Ich widme meinen ersten Roman „Gefühlswelten“ meiner Herzensfreundin, die meine Begabungen mit ihrem wundervollen Licht beleuchtet. Zudem danke ich meinem Mann für seine Geduld, sein Verständnis und für seinen bedingungslosen Beistand in allen Belangen des Lebens. Beim lieben Gott bedanke ich mich für meine beiden wundervollen Kinder und für alles Glück in meinem Leben.
Zitat: „Alle Dunkelheit ist eine Reise ins Licht.
Aller Schmerz ist eine Reise zur bedingungslosen Liebe.“
Paul Ferrini
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2. Auflage
© 2020 Ria Maranca
Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7504-4386-0
Stell dir vor, du möchtest von einer Stadt in die nächste kommen, weil du dort etwas zu erledigen hast. Es ist etwas, das nicht eilt, aber einfach irgendwann getan werden muss. Zu Fuß bist du ungefähr eine dreiviertel Stunde unterwegs, wenn du an der Hauptstraße entlangläufst. Es fährt auch ein Bus, doch der kommt erst in einer Stunde. Wofür entscheidest du dich?
Gehörst du vielleicht zu den Menschen, welche denken: Ach, da warte ich doch lieber eine Stunde und fahre bequem mit dem Bus, als dass ich zu Fuß laufe. Bist du dabei zufrieden, beobachtest vielleicht bewundernd andere Leute, genießt die Sonne im Gesicht oder hörst dem beruhigenden Plätschern des Regens zu, während andere sich darüber ärgern, dass der Bus nicht öfter fährt?
Oder ziehst du es vor, dich ein bisschen zu bewegen, als nur da zu sitzen und zu warten? Störst du dich am Lärm der vorbeifahrenden Autos, wenn du die Hauptstraße entlangläufst? Oder kannst du auch hier die Sonne auf deiner Haut genießen, den Wind in deinem Gesicht, deine gesunden Beine, die dich vorwärts tragen? Gehst du nur entlang der Straße, weil sie dich schnell und sicher ans Ziel bringt, oder sind deine Schritte voller Freude und Dankbarkeit?
Vielleicht gehörst du aber auch zu den Menschen, die weder mit dem Bus fahren noch an der Hauptstraße entlanglaufen möchten, weil sie sich danach sehnen, ihren eigenen Weg zu finden. Einen, der durch Wälder und über Wiesen führt – vielleicht kommt ein erquickendes Bächlein, ein reißender Strom oder eine gewaltige Schlucht – möglicherweise führt er über sanfte Hügel und steile Berge – die Beschaffenheit ist ungewiss, es kann regnen, schneien oder auch die Sonne scheinen... Das einzige, auf was es ankommt, ist die Richtung, die dir dein Herz weist – das Ziel verliert an Augenschein – was zählt, ist nur der Weg und das, was du auf ihm erfährst.
Für was auch immer du dich in jedem Moment entscheidest, wenn du am Ziel angekommen bist, blickst du zurück auf deinen Weg, auf dein Leben.
Apathisch betrachte ich meine Hände, die zitternd ein Stück Papier halten. Darauf stehen Worte, die ich schon tausend Mal gelesen habe, aber einfach nicht begreifen möchte. Ich lese sie immer und immer wieder und jedes Mal klingen sie anders. Vor einem Jahr noch klangen sie erschreckend, furchterregend, traurig und unbegreiflich. Später klangen sie zärtlich, liebevoll, mutig, vertraut und immer noch traurig. Und heute sind all diese Eindrücke vereint und eine tiefe Trauer lastet auf mir.
„Liebe Nora,
unsere Mama hat uns beiden nicht nur das Lebens geschenkt, sie hat uns gelehrt, unsere Mitmenschen zu achten, ebenso das Werk Gottes, die Natur und die Tiere. Jeder von uns beiden konnte seine eigene Persönlichkeit entwickeln, welche auf dieser Welt einzigartig ist. Du hast dabei ihre Fröhlichkeit, ihr Lachen und ihre beneidenswerte Lebensenergie übernommen. Du hattest als kleines Kind schon diesen unglaublichen Wissensdurst und hast die Welt mit so viel Neugierde entdeckt. Ich glaube, Mama hat mit Dir nochmal ganz bewusst ihr eigenes, inneres Kind erlebt, welches noch immer tief in ihrem Herzen wohnte.
Ich war zwar damals auch noch ein Kind, aber ich spürte, dass zwischen Euch wundersame Dinge geschahen, die zwischen Mama und mir nicht stattfinden konnten. Sie liebte uns beide, aber zwischen Euch war es so besonders, weil ihr euch in vielen Dingen so ähnlich wart. Ihr hattet beide diese herzliche Offenheit, die euren Gefühlen erlaubte, frei fließen zu können. Bei mir hingegen war vieles eingeschlossen. In meiner Jugendzeit hatte ich oft das Gefühl, nicht richtig zu sein, obwohl ich das Riesenglück hatte, eine Mutter zu haben, die mich stets so annehmen konnte, wie ich war. Nie verlangte sie von mir, mich grundlegend zu ändern, damit ich ihren Wünschen und Vorstellungen entsprach. Sie bestärkte mich stets darin, meinen eigenen Weg zu finden. Verstehst du Nora? Ich war von großen Selbstzweifeln geplagt und nur durch ihren bedingungslosen Beistand konnte ich mich zu dem eigenständigen Menschen entwickeln, der ich heute bin. Mehr noch, sie gab mir sogar das Gefühl, auf mich stolz zu sein. Sie lobte meinen Fleiß, mein Geschick mit Holz und es gefiel ihr, dass ich einen Beruf gewählt hatte, der in enger Verbindung zur Natur stand. Und ich meinerseits hatte Freude daran, nützliche Dinge anzufertigen, die wir im täglichen Leben gebrauchen konnten. Wie gerne hätte ich ihr noch das Nachtkästchen geschenkt, das sie sich auf Weihnachten gewünscht hatte… und wie gerne hätte ich ihr noch gesagt, wie sehr ich sie liebe und wie dankbar ich ihr für alles bin, was sie je für mich getan hat.
Stattdessen habe ich ihr nun ein Kreuz gezimmert, das ich morgen, am 5. Jahrestag ihres Todes, mit meinem Freund Sebastian aufstellen werde. Es wird auf dem Gipfel ihres Lieblingsberges thronen – das Ziel ihrer Wanderung, welches sie an jenem Tag nicht mehr erreichte. Dort oben war für sie der Ort, an dem sie Kraft schöpfen konnte, und wohl auch der Ort, an dem sie sich Gott am nächsten fühlte. In die Mitte des Kreuzes - dort, wo sich die schweren Balken treffen – habe ich ein Auge geschnitzt, um ihr den Blick über die Weite des Landes für alle Ewigkeit festzuhalten.
Um Dich nicht in Versuchung zu bringen, mich von meinem Vorhaben abzuhalten, habe ich Dir nur diesen Brief hinterlassen.
