Für meinen Vater und meinen Bruder,
Träumer wie ich
Seit zwei Tagen fehlt von Julia jede Spur und meine Laune ist im Keller. Das kalte, feuchte Wetter macht es natürlich auch nicht besser, aber in Neu-Pythos ist es ja immer kalt und feucht. Ich nehme gerade Fische in der Kammer hinter den Drachenhöhlen aus, als Scully, der Drachenmeister, hereinkommt. »Drachenherr will dich sehen«, knurrt er.
Und ich hatte gedacht, es könnte nicht schlimmer kommen. Bran und Fionna, die beiden anderen Knappen, die mit mir zum Fischausnehmen abgestellt sind, wechseln einen Blick. Wir hocken in einem Morast aus Gräten und Schuppen; der Fischölgestank wird uns noch lange anhaften, wenn wir die Höhlen verlassen haben, und jetzt muss ich auch noch auf den einzigen Vorteil verzichten, den die Vorbereitung von Drachenfutter mit sich bringt – die Reste nach Hause schmuggeln zu können. Ich stehe auf und wische mir die Hände am Arbeitslappen sauber.
Scully hasst mein makelloses Drachisch, deshalb benutze ich es, so oft ich kann. »Welcher Drachenherr« – ich lasse ihn mit einer langen Pause genüsslich in Zweifel, ob ich es noch hinzufügen werde –, »Meister?«
Scully zieht ein finsteres Gesicht. Deswegen verdonnert er mich ständig zum Fischausnehmen. Weil ich frech bin. Und unsere Clans einander hassen.
»Der, dem du dienst«, sagt er auf Norisch.
An den meisten Tagen wäre das eine gute Nachricht. Heute wünschte ich nur, es wäre Julia.
Auf der Felsterrasse vor den Höhlen erwartet mich Delo Himmelsjäger.
Ich weiß noch, wie staunend ich die callipolitanischen Exilanten betrachtet habe, als sie sich nach Neu-Pythos gerettet hatten: die geisterhafte Blässe der überlebenden Sturmpfeile, die warme braune Haut und die krausen Locken der Himmelsjäger-Herren. Delo Himmelsjäger ist nicht mehr der zerlumpte Flüchtlingsjunge, der vor zehn Jahren an Land gespült worden ist, aber sein Anblick erstaunt mich immer noch, so prächtig steht er mit frisch frisiertem Haar in seinem Pelzmantel vor mir. Mir wird bewusst, wie sehr ich stinke.
Ich verbeuge mich tief.
»Welch unerwartete Ehre, Euch zu sehen, mein Herr.«
»Steh bequem«, murmelt Delo. Ich richte mich auf; Delo sieht mich verärgert an, als wüsste er, dass ich ihm Unbehagen bereiten will. Er ist so alt wie ich, größer, aber schlanker. »Die Exiltriarchie möchte mit dir sprechen.«
Ich schlinge die Arme eng um meinen Oberkörper und zittere in der gischtnassen Luft, die die Brandung zu uns heraufpeitscht. Gegen die Steilklippen, auf denen die Zitadelle thront, und die Kalksäulen aus Karstgestein, die aus dem Meer in den Himmel ragen, sind wir klein wie Zwerge. »Haben sie Euch gesagt, worum es geht?«
Ich benutze die ehrerbietige Anrede, Delo hingegen duzt mich. Als wir jünger waren und ich das Drachische noch nicht gut beherrschte, wollte er mich dazu bewegen, ihn ebenfalls zu duzen oder Norisch mit ihm zu sprechen, was er seinerseits gerade lernte, aber ich weigerte mich standhaft. In Willensproben gewinne ich immer gegen Delo.
»Sie wollen dich zu Julia befragen«, sagt er. »Sie wird vermisst.«
Als hätte ich das nicht mitbekommen.
»Woher sollte ich wissen, wo Julia steckt?«
Delo zögert. »Ixion … hat es ihnen erzählt.«
Sein Ton macht jede weitere Frage überflüssig.
Als ich Julia zum letzten Mal gesehen habe, lagen ihre Lippen auf meinen. Im Dunkeln konnte ich nur spüren, nicht sehen, wie sie lächelte, als sie die Hand in mein Hemd krallte und es hochschob. Sie lächelt jedes Mal, als wäre das, was wir tun, ein Spiel, das sie zu ihrer Belustigung gewinnt.
Ixion hat es ihnen erzählt.
Delos Miene verrät mir alles über das, was gleich im Gläsernen Saal geschehen wird. Er sagt nicht, dass es ihm leidtut, und ich sage nicht, dass Ixion kein Recht dazu hatte. Schließlich kenne ich die Demütigungen, die Ixion sich ausdenkt, schon lange.
Es passt zu seiner Methode, mich als den Bauern, den Julia sich ins Bett geholt hat, gerade dann in den Gläsernen Saal zu beordern, wenn ich nach Fisch stinke.
Als hätte er meine Gedanken gehört, greift Delo in seine Umhängetasche. »Ich habe dir ein frisches Hemd mitgebracht.«
Die meisten von Delos Kleidungsstücken sind blau, die Farbe der Himmelsjäger, aber dieses Hemd ist schlicht und nicht gefärbt, wie es sich für einen Bauern gehört. Trotzdem ist es edler als alles, was ich je besessen habe, und nun werde ich es auch noch besudeln müssen. Ich ziehe es mir über den Kopf, und als ich hochschaue, begegne ich Delos Blick. Er senkt die Augen. Das Hemd riecht nach ihm.
Ich folge Delo zu der in die Steilwand über dem Nordmeer gehauenen Außentreppe, die von den Drachenhöhlen zur Zitadelle emporführt. Beide Anlagen wurden von den Halb-Aurelianern erbaut, nachdem sie Noria mit ihrer Luftflotte erobert, mein Volk unterworfen und unsere Insel in Neu-Pythos umbenannt hatten. Kurze Zeit darauf starben ihre Drachen in der Kälte aus, doch die Halb-Aurelianer blieben an der Macht.
Und jetzt haben sie zum ersten Mal seit Generationen wieder Drachen, denn die Flüchtlinge aus Callipolis brachten vor zehn Jahren fünfundzwanzig Dracheneier auf die Insel mit.
Drachen für die große Rache.
Drachen für die überlebenden Söhne der Verbannten.
