Der Teilzeitjob in einer Videothek verspricht endlich den Neubeginn, den Joel so lange herbeigesehnt hat. Nach jahrelanger Therapie will er die Vergangenheit hinter sich lassen. Seine neue Stelle scheint perfekt dafür: Dort darf er sich sogar einen anderen Namen geben — »Solo«, wie aus seinem Lieblingsfilm Star Wars. Endlich ein unbeschriebenes Blatt sein. Er punktet bei den Kollegen mit Ratschlägen, die er sich von Motivationspostern borgt, und freundet sich mit der schlagfertigen Nicole alias »Baby« an, die seine Filmliebe teilt. Doch zu einer Freundschaft gehört auch Offenheit, und Nicole ahnt, dass Joel etwas verschweigt. Er muss sich entscheiden: Gibt er mehr von sich preis — oder setzt er ihre Freundschaft aufs Spiel?
Lisabeth Posthuma
Baby & Solo
Aus dem Englischen von Sophie Zeitz
Carl Hanser Verlag
Für JLB
Royal Oak, Michigan — August 1996
»Ich glaube, Joel ist so weit«, fasste Dr. Singh zusammen.
Ich saß aufrecht auf der Liege, denn es ging um mein Gehirn, nicht um den Rest meines Körpers. Es waren nicht genug Stühle da, und weil ich offiziell immer noch Patient war, musste ich die Untersuchungsliege nehmen.
»Ich weiß nicht, wie ich das finde, Dr. Singh«, entgegnete meine Mutter. »Da gibt es gar kein Sicherheitsnetz für den Fall, dass er rückfällig wird.«
Ich hasste das Wort. Rückfällig. Als wäre ich ein Junkie.
»Es hat seit fast zwei Jahren keinen Vorfall mehr gegeben.« Vorsichtshalber warf Dr. Singh einen Blick in meine Akte, aber es stimmte. Seit ich fünfzehn war, hatte die Macke, wegen der ich hier war, keinen Ärger mehr gemacht. »Ich glaube, es ist Zeit, dass er das Leben ausprobiert, Mrs Teague.«
Mom machte ein finsteres Gesicht. »Sollten wir es nicht lieber mit einem anderen Medikament versuchen?«
»Ich bin so weit, Mom«, mischte ich mich ein, obwohl ich nicht gefragt worden war. Ich war es gewohnt, dass über mich statt mit mir geredet wurde.
Mein Vater sagte nichts, aber er drückte Moms Hand. Sie seufzte. »Was heißt das überhaupt, ›das Leben ausprobieren‹?«, fragte sie. »Sie meinen ja wohl nicht, dass er mit dem Rucksack durch Europa trampt?«
»Wäre das etwas, was dich interessieren würde, Joel?« Offenbar hielt Dr. Singh Moms absurde Idee für eine ernst gemeinte Option. »Ein Abenteuer könnte Joels Genesung sehr zugutekommen.«
Meine Eltern sahen ihn entsetzt an.
Ich spielte kurz mit dem Gedanken, so zu tun, als hätte ich schon immer davon geträumt, in Pamplona mit den Stieren zu laufen, aber meine Eltern hatten schon genug mitgemacht. Das Schlimme, das passiert war, war schließlich auch ihnen passiert. Außerdem teilte ich Dr. Singhs Meinung nicht. Meine Macke war Abenteuer genug für mich.
»Mir wäre es ganz recht, das Leben erst mal in kleineren Dosen auszuprobieren, bevor ich auf Weltreise gehe«, sagte ich zur sichtlichen Erleichterung meiner Eltern.
»Was schwebt dir vor?«, fragte Dad. Falls jemand bei Diskussionen über meine Psyche an meiner Meinung interessiert war, dann Dad. »Worauf hast du Lust? Mannschaftssport vielleicht?«
Die Unbestimmtheit seines Vorschlags zeigte, wie schlecht Dad mich kannte.
»Vielleicht«, sagte ich. »Mal sehen.«
»Wenn du dich ins normale Leben integrierst, musst du dir konkrete Ziele setzen«, gab Dr. Singh zu bedenken. »Wir brauchen einen Plan, bevor du heute gehst. Und ich werde dranbleiben und dafür sorgen, dass du den ersten Schritt, den wir uns hier überlegen, auch wirklich machst.« Dann zitierte er den Spruch, der auf dem Motivationsposter hinter ihm an der Wand stand: »Es ist nie zu spät, das zu werden, was man hätte sein können.«
Motivationsposter gehören zur Grundausstattung in der Jugendpsychiatrie. Meistens prangt ein schnulziger Sinnspruch über einer erhabenen Berglandschaft, einem Wurf Welpen und/oder Kätzchen oder — warum auch immer — Charlie Brown.
Charlie Brown. Aus irgendeinem Grund war der Junge, der von seinen sogenannten Freunden so schlimm gehänselt wurde, dass ihm nicht mal Haare wuchsen, das (buchstäbliche) Aushängeschild von Generationen psychisch kranker Kinder und Jugendlicher auf der ganzen Welt. Gewöhnlich war sein Bild mit anbiedernden Slogans versehen wie: »Mit Entschlossenheit ist alles möglich!«, oder: »Du hast dein Schicksal in der Hand!«, oder am schlimmsten: »Gib niemals auf!« Auf dem Gib-niemals-auf-Poster sieht man Lucy, die herzlose Ziege, die Charlie den Ball wegnimmt, als er ihn gerade kicken will. In der gesamten Peanuts-Geschichte gelingt es Charlie Brown nicht ein einziges Mal, den verdammten Ball zu kicken, weil Lucy ihm den Ball immer, immer, immer im letzten Moment wegnimmt. Aber denk dran: »Gib niemals auf!«
Mein Vater sah Dr. Singh an. »Was halten Sie davon, wenn er sich einen Job sucht? Einen Freizeitjob mit anderen Jugendlichen in seinem Alter?«
»Gute Idee«, stimmte meine Mutter überraschenderweise zu.
Ohne meine Meinung abzuwarten, antwortete der Arzt: »Ausgezeichnet. Das nehmen wir uns zum Ziel!«
»Okay.« Achselzuckend willigte ich ein. Ein Job klang jedenfalls attraktiver als Sport. Erstens bekam ich Geld dafür. Zweitens war ein Job bloß ein Job. Wenn du beim Sport dein Team im Stich lässt, bist du ein Verräter, aber Jobs kann man jeden Tag kündigen, und keiner regt sich auf. Das war NORMAL, und seien wir ehrlich, NORMAL war mein Ziel. Früher war ich schließlich auch NORMAL gewesen. Vielleicht musste ich mich nur eine Weile zum Mindestlohn in den Dienst meiner Mitmenschen stellen, um wieder NORMAL zu werden. Den Versuch war es wert.