Ich liebe Dich Schwesterchen, Dein Tobias!“
Als Tobias und Sebastian an jenem Abend nicht heimkehrten, alarmierten wir die Bergwacht, welche einen Suchtrupp ausschickte. Wir erfuhren, dass sich eine Lawine gelöst und die beiden möglicherweise mitgerissen hatte. Ich erinnere mich an die vielen langen Stunden der Angst und des Wartens auf eine Nachricht. Ich saß mit Tante Su zuhause, völlig machtlos, nahe daran, den Verstand zu verlieren. Wir suchten Hoffnung in Gebeten, wir suchten Ablenkung in Gesprächen, doch die plagende Ungewissheit trieb uns schier in den Wahnsinn. Unruhig liefen wir umher, kopflos, zuckten beim leisesten Geräusch zusammen, bis wir schließlich weinend auf dem Sofa niedersanken. Wir hielten uns an den Händen, schmiegten unsere Körper eng aneinander, waren erschöpft und doch ruhelos. Wir gaben uns Halt und waren doch haltlos. Wir beobachteten, wie die Dämmerung hereinbrach und den nächsten Tag ankündigte. Der Nebel lag auf den Feldern wie das Grauen über uns. Als das Telefon schellte, schreckten wir auf, nahmen zitternd das Gespräch entgegen und mit ihm eine Nachricht, die unfassbar war. Sie war so unbegreiflich wie ein Abgrund inmitten des Ozeans, so unvorhersehbar wie eine Miene im Paradies und sie zerschmetterte meine kleine Welt in binnen weniger Sekunden. Tobias lebloser Körper war unter den Schneemassen gefunden worden, während Sebastian lebend geborgen werden konnte. Sebastian, Tobias Freund bis in den Tod. Er war der Junge, den ich verehrte, dessen Nähe ich suchte, seit ich ihn das erste Mal gesehen habe. Aber Tobias, mein Bruder – ich konnte mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen!
Die ersten Tage nach dieser Nachricht war ich nicht ansprechbar – es war, als hätte mich ein schützender Engel abgeschaltet, um mich vor dem Niedergang zu bewahren. Ich war auf der Beerdigung meines Bruders, doch ich erlebte all dies wie in einem Film, der zwar traurig war, jedoch nicht in Wirklichkeit geschah. Meine Tante suchte einen Zugang zu mir, doch meine Türen blieben verschlossen.
Sebastian hatte sich körperlich schnell erholt und so konnte auch er Tobias die letzte Ehre erweisen. Ich erinnere mich, wie sehr er in sich zusammengesunken war. Ein Häufchen Elend, genau wie ich. Allerdings begriff ich damals noch nicht, dass er keine Schuld am Tod meines Bruders trägt – zu sehr verband ich mit ihm das Unheil und zu groß war der Schmerz meines Verlustes.
Dies veränderte sich erst Wochen später, an jenem Tag, als er zu mir kam. Ich sah ihn vom Fenster aus, wie er sein altes Fahrrad an den Zaun lehnte und zielgerichtet auf die Haustüre zuschritt. Ich glaube, dies war meine erste bewusste Wahrnehmung nach dem Unfall – so als hätte mich der schützende Engel wieder angeschaltet, um weiterleben zu können. Mein Verstand meldete sich zurück. Er sagte, verstecke dich, du bist noch nicht bereit dazu. Doch mein Herz veranlasste mich, die Türe zu öffnen und diesen feinfühligen und auch gebrochenen Menschen hereinzubitten. Mein Herz erkannte den Ausdruck seiner Augen und die herabhängenden Schultern, auf denen dieselbe Trauer lastete wie auf den meinen. An jenem Tag redeten wir kaum, denn wir wussten beide, dass Worte unsere Gefühle nicht hätten beschreiben können. Wir saßen in meiner Dachkammer und teilten denselben Schmerz, jeder in seine eigenen Erinnerungen versunken, eingehüllt von der Präsenz eines geliebten, verstorbenen Menschen und umgeben von Dingen, die von seinem Leben zeugten. Einem Leben, das tiefe Spuren in unseren Herzen hinterlassen hatte. Unauslöschlich. Über den Tod hinaus.
Es tat gut, nicht alleine zu sein - zu wissen und zu spüren, dass es jemanden gibt, der genauso fühlt, denselben Schmerz empfindet, dieselbe Trauer durchlebt und von derselben, grausamen Leere erfüllt ist.
Heute, genau 1 Jahr später, sitze ich in meinem Zimmer, den Brief von Tobias vor mir auf dem Schreibtisch liegend. Ich schaue mich um und spüre meinen Bruder in jedem Atemzug. Alles hier in diesem Raum zeugt von seinem Leben, seinem Tun und Wirken und seiner Leidenschaft, der Arbeit mit Holz.
Nachdem Tobias seine Lehre als Schreiner abgeschlossen hatte, war er kaum zu bremsen, in seinem Erschaffungsdrang. Er legte so viel Fleiß und auch Herzblut in seine Arbeiten, dass alles, was er erschuf, von ganz besonderem Wert war.
Dies hier, mein eigenes wohliges Reich, habe ich ebenfalls ihm zu verdanken. Es war gleich eines seiner ersten Projekte gewesen, für mich den Dachboden auszubauen. Zuvor hatte ich nur ein kleines, düsteres Zimmer gehabt, indem nur ein Bett, ein kleines Nachtkästchen und mein Kleiderschrank stand, und mir lediglich zum Schlafen diente. Damals war ich noch nicht in einem Alter, in dem ich mich nach einem Rückzugsort gesehnt hätte. Ich mochte es, wenn Mama und Tobias im Raum waren, wenn ich deren Stimmen hörte und die Geräusche ihrer Anwesenheit vernahm, während ich mit meinen Püppchen spielte, ein Bild malte, oder die Schularbeiten erledigte.
Erst Jahre später, als Tante Su bereits bei uns eingezogen war und das Leben seine bitteren Spuren auf meiner Seele hinterlassen hatte, lernte ich diesen hellen, geräumigen Raum richtig zu schätzen. Einen Raum mit einer Türe, die ich hinter mir verschließen und für mich sein konnte. Ein Raum, in dem ich meinen Schmerz und meine Trauer nicht verbergen musste, vor einer Welt, die sich einfach weiterdrehte, obgleich sie um so vieles ärmer geworden war.
Ja, der Raum, den Tobias in meinen glücklichen Kinderjahren für mich geschaffen hatte, wurde in meiner Jugendzeit zu einem Zufluchtsort, an dem ich mit meiner Traurigkeit alleine sein konnte. Abgeschirmt von Menschen, von denen ich mich nicht verstanden fühlte, und einer Welt, die sich ungeachtet meines Schmerzes weiterdrehte.
Und dennoch, obgleich mir dieser Raum jene Zuflucht gewährte, lies er mich nicht in die Dunkelheit meiner Seele verkriechen. Er bot mir so viel Konträres, so viel Helligkeit und Aussicht auf eine Welt voller Wunder und Leben. Eine Welt, die von meiner Mutter geliebt wurde – oh ja, ich kenne niemanden, der die Welt und das Leben so sehr liebt, wie es Mama getan hatte. Mit jeder Faser ihres Seins wollte sie die Schönheit der Natur spüren, diese in sich aufnehmen, um sie für ewig im Herzen zu tragen. Ja, so war sie, leidenschaftlich und hingebungsvoll, und genauso war auch Tobias in seinem Tun und Wirken, und all dies trägt dieser Raum in sich, der mich und meinen Schmerz umgab und noch immer umgibt, heute, genau ein Jahr nach seinem Tod.
