auf erstaunlich schlüssige und pragmatische Weise die neuesten Erkenntnisse der Neurowissenschaft mit den grundlegenden Ideen des Buddhismus. Er beschreibt wie wir unsere neuronalen Schaltkreise im Gehirn stärken können, um tiefgehende Ruhe, Zufriedenheit, Güte und Weisheit zu kultivieren.

Dies ist ein sehr praktisch gehaltenes Buch, dessen einfache, wirkungsvolle Meditationen und Übungen sofort anwendbar sind. Die vorgezeichnete Entwicklung auf den sieben Wegen führt bis zum spirituellen Erwachen, aber bereits die ersten Schritte können sehr hilfreich für den Alltag sein, um in herausfordernden Situationen die Ruhe zu bewahren und sich glücklich und angenommen zu fühlen.

Rick Hanson

Achtsam
wie ein Buddha

Mit Meditation und Neurowissenschaft
zum wahren Ich

Die 7 Stufen: von mehr Gelassenheit
bis zum erwachten Geist

Übersetzt aus dem Amerikanischen
von Dr. Ulrike Kretschmer

© 2020 by Rick Hanson
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Neurodharma«.

This translation published by arrangement with Harmony Books, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC.
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© 2020 der deutschsprachigen Ausgabe by Irisiana Verlag,
einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München

Projektleitung: Sven Beier

Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie

Umschlagmotiv: © shutterstock (Saibaba Yadav Mallela)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-26285-3
V001

Für meine Lehrer

INHALT

Teil 1
Verkörperte Praxis

1. Geist und Leben

2. Der verzauberte Webstuhl

Teil 2
Der unerschütterliche Kern

3. Den Geist beruhigen

4. Das Herz erwärmen

5. In Fülle verweilen

Teil 3
In alles hineinleben

6. Ganzheit sein

7. Jetztheit empfangen

8. Sich der Allheit öffnen

9. Zeitlosigkeit entdecken

Teil 4
Immer schon zu Hause

10. Frucht und Pfad

Danksagung

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Übe dich darin, Gutes zu tun, das Bestand hat
und glücklich macht.
Kultiviere Großzügigkeit, ein friedvolles Leben
und den Geist grenzenloser Liebe.

ITIVUTTAKA 1,22

TEIL 1

Verkörperte Praxis

1


Geist und Leben

Könnte man durch das Aufgeben eines kleineren Glücks
ein größeres Glück erfahren,
würde ein kluger Mensch zugunsten des größeren
auf das kleinere Glück verzichten.

DHAMMAPADA 290

Ich gehe oft in den Bergen wandern, und manchmal sieht sich dabei ein Freund weiter vorn nach mir um und spornt mich an weiterzugehen. Welch eine freundliche Geste: Komm … pass auf, da ist es vereist und glatt … es ist nicht mehr weit, du schaffst das! An solche Augenblicke habe ich beim Schreiben dieses Buchs häufig gedacht; darin geht es um das größtmögliche menschliche Potenzial, darum, so klug und stark, so glücklich und liebevoll zu sein, wie ein Mensch nur sein kann. Wenn wir uns dieses größtmögliche menschliche Potenzial als einen hohen Berg vorstellen, dann ist das Erwachen die wundervolle Reise, die uns auf den Gipfel des Bergs bringt. Viele Menschen haben es weit nach oben geschafft – die großen Weisen und Lehrmeister der Geschichte ebenso wie andere, von denen nie jemand gehört hat –, und hin und wieder stelle ich mir vor, wie sie sich mit einem herzerwärmenden Lächeln zu uns umdrehen und uns einladen, ihnen zu folgen.

Diejenigen, die diesen Berg bestiegen haben, entstammen verschiedenen Kulturen und weisen ganz unterschiedliche Persönlichkeiten auf, doch scheinen sie mir in sieben Aspekten einander durchaus ähnlich zu sein. Sie sind achtsam; sie sind voller Güte; sie führen auch in den schwierigsten Zeiten ein zufriedenes und emotional ausgeglichenes Leben; sie sind ganz und bleiben sich selbst treu; sie leben im Hier und Jetzt; sie fühlen sich mit allem verbunden und sie sind von einem Leuchten durchdrungen, das nicht ausschließlich das ihre zu sein scheint.

Sie haben vielleicht Ihre eigenen Beispiele inspirierender Menschen, Menschen, von denen Sie gehört haben, deren Werke Sie gelesen haben, deren Vorträge Sie besucht haben oder die Sie möglicherweise sogar schon getroffen haben. Diese Menschen dienen uns als Vorbild dessen, was möglich ist. Auch ich kenne solche Menschen. Sie sind bodenständig, humorvoll, realistisch und eine Stütze – weit entfernt vom karikaturenhaften Stereotyp exotischer Einsiedler, die Kryptisches verkünden. Sie haben kein Interesse daran, berühmt zu sein. Manche haben sich für einen spirituellen Weg entschieden, andere für einen weltlicheren. Ihr Erkennen ist echt und das Ergebnis des Pfads, den sie beschritten haben, nicht irgendeines einzigartigen Transformationserlebnisses, das dem Rest der Menschheit vorenthalten ist. Sie zeigen uns mit ihrem Beispiel, dass uns wundervolle Schritte auf diesem Pfad erwarten, dass die Pfade beschreitbar sind und vorwärts führen und dass unsere Bemühungen ebenso wie die ihren fruchtbar sein können.

