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Für meine Familie
Aus dem Englischen von Andreas Jandl
Mit neun Schwarz-Weiss-Fotos und einer Karte
Abdruck des Lieds »Bottom of the Sea Blues« auf Seite 236:
Words and music by Johnny Flynn, © 2013 Cold Bread Ltd.
All Rights Administered by Kobalt Music Publishing Limited.
All Rights Reserved. International Copyright Secured.
Used by permission of Hal Leonard Europe Limited.
© Dara McAnulty & Little Toller Books, 2020
Titel der englischen Originalausgabe:
»Diary of a Young Naturalist«, erschienen bei Little Toller Books, Dorset 2020
© Piper Verlag GmbH, München 2021
Redaktion: Antje Steinhäuser, München
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas nach dem Entwurf »Dara« von Barry Falls/ (c) Barry Falls und Little Toller Books, 2020
Fotos im Innenteil: Familie McAnulty, 2020
Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
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Dieses Tagebuch hält fest, wie meine Welt sich verändert, von Frühling bis Winter, bei uns zu Hause, in der Wildnis, in meinem Kopf. Es begleitet mich vom County Fermanagh im nordirischen Westen ins County Down im Osten. Es zeigt die Entwurzelung durch den Umzug, den Wechsel von County und Landschaft und die zwischenzeitliche Heimatlosigkeit auch meiner Sinne und Gedanken. Mein Name ist Dara, im Irischen bedeutet das »Eiche« und ist in meinem Fall ein Jungenname. Als Baby nannte Mum mich lon dubh, das heißt Amsel, was sie heute noch manchmal tut. Mein Herz ist das eines Naturforschers, mein Kopf der des Wissenschaftlers, der ich werden will, und meine Knochen sind alt und morsch und ächzen, wenn ich sehe, wie gleichgültig und grob wir mit der Natur umgehen. Der Fluss aus meiner Feder zeigt meine Verbundenheit mit Flora und Fauna, erklärt möglichst klar meine Sicht auf die Welt und erzählt, wie wir als Familie alle Stürme überstehen.
Ich begann mit dem Schreiben in einem sehr einfachen Bungalow, in einer Wohngegend mit vielen Familien, die ihre Kinder nie raus vor die Tür ließen, und älteren Leuten, deren Brut bereits ausgeflogen war, die ihren Garten und den Rasen mit einer Schere stutzten – ja, das habe ich tatsächlich gesehen. In dieser Umgebung bildeten sich langsam erste Sätze, dort rang auf dem Blatt die Verzückung mit dem Frust, und dort verwandelte sich in den Frühlings- und Sommermonaten unser Garten (anders als die anderen in unserem kleinen Straßenwinkel) in eine Wiese mit Wildblumen, Insekten und einem in den hohen Gräsern aufgestellten »Bee and Bee«-Schild für geflügelte Gäste, ein Ort, an dem unsere Familie stundenlang die Üppigkeit der Natur beobachtete, die anderen Gärten fehlte, ohne dass wir den Nachbarn, die hin und wieder mit hochgezogenen Brauen hinter ihren Vorhängen hervorschauten, irgendwelche Beachtung schenkten.
Seitdem sind wir umgezogen, haben das Land durchquert und haben uns – nicht zum ersten Mal – ein neues Zuhause eingerichtet. In meinem noch nicht so langen Leben waren wir Nomaden schon an vielen Orten zu Hause. Doch egal, wo wir uns niederlassen, unser Haus ist immer voll mit Büchern, Schädeln, Federn, Politik, heftigen Debatten, Tränen, Gelächter und Freude. Manche Menschen meinen, dass Wurzeln durch Steine und Mörtel entstehen, aber unsere wachsen wie unterirdische Pilzgeflechte in alle Richtungen, verbinden sich zu einem Grundstock gemeinsam gelebten Lebens, sodass wir, egal wohin wir gehen, immer verwurzelt bleiben.
Meine Eltern stammen beide aus dem Arbeitermilieu und waren in ihren Familien die erste Generation, die zur Uni ging und dort Abschlüsse machte, und sie folgen nach wie vor ihrem Ideal, diese Welt besser machen zu wollen. Das heißt, wir haben keinen materiellen Reichtum, aber sind, wie Mum sagt, »in anderer Hinsicht reich«. Dad ist – und war immer – ein Wissenschaftler (erst Meeresforschung, jetzt Naturschutz). Er hat das geheime Wissen der Wildnis für uns lebendig gemacht und uns die Rätsel der Natur erklärt. Mums berufliche Laufbahn ähnelt der Herangehensweise, wie man am besten einen Strom durchquert: nie gradlinig. Musikjournalismus, Freiwilligenarbeit, Uni – auch heute macht sie immer noch ein bisschen von alldem, während sie nebenbei meine neunjährige Schwester Bláthnaid zu Hause unterrichtet. Bláthnaids Name bedeutet »die Blühende«, und im Augenblick ist sie Expertin für Feen, kann aber auch viel zu Insekten sagen, hält sich Schnecken und repariert alle Elektrosachen im Haus (worüber Mum gewaltig staunt). Ich habe auch einen Bruder, Lorcan – »der wild Entschlossene« –, der dreizehn ist. Lorcan hat sich selbst beigebracht, Musik zu machen, und erzeugt damit bei uns immer wieder große Verzückung und zugleich Verwirrung. Er ist außerdem ein Adrenalinjunkie – was bedeutet, er rennt Berge herunter, springt von Steilküsten ins Meer und geht überhaupt mit der Energie eines Neutronensterns durchs Leben. Dann ist da noch Rosie, eine vor dem Einschläfern gerettete Greyhound-Dame, die unter heftigen Blähungen leidet und die wir 2014 adoptiert haben. Ihr Fell ist gestreift, sie ist unsere Tigerhündin. Wir nennen sie auch »Kissen auf vier Beinen«, und sie ist eine großartige Gefährtin und Stresskillerin. Ich, nun ja, ich bin der Nachdenkliche, meine Hände sind immer schmutzig und meine Taschen vollgestopft mit toten Dingen und (manchmal) mit Tierkot.