»Ich peppe gleich meinen Lebenslauf auf.«
Ab da hatten alle ein Lächeln im Gesicht, selbst wenn ich wusste, dass das meiner Mutter künstlich war.
Der Arzt setzte mir eine Frist von zwei Wochen, um ein Vorstellungsgespräch klarzumachen. Das schrieb er auf einen Rezeptblock und reichte mir den Zettel, als hätte er mir ein Antibiotikum verschrieben.
Ich bedankte mich, und wir verließen die Praxis. Es war das erste Mal seit sieben Jahren, dass ich die Hoffnung hatte, ich müsste vielleicht eines Tages nicht mehr herkommen.
»Also, warum willst du Teil des Teams von ROYO Video werden?«, las Jessica Morrison, die Managerin der Videothek, von ihrem Formular ab.
Das Gespräch mit Dr. Singh war kaum eine Woche her, und ich hatte schon ein Vorstellungsgespräch organisiert. Na ja, eigentlich hatte es meine Mutter organisiert. Jessica war die Freundin meines Cousins Devin und wohnte bei ihm, und als Mom Devin erzählte, dass ich einen Job suchte, vermittelte er mich weiter.
»Ich schaue gerne Filme«, schien mir die beste Antwort zu sein. Ich wollte ihr nicht auf die Nase binden, dass mein Psychiater mir verschrieben hatte, mich auf den Arbeitsmarkt zu begeben.
Jessica notierte meine Antwort. »Auf was für Filme stehst du?«
Ich starrte ihre schreibenden Hände an, weil mich jede andere Stelle ihres Körpers aus dem Konzept gebracht hätte. Jessica hatte Kurven und Rehaugen und war eindeutig Postermaterial, und ich war siebzehn, hatte gerade die libido-senkenden Medikamente abgesetzt, die ich während meiner bisherigen Jugend genommen hatte, und war keineswegs immun gegen ihre Reize. Und da lechzende Blicke meine zukünftige Vorgesetzte wahrscheinlich nicht davon überzeugten, dass ich der Richtige wäre, behielt ich sie für mich.
»Ich mag alle Filme — Action, Horror, Komödien.« Ich richtete den Blick auf den Boden und dann wieder auf ihre Hände.
Jessica trug in das Formular »alle« ein.
»Cool«, sagte sie. »Wo siehst du dich in fünf Jahren?«
»Nächstes Jahr mache ich den Schulabschluss. Dann gehe ich vielleicht aufs College.« Eigentlich hatte ich nicht vor zu studieren, aber ich sagte es trotzdem. Schließlich war es nie zu spät, das zu werden, was man hätte sein können.
»Ah, okay. Toll.« Sie schrieb wieder etwas hin. »Weißt du was?«, sagte sie dann. »Warum füllst du den Rest des Formulars nicht selber aus? Devin hat gesagt, du bist cool, und du kannst abends und am Wochenende arbeiten. Das reicht mir.« Sie wollte mir gerade den Papierkram rüberschieben, aber dann zögerte sie. »Warte mal … Du bist nicht mehr krank, oder?«
»Krank …?« Ich ahnte, worauf sie hinauswollte.
»Devin meinte, du hattest Leukämie oder so was, als du klein warst«, sagte sie. »Ist das noch aktuell?«
»Anämie«, berichtigte ich ihr ehrliches Missverständnis meiner Standardlüge. »Und nein, alles wieder gut.«
Es war Mom gewesen, die sich diese Ausrede für meine Macke ausgedacht hatte. Auf der Suche nach einer ernsten, aber nicht zu ernsten Diagnose im medizinischen Wörterbuch, mit der sie meine Klinikaufenthalte und Schulfehlzeiten vertuschen könnte, war Anämie die erste Krankheit im Alphabet gewesen, die glaubhaft klang.
Jessica nickte und händigte mir die Papiere aus. Dann legte sie ein Schlüsselband mit einem Plastiknamensschild auf den Tisch. »Du kannst morgen anfangen, oder? Komm um fünf.« Sie zog die Kappe eines schwarzen Markers ab und setzte ihn auf der Linie unter HI, ICH BIN an. »Wie willst du genannt werden?«
»Ich heiße Joel«, erinnerte ich sie. Ich nahm es ihr nicht übel, dass sie meinen Namen vergessen hatte. Frauen wie sie mussten sich keine Namen merken.
Jessica schüttelte den Kopf, und im Ausschnitt ihres Tops blitzte ein BH-Träger auf. Grün.
Der BH, nicht das Top. An die Farbe des Tops erinnere ich mich nicht.
»Nein. Wir benutzen hier nicht unsere echten Namen«, erklärte sie. »Regel meiner Eltern.«
Ich wusste von Devin, dass der ganze Häuserblock, in dem sich ROYO Video befand, den Morrisons gehörte, aber mehr wusste ich nicht über sie. Ich fand es seltsam, dass sie von ihren Angestellten verlangten, Decknamen zu benutzen, aber egal. Es war mein erster Job, was wusste ich schon? »Na ja, ich fand den Namen Mike immer gut …« Mike war ein ganz NORMALER Name. Ich könnte ein Mike sein.
»Was? Nein.« Jessica lachte. »Du musst dir eine Filmfigur aussuchen. Damit die Leute Lust auf Videos kriegen. Unterschwellige Werbung.«
»Ach so.« Klang irgendwie logisch. »Heißt das, dass du in der Videothek auch nicht Jessica bist?«
»Im Dienst bin ich Scarlet.« Sie zeigte auf ihr Namensschild, das ich nicht gelesen hatte, weil es zwischen ihren Brüsten hing. »Wegen Scarlett O’Hara.«
Ich hatte Vom Winde verweht nie gesehen, aber plötzlich interessierte mich der Film.
»Wir haben einen Dirty Harry — das ist mein blöder kleiner Bruder Scott. Und den Paten, Mary Poppins, Hannibal und Baby.«
»Baby?«
»Aus Dirty Dancing.« Jessica-Scarlet sah mich verächtlich an, wie alle Mädchen, wenn man Wissenslücken bei Dirty Dancing aufwies.
»Ach so. Nie gesehen.«
»Du hast was verpasst.«
Das bezweifelte ich. »Gibt es eine Liste, wo man sich einen Namen aussuchen kann?«
»Nein — du darfst nur keinen nehmen, der schon vergeben ist«, sagte sie und wackelte ungeduldig mit dem Marker. »Also?«
Ich versuchte, schnell zu denken. Mir fielen James Bond, Rocky Balboa und RoboCop ein, aber die waren zu verwegen für einen Typen wie mich, der frisch aus der Klapse kam. Jack Nicholsons Figur in Einer flog übers Kuckucksnest wäre passend gewesen, aber von der fiel mir der Name nicht ein.