Wie oft hat er mich seither in das warme, tröstende Abendlicht der untergehenden Sonne gehüllt, welches er in vollen Zügen über die westliche Fensterwand in sich aufnimmt. Wie oft saß ich mit tränennassem Gesicht auf dem flauschigen Teppich, inhalierte die wohlig, harzigen Gerüche des Holzes, die mich stets an die Bäume erinnern, deren Leben noch immer in diesem Raum pulsiert. Nein, sie sind nicht gestorben, sie haben nur eine andere Form des Lebens angenommen, welche ich noch immer spüren kann. Ich kann sie riechen, sehen - diese andere Lebensform - mich ihrer bedienen. All dies erinnert mich daran, dass auch Mama und Tobias noch hier sind – sie sind nicht vergangen, haben sich nicht in Luft aufgelöst – sie haben lediglich die Form ihres Daseins geändert. Ihre Energie ist noch hier, überall in diesem Raum, überall in mir. Mein Herz ist voll von ihrer wunderbaren, unvergesslichen Lebensenergie – voll bis zum Rand und darüber hinaus – und doch tut es unsagbar weh. Gerade deswegen. Sie fehlen mir so sehr.
Dieser Raum nimmt alles auf – bedingungslos - in alle Himmelsrichtungen, außer nach Norden, trägt er ein Fenster, nach Süden eine große Dachgaupe – um zu jeder Tageszeit das Licht der Sonne einzufangen. Licht ist Leben, hat Tobias gesagt, und ich kenne niemanden, der so voller Lebenslust ist wie du, Schwesterchen.
Schwesterchen… so hat er mich oft genannt; ich kann den Klang seiner Stimme noch immer vernehmen; es ist, als schwinge er in meinem Ohr wie ein niemals verstummendes Echo. So voller Zärtlichkeit, dass es niemals erlischt.
Die Sonne ist immer da, auch wenn der Himmel mit Wolken bezogen ist. Ihr Licht ist immer da – mal scheint es heller und mal weniger hell – doch es ist niemals völlig dunkel. Das musst du dir gut merken, Schwesterchen.
Auch diese Worte stammten von ihm, und ja, ich habe sie mir gut gemerkt, habe sie nie gänzlich vergessen, auch nicht zu Zeiten, in denen kaum ein Lichtschimmer durch den düsteren Schleier meiner Trauer drang.
Wie oft blickte ich hinaus, aus den großen Fenstern, saß still auf dem flauschigen Teppich und beobachtete, wie sich ein Gewitter zusammenbraute. Dies entsprach vielmehr meinem inneren Treiben als der heitere Sonnenschein. Wenn sich dunkle Wolkengebilde auftürmten, aus denen grelle Blitze zuckten, fühlte ich mich verstanden. Je lauter das Donnergeröll und je härter die Regentropfen auf mein Fenster prasselten, desto freier wurde mein Herz. Es schien mir gerade so, als könnte es sich wie die Wolken entladen und den fürchterlichen Schmerz in grellen, schneidenden Blitzen aus sich herausschmettern. Es tat mir gut, wenn die Erde bebte, während es mich schmerzte, wenn sie in vollem Glanz erschien. Zu sehr erinnerte mich dies daran, was ich alles verloren hatte.
Natürlich hatte Tobias Recht – Mama hat uns Achtsamkeit und Wertschätzung gegenüber der Natur und den einfachen Dingen des Lebens gelehrt. Sie hat uns gelehrt, deren Schönheit zu sehen und sich an ihr zu erfreuen - wahrlich zu erfreuen, mit einem warmen Gefühl in der Brust. Glückseligkeit. Ja, so könnte man es nennen - sie hat uns Glückseligkeit gelehrt oder vermittelt oder weitergereicht. Ich spüre sie noch immer in mir, sie schwingt in meinen Zellen, unwiderruflich. Allerdings droht sie mich nun oft zu zerreißen – ja, sie reißt mich förmlich entzwei – die eine Seite ist voller Glückseligkeit und Liebe, und die andere, voller Schmerz, Einsamkeit und Trauer.
Ich schaue hinaus, lasse den Blick über die Pferdekoppel gleiten, ohne wirklich etwas zu sehen. Es liegt ein schweres Nebeltuch über der Welt - das passt zu meinem Gemüt – so als hätte man mit einer Pipette die Farbe aus meinen Leben gezogen. Die sanften Hügel und Wälder, die das Land umsäumen, das schwere Massiv der Alpen im entfernten Hintergrund, all dies liegt heute im Verborgenen, umhüllt vom Nebel wie eine islamische Frau von der Burka. Es scheint mir, als wolle mich der Schleier vor dem Schmerz bewahren, den die wahre Schönheit dieses Landes in mir hervorrufen würde; als wisse er, dass in mir dieselbe Liebe wohnt, wie sie meine Mutter und mein Bruder in sich trugen, und dass ich diese heute nicht ertragen könnte.
Mama liebte dieses Land, sie liebte ihr Leben, die Pferde waren ihre Leidenschaft. Manchmal wünschte ich, ich könnte leben wie ein Tier, dann müsste ich weder zurück noch nach vorne blicken. Welch große Last wäre mir von den Schultern genommen, wenn ich all die schmerzlichen Erinnerungen ablegen könnte. Andererseits möchte ich auch niemals vergessen, wie sie waren – die beiden Menschen, die mir am nächsten standen.
Ich hole ein Foto aus meiner Schreibtischschublade – ich selbst habe den Schnappschuss aufgenommen. Er zeigt Mama und Tobias, wie sie sich gegenseitig necken und zum Spaß miteinander raufen. Beide sind leicht nach vorne gebeugt, lachen herzhaft und strahlen direkt in die Kamera. Tobias sind ein paar dunkle Strähnen in die Stirn gefallen und auch Mamas lange, braune Locken hängen ihr wild ins Gesicht. So waren die beiden, überschäumend vor Energie und Lebenslust. Zärtlich streichle ich über das Bild und erinnere mich plötzlich daran, wie sie sich angefühlt haben… an die Wärme und den Duft ihrer Haut… an das Gefühl, von Mama in den Arm genommen zu werden - ein Gefühl vollkommener Geborgenheit.
Tränen strömen über mein Gesicht – aus der tiefsten Stelle meines Herzens quellen sie hervor, als wollten sie die ganze Trauer aus mir herausschwemmen. Mein Gesicht ist nass von Tränen, sie fließen und fließen, als gebe es kein Ende für dieses Weinen.
Schließlich spülen sie mich fort… weit fort… erlöst von einem tiefen, traumlosen Schlaf.