Und das Erstaunliche daran ist, dass wir einige ihrer Eigenschaften bereits tief in unserem Inneren angelegt finden, auch wenn sie manchmal von Stress und Ablenkungen verdeckt sind. Diese Eigenschaften, diese Seinsweisen, sind nicht nur einigen wenigen vorbehalten – sie stehen uns allen als Möglichkeit zur Verfügung. Wie Sie sie erlangen, erfahren Sie mittels der sieben Stufen des Erwachens:

Es gibt viele Traditionen, also viele Pfade, die den Berg des Erwachens hinaufführen. Dennoch sind die Schritte auf diesen Pfaden immer die gleichen: die der Ruhe, der Liebe, der Fülle, der Ganzheit, der Jetztheit, der Allheit und der Zeitlosigkeit. Wir befinden uns hier auf dem umfassendsten und vielleicht heiligsten Territorium, das es gibt. Es liegt letztlich jenseits der Wissenschaft und der Logik, und so können wir uns ihm nur mit vagen, bildhaften und poetischen Worten nähern.

Das Vollziehen dieser sieben Stufen stellt den Höhepunkt menschlicher Entwicklungsmöglichkeiten dar, den man auch als Erleuchtung oder volles Erwachen bezeichnen könnte. Derweil erweist sich auch schon das erste bloße Erahnen der Stufen als für den Alltag ausgesprochen nützlich. Im Umgang mit Stress bereitenden Herausforderungen etwa ist das Gefühl, bereits innerlich ruhig und glücklich zu sein und geliebt zu werden, ungemein beruhigend. Und ob nun für den Beginn des Pfads oder sein Ende – uns steht heute die bisher nicht gekannte Möglichkeit des »Reverse Engineering«, gewissermaßen der Nachkonstruktion des Erwachens zur Verfügung, die in nichts anderem gründet als in unserem eigenen Körper.

Hohe Ziele

Die Neurowissenschaft ist eine junge Wissenschaft. Trotzdem können wir mit ihr das Beispiel derer studieren, die es weit den Berg hinauf geschafft haben, und fragen: Wie geht das? Was muss im Körper geschehen, damit wir in unserer Mitte bleiben, auch wenn die Welt um uns herum zu bröckeln beginnt? Welche Veränderungen im Gehirn helfen uns dabei, mitfühlend und stark zu sein, wenn andere uns verletzen und drohen? Welche neurale Grundlage verhilft uns dazu, das Leben ohne Gier, Hass und Selbsttäuschung anzugehen?

Noch gibt es keine neurologisch definitiven Antworten auf diese Fragen. Wir wissen nicht alles. Aber wir wissen mehr als nichts, und neue Studienergebnisse können Schlaglichter auf förderliche Praktiken werfen und diese plausibel erklären. Sind die Studienergebnisse unklar, können wir immer noch auf den gesunden Menschenverstand sowie die Methoden der modernen Psychologie und kontemplativer Traditionen zurückgreifen.

Eine Sache, die mich bei den großen Lehrmeistern in der Geschichte der Menschheit immer am meisten angesprochen hat, ist ihre Einladung zum vollen Erwachen. Die Pfade, die sie vorgezeichnet haben, verlaufen von der staubigen Ebene über die Ausläufer der Berge bis schließlich zu ihren höchsten Gipfeln der Erleuchtung. Und sogar auf den frühen Stationen des Wegs findet sich viel Nützliches für unser tägliches Wohlbefinden und das, was wir bewirken können. Ich schreibe für Menschen wie mich, für »Alltagsmenschen« (nicht für Mönche) mit einem begrenzten Zeitbudget für Übungen, Menschen, die hier und jetzt nutzbare Werkzeuge brauchen. Ich meditiere zwar schon seit 1974 und sehne mich nach den Gipfeln, doch haben es viele Menschen viel weiter nach oben geschafft als ich, und einige von ihnen werden Ihnen in den Zitaten in diesem Buch begegnen. Mein Augenmerk liegt eher auf dem Prozess des Übens als auf dem letztendlichen Ziel, in der Hoffnung, dass Ihnen das auch auf Ihrem Weg nützlich sein kann. Dennoch: Das höchste Ziel besteht in einem vollständig befreiten Geist und Herz, größtmögliches Glück und freudvollster innerer Frieden inklusive.

Je weiter wir uns auf dem Pfad nach oben bewegen, desto steiler wird er und desto dünner wird die Luft. Da kann ein Wegweiser, ein »Reiseführer«, nicht schaden. Den finde ich häufig in der alles durchdringenden Geistesanalyse Buddhas. Meinen persönlichen Hintergrund bildet die Tradition des Theravada, die in weiten Teilen Südostasiens und zunehmend auch im Westen praktiziert wird; sie wird manchmal auch als Praxis bezeichnet, die sich an der Einsicht, am Vipassana, orientiert. Der Theravada stützt sich auf die älteste Aufzeichnung von Buddhas Lehrreden, den Pali-Kanon (Pali ist eine alte, mit dem Sanskrit verwandte Sprache). Zudem empfinde ich tiefen Respekt und großes Interesse dafür, wie sich der Buddhismus in seinen tibetischen, chinesischen, zen-buddhistischen und amitabha-buddhistischen Strömungen entwickelt hat.

Ich versuche mich keineswegs an einer Darstellung des Buddhismus als Ganzem, dafür ist die Tradition, die über einen so langen Zeitraum hinweg entstanden ist, viel zu reichhaltig und komplex. Stattdessen adaptiere ich Schlüsselideen und -methoden für die in diesem Buch dargelegten praktischen Zwecke. Dafür und für alles andere in diesem Buch hält Buddha selbst einen wunderbaren Rat bereit: Komm und sieh selbst, was glaubhaft klingt und sich auch morgen noch als nützlich erweist.