»Was ist denn dein Lieblingsfilm?«, hakte Jessica-Scarlet nach.
»Star Wars.«
Sie war unbeeindruckt. »Ja, und? … Luke Skywalker?«
»Nein.« Plötzlich hatte ich doch eine Meinung. »Han Solo.«
»Okay.« Sie schrieb in feuchten schwarzen Buchstaben HANS SOLO auf das Schild und wedelte damit herum, bis es trocken war. »Aber Skywalker klingt viel sexyer.«
Ich hätte den Schreibfehler berichtigt, aber das Wort »Sex« hatte mich abgelenkt.
»Willkommen bei ROYO Video, Hans«, sagte Scarlet und reichte mir das Namensschild. »Komm morgen vorbei. Frag nach Baby. Sie weist dich ein.«
»Ich werde da sein.«
Als ich am nächsten Nachmittag zum Dienst erschien, begrüßte mich Mary Poppins.
»Nenn mich Poppins«, sagte sie nachdrücklich und schüttelte mir die Hand. Sie lächelte auf eine Art, die ich als flirtend einstufte.
Poppins hatte weißblond gefärbtes Haar und war solariumgebräunt. Außerdem war sie stark geschminkt, so stark, dass ich nicht sagen konnte, wie ihr Gesicht ohne Make-up aussah. Die Menge an Eyeliner und Lippenstift war meiner Erfahrung nach ein Zeichen für Komplexe, und mit komplexbeladenen Mädchen hatte ich nur schlechte Erfahrungen gemacht.
Ich lächelte höflich zurück. »Ich schätze, du kannst mich Han Solo nennen.«
Poppins lachte. »Oder lieber Hans?« Sie zeigte auf mein Namensschild.
»Das war Jessica. Ich wollte ihr nicht zu nahe treten.«
»Jessica?« Poppins zog die Braue hoch. »Du nennst die Chefin beim Vornamen?«
»Oh, sorry. Ich meinte Scarlet. Ich dachte, die Decknamen gelten nur für die Kundschaft.«
Poppins zuckte die Achseln. »Mach es, wie du willst, aber die meisten von uns sind froh, wenn sie bei der Arbeit nicht sie selbst sein müssen.«
Wenn man es so sah, gefiel mir die Idee mit den Pseudonymen. Sehr sogar.
Poppins holte einen Marker, eine Flasche Nagellackentferner und ein paar Wattebausche aus dem Schrank. »Und, Han Solo, wo gehst du zur Schule?« Sie griff nach meinem Namensschild. »Ich bin auf der Kimball.«
»Einzugsgebiet Dondero Highschool.« Was zwar stimmte, doch ich war nicht auf der Dondero. Wegen meiner Klinikaufenthalte hatte ich so viel Stoff versäumt, dass ich mehrere Jahre hinterher war, und am Ende war ich nicht mehr zur Schule gegangen, weil es zu demütigend gewesen war, der einzige Fünfzehnjährige in der siebten Klasse zu sein. Seitdem schickte die Schulbehörde einen Tutor zu mir nach Hause, einen Collegeabsolventen namens Mr Moser. Ich nannte ihn Tim. Zum Glück war das Lernen mein geringstes Problem, und ich brauchte nicht viel Nachhilfe. Meistens beaufsichtigte Tim nur meine Prüfungen, und ansonsten unterhielten wir uns über Seinfeld oder spielten Tekken.
In den letzten zwei Jahren hatte ich so weit aufgeholt, dass ich im Herbst theoretisch wieder in meine Jahrgangsstufe gehen könnte. Was ich aber nicht vorhatte.
»Hat die Dondero nicht eine Eiche als Maskottchen?«
Ich war überfragt, aber um keinen Argwohn zu erwecken, sagte ich einfach: »Ja.«
»Wie langweilig.«
Allerdings. Die Eiche war auch das Symbol unserer Kleinstadt Royal Oak. Ich reichte Poppins mein Namensschild.
Im hinteren Teil des Ladens schlug eine Tür zu, und plötzlich war das unverwechselbare Geräusch zu hören, wenn sich jemand die Seele aus dem Leib kotzte.
Eine Sie, schätzte ich. Es klang wie Mädchenwürgen.
Poppins tropfte etwas Nagellackentferner auf den Wattebausch. »Ignorier es. Das ist bloß Baby.«
»Woher weißt du das?« Merkwürdiges Talent, Leute anhand ihres Würgens zu identifizieren.
»Weil es immer Baby ist, Hans.« Sie rieb mit dem Wattebausch auf dem Plastikschild herum, bis der Marker nicht mehr zu sehen war. »So. Wie neu.«
Wieder schlug die Tür zu, dann kam die Würgerin durch den Flur in den Laden.
»Hey, Poppins«, seufzte ein bleiches Mädchen mit geröteten Wangen. »Hey … Neuer.«
Bevor ich mich vorstellen konnte, senkte Poppins die Stimme. »Wir haben alles gehört …« Sie steckte sich pantomimisch den Finger in den Hals.
Das Mädchen sah mich an. »Na und? Essstörungen sind voll in, und ich bin gerne auf der Höhe der Zeit.«
Ich musste ihr recht geben. Aus Jahren der Gruppentherapie wusste ich, dass Essstörungen tatsächlich im Trend lagen. Nur dass die meisten Essgestörten, die ich kannte, nicht stolz darauf waren.
»Baby, ich mache mir langsam echt Sorgen um dich. Du bist schon dünn genug«, sagte Poppins. »Sei einfach zufrieden mit dem Körper, den du hast.«
Der Rat war der typische Nebenrollensatz einer pädagogisch wertvollen Nachtmittagssendung und konnte nur von jemandem kommen, der keinen Schimmer von der Komplexität von Essstörungen hatte.
Die Würgerin, die sich als Baby entpuppt hatte, reagierte mit angemessenem Sarkasmus: »Vielen Dank, Poppins! So hatte ich es noch gar nicht gesehen. Ich hole mir gleich ein Stück Torte!« Dann begann sie, die Videos aus den Rückgabe-Eimern einzulesen.
Poppins zuckte die Schultern und wechselte das Thema. »Bist du Hans schon offiziell vorgestellt worden?«
Baby kniff die Augen zusammen. Ihre Augen waren grün, was bemerkenswert war. Für mich zumindest.
»Hans? Alan Rickman in Stirb langsam?«, fragte sie.