Bevor ich mich hingesetzt und dieses Tagebuch verfasst habe, hatte ich bereits einen Blog im Internet geschrieben. Ein größeres Grüppchen Menschen mochte den und sagte mehr als einmal, ich sollte doch ein Buch schreiben. Was ziemlich erstaunlich ist, da ein Lehrer meinen Eltern einmal sagte, »Ihr Sohn wird Texte nie in ihrer Gänze verstehen, geschweige denn einen durchgehenden Absatz schreiben können.« Und doch mache ich das jetzt. Meine Stimme brodelt und steigt auf, wie bei einem Vulkan, und all mein Frust und meine Leidenschaften können beim Schreiben ausbrechen – hinaus in die Welt.
Unsere Familie verbinden nicht nur Blutsbande, wir sind auch alle autistisch, alle bis auf Dad – er ist der Sonderling, und von ihm hängen wir ab, damit er uns nicht nur die Mysterien der Natur, sondern auch die des Menschen verrät. Zusammen sind wir ein verschrobener, chaotischer Haufen. Und sind wohl ganz schön beeindruckend. Dicht aneinandergeschmiegt wie die Otter ziehen wir zusammen hinaus in die Welt.
Mein Träumen in der Dunkelheit wird unterbrochen. Ich bin irgendwo zwischen Auftauchen und Atemschöpfen, als ein Flöten in mein Bewusstsein dringt. Die Wände meines Zimmers lösen sich auf. Der Raum zwischen Bett und Garten schrumpft, wird eins. Ich stehe auf, ohne mich zu rühren, gehalten von der Schwere des Schlafs. Die Töne rieseln weiterhin auf meine Brust. Jetzt sehe ich vor dem inneren Auge die Amsel: Ihre Reviersonaten schallen durch den frühen Morgen, die Testosteron-Pfeile schwirren. Eingetaucht in die Musik, rattern in meinem wachen, denkbereiten Hirn die Gedanken los.
Der Frühling ist von Raum zu Raum verschieden, aber für mich liegt der größte Zauber in allem Seh- und Hörbaren, das zwischen Himmel und Wurzeln meinen Alltag umgibt. Der Frühling ist die Froschfrau, die ganz zu Beginn unserer Zeit in diesem Haus unsere Pfade kreuzte – unsere erste Begegnung hatten wir mit einem Klecks rasch auf Asphalt gesetzten Laich, dessen unsichtbaren Weg die Moderne durchkreuzte. Besorgt schufen wir voller Hoffnung ein feuchtes Asyl: Wir setzten einen Eimer Wasser in die Erde und bestückten ihn zum Ein- und Ausstieg mit Tontopfscherben, Kieseln, Pflanzen und einigen Stöcken. Wir wussten nicht, ob es funktionieren würde. (Um tiefer zu graben, hätten wir für den Blocklehm, mit dem unser Vorortgarten in Enniskillen gesegnet war, einen Bagger gebraucht.) Im darauffolgenden Jahr kam es aber zu einer zweiten Begegnung, als nämlich unsere amphibische Freundin beschwingt durchs Gras tanzte, Gesellschaft von einem zweiten Frosch bekam und uns zum Geschenk eine Ladung Froschlaich im Asyl-Eimer hinterließ. Wir jubelten, und unsere Freude war bis an den Fuß des Hügels zu hören, wo sie einen Moment lang das Rauschen des Autoverkehrs nach Sligo oder Dublin übertönte und sogar das Rumpeln und Rattern des nahen Betonwerks.
Die Ebbe und Flut der Zeit bringt in vertrauter Folge alljährlich Wunder und Funde hervor wie zum allerersten Mal. Die prickelnde Erregung hört nie auf. Neues ist immer lieblich.
Hain-Veilchen kommen als Erste hervor, genau wenn die Sperlinge Moos aus den Regenrinnen herauswühlen und die Luft sich plustert wie die Brust eines Rotkehlchens. Löwenzahn und Butterblume scheinen auf wie Sonnenstrahlen, zeigen den Bienen, dass es nun sicher ist, endlich auch herauszukommen. Kommt der Frühling, will ich jedes Wiederaufleben sehen. Bláthnaid feiert ihn jeden Tag, indem sie die Gänseblümchen zählt, und wenn es ausreichend viele für einen Kranz sind, wird sie zur »Frühlingskönigin« – und falls noch welche übrig sind, macht sie noch ein Armband und einen passenden Ring zur Vervollständigung der Dreifaltigkeit. Manchmal reichen, wie durch Zauberei, die Gänseblümchen für eine ganze Wochenproduktion an Schmuck und Amuletten, dann bedenkt sie, hier und dort, das ganze Haus mit ihren Gänseblümchengeschenken.
Mir wurde mehr als einmal erzählt, ich sei ein Aurorababy gewesen, das zum Tagesanbruch wach war. Ich kam im Frühling zur Welt, und meine ersten Morgen waren – dem wachsenden Körper und Geist zur Nahrung – begleitet von der Sonate der Amselmännchen. Vielleicht war ihr Gesang das erste Locken der Wildnis. Mein Ruf. Ich denke oft an den heiligen Kevin, Caoimhín, stelle mir vor, wie er dasteht, mit vorgestreckter Hand, und darin ein Amselnest hält, bis das eine Junge flügge ist. Caoimhín von Glendalough war ein Einsiedler, der Trost in der Natur suchte. Als ihn immer mehr Menschen aufsuchten, um sich bei ihm Rat zu holen und seine Lehre zu hören, bildete sich nach und nach eine Klostergemeinschaft.