Aus der Perspektive des »Neurodharma«

Buddha brauchte kein MRT, um erleuchtet zu werden. Ebenso sind viele andere auf ihrem eigenen Pfad des Erwachens auch ohne fortgeschrittene Technologie weit vorangekommen. Nichtsdestotrotz hat die Wissenschaft 2500 Jahre nach Buddhas Wandeln auf den staubigen Straßen Nordindiens einiges über den menschlichen Körper und das Gehirn herausgefunden. Buddha und andere haben sich mit den geistigen Faktoren des Leidens und des Glücks beschäftigt – und in den vergangenen Jahrzehnten haben wir viel über die neurale Grundlage dieser geistigen Faktoren erfahren. Dieses neue Wissen zu ignorieren scheint im Gegensatz sowohl zur Wissenschaft als auch zum Buddhismus zu stehen.

Das Dharma – das Bemühen, das Wesen der Realität zu verstehen – ist nicht auf den Buddhismus beschränkt.
Das Dharma ist Wahrheit. Die einzige Wahl, die wir wirklich haben, ist die zwischen einem Leben in Bezug zur Wahrheit und einem Leben in Unwissenheit.

ANGEL KYODO WILLIAMS

Wenn ich das Wort »Dharma« benutze, meine ich damit schlicht die Wahrheit der Dinge. Das beinhaltet sowohl die Art und Weise, wie die Dinge wirklich sind, als auch akkurate Beschreibungen dieser Dinge. Was immer die Wahrheit auch sein mag, sie ist nicht das Eigentum irgendeiner Tradition – die Wahrheit ist für alle da. Mit dem Begriff »Neurodharma« meine ich die Wahrheit des Geistes, die in der Wahrheit des Körpers gründet, insbesondere in seinem Nervensystem. Natürlich ist Neurodharma nicht der Buddhismus als Ganzes. Ebenso wenig ist Neurodharma für die buddhistische (oder eine andere) Praxis notwendig. Es ist lediglich hilfreich:

Selbst das geringste Wissen über das Gehirn kann sehr nützlich sein. Es ist ein alberner Vergleich, aber ich stelle mir immer vor, wie jemand mit dem Auto unterwegs ist. Plötzlich quillt Dampf unter der Motorhaube hervor, wie wild fangen rote Lichter auf dem Armaturenbrett zu blinken an und der Fahrer ist gezwungen, rechts ranzufahren und anzuhalten. Weiß dieser dann nicht wenigstens in Grundzügen, wie ein Auto funktioniert, ist er ziemlich aufgeschmissen. Weiß er aber, dass ein Auto einen Kühler hat und welche Flüssigkeit dieser braucht, um den Motor zu kühlen, kann er etwas tun, um den Schaden zu beheben und das nächste Mal sogar zu verhindern. Das Auto ist unser Körper. Vor Tausenden von Jahren wusste kaum einer irgendetwas über ihn. Heute jedoch können wir aus dem Wissen über unseren neuralen »Motor« schöpfen, das wir über die Jahrhunderte hinweg gewonnen haben.

Für Anfänger ist dieses Wissen außerordentlich motivierend: Wenn man weiß, dass die Übungen tatsächlich das Gehirn verändern, wird man sie mit größerer Wahrscheinlichkeit weiter anwenden. Den Körper wirklich zu berücksichtigen kann auch ein Gefühl der Dankbarkeit für die körperlichen Vorgänge vermitteln, die zu diesem Augenblick der Erkenntnis geführt haben. Zu verstehen, was im Gehirn vor sich geht, während Erfahrungen den Geist durchwandern, schärft die Achtsamkeit und fördert die Erkenntnis. Man kann das vorübergehende Theater des Bewusstseins viel lockerer nehmen, wenn man weiß, dass dahinter viele winzige, rasche zelluläre und molekulare Vorgänge stecken … ohne jeglichen Cheftechniker im Hintergrund, der im richtigen Moment den richtigen Schalter umlegt.

In ihrer Grundkonstruktion ähneln sich alle Gehirne mehr oder weniger. Die Perspektive des Neurodharma bietet einen allgemeinen Rahmen zum Verständnis der Vorstellungen und Instrumente der klinischen Psychologie, der persönlichen Entwicklung (ein weit gefasster Begriff für andere weltliche Denkansätze) und alter Weisheitslehren. Sie hilft uns dabei, Prioritäten zu setzen und wichtige Werkzeuge zu benutzen, die wir bereits besitzen. Das Erforschen des vom Gehirn entwickelten Negativity Bias beispielsweise, unserer Neigung, negative Erfahrungen bevorzugt abzuspeichern – mehr dazu in Kapitel 3 –, hebt die Wichtigkeit emotional positiver Erfahrungen wie Freude und Güte umso deutlicher hervor. Das bessere Verständnis der neuralen »Hardware« kann uns sogar neue Zugänge zu unserer geistigen »Software« wie etwa dem Neurofeedback verschaffen. Zudem ermöglicht es uns die Übungspraxis individueller abzustimmen. Wenn Sie Ihr Temperament – vielleicht sind Sie leicht ablenkbar, vielleicht sind Sie ängstlich – als eine absolut normale Spielart des menschlichen Gehirns erachten, fällt es Ihnen leichter, sich so zu akzeptieren, wie Sie sind, und die Übungen zu finden, die am besten zu Ihnen passen.

Mit diesem Ansatz arbeiten wir uns gewissermaßen zurück: von wichtigen Erfahrungen wie dem Glücklichsein und der Zufriedenheit zu deren Ausgangsbasis im Gehirn. So lernen wir uns sowohl subjektiv als auch objektiv kennen, von innen nach außen und von außen nach innen, und die Schnittstelle dieser beiden Perspektiven ist das Neurodharma. Gleichzeitig können wir respektieren, was wir nicht wissen, und reine Gedankenspiele vermeiden. Ich versuche immer, mich an Buddhas Rat zu erinnern, sich vom »Dickicht der Ansichten« über theoretische Angelegenheiten fernzuhalten und sich stattdessen auf das ganz praktische Wie zu konzentrieren: Wie können wir das Leiden beenden und wahres Glück im Hier und Jetzt finden?