Als ich erwache, habe ich Kopfschmerzen und Tante Su sitzt auf meinem Bettrand. Mitfühlend sieht sie mich an, lässt ihre Hand über meine Haare gleiten. Ich schließe nochmal die Augen und versuche die Berührung anzunehmen. Dabei lässt sie ihre Hand ruhig auf meinem Kopf liegen, wobei für einen kurzen Moment ein Gefühl von Geborgenheit in mir aufflammt, welches jedoch sofort wieder erlischt. Tante Su ahnt natürlich, dass mir dieser Tag sehr nahe geht und möchte mir ihr Mitgefühl zeigen. Ich weiß, dass sie sich nach meiner Nähe sehnt und sich wünscht, wir würden zusammensitzen wie vor einem Jahr, als wir gemeinsam um das Leben meines Bruders fürchteten. Doch ich kann nicht. Zu weit habe ich mich von ihr entfernt. Ich weiß selbst nicht warum. Mein Kummer schien einfach um so vieles größer zu sein als der ihrige. Mag sein, dass ich ihr Unrecht tue und sie sich mir gegenüber nur stark zeigen wollte, um mir Halt geben zu können, doch für mein Empfinden kehrte sie viel zu rasch wieder ins „normale“ Leben zurück. Sie war wie die Welt, die sich ungeachtet meiner Trauer weiterdrehte.
Mein Verstand weiß, dass sie es gut mit mir meint und ich ihr dafür dankbar sein sollte. Mir ist bewusst, dass ich auf ihre finanzielle Hilfe angewiesen bin, und auch, dass ich es ihr zu verdanken habe, dass ich hier auf meiner kleinen Farm bleiben durfte. Hätte sie nicht die Vormundschaft für mich übernommen, hätte ich wohl, bis zu meiner Volljährigkeit, in ein Heim oder zu einer Pflegefamilie müssen. Das wäre schrecklich für mich gewesen. Weg von alledem, worin ich mein ganzes Leben lang Geborgenheit, Liebe, Vertrauen und ein sicheres Zuhause gefunden hatte. Ich bin so tief mit dieser Umgebung verwurzelt, dass es mir völlig den Halt geraubt hätte, wenn ich sie hätte verlassen müssen.
Tante Su… Es tut mir leid, dass ich dich nicht angemessen wertschätzen kann. Ich würde es so gerne ändern, würde mir wünschen, dass ich deine Fürsorge in mich hineinfließen lassen kann, und es möglich wäre, in dir so etwas ähnliches wie eine zweite Mutter zu sehen – doch es geht nicht.
Wie können Schwestern nur so grundverschieden sein?
Tante Su, das langweilige Stadtmädchen, mit ihrem langweiligen Bürojob und einem Leben, das in jede Schublade passt. Ihr fehlt es an allem, was Mama so einzigartig machte. Ihr offenes Herz, ihre Lebensfreude, ihre Naturverbundenheit - ihr Mut, anders zu sein.
Anders… Ich atme tief ein und aus, versuche dabei die Hand auf meinem Kopf anzunehmen. Ja, sie ist anders…. ein und aus…
„Danke“, flüstere ich leise und meine es ehrlich.
„Soll ich dir ein Bad einlassen? Dann versorge ich heute die Pferde“, fragt sie, merklich bemüht, ihre sachliche Stimme zärtlich klingen zu lassen.
Ich überlege kurz, dann lehne ich ihr gut gemeintes Angebot ab. Für sie ist es eine leidige Arbeit, sich um die Tiere zu kümmern, für mich hingegen bedeutet es Entspannung und danach sehne ich mich jetzt.
Es beginnt bereits zu dämmern und der Blick aus dem Fenster lässt die hereinbrechende Kälte erahnen. Ich ziehe mir einen warmen Pullover über und schlüpfe in meine Jeans. Als ich ins Freie trete, schrecken die Hühner auf und laufen umher. Ich mag sie nicht besonders, doch sie gehören zu meinem Leben seit ich denken kann. Wie vermutet, ist die Luft kalt und feucht und mein Atem bildet Nebelwölkchen. Ich gehe zur Sattelkammer, ziehe mir die warmen Filzstiefel an und nehme ein Halfter vom Haken; dann laufe ich zur Weide und öffne die Zaunstangen. Sogleich kommen die Pferde angetrabt und begrüßen mich mit einem sanften Wiehern. All dies ist mir so vertraut wie ein Gruß in meiner Muttersprache, und tatsächlich kommt es mir so vor, als sprächen die Tiere und ich dieselbe Sprache. Eine Sprache ohne vieler Worte. Blindes Verstehen und Vertrauen.
Ich klopfe Ramona lobend auf den Hals, ziehe ihr das Halfter über und schwinge ich mich auf deren Rücken. Sandro, ihr Fohlen, weicht seiner Mutter nicht von der Seite, und als wir uns in Richtung Stall bewegen, trabt er übermütig nebenher. Auch Nadia, die zweite Stute, folgt uns gemächlich. Kaum stehen sie in den Boxen, legt sich Sandro ins Stroh, um sich zu wälzen. Mit einer Wonne dreht er sich von einer Seite zur anderen, wobei er mit den Hufen gegen die Holzwand schlägt. Eine seltsame Angewohnheit! Nadia schüttelt unverständlich den Kopf, dabei wirbelt eine dicke Staubwolke auf. Offensichtlich wälzt sie sich lieber im Dreck. Ich nehme einen groben Striegel zur Hand und beginne ihr Fell zu bürsten. Es ist bereits dichter geworden und kündigt den bevorstehenden Winter an. Früher mochte ich diese Jahreszeit sehr, den modrigen Geruch des Laubes, die Farbenpracht der Mischwälder und auch den stürmischen Wind. Doch in den letzten Jahren erinnert mich der Herbst nur noch an die Vergänglichkeit des Lebens. Die bunten Drachen aus meinen Kindertagen haben aufgehört in seinem Wind zu tanzen.
Ich denke an Sebastian – wie so oft, wenn ich alleine bin. Früher, als Mama und Tobias noch lebten, war er so häufig bei uns zuhause gewesen, aß und übernachtete bei uns, dass man fast hätte meinen können, er wäre ein Teil unserer Familie - und doch war mein Empfinden ihm gegenüber stets ein völlig anderes gewesen. Zum einen lag das gewiss daran, dass Sebastians Charakter sehr unterschiedlich zu dem meines Bruders war. Er konnte nie so gelöst und fröhlich sein wie er und tollte auch nicht mit mir herum, wie ich es von Tobias gewohnt gewesen war. Die beiden sind 9 Jahre älter als ich und doch spürte ich damals schon, dass die Zurückhaltung von Sebastian nichts mit Abweisung zu tun hatte. Ich spürte auch, dass mein eigenes Empfinden ihm gegenüber ein völlig anderes war als gegenüber meinem Bruder. Es war anders als alles, was ich bis dahin kennengelernt hatte. Meine sonstige kindliche Unbefangenheit hielt in seinem Beisein den Atem an, dagegen schlug mein Herz so schnell, als würde ich mit meinen Freunden um die Wette laufen. All dies war mir bis dahin fremd gewesen und verwirrte mich zutiefst. Ich verstand die Aufregung nicht, welche mich in seiner Gegenwart befiel, verstand nicht, weshalb mir so häufig die Worte fehlte, wenn er mir nur eine kleine, einfache Frage stellte. Mir Plappermäulchen fehlten plötzlich die Worte…
Ich verstand nicht, was mit mir geschah, und ahnte zu jener Zeit noch nicht, dass die Liebe, die ich von Mama und Tobias empfing – eine Liebe, die nicht an Bedingungen geknüpft ist und einem das Gefühl vermittelt, das wundervollste Geschöpf auf Erden zu sein – eine ihrer seltensten Gestalten ist.