Ich liebe die Geschichten von Caoimhín, vielleicht auch, weil Caoimhín der Heiligenname ist, den ich mir zur Konfirmation ausgesucht habe. Obwohl ich jetzt weiß, dass dies vor allem meinem Erwachsenwerden dienen sollte, ist mir der Name immer noch wichtig, umso mehr, da seine Geschichte zeigt, wie wir, auch wenn wir gar nicht wollen, die Wildnis stören und das Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur verändern. Das Gefühl hatte Caoimhín, als ihm immer mehr Menschen folgten, vielleicht auch.
Die Fülle der Töne. Ich höre sie auch aus dem vollsten Luftraum heraus. Sie sind der Beginn von allem, das Erwachen von so vielem. Das Lied trägt mich weiter in die Vergangenheit: Ich bin drei und lebe entweder in meinem Kopf oder unter den kriechenden, krabbelnden, flatternden Dingen der Wildnis. Sie alle sind mir verständlich, anders als die Menschen. Ich warte darauf, dass die Morgenröte ins Schlafzimmer meiner Eltern scheint.
Lorcan liegt zwischen Mum und Dad eingebettet. Ich lausche auf die Töne, und sie beginnen, sobald die erste Portion Licht auf den Vorhang trifft. Goldene Schatten enthüllen die Gestalt, auf die ich gewartet hatte: die horchende Amsel auf dem Küchenanbau, ein prächtiger Bote auf dem Dach der Schlafenden und Wachenden.
Als die Amsel kam, konnte ich erleichtert aufseufzen. Es hieß, der Tag hatte wie alle anderen begonnen. Es gab Gleichmäßigkeit. Alles ging seinen festen Gang. Und jeden Morgen lauschte ich, berührte die Schatten und wollte weder die Vorhänge aufziehen noch jemanden wecken. Nie wollte ich den Moment zerstören. Ich konnte den Rest der Welt mit seinem Gehetze und Gewühle, seinem Krach und Trubel nicht hereinbitten. Also lauschte ich und beobachtete – die winzigen Bewegungen von Schnabel und Rumpf, die langen Linien der Telefondrähte, die dreißigsekündigen Pausen zwischen den Strophen.
Ich wusste, dass »mein« Vogel das Männchen war, denn einmal, nur einmal, schlich ich die Treppe hinunter und schaute durch die Verandatüren hinauf. Dort saß es, starr und grau, doch war es dort und war immer dort. Ich zählte jeden Takt und prägte ihn mir ein, dann schlich ich die Treppe wieder hinauf und beobachtete wieder das Schattenspiel auf dem Vorhang. Das Amselmännchen war der Dirigent meines Tages, jeden Tag, für eine scheinbar lange Zeit. Dann hörte es auf, und ich dachte, meine Welt zerbricht. Ich musste mir eine neue Aufwachbeschäftigung suchen, und ich begann lesen zu lernen. Zunächst Bücher über Vögel, dann über alle wild lebenden Tiere. Die Bücher mussten naturgetreue Bilder und viele Informationen haben. Die Bücher halfen mir, eine Brücke zum Amseltraum zu bauen. Sie verbanden mich physisch mit dem Vogel. Ich lernte, dass nur Amselmännchen mit so viel Hingabe singen und dass Vögel singen, wenn sie einen Grund dazu haben, etwa um ihr Revier zu verteidigen oder das andere Geschlecht anzuziehen. Sie sangen nicht für mich oder irgendjemanden sonst. Das Ausbleiben des Gesangs im Herbst und Winter war traumatisch, doch das Lesen lehrte mich,
die Amsel würde zurückkehren.
Der Frühling bewirkt etwas in uns. Alles schwebt. Man kann nicht anders, als sich nach oben und nach vorn zu bewegen. Es gibt mehr Licht, mehr Zeit, mehr zu tun. Jeder vergangene Frühling verschmilzt zu einer Collage und birgt so viel Materie in sich, so viel Gewicht. Der erste erinnerbare Frühling brannte sich tief und lebhaft in mich ein: Er war der Beginn einer Faszination für die Welt außerhalb von Wänden und Fenstern. Alles in ihm drängte mit zarter Kraft, bettelte, ich solle lauschen und verstehen. Die Welt wurde mehrdimensional, und erstmalig verstand ich sie. Ich spürte jedes Teilchen und konnte in sie hineinwachsen, bis es keine Unterscheidung mehr zwischen mir und dem Raum um mich herum gab. Würde sie doch nur nicht durchbohrt von Flugzeugen, Autos, Stimmen, Anweisungen, Fragen, sich wandelnden Gesichtszügen und schnellem Geplapper, mit dem ich nicht Schritt halten konnte. Ich zog mich vor diesem Lärm zurück und vor der Menschenwelt, die ihn machte; ich öffnete mich in Gesellschaft von Bäumen, Vögeln und an kleinen abgelegenen Orten, die meine Mum instinktiv in Parks, Wäldern und an Stränden regelmäßig für mich fand. An diesen Orten kam ich offensichtlich aus mir heraus: den Kopf konzentriert zur Seite geneigt, mit sehr ernstem Gesichtsausdruck sog ich ein, was ich sah, hörte.
Ich blende mich plötzlich aus und ein, merke, es liegt am Licht draußen, der morgendliche Chor ist verstummt. Der Zauber gebrochen. Es ist Zeit für die Schule. Heute fühlt es sich an, als würden die Dinge sich ändern. Bald werde ich mein vierzehntes Lebensjahr vollenden, und das Amselmännchen, der Dirigent meines Tages, ist genauso wichtig wie damals, als ich drei war. Ich bin immer noch versessen auf Gleichmäßigkeit. Alles muss seinen festen Gang gehen. Die einzige Veränderung ist eine andere Art des Erwachens: mein Bedürfnis, über die Tage zu schreiben, was ich sehe, wie ich mich fühle. Zum Ansturm des Lebens, zu den Prüfungen und Erwartungen (wobei die höchstens meine eigenen sind), kommt der Fluss aus meiner Feder hinzu, und der wird für mich zum verbindenden Zahnrad zwischen Wachheit und Schlaf und der sich drehenden Welt.