Ein Pfad, der vorwärts führt

Die sieben Themen dieses Buchs – den Geist beruhigen, das Herz erwärmen etc. – haben vielerlei Menschen vielerlei Traditionen auf vielerlei Weisen beschäftigt. Dabei geht es um äußerlich sicht- und erlebbare Erfahrungen, nicht um verborgene: Wir können achtsamer und liebevoller sein, weniger begehren, wir sind von Natur aus ganz, dieser Augenblick ist der einzige, der wirklich existiert, und jede Person ist mit allem verbunden.

Diese Art, sein Leben zu führen, diese Art zu sein steht uns allen offen, und ihr Wesen lässt sich auch ohne jahrelanges hartes Training erfassen. Ich mache hier und da Vorschläge, wie Sie sie im Alltag umsetzen können, biete aber auch geführte Meditationen, die weiter in die Tiefe gehen. Sie können sie auch mit Tätigkeiten verbinden, die Sie ohnehin schon ausüben, etwa mit dem Spazierengehen. Um beispielsweise mehr Zufriedenheit und Güte zu entwickeln, brauchen Sie weder in puncto Wissenschaft noch in puncto Meditation spezielle Kenntnisse. Selbst zehn Minuten Üben am Tag können schon einen großen Unterschied machen – vorausgesetzt, Sie üben regelmäßig. Und wie bei allen anderen Dingen lautet auch hier die Devise: Je mehr Sie hineinstecken, desto größer ist der Lohn. Was mich sowohl zuversichtlich als auch hoffnungsfroh stimmt, ist die Tatsache, dass es sich hier um einen Pfad handelt, den wir, wenn wir wollen, Schritt für Schritt bewältigen können, nicht um eine Zauberlösung per Fingerschnipsen.

Es gibt also viel zu tun – es sei denn, Sie befinden sich bereits ganz oben auf dem Berg des Erwachens (was auf mich ganz bestimmt nicht zutrifft). Doch wie sollen wir es in Angriff nehmen?

Tun und sein

Der Antwort auf diese Frage kann man sich auf zwei verschiedene Weisen nähern. Die eine setzt auf einen beständigen Prozess, der darauf abzielt, das Unglücklichsein zu reduzieren und Mitgefühl, Einsicht sowie Gelassenheit zu steigern. Die andere verweist auf eine angeborene Vollkommenheit, die sich naturgemäß nicht mehr verbessern lässt. Beide Herangehensweisen haben ihre Gültigkeit und stützen sich gegenseitig. Wir müssen heilen und wachsen; gleichzeitig können wir aber auch den Kontakt zu unserer tief in uns verwurzelten wahren Natur halten.

Was den Geist betrifft, so dauert es eine Weile zu entdecken, wer wir wirklich sind. So heißt es auch: »Beständiges Üben … plötzliches Erwachen … beständiges Üben … plötzliches Erwachen …« Oder wie Milarepa, der tibetische Weise, sein lebenslanges Üben beschrieb: Zuerst kam nichts, dann blieb nichts und am Ende ging nichts. Unterdessen ist das Gefühl der inneren Wachheit und Gütigkeit inspirierend und ermutigend und lässt uns weitermachen, wenn es einmal langweilig oder schwierig wird.

Auf dem langen, steinigen Weg
werden Sonne und Mond
immer scheinen.

THICH NHAT HANH

Was das Gehirn betrifft, so dauert es eine Weile, in Nervenschaltkreise eingebettete Traumata und ganz normalen neurotischen Müll aufzuräumen. Glücklich zu werden und emotionale Intelligenz sowie ein liebevolles Herz zu entwickeln erfordert auch schrittweise körperliche Veränderungen. Zugleich pendelt sich das Gehirn, wenn wir nicht verunsichert oder gestresst sind, auf seinen natürlichen Ruhezustand ein. Darin erholt es sich von Aktivitätsausbrüchen und schüttet Neurotransmitter wie Serotonin und Oxytozin aus, die sich positiv auf unsere Stimmung und Freundlichkeit anderen gegenüber auswirken. Ruhe, Zufriedenheit und Fürsorglichkeit sind unsere neuropsychologische Heimat. Und egal wie viel Stress und Kummer wir auch bewältigen müssen: Wir können jederzeit nach Hause zurückkehren.

Sein lassen, loslassen, hereinlassen

Ein besseres Gefühl der Fülle, der Ganzheit sowie weiterer Aspekte des Erwachsens zu entwickeln bedarf dreierlei Arten der Übung. Erstens können Sie einfach bei dem sein, was auch immer Sie gerade erleben: Sie können es akzeptieren, spüren und vielleicht erkunden. Während Sie dabei sind, mag sich das Erlebte verändern, doch Sie versuchen nicht, es in die eine oder andere Richtung zu lenken. Zweitens können Sie Schmerzliches oder Schädliches loslassen, indem Sie beispielsweise Anspannungen im Körper verringern, Gefühlen Ausdruck verleihen, Gedanken, die nicht wahr oder hilfreich sind, in ihre Schranken verweisen oder sich von Begierden lösen, die Sie oder andere verletzen. Und drittens können Sie schließlich das kultivieren, was freudvoll oder nützlich ist: sich Tugenden oder Fähigkeiten aneignen und resilienter, dankbarer sowie mitfühlender werden. Kurzum: sein lassen, loslassen, hereinlassen. Vergleicht man den Geist mit einem Garten, dann können Sie ihn sich ansehen, Unkraut darin jäten und etwas darin anpflanzen.