Ich sah Poppins von der Seite an. »Nein — eigentlich Han Solo.«
»Der heißt doch nicht Hans«, schnaubte Baby. »Er heißt Han. H-a-n.«
»Das wissen wir, Baby. Scarlet hat es falsch auf sein Namensschild geschrieben.«
Sie verdrehte verächtlich die Augen. »Ach, die Scarlett O’Hara, die sogar ihren eigenen Namen falsch schreibt? Überrascht mich kein bisschen.«
Poppins flüsterte mir zu: »Nur zur Info — Baby hasst Scarlet.«
»Was gibt es da zu mögen?« Baby nahm sich ihr Namensschild aus dem Schrank und hängte es sich um den Hals. In kühnen schrägen Großbuchstaben stand der Name BABY darauf. »Mal ehrlich, wenn sie schon behauptet, Scarlett O’Hara wäre ihre Lieblingsfilmfigur, dann sollte sie wenigstens den Anstand haben, den Namen mit Doppel-t zu schreiben.«
Der Punkt ging an Baby, auch wenn es eine schwache Rechtfertigung war, jemanden zu hassen.
»Ich bezweifle, dass Scarlet Vom Winde verweht je gesehen hat«, fuhr Baby fort. »Der Film basiert auf einem Buch ohne Bilder, und wir wissen, dass Lesen nicht Scarlets Hobby ist. Wahrscheinlich hat sie bloß ein Filmplakat gesehen, auf dem Vivien Leighs Brüste aus dem Korsett quellen, und gedacht: Hey, die sieht aus wie ich!«
Poppins warf mir einen Blick zu. »Weißt du, was ich meine, Hans? Baby hasst sie.«
»O Gott, jetzt reicht’s aber mit dem Hans!« Baby riss mir das unbeschriebene Namensschild aus der Hand. Dann schrieb sie in Großbuchstaben SOLO in das leere Feld und warf das Schild zurück zu mir.
Solo. Das gefiel mir. Besser als Hans. Und als Han. Und als Mike.
»Hey, danke«, sagte ich.
»Solo.« Poppins runzelte die Stirn. »Klingt irgendwie einsam.«
»Tja, und Poppins klingt irgendwie wie eine Stripperin, die aus einer Torte springt«, gab Baby zurück.
Poppins lächelte trotzig. »Und dein Name klingt, als wärst du ein Säugling.«
Baby sah nicht einmal von ihren Videokassetten auf. »Autsch. Den Hieb werde ich noch Wochen spüren.«
Poppins seufzte. Ihre Schicht war vorbei, und sie packte ihre Sachen. »Na dann, viel Glück heute Abend. Nach dem Entschlacken hat Baby immer schlechte Laune.«
Baby überließ Poppins das letzte Wort und winkte nur ab.
Als Poppins ging, wurde es still im Laden, und Baby räumte geräuschvoll Videokassetten weg. Ich wartete, dass sie das Wort an mich richtete, aber sie tat es nicht. Sie arbeitete einfach um mich herum, als wäre ich nicht da.
»Gibt es etwas, was ich über den Job in der Videothek wissen sollte?«, war mein Versuch, sie an meine Existenz zu erinnern.
Statt einer Antwort kramte Baby in einem Schrank, zog ein zerfleddertes Ringbuch heraus, auf dem in Scarlets Handschrift »Orientirung für Neue« stand, und legte es auf die Theke.
»Lies das«, sagte sie.
Ich wartete auf eine weitere Erklärung, aber es kam keine. »Das war’s? Ich lese mir einfach den Ordner durch, und dann weiß ich alles, was ich über die Welt der Videoleihe wissen muss?«
Baby holte tief Luft und seufzte. »Hör zu, Solo, ich habe echt keinen Bock, heute bei irgendwem Händchen zu halten. Dieser Job ist ein Arschrunzeln. Du musst dir mehr Mühe geben, Scheiße zu bauen, als keine Scheiße zu bauen.« Sie ging zurück zu den Regalen. »Ach, und Spoileralarm: Ich benutze viele Kraftausdrücke.«
»Alles klar«, sagte ich. Und dann, um ihr zu zeigen, dass ich verstanden hatte: »Scheißklar.«
Ich hatte auf ein Lächeln gehofft, aber es kam keins.
Immerhin lenkte sie etwas ein. »Wirklich, die größte Herausforderung an dem Job ist die Langeweile. Außer am Wochenende oder bei schlechtem Wetter herrscht hier meistens tote Hose.«
»Toll. Dann habe ich endlich Zeit, meine Biografie zu schreiben.« Auch der Witz ging unter.
Baby löste ihr braunes Haar aus dem Knoten, den sie oben auf dem Kopf trug, und es fiel ihr über den Rücken bis zur Taille, als sie es ausschüttelte. Dann kämmte sie es ein paarmal mit den Fingern durch, bevor sie es wieder auf dem Kopf zusammenknotete.
Die meisten Mädchen mit Essstörungen, die ich kannte, hatten keine dermaßen biblische Haarpracht, weil eins der ersten Opfer, die ein Körper beim Hungern bringt, die Haare sind. Kein Witz. Ich habe Teenager mit Magersucht gesehen, denen das Haar büschelweise ausfiel. Jemand mit Haaren wie Baby musste ein Neuling unter den Essgestörten sein.
Ich überlegte, ob ich sie vor dem Haarverlust warnen sollte. Vielleicht war ja die Tatsache, dass sie sich kahl kotzen konnte, der Anstoß, den Baby brauchte, um ihr Leben in den Griff zu kriegen, bevor es zu spät war. Andererseits war es vielleicht nicht NORMAL, ein Mädchen, das man gerade kennengelernt hatte, über die Nebenwirkungen der Magersucht aufzuklären. Wahrscheinlich wussten NORMALE Jungs so was nicht, deshalb hielt ich mich lieber raus.
»Ich fang dann mal an«, sagte ich stattdessen und schlug die erste Seite des Ringbuchs auf.
»Tu das.« Baby wartete einen Moment, bevor sie nachsetzte: »Ich gehe mich noch ein bisschen übergeben, und wenn wir beide fertig sind, zeige ich dir vielleicht den Rest.«
»Okay.«
Sie machte einen Bogen um mich, und Sekunden später hörte ich zum dritten Mal heute Abend die Tür zuschlagen, gefolgt von dem unverwechselbaren Geräusch, wenn sich jemand die Seele aus dem Leib kotzt.
Das Schulungsringbuch war stumpfsinnig und viel zu lang.