Wenn es März wird, kommen eigentlich Farben und Wärme, aber heute stehe ich bei uns im Garten wie eingeschlossen in eine Schneekugel. Die eisigen Flocken beißen, schnappen die gestrige Helligkeit fort. Die plötzliche Kälte bedeutet eine schwere Zeit für unsere Gartenvögel. Sie gehören für uns zum erweiterten Familienkreis, also laufe ich schnell zum Gartencenter die Straße runter, kaufe einen Nachschub an Mehlwürmern und fülle die Futterhäuschen vor dem Küchenfenster ganz auf; die Futterhäuschen hängen gute dreieinhalb Meter vom Haus entfernt, um eine klare Grenze zwischen nachbarschaftlicher Privatheit und Invasion zu ziehen. Nur wenige Tage zuvor haben unsere Blaumeisen die Nistkästen inspiziert, ihr Gezwitscher im Garten ist ein Konzert der Vorfreude gewesen. Und jetzt das. Vögel sind widerstandsfähig, aber dieser Temperaturabfall bereitet uns allen Sorgen.
Es ist schwer zu glauben, dass wir noch letzte Woche das Flüstern wärmerer Tage gespürt haben, als wir in den Ästen einer alten Eiche im Castle Archdale Country Park saßen, unweit von Dads Büro. Viele Menschen führen meine Liebe zur Natur auf ihn zurück. Er hat bestimmt viel zu meinem Wissen und meiner Achtung vor der Natur beigetragen, aber mein Gefühl sagt mir, dass die Verbindung bereits entstand, als ich noch in Mums Bauch war und die Nabelschnur mich nährte. Natur und Nahrung – es muss eine Mischung von beidem sein. Vielleicht ist Naturliebe angeboren, und ich kam damit zur Welt, aber ohne die Ermutigung durch Eltern und Lehrer und den Zugang zu etwas Wildnis gelangt sie nicht dauerhaft in den Alltag.
Mein Name, Dara, bedeutet im Irischen wie gesagt »Eiche«, und oben in den Ästen des majestätischen Baums spürte ich den Puls eines Lebens, das seit fast fünfhundert Jahren im Boden von Castle Archdale gewachsen ist, und klammerte mich an einen Zweig meiner Kindheit.
Bei uns im Garten beobachte ich einen Buchfinken mit Konfetti-Sprenkeln auf seiner silbernen Kappe. Er sitzt auf einem Ast unserer Zypresse, einem immergrünen, jetzt schneeweiß bepuderten Gewächs. Die pfirsichrote Brust des Buchfinken wölbt sich vor, als sich ein Girlitzpaar zu ihm gesellt – der eine zitrusgelb und schwarz, der andere fein getupft mit zierlich zinngelben Flecken. Das Rotkehlchen beherrscht die Szene, wie immer, stolziert prahlerisch herum, um alle Eindringlinge auf Distanz zu halten. Zuvor hatte es ein Geraufe zwischen vier Männchen und einem Weibchen gegeben, bei dem die Federn flogen und Köpfe gepickt wurden – Rotkehlchen sind so aggressiv, dass sie ihre Gegner angeblich am Genick verletzen, doch frage ich mich, ob sie das auch in Gärten tun, in denen es Samen, Nüsse und wunderbare Mehlwurmhäppchen in großer Menge gibt. Reichlich für alle.
Eine Singdrossel spielt Himmel und Hölle im Schnee, hüpft herum, holt sich die von uns verstreuten Samen. Das helle Rot halb gegessener Äpfel wird entdeckt: Die Drossel pickt, Saft kommt heraus, ich lächle. Die Zeiten im Jahr, zu denen die Drossel da ist, sind seltsam und in einer Weise unvorhersehbar, die mich in der Vergangenheit frustriert und gequält hätte. Doch jetzt habe ich gelernt, die unverlässliche Drossel zu rationalisieren und alle Begegnungen zu schätzen, ohne Bindung und Erwartungen. Na ja, so ungefähr.
Am Abend feiern wir Dads Geburtstag, als wäre es ein Wassailing, ein Wintersingen: Wir singen und tanzen und spielen (schlecht) auf unseren Tin Whistles, machen schrille Töne, erbitten das Ende der dunklen Tage und wünschen uns Licht. Mum hat für ihn gebacken – Victoria Sponge, seinen Lieblingskuchen.
Ich finde den letzten Teil des Winters frustrierend, und die Warterei, bis wir durch das Tor hindurch in Farbe und Wärme reisen, kehrt meine schlimmste Eigenschaft hervor: Ungeduld! Heute aber können die Wärme der Luft und das Summen und Surren überall meine Unruhe lindern. Endlich scheint der Frühling den weichenden Schatten des Winters zu entkommen.
An diesem Morgen sind wir alle unterwegs zu einem unserer liebsten Orte: zum Big Dog Forest, einer Sitkafichten-Schonung nahe der irischen Grenze, etwa eine halbe Stunde von unserem Zuhause, oben in den Hügeln, mit Inseln von Weide, Erle, Lärche und im Mittsommer Sträuchern voller Heidelbeeren. Von den beiden Sandsteinhügeln – Little Dog und Big Dog – heißt es, sie wären durch einen Zauber aus Bran und Sceolan entstanden, den beiden riesigen Jagdhunden des legendären Fionn Mac Cumhaill, des Jäger-Kriegers und letzten Anführers der mythischen Fianna. Laut der Sage haben Fionns Hunde bei der Jagd die Fährte der bösen Hexe Mallacht aufgenommen und jagten ihr nach. Die Hexe floh und verwandelte sich in einen Hirsch, um schnell voranzukommen, doch das Bellen kam immer näher, weshalb Mallacht die beiden Hunde mit einem mächtigen Zauber in Little Dog und Big Dog verwandelte, die Hügel, die wir heute hier sehen.