Von den drei genannten Aspekten ist sein lassen der wichtigste. Er ist unser Ausgangspunkt und manchmal das Einzige, das wir tun können: den Sturm der Angst oder Wut möglichst so überstehen, dass wir es nicht noch schlimmer machen. Und mit fortschreitender Übung schaffen wir es zunehmend, einfach mit dem nächsten Moment zu verschmelzen, der entsteht, vergeht und sich in etwas anderes verwandelt. Doch damit hat das Üben noch kein Ende. Wir können nicht nur unseren Geist sein lassen, wir müssen auch mit ihm arbeiten. Ein Großteil des Edlen Achtfachen Pfads im Buddhismus etwa beinhaltet das Loslassen und das Hereinlassen, beispielsweise das Ersetzen »unkluger« durch kluge Worte. Die Arbeit mit dem Geist hat zwar auch so ihre Tücken – etwa die fixe Idee, sich selbst »reparieren« zu können –, doch ist es nicht minder tückisch, sich nicht mit dem Geist zu beschäftigen. Ich kenne Menschen, die sehr gut im Beobachten des eigenen Geists sind … und zudem chronisch unglücklich sowie ungeschickt im Umgang mit ihren Mitmenschen. Wir sollten weder mit dem Geist arbeiten, um das Bei-ihm-Sein zu vermeiden, noch beim Geist sein, um die Arbeit mit ihm zu vermeiden.

Das Seinlassen, das Loslassen und das Hereinlassen bilden eine natürliche Abfolge. Vielleicht wird Ihnen irgendwann einmal klar, dass Sie sich über irgendetwas geärgert haben, und dann betrachten Sie dieses Gefühl und lassen es so stehen. Später erscheint es Ihnen ganz normal, das Gefühl bewusst loszulassen; im Zuge dessen entspannen Sie Ihren Körper, lassen die Emotionen fließen und wenden sich von verdrießlichen Gedanken ab. Schließlich kann der Platz, den das Loslassen geschaffen hat, von Nützlicherem wie etwa Selbstmitgefühl ausgefüllt werden. Dabei werden Sie mit der Zeit eine innere Stärke entwickeln, die Sie noch vollständiger sein und loslassen lässt. Sie können das gleich jetzt ausprobieren und üben – mit der Meditation im Kasten unten, die auch Hinweise zu Erfahrungsübungen im Allgemeinen enthält.

SEIN LASSEN, LOSLASSEN, HEREINLASSEN

Die folgende Meditation und die anderen Übungen in diesem Buch bieten Ihnen verschiedene Möglichkeiten, sich mit Ihren Erfahrungen auseinanderzusetzen und Erfahrungen zu machen, die Ihnen nützlich sein könnten. Sie werden sich nicht von all meinen Vorschlägen angesprochen fühlen, weshalb ich Sie ausdrücklich dazu ermuntere, eigene Praktiken zu entwickeln, die für Sie funktionieren. Vielleicht möchten Sie Ihren Körper bewegen, um ein bestimmtes Gefühl zu erzeugen, sich auf bestimmte Bilder konzentrieren oder andere Wörter verwenden. Wichtig sind die Erfahrungen, die gemacht werden, nicht die Methoden, die uns den Weg zu ihnen ebnen. Fällt es Ihnen schwer, etwas Bestimmtes zu fühlen – etwa das Gefühl des Loslassens –, dann ist das ganz normal. Ich weiß genau, wie das ist. Es ist ebenfalls normal, wenn Gefühle der Frustration und der Selbstkritik aufkommen. Erkennen Sie diese Gefühle an – »ja, ich bin frustriert«, »ja, ich bin kritisch mit mir selbst« – und üben Sie dann weiter.

Fällt es Ihnen schwer, sich mit etwas Bestimmtem zu verbinden, machen Sie sich eine Notiz im Geiste und kommen Sie, wenn Sie mögen, später darauf zurück. Es bedarf der Zeit und der Wiederholung, die sieben Stufen, mit denen wir uns beschäftigen, zu erkunden – insbesondere in ihrer ganzen Tiefe. Das ähnelt tatsächlich dem Besteigen eines hohen Bergs. Es geht nur langsam voran, weil der Pfad sehr steil ist, nicht, weil Sie etwas »falsch« machen oder nicht »fit« genug sind! Erklimmen Sie den Berg in Ihrem eigenen Tempo und, wie ein Lehrer mir vor vielen Jahren einmal riet, gehen Sie dabei einfach immer weiter.

Sie können die folgende Übung wie eine Meditation durchführen. Sie können das Ganze aber auch etwas informeller gestalten, indem Sie sie im Alltag ausüben, wenn etwas – nennen wir es »das Problem« – Ihnen Stress bereitet oder Sie ärgert. Passen Sie die Übung ganz Ihren Bedürfnissen an und nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie mögen.

Sein lassen

Suchen Sie sich etwas, das Ihnen dabei hilft, präsent zu bleiben, wie das Gefühl des Atmens. Lassen Sie sich einige Augenblicke Zeit, um sich immer mehr zu zentrieren. Lassen Sie Geräusche und Empfindungen, Gedanken und Gefühle Ihr Bewusstsein passieren. Erleben Sie, wie es ist, ganz bei einer Erfahrung zu sein, ohne sich ihr zu widersetzen oder an ihr festzuhalten.