In Sebastians Nähe empfand ich zum ersten Mal das beklemmende Gefühl, nicht vollkommen zu sein. Ich spürte, dass ich so, wie ich bin, nicht genügte, um seine Liebe zu empfangen. Ich fühlte mich unrein und seiner nicht würdig, auch wenn ich wusste, dass dies hauptsächlich an unserem Altersunterschied lag. Doch in meinen Träumen gab es diese Barriere nicht. Mein Geist war sehr wohl reif genug, um sich zu wünschen, von Sebastian gestreichelt zu werden - an Stellen meines Körpers, an denen ich noch nie berührt worden bin. Selbst Mama sparte diese Stellen aus, wenn sie sich abends zu mir ins Bett legte und mich streichelte. Deshalb fühlten sich diese Stellen unrein und verboten an – ebenso der Wunsch, dort berührt zu werden. Ich fühlte mich schuldig. Dies veränderte sich auch nicht grundlegend, als ich zu verstehen lernte, was mit mir geschah und dass dies zu den natürlichsten und zugleich wundersamsten Dingen unseres Menschseins gehörte. So jedenfalls versuchte es mir Mama beizubringen. Doch vielleicht zählt die Ahnung, dass das Schwinden der Unschuld und das Keimen von Lust und Begehren ein sehr zweischneidiges Messer ist, ebenso zu unseren natürlichen Instinkten. Jedenfalls blieb meine Scham, meine Aufregung und auch das Gefühl der Unterlegenheit gegenüber Sebastian weiterhin bestehen.
Erst seit Tobias Tod fühle ich mich ihm ebenbürtig und, so grauenvoll es auch klingen mag, von der Rolle der kleinen Schwester befreit. Zu gerne würde ich wieder in sie hineinschlüpfen, wenn mein Bruder dadurch lebendig würde. Er fehlt mir ganz fürchterlich und genau dieser Schmerz macht Sebastian und mich zu Verbündeten. Und dennoch spüre ich, dass dies nicht die Art der Verbindung ist, nach der ich mich sehne.
„Hey, Nora“, flüstert eine sanfte Stimme so dicht an meinem Ohr, dass ich den warmen Atemzug spüre. Eine erregende Gänsehaut kriecht mir den Rücken hinauf und beißt sich in meinem Nacken fest. Ich fühle mich in meinen Gedanken ertappt und versuche meine Erregung zu vertuschen.
„Sebastian, hast du mich erschreckt“, bringe ich verlegen hervor.
„Das wollte ich nicht“, sagt er nur und streichelt mir dabei sanft über den Rücken. Dann holt er schlicht eine Bürste aus dem Eimer und beginnt damit über Nadias Fell zu streichen. Ich dagegen stehe regungslos da - zu stark ist das Brennen auf meiner Haut, welches seine Berührung auf ihr hinterlassen hat. Erst als das Gefühl allmählich verklingt, bin ich in der Lage, meine Aufmerksamkeit wieder auf mein Pferd zu wenden. Ich setze die gleichmäßige Tätigkeit fort und spüre nach einer Weile, wie ich durch Sebastians stille Anwesenheit und das gemeinsame Umsorgen der Pferde immer entspannter und ruhiger werde.
„Darf ich wieder mal mit Dir ausreiten? Das hat mir immer sehr viel Freude gemacht“, fragt er schließlich mit einem milden Lächeln.
„Ja, sehr gerne“, antworte ich.
„Mir tut deine Gesellschaft unheimlich gut, Nora“, fügt er hinzu und wendet sich abrupt ab, um in gebückter Haltung die Vorderbeine des Tieres zu bürsten. Für einen kurzen Moment meine ich, Tränen in seinen Augen gesehen zu haben. Fragend blicke ich auf ihn hinab - auf seinen schlanken Rücken, seine schmale Taille und seinen kleinen Kopf mit den dunklen, kurz geschnittenen Haaren. Seine Ohren sind rot vor Kälte. Es strömt ein warmes und zugleich brennendes Gefühl in meine Brust, wenn ich ihn betrachte. Kann es denn sein, dass er für mich ähnlich empfindet?
„Ich bin auch froh, dass du da bist“, antworte ich nur.
Er richtet sich langsam auf und blickt mich traurig an. Zugleich liegt ein zartes Lächeln auf seinen schmalen Lippen.
„Ach Nora“, sagt er, geht einen Schritt auf mich zu und nimmt mich in den Arm. Kaum spürbar, so leicht ist seine Berührung. Mich durchläuft eine Welle der Erregung – ich möchte ihn stärker spüren – seinen zarten, festen Körper an mich ziehen, doch ich traue mich nicht einmal, seine Umarmung zu erwidern. Wie erstarrt stehe ich da und halte den Atem an. Er weicht einen Schritt zurück und schaut mich ruhig an.
„Hey, können wir reingehen und vielleicht einen Bissen essen? Wie ich dich kenne, hat dein Magen heute auch noch nicht viel bekommen.“
Das ist wahr. Es ist verrückt, wie Gefühle das Bedürfnis zu essen überdecken können. Ich nicke, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, etwas runter zu bringen.
Ohne ein weiteres Wort laufen über den Hof hinüber zum Haus. Düster und kalt ist es zwischenzeitlich geworden, passend zu dem traurigen Tag.
„Soll ich den Kachelofen einheizen?“, fragt Sebastian, als wir in die Stube kommen.
Ich habe den ganzen Tag in meinem Zimmer verbracht, so dass ich vergessen habe, die Wohnräume zu beheizen, und Tante Su hat sich wohl auch nicht die Mühe gemacht. Sie scheint nochmal weggefahren zu sein, worüber ich sehr froh bin.
„Ja, bitte“, gebe ich zurück. „Magst du ein Glas Wein mit mir trinken?“
Er überlegt einen Augenblick. „Ich weiß nicht, ob ich darauf trinken kann, dass ich am Leben geblieben bin“, erwidert er trocken.
Mir stockt der Atem und ich schaue ihn entsetzt an. „Sebastian, wie kannst Du so etwas sagen?“
Es folgt ein quälend langer Moment der Stille und der Schmerz in seinen Augen lässt mich erstarren.
„Ich habe deinen Bruder geliebt, Nora. Und ich fühle mich verantwortlich, dass er heute nicht mehr hier ist. Ich habe diese Lawine gespürt… sogar davon geträumt… Die Schneelage war kritisch. Ich hätte es nicht zulassen und niemals mitgehen dürfen. Verstehst du das?“
Ich wollte diese Worte nicht hören.