Drachen für die Söhne der halb-aurelianischen Fürsten, deren Gastfreundschaft sie beanspruchten. Titel für ihre Kinder in einem künftigen, mächtigeren Callipolis.
Doch es gab nicht genug Söhne. Die Exiltriarchie war gezwungen, den verbliebenen geschlüpften Drachen weitere Kinder vorzuführen.
Weibliche Drachenblütige, wie Julia. Uneheliche Sprösslinge, die einst verstoßen worden waren und jetzt nach und nach von den callipolitanischen Vasalleninseln geholt wurden.
Aber immer noch gab es Drachen, die keinen Reiter erwählten.
Und da sie eine vollständige Flotte brauchten, griffen die Drachenblütigen zu einer Maßnahme, an deren Gelingen kaum jemand glaubte.
Sie führten den letzten Drachen die Söhne und Töchter ihrer norischen Leibeigenen vor.
Und die Drachen erwählten uns.
Man nennt uns die niederen Reiter.
Delo und ich betreten den Gläsernen Saal und einen zittrigen Atemzug lang kann ich den Raum in Augenschein nehmen. Eine gewaltige Fensterfront aus Ornamentglas gibt den Blick auf das Nordmeer mit seinen Karstsäulen frei. Davor sitzen in einem Kreis aus hohen Lehnstühlen die Mitglieder der callipolitanischen Exiltriarchie und des halb-aurelianischen Fürstenhofs. In der Mitte thront Rhadamanthus, Großfürst von Neu-Pythos, der sich zum Dank für die Aufnahme der geflohenen Drachenblütigen zum aurelianischen Triarchen ernennen ließ – ein Titel, den kein Aurelianer aus Callipolis ihm streitig machen konnte, da keiner aus ihrem Haus die Revolution überlebt hatte.
Am Rand des Kreises stehen drei Stühle für die höchstrangigen Drachenreiter der drei Familien: Ixion Sturmpfeil, Rhodus Halb-Aurelian und – der leere Platz wartet auf ihn – Delo. Die drei Erbprinzen der Triarchie. Wenn Callipolis zurückerobert und mit Neu-Pythos vereint ist, werden sie zu dritt den Thron innehaben.
Ich sinke auf die Knie, lege die Hände flach auf den Boden und starre auf den glatten Stein.
Delo sagt: »Ich präsentiere dem versammelten Haus meinen Knappen, Gryff Gerssohn vom Ross-Clan, niederer Drachenreiter der pythischen Flotte.«
Er bleibt neben mir stehen, ohne sich auf seinen Platz neben Ixion zu begeben.
»Willkommen, Gryff.« Ich brauche den Sprecher nicht zu sehen, um ihn vor Augen zu haben: Rhadamanthus ist ein Bär von einem Mann, mit grau durchsetztem rotbraunem Haar und Falten in seiner goldfarbenen Haut. »Ixion hat uns mitgeteilt, dass du möglicherweise über … vertrauliche Informationen zu Julia verfügst.«
In den Clans gilt Rhadamanthus als unnachgiebig, doch verglichen mit den Launen der callipolitanischen Verbannten und ihrer Drachen habe ich ihn immer als besonnen erlebt, auch wenn er mit harter Hand regiert.
Ich hebe den Blick nicht von den steinernen Bodenplatten zwischen meinen Händen. »Ich fürchte, Herr Ixion irrt sich, Hoheit. Die Herrin hat mich nie als ihren Vertrauten behandelt.«
Ixion schnaubt. Rhadamanthus’ Sohn Rhodus, der Ixion alles nachmacht, schnaubt ebenfalls.
Herrin Elektra ergreift das Wort; ihre Stimme ist eisig vor Verachtung. Sie ist Ixions und Julias Großtante und hatte ihren Sturmpfeil-Gemahl bereits vor der Revolution verloren. Die Entscheidung, norische Drachenreiter zuzulassen, hat ihr seit jeher missfallen. »Es irritiert mich jedes Mal, wenn sie allzu gut Drachisch sprechen.«
Neben mir verlagert Delo das Gewicht von einem auf den anderen Stiefel. Ich frage meine Hände: »Wäre es meiner Herrin lieber, wenn ich Norisch spreche?«
»Nein. Danke. Das ist doch Zeitverschwendung, Rhadamanthus.«
»Ich glaube ihm nicht.« Ixions Stimme erhebt sich über die der Erwachsenen. Kalt, gedehnt, als langweilten ihn seine eigenen Worte. Nach so vielen Jahren gemeinsamen Trainings hat allein seine Stimme schon die Macht, mir einen Schauer über den Rücken zu jagen.
Ich verbinde sie unweigerlich mit Schmerz, Angst und Demütigung.
»Denk mal scharf nach, Gryff, ob sie nicht doch eine Andeutung gemacht hat, während ihr gerammelt habt …«
»Ixion«, sagt Rhadamanthus scharf.
Rhodus erahnt Ixions Spiel und beschließt, in die gleiche Kerbe zu schlagen. »Wie geht es Agga?«, fragt er. »Vielleicht würde sie deiner Erinnerung auf die Sprünge helfen? Wir können sie herbringen lassen. Mit ihren Gören.«
Ich sehe zu, wie sich meine gespreizten Finger langsam zur Faust krümmen, und warte auf einen Einwand aus der Runde: Das ist nicht nötig. Doch niemand spricht.
Es wurden nur norische Reiter aufgenommen, die Familie haben. Ixion und Rhodus haben früh begriffen, warum, und sich den Namen meiner Schwester schnell gemerkt.
Von ganz nah dringt Delos gesenkte Stimme zu mir. »Gryff, denk nach. Irgendeine Begebenheit mit Julia, die dir … ungewöhnlich vorkam?«
Ungewöhnlich. Julia war immer derart sprunghaft, dass es so etwas wie ungewöhnlich bei ihr eigentlich nicht gab. Aber dann fällt mir doch eine Sache ein.