Seit dem Schlimmen, das passiert war, hatte ich eine merkwürdige Vorliebe für die einschläfernde Lektüre von Kleingedrucktem. Einmal hatte ich die gesamte Bedienungsanleitung meines Autos von vorne bis hinten durchgelesen, nur um mich von meiner Macke abzulenken, und das Ding war rekordverdächtig langweilig. Aber weil mein Kopf sowieso schon leer war und meine Macke seit über zwei Jahren Ruhe gab, fiel es mir schwer, mich auf Dinge wie Säumnisgebührenabrechnungen und Bestandsaufnahmeverfahren zu konzentrieren.
Trotzdem kämpfte ich mich weiter durch, während Baby sich abwechselnd um die Kundschaft kümmerte und Brechpausen auf dem Klo einlegte.
Die allgemeinen Sicherheitshinweise im ersten Teil des Ringbuchs waren mir geläufig — Notrufnummern, die Anschrift des nächsten Krankenhauses und so weiter. Da ich nur ein paar Kilometer entfernt wohnte, kannte ich mich in der Gegend aus. Ich war schon Hunderte von Malen an ROYO Video vorbeigefahren, aber ich hatte den Laden bis zu meinem Vorstellungsgespräch nie betreten.
Was nicht hieß, dass ich mir keine Videos lieh, aber ich war immer zu Blockbuster gegangen. Die Hauptstraße von Royal Oak war nicht wirklich mein Pflaster. In ROYO, wie die Gegend abgekürzt wurde, hingen die coolen Kids in meinem Alter ab, meistens im Coney Island und im Main Art Theatre. Aber ich hatte zurzeit keine coolen Freunde (oder überhaupt welche), und deswegen hatte ich auch keinen Grund, hier zu sein.
Ich merkte gleich, dass ROYO Video eine ganz andere Art von Laden war als Blockbuster. Ich meine, ja, auch hier gab es Regale mit VHS-Kassettenschachteln, Filmplakate an den Wänden, Süßigkeitenregale und einen Cola-Kühlschrank; die Grundausstattung jeder Videothek. Aber die Atmosphäre war völlig anders. Mehr Kiez, weniger Kette, schätze ich. Es gab handgemalte Schilder, ein Schwarzes Brett mit Nachbarschafts-Infos, und an der Tür hing sogar der Football-Kalender der Dondero Highschool. (Das Maskottchen war wirklich eine Eiche mit Gesicht. Wer hätte das gedacht?)
Jeder Quadratmeter war vollgestopft, und das gefiel mir. Ich fühlte mich wohl an engen Orten. Bis das Schlimme passiert war, hatten wir in einem kleinen Haus in einer vornehmlich weißen (wie wir), vornehmlich durchschnittlichen (auch wie wir) Mittelschichtssiedlung in Fairfax, Virginia, gewohnt. Nach dem Schlimmen waren wir in ein ähnliches Haus in einer ähnlichen Siedlung in Michigan gezogen.
Am Ende überflog ich den Großteil des Ringbuchs. Und während ich so tat, als würde ich lesen, behielt ich Baby im Auge, weil ich den Verdacht hatte, dass ich mir das, was ich wirklich über den Job wissen musste, besser bei ihr abschauen konnte. Denn wie es aussah, war sie ziemlich gut darin, wenn sie nicht gerade auf dem Klo war.
»Hallo, Mr Jansen! Oh, Sieben ist genau das Richtige für Sie. Das Ende hat mich echt fertiggemacht.«
»Tut mir leid, Ashley. Toy Story gibt es erst ab Oktober auf Video. Soll ich euch anrufen, wenn er da ist?«
»Hey, Wayne, das ist ungefähr das fünfte Mal diesen Monat, dass du Jumanji ausleihst. Willst du dir das Video nicht lieber kaufen? Das wäre vielleicht billiger.«
»Tut mir wirklich leid, Mrs Schwartz. Es sind fünfzehn Dollar Säumnisgebühr angelaufen, weil Ihr Mann Heat eine Woche länger behalten hat. Soll ich ihn vielleicht aus Ihrem Konto austragen?«
Baby kannte jeden, der an diesem Abend in die Videothek kam, und jeder schien sie zu mögen, selbst Mrs Schwartz, die, nachdem sie die Strafe beglichen hatte, tatsächlich darum bat, ihren Mann aus ihrem Benutzerkonto zu streichen.
Nach dem ersten Eindruck hätte ich nicht darauf gewettet, dass Kundenservice zu Babys Stärken gehörte. Doch sie war ein Naturtalent, obwohl sie die Hälfte der Schicht auf dem Klo verbrachte.
Irgendwie gab mir Babys Brechreiz sogar Hoffnung. Wenn sie mit ihrer Macke eine erfolgreiche Videoverleiherin sein konnte, kriegte ich es vielleicht auch irgendwie hin, jetzt, wo ich keine Macke mehr hatte.
»Wie läuft’s?«, erkundigte sich Baby, als gerade nicht viel los war. »Langweilst du dich schon zu Tode?«
»Ich habe eine Frage.« Ich hielt das Ringbuch hoch. »Da steht, wir sollen ›gepflegt und sportlich-elegant‹ bei der Arbeit erscheinen.« Ich schüttelte mir die langen braunen Strähnen ins Gesicht und zeigte auf mein Grunge-inspiriertes Outfit, das aus einem schmuddeligen T-Shirt und zerlöcherten Cordhosen bestand. »Ich weiß nicht, ob ich das hinkriege.«
Baby setzte sich auf einen Barhocker. »Ach, der Dresscode wird sowieso nicht durchgesetzt. Du kannst anziehen, was du willst. Du hast doch die Chefin gesehen? Die kreuzt meistens halb nackt hier auf.«
War mir aufgefallen.
Ich schlug das Ringbuch zu. »Nett, dass du gewartet hast, bis ich hiermit durch bin, bevor du mir sagst, dass die Regeln, die drinstehen, nicht gelten.«
»War mir ein Vergnügen«, sagte sie, und dann saß sie ganz still mit geschlossenen Augen da.
Während ich bei Poppins nicht wusste, ob ich sie ohne die Make-up-Schicht erkennen würde, nahm ich an, dass Baby anders aussah, wenn sie sich nicht gerade alle zwanzig Minuten übergab. Vielleicht war sie nicht immer so bleich, und vielleicht trug sie normalerweise keine Unterhemden und an den Knien abgeschnittene Jogginghosen. Oder vielleicht doch. Es spielte keine Rolle. Mit essgestörten Mädchen hatte ich ähnlich schlechte Erfahrungen wie mit komplexbeladenen Mädchen gemacht.