„Er fehlt mir so“, fügt er mit keuchender Stimme hinzu.
Ich spüre, wie mir der wohlbekannte Schmerz in die Brust kriecht und sich meine Kehle verengt, als wäre eine Schlinge um sie gelegt. Es ist ein stetig anschwellendes Gefühl der Enge und des Erstickens. Panik steigt in mir hoch - wie das Grollen einer Lawine, die bereits abgebrochen ist. Sie rückt näher und näher… kein Entkommen möglich… dann erfasst sie mich… presst mich nieder… raubt mir die Luft… Ein grauenvolles Schluchzen sprengt meine Kehle. Schreckliche Laute. Ich schäme mich vor ihm. Aus weit aufgerissenen Augen blickt er mich an – blankes Entsetzen spiegelt sich darin. Er zögert einen Moment, dann nimmt er mich in den Arm, ruckartig, so als hätte man ihn zu mir gestoßen. Ich spüre, wie er innerlich bebt. Seine Brust hebt und senkt sich stoßweise - so als wäre er kurz davon sich zu übergeben - es wirft ihn regelrecht. Ich drücke ihn an mich… dann bricht es auch aus ihm heraus… Dieselben keuchenden, schluchzenden Geräusche wie aus mir. Grob packt er mich an den Schultern, am Rücken, seine Finger grimmen in meine Haut… Der Schmerz tut gut. Mit einem zischenden Geräusch sauge ich Luft in meine Lungen, zugleich greife ich nach seinen Haaren und ziehe so fest daran, dass ihm der Kopf nach hinten kippt und ihm ein kehliges Keuchen entweicht. Die Kontrolle wurde uns entrissen. Keine Gedanken mehr, keine Scham, kein Halt. Ich spüre nur noch seine groben Griffe an meinem Körper und erwidere sie ohne zu denken. Eine glühende Hitze liegt zwischen uns. Es fühlt sich an wie ein bitterlicher Kampf – nicht gegen einander – vielmehr so, als wollten wir dem anderen diesen erbarmungslosen, alles verschlingenden Schmerz entreißen.
Irgendwann verlässt uns die Kraft. Erschöpft liegen wir in einander verschlungen auf dem Bretterboden, der ganze Körper pulsierend. Mein Gesicht ist nass von Tränen – seines auch. Mit zitternden Fingern streicht er sanft über meine Wangen. Kaum spürbar, so leicht ist seine Berührung.
„Oh Gott, hab ich dir weh getan?“, fragt er erschrocken und schaut mich mit angsterfüllten Augen an.
Ich schüttle vehement den Kopf. „Nein, gewiss nicht, Sebastian.“ Dann schmiege ich mein nasses Gesicht in seine weichen Hände, streichle sanft über seine Haare.
„Ich muss jetzt gehen, Nora. Halte dich fern von mir. Ich habe noch nie einem Menschen gutgetan.“
Abrupt löst er sich aus unserer Innigkeit und steht auf.
Ich verstehe kein Wort! Es gibt mir erneut einen Stich ins Herz und ich schaffe es kaum, auf die Beine zu kommen. Wie körperlich dieser innere Schmerz doch sein kann!
Es folgt ein letzter, verzweifelt aufflackernder Blickkontakt, dann wendet sich Sebastian ab und geht. Bestürzt schaue ich ihm hinterher, unfähig, mich von der Stelle zu rühren. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Nichts, außer Chaos und Schmerz.
Irgendwann lasse ich mich erschöpft aufs Sofa fallen und ziehe die Wolldecke über meinen ausgelaugten Körper. Die Kälte ist mir bis aufs Mark gekrochen und hat sich als tiefes, inneres Zittern in mir eingenistet.
Meine Augen brennen vom vielen Weinen, sie möchten nur noch ruhen… ruhen… ruhen… In meinem Geist hingegen wirbeln tausende von Gedanken durcheinander – alle samt destruktiv.
„Halte dich fern von mir“, hallt es in meinem Inneren wider, wie ein nicht-verklingen-wollendes Echo.
Oh Gott, war das eine schreckliche Nacht! Als der Wecker schellt, fühle ich mich, als wäre ich von einem Laster überrollt worden. Eine bleierne Schwere sitzt in meinen Gliedern und ich sehe kaum aus meinen geschwollenen Augen heraus.
Was ist gestern nur geschehen? In diesem Zustand kann ich heute unmöglich in den Unterricht gehen, aber ich sehne mich nach Ayla, meiner besten Freundin. Ihr kann ich alles erzählen und sie wird mir helfen, wieder Bodenhaftung zu finden und das schreckliche Chaos in meinem Gehirn zu schlichten. Bin ich froh, dass sie mir wenigstens noch geblieben ist! Ohne sie wäre ich jetzt wohl der einsamste Mensch auf Erden, keine Menschenseele, die sich auch nur im Geringsten für mich interessiert, niemand, der nur einen flüchtigen Gedanken an mich verschwendet.
Ayla… jetzt liegt alles an dir… ausgerechnet an dir… wo du doch so luftig und unberechenbar, geheimnisvoll und freiheitsliebend bist. Es ist mir noch immer ein Rätsel, weshalb sie gerade mich auserkoren hat, um an ihrer Seite zu sein. Niemanden sonst lässt sie an sich ran.
Ich erinnere mich noch gut an den Tag, als Ayla in unsere Klasse kam - das war ein Jahr nach Mamas Tod gewesen - ich war gerade mal 12 Jahre alt. Ayla stand neben unserem Englischlehrer, der sie uns als neue Mitschülerin vorstellte. Sie wirkte winzig neben Herr Böhling und doch strahlte sie eine unnahbare Überlegenheit aus. Ihr dunkler Blick schweifte seelenruhig über unsere Köpfe hinweg, ohne dass sie auch nur die leiseste Regung zeigte. Ich weiß nicht genau, was für ein Gefühl ihr Auftreten in mir erzeugte, doch mit irgendetwas zog sie mich in ihren Bann. Als sich unsere Blicke trafen, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht – dies war der Moment, indem ich erkannte, wie schön sie war. Ich kann nicht genau sagen, was ich so besonders schön an ihr fand, doch es war etwas, das mein Herz berührte und noch bis heute berührt.
Alles an ihr ist speziell. Ihr Aussehen, ihre Art sich zu kleiden, wie sie sich gibt, wie sie spricht… Sie ist cool, unnahbar für die anderen, tief und direkt. Stets sagt sie ihre Meinung gerade heraus, nimmt sich nie und vor niemandem ein Blatt vor den Mund.