»Sie hat einen Brief geschrieben. Vor Kurzem.«
»Und?«
Julias halb angekleidete Gestalt, über ihr Pult gebeugt, das lange Haar schon zum Schlafen gelöst. Ich erinnere mich, wie ich bemerkte, dass ihr Nachtkleid von einer Schulter geglitten war und nackte, von Brandnarben übersäte Haut entblößte. Und dass sie, als sie mich herantappen hörte, zusammenfuhr und im Umdrehen den Unterarm über den Brief legte. Erst als sie mich erkannte, löste sie ihn von dem Blatt. Ach. Du bist’s nur. Komm her …
»Sie wollte nicht, dass irgendjemand ihn sieht.«
Rhadamanthus’ Stuhl knarzt, als er sich vorbeugt. »Aber du hast ihn gesehen? Hast du gesehen, an wen er adressiert war? Was darin stand?«
Gesehen habe ich ihn. Von ihrem Bett aus. Sie hatte ihn offen auf ihrem Pult liegen gelassen, als sie mich auf ihre Matratze zog. Jedes Wort dieses Briefs, den sie vor allen verbergen wollte, lag frei vor meinen Augen.
»Nein, ich …«
Ich kralle die Finger in den Stein, und obwohl es keinen Grund dafür gibt, will mir die Erklärung nicht über die Lippen. Ich warte darauf, dass jemand von selbst darauf kommt, aber absurderweise sagt niemand etwas. Offenbar vergessen sie über meinen guten Sprachkenntnissen, dass die Gesetze, die ihre Leute meinen aufzwingen, auch für mich gelten. Neben mir macht Delo eine unruhige Bewegung, als hätte er verstanden. Doch Ixion ist schneller. Er klingt halb amüsiert, halb verärgert.
»Gryff kann nicht lesen.«
Zum ersten Mal ergreift Herr Nestor das Wort. »Das ist sinnlos, Rhadamanthus. Ich habe dir doch gesagt, dass es nichts bringt, den Jungen zu befragen.«
Nestor ist Delos Vater und unser Drillmeister: streng mit den Reitern in der Luft, noch strenger am Boden. Er ist ein Himmelswitwer – ein Reiter, der seinen Drachen verloren hat. Delo sagt, von einem solchen Verlust erhole man sich niemals und das sei auch der Grund für das üble Temperament seines Vaters.
Ich bin ziemlich sicher, dass Nestor es auch so auf mich abgesehen hätte.
Wütend presse ich die Worte hervor. »Sie wirkte aufgelöst. Danach. Sie sprach von … Familie. Und Loyalität.«
Mit den Fingern kämmte Julia gedankenverloren durch meine Locken, während wir ineinander verschlungen unter Decken lagen, die weicher waren als alles, was meine Familie je besessen hat. Würdest du deine Schwester immer lieben? Selbst wenn sie dich verriete? Was würdest du tun, wenn sie dich verriete?
Die sonderbare Feuchte auf meiner Schulter, so unerwartet, dass ich erst nicht begriff, was es war. Julia weinte.
Rhadamanthus trommelt mit den Fingern auf seiner Stuhllehne. »Soll das heißen, dass sie Leo schrieb? Dem Vetter, der für den Usurpator fliegt? Nach seiner Absage haben wir ihr verboten, mit ihm in Verbindung zu treten.«
Delo antwortet im Flüsterton, als käme ihm die Erkenntnis erst jetzt, da er sie ausspricht. »Hat es Julia denn jemals gekümmert, wenn ihr etwas verboten wurde?«
Stille kehrt ein. Alle scheinen sein Argument abzuwägen. Dabei knie ich, der lebende Beweis für diese Behauptung, doch direkt vor ihnen.
Ixions Stimme durchbricht das Schweigen, streicht mir kalt über den Rücken.
»Hast es wohl nicht für nötig gehalten, uns das schon früher zu melden, Gryff?«
Ich hebe den Kopf und sehe ihn an. Ixions Gesicht ist eine längere, verkniffenere Version von Julias: das gleiche pechschwarze Haar, die blitzenden Augen in einem blassen Antlitz, der gleiche schmale, zum Lachen neigende Mund. Aber während Julias Lachen grausam sein kann, weil es gefühllos ist, ist Ixions Gelächter einfach nur grausam.
Sag’s nicht.
Aber ich sage es doch.
»Ich fand, es stünde mir nicht zu, die persönlichen Angelegenheiten der Ersten Reiterin mit ihrem Alternus zu teilen.«
Einen Augenblick lang ist nichts zu hören als das Kreischen der Möwen, das gedämpft durch die Scheiben dringt, und der Widerhall meiner törichten, leichtsinnigen Worte in dem verglasten Saal.
Ixions Umhang raschelt, als er aufspringt.
»Für sein loses Maul gehört Gerssohn ausgepeitscht!«
Ich sollte mich fürchten, verspüre aber nur rasenden Zorn. Tu es, Ixion. Erledige es hier und jetzt. Denn in der Luft wirst du mir nie überlegen sein.
Delo macht einen halben Schritt vor, sodass er zwischen Ixion und mir steht. Ein Fehler: Das Letzte, was Nestor braucht, ist ein weiterer Anlass, seinen Sohn der Schwäche gegenüber seinen Untergebenen zu verdächtigen.
»Genug«, sagt Rhadamanthus. »Wir vergeuden unsere Zeit. Wir müssen Suchtrupps nach Süden entsenden.«
Ich war nicht immer Delos Knappe. In den ersten Jahren diente ich Ixion.
In seiner Grausamkeit war Ixion überaus erfinderisch. Willst du wissen, wo ich das gelernt habe?, pflegte er zu fragen. Die Antwort lautete immer gleich, auch wenn es nicht stimmen konnte: Beim Sturm auf den Palast. Von Bauern wie dir beim Sturm auf den Palast.
Bis Julia und Delo die Misshandlungen mitbekamen und es Delos Vater erzählten, war es so schlimm geworden, dass die Verletzungen mich beim Drachenreiten behinderten. Am Wohlergehen der niederen Reiter liegt Nestor Himmelsjäger nicht viel, aber er sah die Einsatzfähigkeit der Flotte in Gefahr. Also wurde ich Delo unterstellt und Ixion galt fortan als ungeeignet, einen Knappen unter sich zu haben.
Das verzieh Ixion uns beiden nie.
Vom Gläsernen Saal begeben Delo und ich uns in den Provisorischen Palast, die Erweiterung der Zitadelle, die für die Exiltriarchie errichtet worden ist. Jede der drei Familien hat darin ein eigenes Zeughaus, das direkt mit den Drachenhöhlen verbunden ist.
»Das war unbedacht«, murmelt Delo, nachdem er sich vergewissert hat, dass wir im Zeughaus der Himmelsjäger unter uns sind. »Du hättest ihm nicht mit der Rangordnung kommen sollen.«
»Wieso? Ich bekleide doch keinen Rang.«
Niedere Reiter durften am Turnier zur Kür des Ersten Reiters nicht teilnehmen. Delo hebt eine Augenbraue. Als wüsste er ganz genau, dass ich mich absichtlich dumm stelle.