Als die Türglocke einen Kunden ankündigte, wurde Baby wieder munter, und nachdem sie sich um ihn gekümmert hatte, gab sie mir eine kurze Einweisung in das Computersystem und das Ausleihverfahren bei ROYO Video. Bis zum Ende der Schicht bediente ich die Kundschaft selbst und schaffte es ohne Babys Hilfe, über die Datenbank Filme in den Regalen zu orten.
Ich weiß, dass es keine weltbewegenden Leistungen waren, aber da ich wegen meiner Macke schon an kleineren Dingen gescheitert war, war ich stolz auf mich. Selbst wenn der Job »ein Arschrunzeln« war.
Um zehn endete meine Schicht, denn da machte der Laden am Samstag zu. Um Viertel vor zehn holte Baby eine Checkliste zum Schließen heraus, und wir gingen die Punkte gemeinsam durch.
»Hey, hm … Baby?« Ich wollte mich für die Einweisung bedanken, aber ich zögerte. »Findest du es nicht komisch, wenn ich dich so nenne? Es klingt irgendwie, als wollte ich dich anmachen.«
Baby seufzte. »Ja, ich weiß. Im Rückblick hätte ich mir einen anderen Namen aussuchen sollen. Ich habe echt die Nase voll davon, dass die Leute zu mir sagen: Niemand stellt Baby in die Ecke.«
»Komisch. Wieso sagen sie so was?«
Sie sah mich überrascht an. »Du weißt schon. Wegen dem Film. Dirty Dancing.«
»Ach so«, sagte ich. »Den habe ich nie gesehen.«
Anders als Scarlet war Baby beeindruckt. »Im Ernst? Ich auch nicht.«
»Wie, du hast Dirty Dancing nie gesehen und nennst dich trotzdem Baby?«
Sie löste wieder ihr Haar, und diesmal ließ sie es offen, nachdem sie es ein paarmal mit den Fingern durchgekämmt hatte. »Bestimmt nicht. Indiana Jones hat mich so genannt.«
Ich wartete auf eine Erklärung. Sie gab mir keine.
»Was für eine Ehre«, sagte ich dann. »Ich hatte gar nicht die Option, mich von einem echten Actionhelden taufen zu lassen. Herzlichen Glückwunsch.«
»Indiana Jones war der Manager vor Scarlet.«
»Verstehe.«
»Ach ja?«, sagte Baby. »Als ich hier anfing, sagte Indy, ich soll mir eine Figur aus meinem Lieblingsfilm aussuchen. Aber wie kann man nur einen Lieblingsfilm haben?« Sie öffnete die Kasse, nahm die Vierteldollar-Münzen aus dem Fach und stapelte sie zu Dollars. »Darüber haben wir uns gestritten, und er meinte, ich soll mich nicht wie ein Baby anstellen. Und ich habe gesagt: ›Vielleicht will ich mich ja wie ein Baby anstellen‹, weil ich manchmal nicht die Klappe halten kann. Da hat er einfach ›Baby‹ auf mein Namensschild geschrieben und gesagt: ›Gut, dann sei ein Baby.‹« Sie verzog das Gesicht. »Ich hatte keine Ahnung von Baby in Dirty Dancing, weil ich den bescheuerten Film nicht gesehen habe, und als alle anfingen, den Scheißspruch zu mir zu sagen, wollte ich ihn erst recht nicht mehr sehen.«
»Verstehe«, sagte ich wieder. Und um das Gespräch nicht abzuwürgen, fügte ich hinzu: »Ich wusste auch erst nicht, welchen Namen ich nehmen sollte. Scarlet hat Luke Skywalker vorgeschlagen.«
»Warum?« Baby legte die Münzen zurück in die Kasse. »Den hätte sie noch weniger buchstabieren können.«
Ich lachte. »Ich hätte Boba Fett sagen sollen. Der wird geschrieben, wie man es hört.«
»O Gott. Ich bin echt froh, dass du nicht Boba Fett genommen hast. Leute, die sich nach Bösewichten nennen, wollen meistens nur kompensieren, wie uninteressant sie im richtigen Leben sind.«
Ich dachte darüber nach. »Stimmt, es wäre eine echte Enttäuschung, wenn man mit einem langweiligen Typ namens Freddy Krueger zusammenarbeitet, der nicht einmal versucht, dich im Schlaf zu ermorden.«
»Genau.« Baby grinste, aber dann kniff sie die Augen zusammen. »Warte mal. Du bist aber nicht der Typ, der angeblich mit Scarlets Freund verwandt ist, oder?«
»Warum?«
Baby zuckte die Schultern. »Ich habe den Spacko kennengelernt. Schwer vorstellbar, dass jemand aus demselben Genpool aufrecht gehen kann.«
Wenn ich tief genug grub, konnte ich es als Kompliment auffassen. »Oh. Tja, ich schätze, das bin ich.«
»Hoppla. Tut mir leid, dass ich deinen Genpool beleidigt habe.«
»Macht nichts. Devin ist mein Cousin mütterlicherseits. Ich komme mehr nach meinem Vater. Sein Genpool ist relativ spackofrei.«
Baby schnaubte ein leises Lachen und grinste, was ich als meine größte Errungenschaft des heutigen Abends betrachtete.
Wahrscheinlich sollte ich dazusagen, dass meine Macke zwar psychisch war, aber ich war nicht so gestört, dass ich keine normalen Teenager-Freundschaften hätte führen können, wenn das Schlimme nicht passiert wäre. Ich meine, ich war stolz darauf, Baby zum Lachen gebracht zu haben, wie jeder NORMALE Mensch stolz darauf gewesen wäre. Nicht wie ein gesellschaftlicher Außenseiter à la Frankensteins Monster stolz darauf wäre, der nach lebenslanger Ablehnung zum ersten Mal einen Schimmer von menschlicher Akzeptanz erfährt, falls ihr das vielleicht gerade denkt. Ich hatte es auf dieses Lachen angelegt, und Baby hatte ein gutes Lächeln — halbmondförmig mit angenehm spitzen Winkeln —, und deshalb freute ich mich darüber.
Als Baby mit dem Kassensturz fertig war, schlossen wir die Dollars in den Safe in Scarlets Büro. Dann stempelten wir unsere Stechkarten ab, löschten das Licht, und meine erste Schicht bei ROYO Video war offiziell vorbei.
Wir hatten auf dem Mitarbeiterparkplatz nicht weit voneinander entfernt geparkt. Baby schloss ihren schwarzen Honda Accord auf, und ich meinen Chrysler LeBaron.