Am Anfang beeindruckte mich ihre Courage, alles so offen und ehrlich auszusprechen, bis ich begriff, dass sie dafür überhaupt keinen Mut benötigte, weil es ihr schlichtweg egal ist, was die anderen über sie denken. Dies imponierte mir noch mehr, weil es so authentisch war, und genau dies führte dazu, dass diese Eigenschaft mehr und mehr auf mich abfärbte. Mittlerweile ist es mir im Großen und Ganzen auch egal, was die anderen über mich denken. Keiner aus unserer Klasse bedeutet mir etwas, niemand, mit dem ich mich überhaupt noch groß unterhalte. „Hi“ und „ciao“, das war’s dann auch schon fast. Das ganze dumme Geschwätz, das Herumgenörgelt und die Lästereien gehen mir auf den Zeiger. Ich glaube, so richtig bewusst geworden ist mir das erst, als das Gerücht umging, dass Ayla und ich ein Lesbenpärchen seien. Es ist natürlich auch nicht allzu weit hergeholt, was zum einen an Aylas coolem, leicht burschikosem Auftreten liegt, und zum anderen daran, dass ich oft bei ihr im Internat übernachte. Jedenfalls habe ich mich damals fürchterlich darüber aufgeregt. Es ist ein völlig anderes Empfinden, wenn man plötzlich spürt, dass man es selbst ist, über den sie reden, spotten, lachen… Und auch, wenn mir diese Menschen nichts bedeuteten, stellten sie mit ihrem Geschwätz mein Selbstwertgefühl auf den Prüfstand. Ich empfand es als abwertend, was sie über Ayla und mich dachten – abwertend gegenüber der tiefen Freundschaft, die zwischen uns entstanden war. Warum denn, fragte Ayla mit ihrem Buddha-Lächeln auf den Lippen. Meinst du es wäre so schlimm mit mir?
Das war’s. Zwei kleine Fragen genügten und die Welt war wieder in Ordnung. Genauer gesagt, sogar noch mehr in Ordnung als zuvor, weil ich den Gedanken bzw. das Gefühl, dass zwischen Ayla und mir mehr entstehen könnte als eine gewöhnliche Freundschaft, nicht mehr in den Untergrund verdrängen musste. Nichts muss, alles darf – diese Worte beschreiben unsere Verbindung wohl am besten. Wenn ich mit Ayla zusammen bin, habe ich das Gefühl, von allen Regeln, Normen, Tabus und Zwängen entfesselt zu sein. Schmerz, Freude, Wut, Angst – bei ihr darf alles da sein und gerade dadurch wird es seiner Schärfe beraubt. Dies ist wahre Medizin für meine Seele und genau das brauche ich heute.
Mit diesem Gedanken zwinge ich mich aufzustehen. Ich gehe ins Bad, halte mein Gesicht unter den Wasserhahn und lasse kaltes Wasser darüber laufen. Dies ist die schnellste und sicherste Methode, um wach zu werden. Dann ziehe ich mich an und gehe in die Stube. Mein Magen knurrt, doch allein bei der Vorstellung, etwas zu essen, zieht er sich krampfhaft zusammen. Also mache ich mir nur eine warme Mandelmilch mit Honig und trinke diese in kleinen Schlücken. Noch immer kann ich nicht begreifen, was gestern geschehen ist. Sogleich versuche ich diesen Gedanken wieder zu verdrängen und mich auf meine täglichen Pflichten zu konzentrieren. Ich muss noch die Pferde auf die Weide lassen, bevor ich mich auf den Weg machen kann.
Heute ist mir jeder Handstreich zu viel und doch tut mir die Bewegung an der frischen Luft gut. Nachdem ich die Stallarbeit erledigt habe, schwinge ich mich auf mein Fahrrad und trete in die Pedale. Der Weg ist steinig und rau und läuft etwa 2,5 km über Wiesen und Felder bis er zum Bahnhof gelangt. Heute zieht der Nebel durch die Niederungen und die Fahrt fühlt sich wie eine eisige Dusche an. Ich trete noch fester in die Pedale und spüre allmählich, wie es mir von innen heraus warm wird. Als ich den Bahnhof erreiche, zittere ich vor Anstrengung und Kälte. Ich stelle mein Fahrrad hinter das Gebäude und schließe es ab. Im selben Moment fährt der Zug ein. Montags ist er immer sehr voll, so dass ich nur einen Stehplatz bekomme. Mir ist schwummerig und meine Beine zittern. Krampfhaft halte ich mich an den Griffen fest; das Geschrei der vielen Kindern und Jugendlichen dröhnt in meinem Kopf. Mit einem Ruck fährt der Zug los und ich spüre, wie Übelkeit in mir aufsteigt. Ein höchst unangenehmer Geruch spornt sie zusätzlich an. Erst nach einer Weile kann ich ihn als Gemisch aus Knoblauch, Zwiebeln und kaltem Schweiß identifizieren, und auch die Richtung, aus der er kommt, scheint mir nun klar zu sein. Links vor mir sitzen zwei ausländische Typen mit einem Laptop auf dem Schoß und schauen einen Film. Ihre Köpfe sind tief darin versunken und erst beim genaueren Hinsehen erkenne ich, dass es sich um ein Porno handelt. Voller Abscheu bleibt mein Blick auf dem Bildschirm haften. Die Szene, die sich mir darstellt, ist so ekelerregend, dass sich meine Übelkeit unaufhaltsam ihre Bahn bricht und sich in einem Schwall Mandelmilch über die Pornoschauer ergießt. Erschrocken springen die beiden auf, sie sind voll in Rage und maulen mich an. Ich verstehe kein Wort davon, stehe wie angewurzelt da und lasse ihren Wutausbruch über mich ergehen. Die anderen Fahrgäste haben sich bereits zu uns umgedreht und starren uns neugierig an. Der Blick eines dunkelhäutigen Mannes, mittleren Alters, ruht auf mir. Er vermittelt mir, dass er eingreifen würde, sollten die Kerle handgreiflich werden. Ich hafte mich an dessen Blick, bis die beiden schimpfend das Abteil verlassen. Dann setze ich mich auf den freigewordenen Platz und danke dem dunkelhäutigen Mann mit einem Kopfnicken. Er antwortet mit einem verstehenden Lächeln. Zum Glück gibt es auch noch solche Menschen, denke ich, lehne den Kopf gegen den Sitz und schließe die Augen. Dabei spüre ich, wie sich eine bleischwere Müdigkeit auf mich niederlässt und mich wie in einem Strudel nach unten zieht. Widerwillig öffne ich die Augen, um nicht die Besinnung zu verlieren. Eine viertel Stunde muss ich noch durchhalten, dann kann ich mich zu Ayla ins Bettchen legen. Es würde mich wundern, wenn sie schon aufgestanden und auf dem Weg zum Unterricht wäre.
Endlich habe ich es geschafft und der Zug kommt an der Haltestelle vom Gymnasium zum Stehen. Ich steige aus und schleppe mich die restlichen Zweihundert Meter zum Schulgelände. Schnurstracks biege ich ins Internatsgebäude ein, laufe die Treppen hoch und falle förmlich durch die Zimmertüre. Wie vermutet liegt Ayla noch im Bett und schläft. Ich ziehe meine Jeans aus und schlüpfe zu ihr unter die Decke. Oh je, sie hat geblutet – hat wohl über Nacht die Regel bekommen. Ein seltsamer Geruch geht von ihr aus, der meine Übelkeit von neuem in Gang setzt. Ich nehme die zweite Bettdecke und lege mich aufs Sofa. Bevor das Gedankenkarussell einsetzen kann, schlafe ich ein.