»Julia ist nicht hier, um dich zu beschützen«, sagt er.
Du denkst, das weiß ich nicht?
Unsere Ausrüstung hängt an Haken entlang der Steinwand. Ich hole Delos Rüstung, während er in seinen feuerfesten Anzug steigt. Die Platten sind erst vor Kurzem von mir poliert worden; die Schwertlilien im Wappen der Himmelsjäger glänzen. Mittlerweile diene ich Delo schon lange als Knappe, aber in den letzten Jahren tritt immer öfter Schweigen zwischen uns. Jedes Mal, wenn ich ihm die Rüstung anlege, überspiele ich die Stille mit eifrigem Reden. »Wie war er denn so?«, frage ich, während ich an den Arm- und Beinteilen eine Schnalle nach der anderen schließe und Gurte festziehe. »Dieser Leo? Ihr habt ihn doch bestimmt gekannt, früher.«
Delo sieht mit starrem Blick an mir vorbei auf die Wand. »Ich dachte immer«, in seine Stimme mischt sich Kummer, »dass Leo ein gutes Herz hätte. Aber das dachte ich über Ixion auch, bevor der Palast gestürmt wurde.«
Als alle Verschlüsse befestigt sind, trete ich zurück und Delo bewegt sich wieder. Rasch springe ich in meinen eigenen Schutzanzug – ein alter von Delo, der an den Schultern kneift und an den Beinen zu lang ist, aber seinem Zweck Genüge tut. Dann raffe ich unsere Waffen zusammen und folge Delo die Wendeltreppe hinunter in die Drachenhöhlen, die durch in den Stein gehauene, zum Meer gelegene Fensterschlitze erhellt werden. Unsere Drachen sind nebeneinander untergebracht und Delo legt immer Wert darauf, mich zuerst zu Zünder zu begleiten – auch wenn er seinem Himmelsjäger Gephyra im Vorbeigehen einen Gruß zuschnalzt.
Wie alle von Noriern gerittenen Drachen ist Zünder angekettet und mit einem Maulkorb geknebelt.
Der Maulkorb ist eine Vorsichtsmaßnahme, die eingeführt wurde, als mein Drache zündete. Fast könnte ich mich geschmeichelt fühlen, wenn ich und Zünder nicht so darunter leiden würden.
Der Maulkorb bleibt immer dran, nur die Kette wird gelöst. Und Delo hütet den Schlüssel.
Ich bin den Anblick gewohnt – schließlich hatte ich Jahre, mich daran zu gewöhnen –, aber trotzdem tut es mir jedes Mal in der Seele weh, wenn Zünder an dem Maulkorb zerrt und sich mit dem Halsband selbst würgt, während er darum kämpft, zu mir zu kommen. Und als wüsste Delo das ganz genau, versperrt er mir bewusst die Sicht. Nimmt Zünder mit leisen, beruhigenden Schnalzlauten die Kette ab. Und springt schnell aus dem Weg, als Zünder auf mich zuschießt.
Zünder ist ein Sturmpfeil, mein Sturmpfeil, schwarz wie die Nacht, von gewaltiger Größe und gewaltigem Temperament, und als ich die Arme um ihn schlinge, erwidert er die Begrüßung so unbändig, dass ich fast umfalle. Seine Flügelspannweite, der Stolz der Luftflotte, ist bereits so riesig, dass seine Flügel an die Steinwände links und rechts von uns stoßen, wenn er sie entfaltet.
»Du hast mir auch gefehlt«, murmle ich.
Mehr als ein Knurren erlaubt ihm der Maulkorb nicht. Ich drücke ihn noch fester an mich und wünsche mir zum tausendsten Mal, ich könnte das verdammte Ding abreißen. Es sitzt locker genug in den Kiefern, dass er fressen kann, aber Feuer speien kann er nicht. Ich recke mich, streichle über die wund gescheuerten Stellen, und er gibt ein kaum hörbares, flehendes Brummen von sich, bei dem sich alles in mir schmerzlich zusammenzieht.
»Ich weiß.«
Mehr als einmal ist mir der Gedanke gekommen, wie viel einfacher es für alle gewesen wäre – für Zünder, für mich und für die Triarchie ebenfalls –, wenn er sich einen anderen Reiter erwählt hätte. Einen Drachenblütigen, keinen Norier. Dann hätte ich das einfache Leben geführt, zu dem ich geboren wurde, und als Fischer auf einem Schiff der Halb-Aurelianer angeheuert, das irgendwann in einem Sturm auf dem Nordmeer gekentert wäre. Und Zünder wäre nicht geknebelt und in Ketten gelegt worden.
Aber Zünder scheint mir deswegen nicht zu grollen und trotz all der Qualen, die ich dadurch Tag für Tag erleiden muss, bin ich unendlich stolz darauf, dass Zünder und ich zueinandergehören.
Die meisten Drachenblütigen nehmen uns das bitter übel.
Delo beobachtet uns und in seinem Blick regt sich etwas, aber als ich ihn ansehe, dreht er den Kopf weg.
Ich lege Zünder wortlos den Sattel an, greife zu Pike und Schild und folge Delo. Von der Höhlenöffnung heben wir ab und steigen über die Brandung hinweg in den Himmel auf.
Wir fliegen nach Süden, um Julia zu suchen.
Fünf Stunden sind vergangen, seit ich meine Cousine getötet habe.
Auf der Krankenstation kommen und gehen die Besucher. Crissa. Cor. Kurz auch Annie, das Gesicht umkränzt von dem Lichtschein, der durch die Tür hereinfällt. Ich schlucke Schmerzmittel und Schlafmittel. Und dann bin ich allein. An einem anderen Ort.
Sechs. Julia und ich spielen in den Palastgärten. Unsere Väter sind Drachenherren; die Welt liegt uns zu Füßen; wir sind sicher, dass wir eines Tages so mächtig sein werden wie sie. Wenn wir etwas lustig finden, biegen wir uns vor Lachen. Wenn wir brüllen, soll es die ganze Welt hören. Und wenn wir Töten und Getötetwerden spielen, ist es ein herrlicher, nervenaufreibender Spaß.