Wenn Sie so weit sind, konzentrieren Sie sich auf das Problem, vor allem auf Ihre mit ihm verbundenen Erfahrungen. Seien Sie sich Ihrer Gedanken das Problem betreffend gewahr … der Emotionen das Problem betreffend … nennen Sie Letztere vielleicht beim Namen, ganz leise und nur für sich, etwa »Anspannung … Sorge … Ärger … Schwächung …« Akzeptieren Sie diese Gedanken und Gefühle, lassen Sie sie fließen, lassen Sie sie sein …

Ob es nun angenehm oder schmerzhaft ist, versuchen Sie, das Erlebte so, wie es ist, anzunehmen. Droht etwas, Sie zu überwältigen, konzentrieren Sie sich auf das Atmen oder etwas anderes Beruhigendes, Tröstliches … Sie sind immer noch hier, es geht Ihnen gut …

Seien Sie sich körperlicher Empfindungen das Problem betreffend gewahr … der Wünsche, Bedürfnisse und Pläne das Problem betreffend … Lassen Sie sie sein, lassen Sie sie fließen …

Sie können auch tiefere Schichten erkunden, etwa die Verletzungen oder Ängste unter der Wut … jüngere Teile Ihrer selbst … Fühlen Sie alles … lassen Sie alles sein …

Loslassen

Wenn Sie so weit sind, wenden Sie sich dem Loslassen zu. Werden Sie sich jeglicher Anspannung in Ihrem Körper das Problem betreffend gewahr. Lassen Sie sie abklingen und weicher werden, entspannen Sie sich. Lassen Sie die Gefühle fließen … Vielleicht stellen Sie sich vor, dass sie jedes Mal beim Ausatmen wie eine kleine Wolke aus Ihnen herausströmen … Machen Sie sich unwahre, übertriebene und einschränkende Gedanken bewusst und lösen Sie sich von ihnen … lassen Sie los …

Werden Sie sich Begierden das Problem betreffend gewahr, etwa unrealistischer Ziele oder verständlicher Sehnsüchte, die jedoch schlicht nicht erfüllt werden können … und lassen Sie sie Atemzug für Atemzug los … Sie können auch kontraproduktive Formen des Kommunizierens und Handelns loslassen … Lassen Sie sie Atemzug für Atemzug los … lassen Sie alles los …

Hereinlassen

Konzentrieren Sie sich nun auf das, was nützlich, klug oder freudvoll sein könnte. Vielleicht würde es sich gut anfühlen, sich etwas Tröstlichem oder Beruhigendem zu öffnen … oder der Dankbarkeit, der Liebe, des Mitgefühls mit sich selbst … Nehmen Sie es beim Einatmen in sich auf … lassen Sie Gutes in sich hinein …

Vielleicht spüren Sie eine Weite in Ihrem Geist, wie der Himmel, der sich nach einem Gewitter öffnet … Vielleicht spüren Sie, wie sich Ihr Körper lockert … Bleiben Sie bei diesen Erfahrungen … geben Sie sich ihnen hin …

Vielleicht heißen Sie ein Gefühl der Stärke oder Entschlossenheit willkommen … Vielleicht entdecken Sie Gedanken oder Blickwinkel im Zusammenhang mit dem Problem, die richtig und hilfreich sind … und öffnen sich der Intuition oder der Stimme der inneren Weisheit … Vielleicht entsteht zunehmende Klarheit darüber, wie Sie in den kommenden Tagen handeln möchten …

Lassen Sie alles Hilfreiche in sich hinein … all das Gute, das in Ihnen nun seinen Platz einnimmt … Lassen Sie es sich ausbreiten … lassen Sie all das Gute in sich hinein …

Zum Gebrauch dieses Buchs

In diesem Buch geht es um das Kultivieren der sieben Seinsstufen, die das Wesen des Erwachens ausmachen. Und das geschieht durch Üben: durch das wiederholte Erleben, von der bloßen Ahnung bis zum vollständigen Eintauchen. Diese Stufen entstammen weder dem Bereich der Esoterik noch liegen sie außerhalb unserer Reichweite. Im Gegenteil: Sie gründen im eigenen Körper, sie sind unser Geburtsrecht.

Lass die Lehren in dich eindringen,
wie Musik in dein Ohr dringt
oder wie sich die Erde vom Regen durchdringen lässt.

THICH NHAT HANH

In diesem Kapitel und dem nächsten finden Sie Grundlegendes über das Gehirn und das Üben im Allgemeinen. Anschließend widmen wir uns den ersten drei Stufen – dem ruhigen Geist, der Liebe und der Fülle –, die eine natürliche Einheit bilden. Diese drei Stufen stellen fundamentale Aspekte des Erwachens dar; es ist überaus wichtig, sich mit ihnen zu beschäftigen, selbst wenn man bereits einige Erfahrung mit ihnen hat. Beim Verweilen in Fülle beispielsweise geht es darum, Frieden, Zufriedenheit und Liebe zu verinnerlichen – was an sich schon nicht wenig ist – und damit gleichzeitig das Begehren, das Verlangen, zu reduzieren, das so viel Leid verursacht und uns sowie anderen so sehr schadet.

Die nächsten drei Stufen – Ganzheit, Jetztheit und Allheit – bilden ebenfalls eine Einheit. Sie gewähren Einblick in das Wesen all unserer Erfahrungen, das erstaunlicherweise dem Wesen jedes einzelnen Atoms im Universum entspricht. Diese Art von Erkenntnis nimmt ihren Anfang meist auf intellektueller Ebene, was vollkommen in Ordnung ist; zu vielen tiefgehenden Lehren gehört zunächst ein umfassendes gedankliches Durchdringen. Wenn Ihnen im Laufe der Lektüre eine Vorstellung begegnet, die Ihnen nicht auf Anhieb verständlich ist, sollten Sie versuchen, sie auf Ihre eigenen Erfahrungen anzuwenden. Durch das Nachdenken werden Ihnen solche Vorstellungen nach und nach in Fleisch und Blut übergehen. Und sollte Ihnen ein später behandeltes Thema wie etwa die Allheit zu abstrakt erscheinen, können Sie einfach einige Kapitel zurückblättern, um Ihren gedanklichen Halt wiederzufinden.