In diesem Moment fühlte ich mich richtig gut. Wenn man Medikamente nehmen muss, die die Tiefs im Leben erträglicher machen, bekommt man auch die Hochs nur gedämpft mit. Ich hatte meine Medikamente vor ein paar Monaten abgesetzt und empfand jedes Gefühl, das ich hatte, wieder mit voller Wucht. Und in diesem Moment war ich glückselig, dass ich den ersten Tag in meinem neuen Job wie ein ganz NORMALER Mensch überstanden hatte.
Als ich losfuhr, wollte ich Baby winken, aber ich sah, dass sie gar nicht in ihrem Wagen saß. Sie stand an dem Grünstreifen, der den Parkplatz begrenzte.
Ich kurbelte das Fenster herunter.
»Alles klar?«
Statt zu antworten, beugte sich Baby vor und übergab sich ins Gebüsch.
Ich zog die Handbremse. Es wäre nicht NORMAL gewesen, jemanden in so einer Situation allein zu lassen. Allerdings war es wahrscheinlich auch nicht NORMAL, auszusteigen und auf sie zuzugaloppieren, während sie sich übergab.
Als sie fertig war, sank Baby auf den Randstein und sagte, was man so sagt; was jeder sagen würde, der gerade jemandem vor die Füße gekotzt hat: »Tut mir leid.«
Und ich antwortete, was jeder hören wollen würde, der einem gerade vor die Füße gekotzt hat: »Macht nichts. Kann jedem mal passieren.«
»Ich dachte, ich schaffe es bis nach Hause, bevor ich mich wieder übergeben muss.« Sie wischte sich mit dem Jackenärmel den Mund ab.
»Falsch gedacht.« Kein Knüller, aber ich hoffte trotzdem auf ein Lächeln. Es kam keins.
Wir hatten beide nichts mehr zu sagen, und ich überlegte, ob ich mich auf den Weg machen sollte, aber ich wollte sie auch nicht allein lassen. Außerdem hatte ich das Gefühl, sie hätte mich weggeschickt, hätte sie allein sein wollen.
»Jetzt habe ich meine Tabula rasa versaut«, sagte sie irgendwann.
»Hat das Ding viel abbekommen?«, fragte ich. »Mit Ammoniak kriegt man selbst die hartnäckigsten Kotzflecken weg.«
»Was? Nein. Tabula rasa bedeutet so viel wie ›unbeschriebenes Blatt‹.« Baby nahm eine Flasche Wasser aus der Tasche und trank einen Schluck. »Kennst du das Gefühl, wenn du jemanden kennenlernst, der nichts über dich weiß? Du hast nur ein kleines Zeitfenster, bis die Lücken gefüllt werden.« Sie schraubte die Flasche wieder zu und seufzte. »Wir kennen uns erst seit ein paar Stunden, und wahrscheinlich hast du schon ›kotzende Psychopathin‹ auf meine Tabula rasa geschrieben.«
»Ich glaube nicht, dass du eine Psychopathin bist«, sagte ich ehrlich. Ich kannte einige, und soweit ich wusste, war Erbrechen kein Symptom von Psychopathie.
»Danke.« Baby sah mich an.
Wir saßen noch ein paar Minuten schweigend da, und ein NORMALER Mensch hätte vielleicht nachgefragt, warum Baby so übel war. Aber ich dachte, nur weil ich eine Sache über Baby wusste, hatte ich noch nicht das Recht, auch alles andere von ihr zu erfahren. Was mir ehrlich gesagt auch lieber war. Die ganze Wahrheit über einen Menschen zu kennen bedeutet viel Verantwortung, und ich war zu sehr damit beschäftigt, zu werden, was ich hätte sein können, um mich auf die Macken anderer einlassen zu können.
Baby trank noch ein paar Schluck Wasser, die sie bei sich behielt, und dann standen wir beide auf. Ich sah ihr nach, als sie ins Auto stieg und erfolgreich den Parkplatz verließ, ohne sich noch einmal zu übergeben.
Auch ich wollte aufbrechen, aber irgendetwas hielt mich zurück. Ich hatte auf einmal das unbestimmte Gefühl, nicht allein zu sein, ein Gefühl, das ich sehr gut kannte. Während ich zwischen den Autos, in den Müllcontainern und im (vollgekotzten) Gebüsch nachsah, ob sich dort jemand versteckte, dachte ich über die Tabula rasa nach.
Manchmal vergaß ich, dass meine Macke nicht sichtbar und das Schlimme, das passiert war, nicht mit bloßem Auge erkennbar war. Bei meinem neuen Job war ich tatsächlich ein unbeschriebenes Blatt. Niemand bei ROYO Video hatte die leiseste Ahnung von meiner Vergangenheit, und wenn ich meine Karten richtig spielte, würde es auch so bleiben. Bei der Arbeit konnte ich ein anderer Mensch sein.
Diese Erkenntnis war aufregend.
Ich stieg wieder ins Auto und ließ den Motor an. Natürlich versteckte sich niemand auf dem Parkplatz. Warum auch? Ich hatte keine Macke. Nicht mehr. Ich war Han Solo, und meine Tabula war rasa.
Dann stellte ich den Rückspiegel ein und fuhr nach Hause.
Auf den Rat meiner Mutter hin erzählte ich Dr. Singh erst nach dem ersten Arbeitstag von meinem neuen Job.
»Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben«, waren ihre Worte. »Vielleicht geht was schief, und dann sitzen wir wieder am Reißbrett und müssen überlegen, was wir mit dir machen sollen.«
Als ich ihm schließlich davon berichtete, gratulierte er mir so überschwänglich, als hätte ich etwas geleistet, das er mir niemals zugetraut hätte. Nach der langen Lobeshymne wandte er sich an meine Eltern und erteilte ihnen eine Warnung.
»Die Videothek ist für Sie tabu«, verfügte er. »Wenn Sie wollen, dass Joel selbstständig wird, müssen Sie ihm Raum geben. Kein Behüten, keine Kontrolle, wenn er dort ist, verstanden?«
Bevor Mom protestieren konnte, sagte Dad: »Was immer für Joels Gesundheit das Beste ist.«
Widerstrebend akzeptierte Mom, dass ROYO Video eine No-go-Area für sie war, solange ich sie über den kleinen Teil in meinem Leben, in dem sie und Dad nicht die Hauptrolle spielten, halbwegs auf dem Laufenden hielt.
Da ich erst am Freitag wieder arbeitete, verbrachte ich die nächsten Tage wie immer — mit Videospielen, Hausaufgaben und Tim, dem Tutor. Trotzdem fühlte es sich ein bisschen anders an als sonst, denn es gab etwas, worauf ich mich freute.
Der Sonntagabend bei ROYO Video hatte mir gefallen: die hereintröpfelnde Kundschaft, das monotone Summen des Cola-Kühlschranks und die Filme, die im Hintergrund auf den Ladenfernsehern spielten. Es war beruhigend.