Sieben. Wir sind im Salon meiner Familie und ich sehe zu, wie Blut in den Teppich sickert. Der Salon hat sich in Bereiche aufgeteilt, die ich ansehen, und solche, die ich nicht ansehen kann. Es wird so viel geschrien, dass ich es nicht mehr höre. Jemand sagt, in einer Sprache, die ich kaum beherrsche: Schau nicht weg. Schau hin. Schau zu, wie sie kriegen, was sie verdienen. Meine letzte Schwester hat aufgehört, sich zu wehren. Ein Messer blitzt auf, senkt sich. Das Flehen meines Vaters erstirbt.
Mein Vater, vor Atreus kniend: Mein Sohn. Bitte, Atreus.
Acht. Im Waisenhaus ist es immer kalt. Ein rothaariges Mädchen, das zum Kämpfen zu klein ist, kämpft gegen Kinder, die doppelt so groß sind. Ich gehe dazwischen. Ich erfahre den Namen des Mädchens. Annie.
Neun. Ich stehe auf einem Marktplatz und sehe zu, wie die Drachin meines Vaters enthauptet wird. Ich stehe im Hof und höre Annie sagen: Dieser Drache hat meine Familie getötet.
Zehn. Ein Drache blickt mir in die Augen und erwählt mich. Atreus blickt mir in die Augen und sieht einen Waisenjungen niederer Herkunft. Annie blickt mir in die Augen und hütet die Geheimnisse, die wir für uns zu behalten gelernt haben.
Weiter, weiter, weiter. Eine Art Glück, das Gefühl, das sich einstellt, wenn einem die Zukunft zu Füßen liegt, wenn man vergisst. Bis: siebzehn. Flügel am Horizont, die Wiederkehr meiner Familie von den Toten, das Erwachen einer längst aufgegebenen Hoffnung. Meine Cousine Julia, die mich in einer dunklen Ecke eines Gasthauses über den Tisch hinweg anlächelt und mir sagt, dass ich meiner Mutter ähnele und sie mich vermisst hat.
Annie, vor den Ruinen eines Hauses stehend, auf die Knie fallend, um mir zu zeigen, wie ein Leibeigener vor seinem Herrn kniet, wenn er Gnade erfleht. Mit den Fingern die Bahn des Drachenfeuers beschreibend, das auf Befehl meines Vaters entfesselt wurde.
Julia auf Erinys, in der Luft. Pallor und ich beim Angriff.
Feuer.
Auf Pythos Feste. Julias Helm zu meinen Füßen. Atreus, der seine Hand auf meine Stirn legt, wie um mich von meinem Blut, meiner Vergangenheit, meinem Verbrechen freizusprechen.
Erhebe dich, Sohn von Callipolis.
»Lee?«
Die Sonne ist untergegangen, doch selbst im Dunkeln weiß ich, dass die Silhouette über mir zu Annie gehört. Ich kenne die Berührung ihrer Hand auf meinem Gesicht, den warmen, nahen Hauch ihres Atems. Die Geräusche dagegen kenne ich nicht: Jemand weint. Und dann schlucke ich und das Weinen hört auf.
Annie schlägt die Decke auf und kuschelt sich neben mich ins Bett.
Ich habe das Gefühl, jemand anders spräche aus meinem Mund. »Ich bin zu dir zurückgekommen.«
Meine Stimme klingt mir seltsam fremd in den Ohren, dick und schwerfällig, als wäre meine Zunge betrunken.
Ich höre Annie, spüre sie schlucken. »Ich weiß. Ich wusste es.«
Ihre Arme umfassen mich, so wie ich sie früher immer gehalten habe.
»Annie, der Leichnam …«
Ihre Daumen legen sich unter meine Augen, streichen nach außen. »Ich werde ihn zurückbringen.«
»Haben sie das erlaubt?«
Annie schweigt einen Moment. Dann, mit einer Spur Schärfe: »Mach dir darüber keine Gedanken.«
»Ich wusste gar nicht, dass du so … auf Regeln pfeifst.«
Sie schnieft, oder ist es ein Schnauben? Ihre Lippen berühren meine Stirn. »Wenn du wüsstest.«
Danach werden die Albträume weniger. Annies Geruch, ihre Wärme sind wie ein Anker, wenn ich zu weit davondrifte. Wenn ich mich nicht erinnern kann, warum ich getan habe, was ich getan habe, wenn ich nicht mehr nachvollziehen kann, wie ich zu jemandem geworden bin, der eine Verwandte ermordet.
Ihre Lippen auf meinen, zaghaft, als wollten sie mir eine Erinnerung entlocken.
Wir sind Monster. Auch wenn sie uns einen anderen Namen geben.
Ich schmecke ihre Lippen, schmecke ihre Zunge, schmecke ihren Mund, wie ein Ertrinkender. Dafür habe ich es getan. Für dich. Annie, warm in meinen Armen.
Ist das genug?
Kann es jemals genug sein, kann es das Sakrileg aufwiegen, Erinys’ gellendes Wehklagen über Julias Tod …?
Graues Frühmorgenlicht stiehlt sich durch die Vorhänge der Krankenstation, als Annie sich neben mir rührt.
»Es ist Zeit. Ich sollte es jetzt tun. Lee – es gibt etwas, was ich dir sagen muss, bevor ich aufbreche.«
Sie löst sich aus meinen Armen. Hilft mir in eine aufrechte Sitzposition. Jede Bewegung, sei sie auch noch so behutsam, brennt wie neues Feuer. Unsere Hände sind weiter ineinander verschlungen; ihr Gesicht ganz nah an meinem, weich umhüllt von ihrem zerzausten rotbraunen Haar, das auf einer Seite vom Kissen platt gedrückt ist.
»Atreus hat seine Leibgarde mit zu Pythos Feste genommen, weil er … nicht vorhatte, dich in die Stadt zurückkehren zu lassen.«
Während ich sie anstarre und zu begreifen versuche, wie sie darauf kommt und was das jetzt zur Sache tut oder bedeutet, spricht sie weiter.
Sie sagt etwas über den Sturm auf den Palast.
Sie muss es zweimal sagen, damit ich sie verstehe.
Atreus hat dir beim Sturm auf den Palast nicht das Leben gerettet.
»Doch, er hat gesagt …«
»Welche Sprache hat er gesprochen, als er dem Soldaten diesen Befehl gegeben hat, Lee?«
Sie wartet stumm auf meine Antwort.