Ich mag sehr, wie Namen Geschichten über das Land erzählen und wie durch alte Geschichten Vergangenheit lebendig bleibt. Genauso faszinieren mich wissenschaftliche Erklärungen, mit denen Geologen solche Mythen sprengen: Der Sandstein der Hügel ist härter als der umgebende Kalkstein, und als der Kalk durch Gletschererosion abgetragen wurde, blieb nur der Sandstein übrig und überragt jetzt das verbliebene Geschiebe der Eiszeit.
Ich entdecke Huflattich, Sonnenexplosionen im aufgewühlten Boden. Weißschwänzige Hummeln trinken und sammeln begierig. Löwenzahn, Gänseblümchen und ihre Verwandten aus dem Clan der Korbblütler sind oft die ersten Blütenpflanzen, die sich im Frühling zeigen, und sind für die Artenvielfalt unglaublich wichtig. Ich beknie jeden, den ich treffe, ein Fleckchen für diese Pflanzen im Garten brach zu lassen – das kostet nicht viel, und jeder kann es tun. Da die Natur an den Rand unserer zugebauten Welt gedrängt wird, sind kleine Inseln Wildnis eine gute Gegenaktion.
Manchmal scheinen Gedanken und Worte in meiner Brust festzusitzen – doch selbst wenn sie gehört und gelesen werden, wird das irgendetwas ändern? Die Vorstellung schmerzt mich und gesellt sich zu den anderen Gedanken, die immer in meinem Gehirn herumkämpfen und die Freude am Moment zerstören.
Das Klackern eines Schwarzkehlchens bringt mich dahin zurück, wo ich sein sollte, nämlich im Wald, und es sieht so aus, als ließe der Vogel winzige Schottersteinchen auf den Weg fallen. Ich starre auf den Weg, über den das Licht hinwegfährt, und merke, dass alles sich irgendwie regt. Sogar ein steiniger Pfad kann sich bewegen und durch den Lichteinfall und die Schatten vorbeifliegender Vögel verändern. Jeder Moment ist ein Bild, das es nie wieder genauso geben wird. Ich schaue, fasziniert, ohne mich darum zu kümmern, was Betrachter denken könnten, da wir üblicherweise den Ort hier für uns allein haben. Ich kann hier ich selbst sein. Wenn ich möchte, kann ich mich hinlegen und auf den Boden starren. Und während ich so starre, kommt mir zwangsläufig irgendein Lebewesen vor die Nase: Diesmal ist es eine Assel, die von nirgendwo nach irgendwo spaziert. Ich biete ihr die Spitze meines Fingers an, und sie kitzelt mich. Ich mag das Gefühl, ein Lebewesen in der Hand zu halten. Dabei geht es mir nicht um die Verbindung, die ich spüre, sondern um die Neugierde, die ich stillen kann. Sobald ich genau hinschaue, saugt der Augenblick mich ein – wieder und wieder ist es ein perfekter Moment. Aller Lärm verschwindet aus der Umgebung. Ich gehe zum Gras und senke behutsam meinen Finger in die Halme: Die Assel verschwindet im Gestrüpp.
Bláthnaid und Lorcan eilen voraus zur Kuppe des Hügels, der dahinter zum Lough Nabrickboy abfällt, während Dad, Mum und ich dahinspazieren, darüber plaudern, wie es wäre, an diesem besonderen Ort die Sitkafichten durch einheimische Bäume zu ersetzen. Letztes Jahr zur fast gleichen Zeit haben wir von der Hügelspitze den wunderschönen Anblick von vier Singschwänen gehabt – den einzigen wirklich wilden Schwänen. Die sanftmütigen, melancholischen Gestalten wippten anmutig mit hoch erhobenen Hälsen auf dem Wasser. Sie hätten die Kinder von Lír sein können: Aodh, Fionnuala, Fiachra und Conn, die von ihrer grausamen Stiefmutter Aoife dazu verflucht wurden, dreihundert Jahre auf Lough Derravaragh, dreihundert Jahre auf dem Nordkanal zwischen Irland und Schottland und dreihundert Jahre auf der Insel Inishglora zu verbringen.
Langsam und leise näherten wir uns dem Picknicktisch im Schatten der Weiden am See, und sie blieben bei uns, als wir uns in stiller Ehrfurcht und Verehrung hinsetzten. Wir fühlten uns sehr privilegiert. Mein Herz schlug schneller, mein Atem schien in meiner Brust gefangen. Die Vögel glitten geruhsam dahin, bis plötzlich das Schreien und Trompeten begann. Verdeckt von den nackten Zweigen einer Weide pirschte ich mich an, um sie besser zu sehen. Ich war still wie die Luft, beobachtete die sich ausweitenden Wellen der zum Fliegen sich aufschwingenden Vögel: Mit ausgebreiteten Flügeln, tief gehaltenen Häuptern, wild rotierenden Beinen stiegen sie auf, während die plumpen Paddelfüße sie schoben und hoben. Fort flogen sie, bliesen das Horn wie ein königlicher Konvoi. Sie verschwanden in nordwestlicher Richtung, vielleicht nach Island.
Auf eine Wiederholung dieser Begegnung auch nur zu hoffen, wäre unerhört, und als ich hinunter über den See schaue, erkenne ich, dass heute keine Singschwäne da sind. Er ist leer.