Doch wie ich bald erfahren sollte, waren der Freitagabend und der Sonntagabend in der Videothek wie Tag und Nacht.
Kaum hatte ich meine Stechkarte abgestempelt, sah ich, dass der Laden brummte. Wir hatten so viel zu tun, dass Poppins kaum Zeit zwischen den Kunden fand, um mich dem Rest des Teams vorzustellen. Alle waren schwer beschäftigt, aber es gab ein paar Dinge, die mir auffielen:
Erstens, der Pate war eine Frau. Sie war Asiatin und hatte dunkle Augen und einen strengen schwarzen Kurzhaarschnitt. Sie sah aus wie Tia Carrere in Wayne’s World, wobei es nicht ihre Schönheit war, die mir am meisten Angst machte. Der Pate trug von Kopf bis Fuß Schwarz, Luxus-Schwarz, nicht Goth, und ihr Gesicht zeigte nicht die geringste Regung, als wir einander vorgestellt wurden. Statt mir die Hand zu schütteln, drückte sie sie und blickte mir direkt in die Seele. Ich merkte sofort, dass der Pate die Ausstrahlung besaß, die man brauchte, wenn man die Chuzpe hatte, sich selbst »der Pate« zu nennen.
Von Hannibal war ich alles andere als eingeschüchtert. Bei ihm traf Babys Behauptung über Leute, die sich nach Bösewichten nannten, voll zu. Da ich gerade Wayne’s World im Kopf hatte, erinnerte mich Hannibal an eine kräftigere Version des Typen, der während der »Bohemian-Rhapsody«-Szene in dem AMC Pacer hinten in der Mitte sitzt. Er musste mindestens fünfundzwanzig sein, hatte einen Pferdeschwanz und trug das T-Shirt einer Metal-Band (Pantera), alles Hinweise darauf, dass er mit dem Namen Hannibal irgendetwas kompensierte. Sein echter Name war wahrscheinlich sehr viel weniger bedrohlich. Glenn?
Dirty Harry war vorhersehbarer. Nicht, weil bei ihm irgendeine Ähnlichkeit mit Clint Eastwood bestand, sondern weil Scarlet ihn als ihren blöden kleinen Bruder bezeichnet hatte. Die Grundzutaten waren die gleichen wie bei Scarlet — Haare, Größe, Profil —, allerdings umverpackt in den Körper eines schmächtigen, pubertären Lackaffen. Er trug von Kopf bis Fuß Nike, vermutlich nicht, weil er sportlich, sondern weil er reich und verwöhnt war. Als er mich mit »Was geht?« begrüßte, hätte ich ihm am liebsten eine reingehauen.
Nach der Vorstellungsrunde drückte Poppins mir ein Goldfischglas mit Plastikanhängern in die Hand. Sie zeigte auf die Regale mit den Filmschachteln. »Viel Glück, Solo. Die Leute spielen heute Abend total verrückt.«
Das System, nach dem die Filme sortiert waren — das wusste ich von Sonntag —, war doppelt so kompliziert wie die Dewey-Dezimalklassifikation. Die Anhänger waren farblich kodiert und nummeriert, und sie hingen an kleinen Haken unter den entsprechenden VHS-Schachteln, um den Kunden zu signalisieren, welche Videos verfügbar waren. Die Farben zeigten an, ob es sich um neue oder ältere Filme handelte, die Nummer bezog sich auf die Computer-Datenbank. Trotz dieser Überkomplikationen hatte ich es nach Babys Anleitung am Sonntag geschafft, eine Handvoll Anhänger korrekt zuzuordnen.
Doch ich wiederhole, dass heute nicht Sonntag war.
Kaum verließ ich den sicheren Hafen hinter der Theke, fiel die Meute über mich her.
»Hey, hast du die Nummer 4589?«, fragte ein schnurrbärtiger Mann und zeigte auf das Goldfischglas. »Ich bin Erster.«
»Also, ich weiß es nicht …«
»Ich brauch 4676«, mischte sich eine Frau mit Pferdeschwanz ein. »Und 4589 will ich auch.«
»Wenn Sie mich mal durchsehen lassen …«
»Von 4589 gibt es bestimmt keine zwei.« Der Schnurrbartmann sah die Pferdeschwanzfrau vorwurfsvoll an. »Der ist erst am Dienstag rausgekommen. Tut mir leid, Lady.«
Eine dritte Stimme meldete sich — ein empörter Sonnenbrillenträger. »Warum sollten Sie die 4589 kriegen? Ich war zuerst hier.«
»Weggegangen, Platz gefangen«, sagte der Schnurrbart. Und dann zu mir: »Hier — lass mich mal nachsehen, was da drin ist.« Er griff nach dem Goldfischglas.
Pferdeschwanz griff ebenfalls zu. »Ich glaube, ich sehe die 4589 …«
Ich umklammerte das Goldfischglas und wehrte mich gegen die Hände. Die Leute waren total wahnsinnig.
Zum Glück kannte ich mich mit Wahnsinnigen aus.
»Hey!«, rief ich. »Alle zurücktreten, sonst hagelt es Säumnisgebühren!«
Meine Autorität überraschte sogar mich. Vierundzwanzig Augenbrauen wanderten nach oben, und die Meute verzog sich.
Ich war gerne Solo. Die Leute hatten Respekt vor ihm.
Ich hängte die Nummern an ihre Haken, und im zweiten Goldfischglas entdeckte ich die 4589. Der begehrteste Film des Abends war offenbar Nicht schuldig mit Demi Moore und Alec Baldwin. Statt die Nummer an den Haken zu hängen, bot ich sie einer Kundin an, die weder Schnurrbart noch Pferdeschwanz noch Sonnenbrille trug. (Sie war begeistert.) Machtmissbrauch machte Riesenspaß.
Ich verteilte Nummern, bis ich ein paar Stunden später Pause hatte, und als ich zurückkam, hatte sich die Menge gelichtet und der Laden sah wie ein Schlachtfeld aus. Der Boden war voller Verpackungsmüll, und in den Regalen standen halb volle Plastikbecher. Die Aufsteller waren schief, die VHS-Schachteln durcheinander, und in den Teppich war eine Handvoll Popcorn getreten, was ziemlich merkwürdig war, weil wir Popcorn nur im ungepoppten Zustand verkauften.
»Wurden wir geplündert?«, fragte ich Hannibal.
»Wochenende, mein Freund«, war seine Antwort.
»Tolle Leistung, wie du die Grapscher abgewehrt hast«, meldete sich Poppins.