Callisch. Die Sprache, die ich kaum beherrschte, bis ich sie von ihr gelernt habe.
Ich stemme mich mit dem, was ich noch genau in Erinnerung habe, gegen die wachsende Panik: mit den Worten auf Drachisch.
»Aber davor hat mein Vater … Er hat zu meinem Vater gesagt …«
Annies Augen füllen sich mit Tränen. Ich sehe, wie sie um Fassung ringt, und ahne, was sie denkt, was ihr die Erfahrung sagt. Was sie nicht auszusprechen wagt.
Dass es ein Akt der Gnade ist, Sterbende mit leeren Worten zu beschwichtigen.
Ich entziehe ihr meine Hände.
»Wenn Atreus nicht wollte, dass ich von dem Duell zurückkehre«, sage ich zu ihr und weiß selbst, wie lächerlich das ist, höre meine Stimme zittern, »warum gab es dann Zeugen?«
Annie verkrampft die Finger im Schoß.
»Ich habe die Zeugen geholt«, flüstert sie. »Ich habe mich über Befehle hinweggesetzt und Zeugen mitgebracht.«
Einen Augenblick lang ist nichts zu hören als die Turmuhr des Palasts, die zur Viertelstunde schlägt.
Erhebe dich, Sohn von Callipolis.
Annies feuchte, weit aufgerissene Augen ruhen auf mir. Warten.
Dann höre ich mich keuchend um Luft ringen.
Annie streckt ihre Hände aus und ich umklammere sie wieder. »Lee …«
»Ich habe Julia für einen Mann ermordet, der mich tot sehen wollte?«
»Du hast es nicht für ihn getan …«
Bei diesen Worten zerreißt etwas in mir und ich stoße ein Lachen aus, das wie das eines Fremden klingt. »Sondern für dich?«
Meine Stimme ist so laut, dass sie von den weiß gekalkten Wänden widerhallt. Annie fährt zusammen. Betont langsam frage ich: »Hast du es gewusst?«
Annies Stimme bricht. »Nein! Ich habe es nicht gewusst, als Atreus mich gefragt hat, ob du es tun würdest, ich habe erst danach …«
»Atreus hat dich gefragt, ob ich es tun würde?«
Annie wird blass. Erstarrt. Als hätte sie sich einen Schritt zu weit aufs Eis gewagt. Dann ringt sie zitternd um Luft, als ginge ihr auf, dass es kein Zurück mehr gibt.
»Er hat mich gefragt, ob ich glaubte, dass du es tun würdest«, flüstert sie, »und ich habe Ja gesagt.«
»Weil du wusstest, dass ich zu dir zurückkommen würde.«
Sie zuckt vor dem Echo ihrer eigenen Worte zurück wie vor einer Ohrfeige.
Auf einmal schlägt das Verlangen, das ihr Anblick in mir ausgelöst hat, in etwas anderes um.
Meine Cousine, meine Verwandte, Blut an meinen Händen. Ein Duell, in das ich geschickt wurde wie ein Tier zur Schlachtbank. Mein Vater, verloren auf jede Art und Weise, auf die man einen geliebten Menschen verlieren kann.
Und jetzt verliere ich auch noch Atreus.
Und all das, all dieses Leid, verkörpert in diesem mageren Mädchen, diesem sommersprossigen Strubbelschopf, dieser Magd –
Die immer nur von mir gefordert und genommen hat, bis ich mit nichts mehr dastand, und trotzdem noch erwartet, dass ich zu ihr zurückkomme.
»Lee …?«
Annie zieht sich langsam zurück, so wie sie vor einem Luft holenden Drachen zurückweichen würde. Ich spüre, wie es sich in mir aufstaut, Feuer in meinem Rachen, ein fürchterlicher Druck. Die Worte kommen steif und stockend hervor.
»Du solltest jetzt besser gehen.«
Als sie aufsteht, mit halb furchtsamem Blick, empfinde ich beim Anblick ihrer Angst nichts als Befriedigung.
»Ich werde Julias Leichnam zurückbringen«, sagt sie.
Erwartet sie etwa, dass ich ihr danke?
Bei dieser absurden Vorstellung breitet sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus, das nicht zu mir zu gehören scheint.
Sie sieht mein Lächeln und ihr Gesicht fällt in sich zusammen. Ihre Stimme bricht, als die Worte aus ihr herausplatzen: »Es tut mir so leid, Lee …«
»Verschwinde.«
Es ist keinen Tag her, seit Lee auf Pallor mir das Amt der Ersten Reiterin und Flottenkommandantin übergeben hat. Seit er seine Cousine und Kindheitsfreundin in einem Duell töten musste, um seine Loyalität zu dem Regime zu beweisen, das seine Familie auf dem Gewissen hat.
Acht Jahre, seit er erfahren hat, dass sein Vater meinen umgebracht hat.
Neun Jahre, seit wir Freunde geworden sind.
Zehn Minuten, seit er mir seine Hände entzogen und mich mit einer Grimasse angesehen hat, bei der sich mir die Nackenhaare aufgestellt haben.
Sein Körper ist ein Käfig, sage ich mir, in dem er gefangen ist.
Als ich die Krankenstation verlasse, habe ich immer noch den Geruch von Julias Drachenfeuer in der Nase. Ich verdränge das Bild von Lees kaltem Lächeln. Ich verdränge den Gedanken an meine Mitschuld, meinen Anteil am Leid dieses Jungen. Mich von Schuldgefühlen, Schmerz oder Traurigkeit ablenken zu lassen, ist ein Luxus, den ich mir nicht erlauben kann.
Ich konzentriere mich auf das, was ich unter Kontrolle habe.
Direkt erlaubt haben sie es nicht. Als ich General Holmes gefragt habe, ob wir Julias Leichnam zurückbringen können, meinte er, die Sache müsse erst sorgfältig abgewogen werden.
Dafür haben wir keine Zeit. Heute ist schon der zweite Tag. Und ich gedenke, den Leichnam zurückzubringen, solange noch eine würdevolle Übergabe möglich ist.
Mit Holmes muss ich das eben danach klären.
Aber ich werde Verstärkung brauchen. Während ich durch den stillen Palast haste, gehe ich in Gedanken die Liste möglicher Begleiter durch. Lee hat sich wegen Befangenheit zurückgezogen, mir die Rolle der Ersten Reiterin übertragen und mich und Aela damit an die vorderste Front eines Krieges gegen jene Drachenherren geschickt, die einst das Haus meiner Familie niedergebrannt haben.