Als ich aufwache, höre ich die Dusche laufen. Ich krame mein Handy aus der Jeans – es ist bereits viertel nach 12 Uhr und eine Nachricht von Sebastian ist eingegangen. Sogleich beginnt mein Herz wie wild zu klopfen. Es tut mir sehr leid, dass ich gestern die Kontrolle verloren habe. Ich hoffe nur, ich habe dir nicht weh getan. Es wird nie wieder vorkommen. Gerne bin ich für dich da, wenn du mich brauchst.
Erleichterung macht sich in mir breit. Wenigstens sehen wir uns wieder. Bei diesem Gedanken kommt Ayla aus dem Bad. Sie ist nackt, wie jeden Morgen, steht vor dem geöffneten Kleiderschrank und zieht sich an. Es scheint, als hätte sie mich gar nicht bemerkt. Still beobachte ich, wie sie ihren zarten Körper in sämtliche Klamotten hüllt - ihre Bewegungen sind lieblos und hastig. Plötzlich beschleicht mich das Gefühl, dass mit ihr irgendetwas nicht stimmt. Als sie sich mir zuwendet, festigt sich dieses Gefühl zu einer Gewissheit. Ihr sonst so klarer Blick ist einer glasigen Leere gewichen, ihre Haut ist blass und fahl, die dunklen Augen in tiefe Höhlen versenkt. Sie betrachtet mich einige Sekunden lang.
„Dir geht’s heute wohl auch nicht so gut“, ist alles was sie sagt.
Dabei wendet sie sich mir wieder ab und geht nochmal ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Schließlich kommt sie mit einem großen Glas Wasser zurück und setzt sich neben mich aufs Sofa. Wortlos kippt sie das Wasser in sich hinein, als wäre sie am Verdursten. Offensichtlich hat sie gestern gekifft und hat deswegen einen ausgetrockneten Mund. Zudem hat sie ihre Regel – da kann man sich schon mal beschissen fühlen. Aber irgendetwas sagt mir, dass dies nicht alles ist.
„Magst du mir etwas erzählen?“, frage ich schließlich.
Sie macht einen tiefen Seufzer. „Nicht jetzt. Ich würd gern mit dir zur Burg hochlaufen. Bist du dabei?“
Ich überlege einen kurzen Augenblick, spüre dabei meine schlappen Beine und die gähnende Leere in meiner Magengrube. „Ja, das machen wir“, antworte ich. „Können wir nur vorher noch eine Kleinigkeit essen? Meine letzte Mahlzeit liegt bereits über einen Tag zurück und vorhin habe ich noch den letzten Rest in den Zug gekotzt.“
Ayla schaut mich überrascht an, dann lacht sie, steht auf und holt eine Packung Butterkekse aus dem Regal, legt sie auf den Tisch und befüllt nochmal zwei Gläser mit Wasser.
„Geteiltes Leid ist halbes Leid“, sagt sie, stopft sich einen Kekse in den Mund und spült ihn mit reichlich Wasser hinunter. Zuerst schüttle ich entgeistert den Kopf, dann folge ich ihrem Beispiel und befülle meinen leeren Magen ebenfalls mit Butterkeksen und Wasser. Als die Packung leer ist, brechen wir auf.
Es ist ein trüber Herbsttag und der Nebel hängt dicht in den Niederungen. Wir verlassen das Schulgelände und laufen den Waldweg zur Bärenschlucht, welche wiederrum zur Burg hinaufführt. Von dort an ist es nur noch ein schmaler, wurzliger Pfad, der steil bergauf an einem Gebirgsbach entlangläuft. Das monotone Rauschen und Tosen des Wassers übertönen meine Gedanken, zudem flutet mich die kalte, feuchte Luft mit ihrer klärenden Frische.
Gerne würde ich schneller laufen, um den Schweiß aus meinen Poren zu treiben, doch ich bemerke, dass Ayla bereits bei diesem Tempo Mühe hat, mir folgen zu können. Ich habe das Gefühl, ihr schmerzt jeder Schritt. Besorgt drehe ich mich zu ihr um.
„Kümmre dich nicht um mich, es wird immer besser“, sagt Ayla mit einem gequälten Lächeln.
Also gut, dann werde ich versuchen, bei mir zu bleiben, allerdings möchte ich dabei nicht in mich kehren. Nein, ich möchte nicht denken, nur meinen Körper spüren. Meinen Atem, wie er die frische Luft in mich einströmen lässt, meine Zellen mit reinem Sauerstoff versorgt und die alte, verbrauchte Luft wieder ausstößt. Ich möchte meinen Herzschlag fühlen, wie er das Blut durch die Adern pumpt – rein funktionell – das Herz als Organ, nicht als Zentrum des Fühlens.
Vielleicht richte ich meine Aufmerksamkeit besser nach Außen, auf die Natur – sie ist berauschend und vollkommen intakt. Allmählich schimmert das Blau des Himmels durch die lichterwerdenden Nebelschwaden. Wie Geister ziehen sie über uns hinweg. Gewiss sind es wohlwollende Geister, die uns den Weg zum großen Wasserfall weisen, diesem wunderschönen, kraftvollen Ort. Immer heller dringen die Sonnenstrahlen zu uns durch und betreiben ihre zauberhaften Lichterspiele. Es ist eine mystische Stimmung, wie der Dunst von den Steinen emporsteigt… So ähnlich muss es sein, wenn man stirbt und sich die Seele vom Körper löst, denke ich leise. Dann steigt sie auf, ins wundervolle Licht, wie der Dunst von den Steinen…
Das Tosen des Wasserfalls wird mit jedem Schritt lauter, was eine freudige Erregung in mir erzeugt. Unwillkürlich lege ich einen Zahn zu und als ich um die nächste Biegung komme, bleibe ich wie angewurzelt stehen. Ich bin überwältigt vom Anblick der herabstürzenden Wassermassen.
„Wow… Gigantisch…“, höre ich Aylas Stimme hinter mir flüstern - mit derselben Ehrfurcht, wie ich sie empfinde.
Die letzten Meter werde ich wie von einer mächtigen Energiewelle getragen, ich springe zum Felsen hinunter und gehe bis zum äußersten Punkt, wo ich der imposanten Naturgewalt am nächsten bin. Am liebsten würde ich wie an heißen Sommertagen in den Gumpen springen und mich unter das herabdonnernde Wasser stellen… mich von ihm schlagen und unter Wasser drücken lassen, bis meine Haut brennt und es mir den Atem raubt. Ich sehne mich nach diesem Gefühl – nach dem Gefühl, nur noch einen Wimpernschlag davon entfernt zu sein, gänzlich die Besinnung zu verlieren.
Mit dieser Sehnsucht in mir stehe ich da und lasse mich von der Gischt einhüllen, inhaliere in tiefen Atemzügen diese enorme Kraft… die unbeschreibliche Magie. Ayla steht neben mir, die Augen geschlossen. Wir sind tief verbunden, über den Felsen, auf dem wir stehen, und über den Zauber, der uns umgibt.