Bei der letzten Stufe – Zeitlosigkeit – wollen wir das Unbedingte erkunden, im Unterschied zu Phänomenen wie Ereignissen und Emotionen, die durch ihre Ursachen »bedingt« sind. Ein Beispiel: Ein Wolkenbruch ereignet sich aufgrund von Bedingungen in der Erdatmosphäre, ein Wutausbruch beruht auf im Geist herrschenden Bedingungen. Dieses große Thema kann man auf dreierlei Arten angehen. Zunächst könnte man sich mit dem allmählichen »Ent-Konditionieren« unserer gewohnheitsmäßigen – und schmerzhaften und schädlichen – Reaktionen auf die Dinge beschäftigen. Daran anschließend könnten wir versuchen, innerhalb der ganz normalen Realität zu einem außergewöhnlichen Geisteszustand zu gelangen, in dem sich die gewohnten konditionierten, also bedingten Konstruktionen unserer Erfahrungen scheinbar auflösen. Und schließlich könnten wir uns mit etwas wahrhaft Transzendentalem beschäftigen, das außerhalb der bedingten ganz normalen Realität liegt. Das Kapitel »Zeitlosigkeit entdecken« umfasst alle drei Herangehensweisen – die tiefgehendste Übung von allen, der Sie sich natürlich ganz individuell nähern können.

Jedes dieser Themen könnte ein eigenes Buch füllen. Ich habe mich deshalb auf meiner Meinung nach entscheidende Aspekte für die persönliche Praxis konzentriert, insbesondere auf diejenigen, die durch relevante neurowissenschaftliche Erkenntnisse gestützt sind; auf Letztere gehe ich in den Anmerkungen noch einmal ausführlich ein. Darüber hinaus gibt es eine gewaltige Menge an Literatur zu den Themen, in der leidenschaftlich Meinungen vertreten werden, beispielsweise zur korrekten Übersetzung wichtiger Wörter. Die folgenden Kapitel spiegeln den Pfad wider, den ich beschritten habe – andere Denkansätze finden Sie in den Anmerkungen.

Ich schreibe aus der eingeschränkten Sichtweise eines hellhäutigen, der Mittelschicht angehörenden US-Amerikaners mittleren Alters, und es versteht sich im Grunde von selbst, dass es viele andere Möglichkeiten gibt, über den Stoff in diesem Buch zu sprechen und damit zu üben. Ich habe zwangsläufig wichtige Herangehensweisen an die tägliche Praxis ausgelassen, was jedoch nicht bedeutet, dass ich sie geringschätze. Sollten Sie Dinge aus anderen Veröffentlichungen von mir wiedererkennen, können Sie die Passagen entweder locker überfliegen oder sie mit frischem Blick lesen. Taucht ein Schlüsselbegriff erstmals auf, ist er kursiv gesetzt. Nicht übersetzte Zitatquellen – wie Dhammapada oder Itivuttaka – stammen aus dem Pali-Kanon. Die Kapitel enden jeweils mit dem Abschnitt »Bewährte Praxis«, der zusätzliche Empfehlungen für das alltägliche Leben enthält; eine Ausnahme bildet das letzte Kapitel, in dem es generell um die Anwendung des Erlernten geht.

In seiner Struktur ähnelt dieses Buch einem Retreat, es enthält neben den Darstellungen verschiedener Konzepte und Ideen auch geführte Meditationen. Die Konzepte und Ideen sind deshalb so wichtig, weil sie uns dabei helfen, uns selbst besser zu verstehen; sie bescheren uns Erkenntnisse, die uns von unnötigem Leiden und Konflikten befreien. Da dieses Verständnis ein sehr tief greifendes ist, bedarf es der Zeit und der Mühe. Das erste Mal habe ich vor mehr als 40 Jahren von vielen dieser Lehren gehört, und sie verblüffen und faszinieren mich noch heute. Ich habe immer noch an ihnen zu kauen.

Auch die Meditationen sind sehr wichtig, weshalb ich sie Ihnen wirklich nur wärmstens empfehlen kann. Sie könnten sie langsam laut lesen und sich Zeit dabei lassen, ein Gefühl für sie zu entwickeln. Sie können sie auch mit der eigenen Stimme gesprochen aufzeichnen. In den späteren Meditationen wiederhole ich die Grundanweisungen vom Anfang meist nicht; falls Sie das irritiert, schlagen Sie einfach in den vorderen Kapiteln nach. Je öfter Sie eine nützliche Erfahrung machen und je länger und tief empfundener diese Erfahrungen sind, desto effektiver bauen Sie den neuralen Nährboden auf, auf dem Glück, Liebe und innere Stärke gedeihen.

ZUM WEITERLESEN

Das Gehirn eines Buddha (Rick Hanson mit Richard Mendius)

Das verborgene Licht (hrsg. von Florence Caplow und Susan Moon)

Mind in Life (Evan Thompson)

Realizing Awakened Consciousness (Richard P. Boyle)

Reflections on a Mountain Lake (Ani Tenzin Palmo)

Beim Üben werden Sie feststellen, dass Sie sich manchmal im Geiste um etwas bemühen – beispielsweise die Aufmerksamkeit zu wahren –, während Sie beobachten, was tatsächlich geschieht. Es ist normal, gelegentlich zu kämpfen zu haben; genau das ist der Grund, warum Üben so wichtig ist. Allerdings habe ich auch Lehrer erlebt, die ihre Schüler unterschätzen, und ich will es ihnen nicht gleichtun. Ich habe schon viele Freunde mit in die Berge genommen, und die Kernbotschaft ist praktisch dieselbe: Komm doch mit, da, wohin wir gehen, ist es wirklich atemberaubend … hier ist unser Weg, ein guter Weg … wir müssen noch bis ganz da oben hinauf, wir sollten besser los. Unser Tempo wird flott sein, doch sind wir bei Weitem nicht die Ersten, die diese Pfade beschreiten – haben Sie Vertrauen, Sie werden es schaffen. Auch ich habe sie beschritten – und bin hin und wieder vom Weg abgekommen! –, Sie werden von den Blessuren, die ich mir dabei geholt, und den Lektionen, die ich dabei gelernt habe, im Laufe dieses Buchs noch hören. Manchmal werden Sie langsamer werden und Atem schöpfen wollen, Sie werden nachdenken und die Aussicht genießen wollen. Bei mir war es jedenfalls so. Dass der Pfad an manchen Stellen steil ist, zeigt Ihnen nur, welch großartige Aussicht Sie an seinem Ende erwartet.