Lee mag nicht bereit gewesen sein, diesen Krieg zu führen, aber ich bin es sehr wohl.
Mit der Rückgabe von Julias Leichnam würde ich nicht nur Lee einen Gefallen tun, sondern auch dafür sorgen, dass Neu-Pythos erfährt, mit wem sie es jetzt zu tun haben.
Verstärkung. Es sollte ein geschickter Reiter sein, jemand aus dem Vierten oder wenigstens dem Achten Rang, der mir den Rücken freihalten kann, falls die Mission brenzlig wird. Er oder sie sollte gut genug Drachisch sprechen, um eine Hilfe zu sein und kein Hemmklotz. Und weil das eine meiner ersten Auswahlentscheidungen als offizielle Erste Reiterin ist, sollte die Wahl meine Autorität im Korps der Wächter erweitern, statt sie auf bestimmte Getreue zu konzentrieren.
Früher ging es im Konvent immer lebhaft zu: Die Wächter haben gemeinsam gegessen, für die Schule gelernt oder im Wintergarten debattiert. Das war vor der Bedrohung durch Neu-Pythos. Wer heute nicht gerade Schlaf von der letzten Nachtschicht nachholt, ist entweder auf Patrouille an der Nordküste oder beaufsichtigt die Ausgabe der Lebensmittelrationen in der Stadt. Während ich mir im Zeughaus meine Rüstung anlege und zu den Drachenhöhlen gehe, begegne ich niemandem.
Aela liegt in Pallors Nest, eng an ihn geschmiegt, als wäre Lees Kummer durch die Steinmauern in seinen Drachen gesickert und sie versuchte ihn zu trösten. Auf ein Schnalzen von mir erhebt sie sich auf die Beine. Ihre Flügel entfalten sich ruckartig, ihr Schwanz fegt über den Boden. Empört über die Störung bläst Pallor die Nüstern auf. In dem schemenhaften Fackellicht glänzen seine silbernen Schuppen neben Aelas warmer Bernsteinfarbe. Ich muss mich auf die Zehenspitzen stellen, um ihr den Sattel auf den Rücken zu werfen, und den Gurt ein Stück länger stellen, damit er unter ihre Flügelgelenke passt.
»Du wirst zu groß für mich.«
Jetzt, wo sie und Pallor fast ausgewachsen sind und beide gezündet haben, frage ich mich – wie jedes Mal, wenn ich sie so zusammen vorfinde –, wann Aela wohl beginnen wird, Eier zu legen. Eine neue Brut, eine Zukunft für Callipolis. Aela stößt ein befriedigtes Schnauben aus, bei dem Rauch aus ihren Nüstern quillt, und kauert sich zuvorkommend auf den Boden, damit ich einen Stiefel in den Steigbügel setzen und mich in den Sattel schwingen kann.
»Sie ist bald wieder da«, beruhige ich Pallor.
Aelas Flügel entfalten sich wie Segel, als sie abhebt. Das Gefühl, den Boden unter mir entschwinden zu sehen, erfüllt mich mit vertrauter Erleichterung; ich kann schon lange nicht mehr unterscheiden, ob es Aelas oder meine eigene Empfindung ist. Wir gleiten durch den fast dunklen Höhlengang, steigen durch den Feuerschlund auf, der den Inneren Palast durchschneidet, und stoßen schließlich ins Tageslicht vor. Der Palast, die Arena, der Karstfelsen von Pythos Feste und die Stadt, die sich darunter ausbreitet, schrumpfen unter uns zu einer Miniaturlandschaft zusammen. Ein frischer Herbstwind bläst mir ins Gesicht und ich sauge die Luft tief in mich ein.
Wenige Minuten später landet Aela auf dem zentralen Platz der Südstadt auf der anderen Flussseite, wo die Stadtwache die Lebensmittelkarten ausgibt. Die beiden Aufsicht führenden Wächter sind Power auf Devoro und Rock auf Bast. Das ist keine beliebte Aufgabe – immer mehr Bürgern fällt auf, dass die vier Stände unterschiedliche Rationen bekommen, und die Anspannung ist fast mit Händen greifbar, während die Wartenden verstohlen auf die Armbänder der anderen schielen.
Trotz der finsteren Mienen der Wartenden bringt Power es fertig, gelangweilt dreinzuschauen. Er hat es sich neben dem Ausgabehäuschen bequem gemacht, während Devoro zusammen mit Rocks Drachen in sicherer Entfernung über dem Platz kreist. Rock hingegen hat jeden einzelnen Muskel seines mächtigen Körpers angespannt. Ich steige ab und schicke Aela mit einem liebevollen Klaps auf die Flanke zurück in die Luft, wo sie sich den beiden Sturmpfeilen anschließt, ein schmaler roter Blitz zwischen den gewaltigen schwarzen Leibern mit ihren breiten Flügeln.
Rock wirft mir von der Seite einen Blick zu. »Wie geht es …«
Er beißt sich auf die Zunge und läuft knallrot an.
Die Nachricht, dass Lee der Sohn eines Drachenherrn ist, hat Rock von allen Wächtern am meisten getroffen. Ich kann es ihm nicht verdenken: Rock und ich sind beide vom Hochland und ehemalige Leibeigene des Hauses der Sturmpfeile. Aber während ich Jahre Zeit hatte, mit der Erkenntnis klarzukommen, dass unser Freund von den Mördern meiner Familie abstammt, hatte Rock dafür gerade mal eine Woche.
Ich suche nach einer Antwort und spüre meine Augen brennen. Wie es Lee geht? Er ist so verletzt, dass er vorhin auf mich losging wie ein tollwütiger Hund.
»Nicht besonders.«
»Glaubst du, er würde Besuch wollen?«
Am liebsten würde ich Rock um den Hals fallen. Stattdessen begnüge ich mich mit einem Nicken. »Bald. Ich glaube, das würde ihm sehr guttun.«
Rock nickt, ohne meinen Blick zu erwidern.
Unter gewöhnlichen Umständen würde ich Rock, diesen sanften Riesen, dem schmierigen, unberechenbaren und grausamen Power jederzeit als Partner für eine Mission vorziehen. Aber es sind keine gewöhnlichen Umstände, deinen einstigen Herren die tote Cousine deines besten Freundes zurückzubringen.
Ich wende mich Power zu.