Ich bin etwas schwermütig, als wir hinunter zum Picknicktisch gehen. Ich finde einen günstigen Ort und warte auf die Kornweihen, reglos, bis das Licht schwindet. Als es Zeit wird zu gehen, schauen meine Eltern sich wissend an – und vermuten ganz richtig: Ich bin schlecht gelaunt für den Rest des Tages, schleiche, sobald wir zu Hause sind, in mein Zimmer, schreibe, suhle mich in Selbstmitleid. Keine Singschwäne heute. Keine Kornweihen.
Im Licht des späten Nachmittags, bei auflandigem Wind, fahren wir von Ballycastle an der nordöstlichen Küste mit der Fähre die wenigen Seemeilen nach Rathlin Island. Lummen und Möwen zerwühlen die Luft mit Schnattern und Kreischen. Ich bin heftig aufgeregt.
Heute ist mein Geburtstag, und ich lag heute Morgen bis zu meiner genauen Geburtszeit (11:20 Uhr) einige Stunden noch wach im Bett und lauschte einem schreienden Fuchs in der Ferne. Schon die ganze Woche war ich so heftig aufgeregt, nervös, aus Gründen, die ich nie richtig verstehen werde. Vielleicht weil ich neue Orte liebe und gleichzeitig hasse. Die Gerüche, die Geräusche. Dinge, die sonst niemand bemerkt. Auch die Menschen. Welche Dinge in Ordnung sind und welche nicht. Kleine Dinge, zum Beispiel, wie wir uns für die Fähre anstellten, was von mir auf Rathlin bei unserer Ankunft erwartet würde. Obwohl ich nach jeder Reise in meinem Kopf immer die übliche Aufräumaktion mache, zurückschaue und normalerweise denke, wie albern das alles war, strömen dennoch die Ängste herein. Mum beteuert, dass wir die Zeit auf Rathlin entweder draußen oder allein mit der Familie verbringen werden. »Alles wird gut«, sagt sie.
Bei unserer Ankunft versammeln sich Eiderenten im Hafen, und als wir uns zu der Hütte begeben, in der wir die nächsten paar Tage wohnen werden, mildert sich meine übliche Ablehnung neuer Umgebungen. Der Ort ist ein besonderer. Es fühlt sich hier so ruhig an. Die Luft ist frisch, die Landschaft in ihrem Überschwang außerirdisch. Kiebitze kreisen zu unserer Rechten, ein Bussard zu unserer Linken. Die Autofenster sind heruntergelassen, und die Geräusche durchziehen unsere Gliedmaßen, die von der dreistündigen Auto- und Fährfahrt ganz steif sind. Wir entspannen uns und strahlen, als in großer Zahl Hasen auftauchen und über uns Gänse schreien. Das Auto klettert über dem Meeresspiegel in den Westen der Insel hinauf.
Als wir unseren Schlafplatz erreichen, sieht er auf die Entfernung perfekt aus. Ein traditioneller Steinbau und meilenweit keine anderen Behausungen, und sobald wir da sind, springe ich aus dem Wagen, laufe herum und schaue mich um. Bald entdecke ich einen See mit Graugänsen und Reiherenten. Beim Umhergehen tauchen überall Hasen auf, meine Augen haben Mühe, mit all der Bewegung mitzukommen, und vor lauter Sinneseindrücken schwirrt mir das Gehirn.
Ich höre die Schreie der Seevögel in der Ferne. Tölpel fliegen am Horizont, das Kieksen von Klippenmöwen wird lauter. Ich bleibe stehen, schaue auf das Meer, wo sanft die Wellen strudeln, und durch den abendlich dämmernden Himmel fliegt eine Schar Blässgänse in Keilformation. Obwohl wir gerade erst hier angekommen sind und nur für ein paar Tage bleiben, mache ich mir schon Gedanken, wie leer ich mich fühlen werde, wenn es Zeit sein wird zu gehen. Ich spüre Panik.
Meine Kindheit, auch wenn sie wunderbar war, ist immer noch voller Fesseln. Ich bin nicht frei. Das tägliche Leben besteht aus vollen Straßen und Menschenmassen. Fahrplänen, Erwartungen, Stress. Ja, es gibt auch unbändige Freude, aber gerade jetzt und hier, an diesem außergewöhnlichen und schönen Ort, so voller Leben, wächst in meiner Brust eine schreckliche Angst. In Trance kehre ich zur Hütte zurück, sehe in goldenen Feldern Schatten huschen.
Nach dem Abendessen bricht aus allen Himmelsrichtungen Gesang hervor, wir halten im Halbdunkel inne und horchen. Sobald ich jede Melodie für sich heraushöre, fühle ich mich plötzlich verwurzelt. Spiralen der Feldlerche. Harmonien der Amsel. Sprudeln des Wiesenpiepers. Das Worfeln der Schnepfenflügel. Und immer dabei die Seevögelschreie. Wir sind in einer anderen Welt. Keine Autos. Keine Menschen. Nur wilde Tiere und die Großartigkeit der Natur.
Mein bester Geburtstag.
Und der Vollmond strahlt hinter den Wolken hervor, als wir über entfernten Häusern Venus beobachten, und ich stehe da mit tauben Händen und tauber Nase, aber loderndem Herzen. An solchen Orten kann ich glücklich sein. Ich wickle meinen Mantel eng um meine Brust, sauge das alles in mich ein, möchte noch nicht ins Bett, lagere diesen Moment in meinem Geheimversteck bei all den anderen Erinnerungen ein. Wenn die Armee der Ängste dann angestampft kommt und mich überfällt, bin ich bereit zum Kampf, bewaffnet mit den wilden Schreien von Rathlin Island.