Passen Sie unterwegs auf sich auf. Wenn wir uns der Unmittelbarkeit des erlebten Augenblicks öffnen, steigen manchmal schmerzhafte Gedanken und Gefühle auf. Mit zunehmender Übung verschwimmen die Grenzen zwischen uns und den Dingen um uns herum, was durchaus Desorientierung hervorrufen kann. Je intensiver und weitläufiger Sie das Gebiet durchstreifen, desto wichtiger ist es, geerdet und mit inneren Ressourcen ausgestattet zu sein. Es ist absolut in Ordnung, das Tempo zu drosseln, innezuhalten und sich auf das Stabile, Tröstliche und Nährende zu konzentrieren. Manche Menschen fühlen sich von psychologischen Übungen wie der Achtsamkeit aus der Bahn geworfen, insbesondere dann, wenn Probleme wie Depressionen, Traumata, Dissoziationen oder psychotische Prozesse vorliegen. Achtsamkeit, Meditation und die anderen Praktiken in diesem Buch eignen sich nicht automatisch für jeden; sie heilen nicht automatisch jede Störung und sind ganz entschieden kein Ersatz für professionelle Hilfe.

Es handelt sich hierbei um einen Prozess, und bei diesem Prozess können Sie sich Zeit lassen. Lassen Sie ihn ganz natürlich auf sich einwirken … und sich dabei von ihm verändern. Lassen Sie sich von ihm mit auf eine Reise nehmen. Das Erwachen folgt seinen eigenen Rhythmen: Manchmal steigt der Weg langsam an, manchmal öffnet sich eine Hochebene, manchmal geht es bergab und manchmal erlebt man einen Durchbruch. Und die ganze Zeit über begleitet uns unser tiefstes Inneres, unsere wahre Natur, ob wir sie nun allmählich entdecken oder ob sie uns plötzlich offenbart wird: gewahr, weise, liebevoll und rein. Das ist Ihr wahres Zuhause, und darauf können Sie bauen.

Bewährte Praxis

In diesem Abschnitt finden Sie Empfehlungen, wie Sie die in diesem Kapitel vorgestellten Ideen und Methoden im täglichen Leben umsetzen können. (Mit »bewährter Praxis« meine ich Praxis im Allgemeinen – nicht eine bestimmte.) Die Empfehlungen sind nicht die einzige Möglichkeit, sich näher mit dem Stoff zu befassen; Sie werden sicher auch eigene Praktiken entwickeln. Denken Sie dabei bitte auch an Dinge, die hier gänzlich unerwähnt bleiben, etwa an körperliche Aktivitäten, spirituelle oder religiöse Praktiken, Lehren und Methoden indigener Völker auf der ganzen Welt, an künstlerischen Selbstausdruck, einen Rückzug in die Natur, an Musik, an Gottesdienste.

Sehen Sie jeden Tag als Gelegenheit zum Üben. Sie haben die Chance, etwas über sich zu lernen, besser mit Ihren Reaktionen umzugehen, zu heilen und zu wachsen. Setzen Sie es sich schon beim Aufwachen zum Ziel, heute zu üben. Und schlafen Sie mit dem guten Gefühl ein, heute geübt zu haben.

Denken Sie an jemanden, den Sie respektieren. Vielleicht kennen Sie den Betreffenden oder die Betreffende persönlich, vielleicht haben Sie einen Vortrag besucht oder etwas von der Person gelesen. Denken Sie nun an etwas, das Sie an dieser Person bewundern, und versuchen Sie dann, diese Eigenschaft in sich selbst zu entdecken. Sie spüren sie vielleicht nicht besonders deutlich, aber sie ist da und Sie können sie weiterentwickeln. Konzentrieren Sie sich einen Tag oder länger darauf, diese Eigenschaft an sich zu erleben und nach ihr zu handeln. Wie fühlt sich das an? Probieren Sie das auch mit anderen Menschen und Eigenschaften, die Sie bewundern, aus.

Halten Sie dann und wann inne und machen Sie sich bewusst, dass das Leben im Allgemeinen und Ihr Körper sowie Ihr Gehirn im Besonderen für das Hören und Sehen, das Denken und Fühlen in diesem Augenblick verantwortlich sind. Wow!

Bleiben Sie, wenn Sie mögen, eine Minute oder länger einfach bei dem, was Sie gerade erleben, ohne es irgendwie verändern zu wollen. Das ist die grundlegendste Übung: Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken so zu akzeptieren, wie sie sind, ihnen so wenig wie möglich hinzuzufügen und sie so fließen zu lassen, wie sie wollen. Alles in allem wird Ihr Tag zunehmend vom Gefühl des Einfach-sein-Lassens durchdrungen sein.

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Der verzauberte Webstuhl

Unterschätze nicht dein gutes Handeln
Und denke nicht: »Das hat ja keine Folgen für mich!«
Tropfen für Tropfen füllt sich der Krug,
Und ebenso füllt sich randvoll mit Gutem der Weise.

DHAMMAPADA 122