Meine Verstärkung: ein Drachisch-Muttersprachler des Vierten Rangs, als Drachenreiter mir fast ebenbürtig – außerdem ist er im Alleingang verantwortlich für den Versuch, Lee verhaften zu lassen. Und für das Streuen von Gerüchten, die Zweifel an meiner Eignung als Kommandantin aufkommen lassen sollen.
Zeit, das zu ändern.
Power hat lässig ein Bein über das andere geschlagen, als wäre die Beaufsichtigung der Lebensmittelrationierung ein Zuschauersport. »Kommandantin?«
Ich lege eine Karte des Nordmeers und eine Ausgabe des alten Epos der Drachenblütigen, den Aurelianischen Zyklus, auf den Tisch zwischen uns.
»Ich plane ein Manöver nach Buch 24.«
Buch 24: Uriel bringt den Leichnam des im Kampf gefallenen Sohnes seines Feindes ins gegnerische Lager.
Rock macht ein verwirrtes Gesicht, doch Power zieht nur eine Augenbraue in die Höhe. Auf dem Janiculum aufgewachsene Wächter kennen eben ihre drachische Dichtung.
»Ganz schön gewagt«, sagt Power. »Sogar für dich.«
»Ich suche einen Reiter, der mich begleitet.«
Rock fällt die Kinnlade herunter. Schließlich hat Power ihn in den letzten sieben Jahren genauso oft wegen seiner niederen Herkunft verhöhnt wie mich.
Power beginnt zu grinsen. »Nur einen?«
»Ja. Nur einen. Wenn er gut genug ist.«
Power schnippt ein unsichtbares Staubkorn vom Tisch und erhebt sich geschmeidig. In diesem Moment schimpft eine Frau aus dem Eisen-Stand, die gerade ihre Lebensmittelkarte ausgehändigt bekommt, mit schriller Stimme los und zeigt anklagend auf die Familie aus dem Bronze-Stand, die vor ihr an der Reihe war. Die anderen Eisen-Bürger in der Warteschlange recken die Hälse.
Solche wilden Blicke habe ich seit der Hungersnot meiner Kindheit nicht mehr gesehen.
Eisen erhält weniger als Bronze. Bronze weniger als Silber. Silber weniger als Gold. So wie es der Staat vorgeschrieben hat, als unsere Führung entscheiden musste, welche Bevölkerungsgruppen angesichts der unvermeidlichen Nahrungsknappheit am nützlichsten und wo Verluste am ehesten zu verschmerzen sind. Das sind die Ungleichheiten, die mich auf Schritt und Tritt verfolgen, wenn ich in der Stadt unterwegs bin.
Power schaut feixend zu Rock, bevor er das Silber-Gold-Armband der Wächter an die Lippen setzt, um in seine Lockpfeife zu blasen. »Mach Callipolis stolz, Richard.«
Über uns gehen Devoro und Aela mit angelegten Flügeln in den Tauchflug.
Julias Körper liegt unter einem Leichentuch auf einem Tisch in der Krankenstation des Palasts. Aus dem unbeheizten Raum schlägt mir herbstliche Kälte entgegen und ich bleibe von einer plötzlichen Hemmung gepackt an der Schwelle stehen. Es ist Power, der sich dem Tisch nähert und überraschend behutsam das Tuch anhebt, das ihr Gesicht verhüllt.
Sie sieht aus wie Lee. Das gleiche lange, blasse Gesicht, das gleiche dunkle Haar …
»Wo ist ihr Helm?«, frage ich. »Sie sollte ihn tragen.«
Power blickt sich suchend um und zeigt auf die achtlos beiseitegeworfene Ausrüstung, die Lee zurückgebracht hat. Helm und Rüstung sind mit Ruß und Drachenblut verschmiert.
»Wir sollten ihn waschen.«
»Ja. Die Rüstung auch.«
Im Beisein der Toten scheint Powers sonst so flammender Hass auf die Drachenblütigen erloschen. In der nächsten halben Stunde wechseln wir kaum ein Wort, während wir zu Werke gehen. Ich frage mich, ob er auch an andere Bestattungen zurückdenkt, so wie ich. Jedenfalls wissen wir beide, wie ein Leichnam vorzubereiten ist.
Als wir fertig sind, bettet er Julia wie ein schlafendes Kind auf seine Arme und trägt sie auf den Hof vor der Krankenstation, wo unsere Drachen warten. Zur Begrüßung schnuppert Aela nur ganz leicht an meiner Hand, während Power die zusätzliche Last an Devoros Flanke festbindet – selbst die Drachen sind still, als spürten sie den Ernst unserer Mission.
Wir lenken unsere Drachen auf der üblichen Flugstrecke nach Norden und verlassen die Patrouillenroute erst, als wir die Küste erreicht haben. Meine Kenntnisse des Nordmeers sind lückenhaft, aber die gewaltigen Karstformationen, die sich immer zahlreicher aus dem Meer erheben, sobald wir in östlicher Richtung auf Neu-Pythos zuhalten, machen die Orientierung leicht. Nicht umsonst haben wir die Karten seit der ersten Sichtung der pythischen Drachenflotte ausgiebig studiert.
»Wie viel vom Aurelianischen Zyklus kannst du auswendig?«, frage ich Power, während die callipolitanische Küste hinter uns immer kleiner wird. Flügel an Flügel sind Aela und Devoro ungefähr zehn Meter voneinander entfernt – wenn wir brüllen, können wir uns verständigen.
Zu Powers patrizischer Erziehung gehören die Drachisch-Privatstunden in seiner Kindheit, über die er sich gern lang und breit beklagt. »Zu viel.«
»Gut. Verbessere mich.«
Während wir über das Nordmeer dahinjagen, rufe ich die Drachisch-Sätze, die ich mir herausgesucht habe, und Power korrigiert mich, bis ich sie fehlerlos aufsagen kann.
Endlich erspähen wir, wonach wir Ausschau gehalten haben: eine Zweierpatrouille aus Neu-Pythos, die wie wir auf Drachen reitet. Ein Himmelsjäger, so hell, dass er eher silbern als blau erscheint, und mit schmal wirkenden Flügeln im Vergleich zu dem mächtigen Sturmpfeil an seiner Seite.
Die ersten Reiter der pythischen Flotte, denen ich nah genug bin, um ein Signal abzusetzen.
Ich schwenke die weiße Flagge und wir setzen zum Landeanflug auf das Tor des Reisenden an.