Nach einem Abend mit gutem Essen, Musik und Vogelgesang, der mir immer noch im Kopf schwirrt, erwache ich bei vielversprechendem Wetter: Zwischen den Wolken bricht es blau hervor. Die Morgensee ist glatt und blendend. Es ist Ostersonntag, und wir wollen heute zum RSPB Rathlin West Light Seabird Centre gehen, einem Vogelbeobachtungszentrum am Sitz der größten Seevogelkolonie in Nordirland – und zudem nicht weit von unserer Hütte entfernt.
Vor dem Frühstück renne ich mit Bláthnaid und Lorcan herum und suche die Schokoeier, die Mum und Dad in den Ritzen und Spalten einer Trockenmauer, unter Steinen und hinter Grasbüscheln versteckt haben. Hier ist es so anders als in unserem kleinen Vorstadtgarten, wo die Eier sich zu einfach finden lassen. Wir kreischen und rennen voll zügelloser Begeisterung. Hier müssen wir uns nicht kontrollieren: Niemand ist sonst da, meilenweit!
Wir wandern los nach Westen, Feldlerchen sind unser Sonntagschor, die Landschaft wie immer unser Andachtsort. Es ist böig, aber heiter. Ich entdecke zwei Graugänse, die am abgelegenen Ufer des Sees Gras rupfen und die, als wir dort entlangkommen, bereits zu acht sind und ganz in unserer Nähe herumwatscheln. Sie zeigen keine Scheu.
Bei unserer Ankunft am Vogelbeobachtungszentrum merken wir, dass wir eine halbe Stunde zu früh sind, so eilig haben wir es gehabt herzukommen. Wir treffen auf Hazel und Ric – die seit einem Jahr auf der Insel leben, unglaublich viel Wissen über die wilden Tiere haben, es mit Begeisterung teilen und sehr warmherzig und freundlich sind. Ich sage nicht viel, aber das ist bei mir nicht ungewöhnlich. Dafür lächle ich und nicke immer, außer wenn es um Vögel geht. Doch sogar dann, obwohl ich äußerlich entspannt wirke, bin ich es nicht. Ich fühle mich mittendrin eingeklemmt. Ich versuche, Gesprächen zu folgen, Nuancen zu beachten, Gesichtsausdrücke, Tonlagen. Das wird mir oft zu viel, dann drifte ich ab. Mein Herz schlägt zu schnell. Manchmal gehe ich von Leuten weg, ohne es zu merken. Das kann alles ganz schön peinlich sein.
Hazel und Ric gehen mit uns zu den Steinstufen, die zur Vogelkolonie hinunterführen. Mum und Dad lassen sich zu ausführlichem Erwachsenengeplauder mit Hazel und Ric hinreißen – alles unnötige Formeln und Hülsen, wie ich finde. Ich gehe ein Stück voraus, beginne mit den vierundneunzig sich schlängelnden Stufen, die langsam die Sicht auf eine zerklüftete Felswand freigeben, an der es von Klippenmöwen und kreisenden Eissturmvögeln wimmelt, die sich drehen, umherwerfen lassen und in der Luft tanzen. Der Anblick macht mich innerlich zappelig. In einem plötzlichen Anfall von Begeisterung renne ich die restlichen Stufen hinunter und hinüber zur Aussichtsplattform. Ich kann Unmengen von Lummen sehen! Die Schreie aufgeregter Vögel explodieren in meiner Brust. Mit zittrigen Händen leihe ich mir ein Stativ von Ric, setze mein Fernrohr auf und schaue angestrengt aufs Meer.
Nach nur wenigen Suchmomenten bekomme ich die schwarz-weiße Tracht eines Tordalks in den Fokus. Er wackelt auf den Wellen und bleibt erstaunlicherweise trotz der aufgewühlten See mit den anderen Vögeln seiner Gruppe in fester Formation. Diese Vögel sehen so klug aus, sogar wenn sie im Meer schwanken. Ich entdecke einen stromlinienförmigen Basstölpel (unseren größten Meeresvogel) am Himmel, der elegant herumschwenkt – er kann erstaunliche hundert Stundenkilometer schnell werden, wenn er sich auf der Jagd nach Nahrung ins Wasser stürzen lässt, aber dieses Schauspiel habe ich noch nie gesehen. Basstölpel sind schöne Vögel, haben bemerkenswerte Augen, jugendstilartige Linien und knapp zwei Meter Spannweite. Einen bekomme ich mit dem Fernrohr zu sehen, so halb. Überall erschallt das Kichern und Knarren der Eissturmvögel, als würden Hexen die Klippen und alles Getier darauf verfluchen. Sie sind ziemlich lustige Vögel, die ein widerliches, leuchtend gelbes Öl ausspeien, um Nesträuber abzuhalten. Mir erscheinen sie seltsam zart, und ich schaue ihnen gerne zu, wenn sie landen. Eine solche Landung ist faszinierend, hypnotisch. Der gekreischte Soundtrack passt perfekt dazu. Es gibt keine Papageientaucher, aber die hätte ich auch noch nicht erwartet.
Heute ist es unglaublich warm, und ich bin so froh, so in Frieden. Bláthnaid und Lorcan werden allerdings ein bisschen unruhig – nicht jeder hat für die Vogelbeobachtung Geduld. Ich bekomme die Möglichkeit, länger zu bleiben, aber gehe mit dem Rest der Familie zu einem Mittagspicknick. Es fällt mir so schwer wegzugehen, aber wir vereinbaren, dass wir noch mal zurückkommen, bevor wir die Insel verlassen.
Am Nachmittag wandern wir zum schönen Kebble Cliff. Pfotenabdrücke von Hasen im Schlamm zeigen ihre leicht- und tieffüßigen Kapriolen. Sie sind wieder überall. Geheimnisvoll tauchen sie hinter Grasbüscheln auf, sitzen eine Weile da, als nähmen sie uns in Augenschein, dann verschwinden sie. Bussarde und Raben kommen, zeitweise, suchen, kreisen, zu verschiedenen Tageszeiten, und ein Wanderfalke taucht auf, saust herab, ist nicht mehr zu sehen. Wir scheuchen beim Gehen Schnepfe und Waldschnepfe auf, ihr verängstigtes Fliehen überrascht und beglückt uns. Feldlerchen und Wiesenpieper schrauben sich weiter in die Lüfte, steigen auf, ihr Gesang reicht bis in jeden Teil meines Wesens, schlängelt sich empor. Alles, was jetzt noch fehlt, ist das Flattern von Schmetterlingen, das Vorbeischießen von Libellen. Das Summen des Frühlings. Ich bleibe still stehen, stelle mir vor, wie es klingen könnte. Ich gelobe zurückzukommen, wenn es wirklich so weit ist, im Mai. Was für ein Tag!
Müde vom Wandern und Erkunden fahren wir zum Pub, essen zu Abend und spielen Billard. Ich fange an, jeden Moment in meinem Kopf zu speichern, damit ich in einer Woche oder in einem Monat, zu irgendeinem unbekannten Zeitpunkt in der Zukunft, wenn ich das gute Gefühl mal wirklich brauche, mir die Details in Erinnerung rufen kann. Die fast nixenschwanzförmige Insel hat mich in ihren Sirenenbann geschlagen. Ich bin vollkommen bezaubert. Sie ist nur zehn Kilometer lang und anderthalb Kilometer breit, bietet aber so viel – und wir haben davon nur einen Bruchteil gesehen.
Mum und ich legen die letzten ein, zwei Kilometer vom Pub zur Hütte zu Fuß zurück, um nach dem seltenen Pyramiden-Günsel Ausschau zu halten, vergebens. Als ich unsere Hütte sehe und wie perfekt sie aussieht, tut mir das Herz weh. Morgen ist unser letzter ganzer Tag.
Erholsamer Nachtschlaf ist für mich nichts Gewöhnliches. Mir fällt es schwer, so viel von unserer überwältigenden Welt zu verarbeiten und auszublenden. Die Farben auf Rathlin sind größtenteils natürlich und im Licht des Vorfrühlings noch gedeckt, also Farbtöne, die ich gut vertrage. Grelle Farben rufen eine Art Schmerz bei mir hervor, greifen meine Sinne körperlich an. Lärm kann unerträglich sein. Natürliche Geräusche sind leichter zu verarbeiten, und auf Rathlin gibt es nur solche. Mein Körper und mein Geist sind hier in einer Art Gleichgewicht. Das spüre ich sonst nicht so oft. Das heißt, ich kann mit mir und meiner Familie wieder in Kontakt kommen, was normalerweise schwierig ist, weil das Leben anstrengend und hektisch werden kann. Hier gehe ich gemächlich. Schaue mir stundenlang Vögel an, ganz ungestört. Ich kann gehen, wohin ich will. Kann forschen. Es gibt hier auch keinen Müll, nichts Unappetitliches – es sei denn, man findet Tierkacke ganz schlimm. Meine Neugierde zieht mich an Orte wie diesen, wo ich die Eierschalen geschlüpfter Lummen und Tordalke sammeln kann (die Beute des letzten Jahres wurde von den Raben gestohlen), Rocheneier, Muscheln und Knochen. Zu Hause haben wir die sogenannte »Fermanagh-Zeit«, in der das Leben langsamer zu sein scheint als an den meisten anderen Orten. Aber die Fermanagh-Zeit ist nichts im Vergleich zur Rathlin-Zeit, die noch angenehmer ist und noch freier fließt.
Der Wind und der graue Himmel, die uns am Morgen begrüßen, hindern Lorcan, Bláthnaid und mich nicht daran, doch hinauszurennen. Der Wind schlägt uns in die ungeschützten Gesichter, unsere Augen und Münder füllen sich mit Salz und Frische. Sogar der schwarz-graue Himmel enthält hier unheimlich viel Licht und Raum und Farbe. Er hat nicht die Schwere eines Vorstadthimmels, vielleicht einfach, weil er so viel Platz hat. Wir nehmen noch einmal genau den See unter die Lupe, an dem gestern die Graugänse waren. Wir rennen und rennen. Heute Morgen sehen wir keine Hasen. Sie hocken wahrscheinlich im Verborgenen, sitzen den Sturm aus. Der See bebt vor lauter Wind, ist aber frei von Vögeln.
Geknickt und atemlos kommen wir zurück zur Hütte und bekommen von Mum gesagt, dass keine Fähre fährt. Freude! Ich hoffe, das Wetter wird niemals besser werden, und träume davon, auf Rathlin gestrandet zu sein. Beim Frühstück erinnere ich alle an die Abmachung, noch einmal zum Vogelbeobachtungszentrum zurückzukehren, bevor wir die Insel verlassen, aber statt durch die Regenschauer zu laufen, sind wir uns einig, die kurze Strecke zu fahren.
Heute sind dort weniger Vögel: Eine kleine Gruppe Tordalke wackelt auf der turbulenten See, ein Paar Mantelmöwen. Trotz des schlechten Wetters hebe ich den Kopf zum Himmel und atme die kleinsten Einzelheiten ein. Ein einsamer Basstölpel senst durch den Himmel, und seine kanternden Schreie synchronisieren sich mit meinem Herzschlag – Orkadier (die Bewohner*innen der Orkneyinseln) nennen sie auch Sonnengans –, und auch im fallenden Regen spüre ich die Wärme seiner klagenden Rufe. Allzu bald legt sich Mums Hand auf meine Schulter – ich habe nicht gemerkt, wie viel Zeit vergangen ist.