Deutsche Erstausgabe
Als Ravensburger E-Book erschienen 2022

Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg
© 2022 Ravensburger Verlag GmbH

Text © Lyla Payne

Umschlaggestaltung: unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock (janniwet, emi13, Lukasz Szwaj und MrVander)

Übersetzung und inhaltliches Lektorat: Tamara Reisinger www.tamara-reisinger.de

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-473-47188-1

www.ravensburger.de

Es war ein heißer, schwüler Mittsommertag, als der Junge sich in das Mädchen verliebte. Mit ihr Zeit zu verbringen, fühlte sich an, als würde seine Welt sich ausdehnen und immer größer werden. Solange sie mit ihm redete, solange sie ihn anlächelte und am Ende des Abends seine Hand in ihre nahm, schien die Welt sich sogar bis ins Unendliche zu erstrecken. Als gäbe es keinerlei Grenzen.

Das Mädchen war jedoch noch nicht so weit. Sie wollte die Zeit genießen, leicht und unbekümmert, ohne Zwang, und obwohl die beiden jeden Moment ihres Sommers zusammen verbrachten, obwohl sie sich gegenseitig alles gaben, was sie hatten, was sie waren und was sie sein wollten, gestand der Junge ihr nie seine Gefühle.

Doch sie wusste es. Sie musste gewusst haben, dass der Junge so sehr in sie verliebt war, dass ihm regelrecht die Luft zum Atmen fehlte, solange er ihre Lippen nicht auf seinen spürte.

Als der Sommer sich dem Ende zuneigte, verließ der Junge sie, denn es war das, was sie wollte. Und auch wenn er sich mehr gewünscht hätte, seine Gefühle ließen es nicht anders zu: Denn er wollte ihr das geben, was sie wollte - immer.

Riley

»Grant, es tut mir leid, aber du hast die Felder falsch gezählt. Geh ins Gefängnis und hör auf, so unschuldig zu tun«, sagte ich, genervt von seinen lahmen Versuchen, bei Monopoly zu schummeln.

Allerdings tat es mir nicht wirklich leid, schließlich war er derjenige, der dieses Spiel für unseren Spieleabend ausgesucht hatte. Somit war das nur die gerechte Strafe für ihn.

Grant schnaubte leise. »Na gut.« Er griff nach seinem Wodka-Soda und nahm einen langen Zug. »Nicht jeder ist so gut in Mathe wie du, Riley.«

Ich verdrehte die Augen. Wenn das so weiterging, würde ich meinen eigenen Drink noch mal auffüllen müssen, um den Rest des Spiels zu überstehen. »Das hat nichts mit Mathe zu tun, du musst nur zählen. Wenn du also nicht behaupten willst, dass Mrs. Nelson uns in der Grundschule nichts beigebracht hat, dann würde ich vorschlagen, du rückst weiter. Ab ins Gefängnis.«

Grant verzog gespielt entsetzt das Gesicht. »So was würde ich über Mrs. Nelson niemals sagen, was denkst du von mir?«

»Könnt ihr mal damit aufhören?«, unterbrach uns Ivy, meine beste und – bis vor Kurzem – einzige Freundin, und ich musste ein Lachen unterdrücken. »Es ist einfach ein schreckliches Spiel.«

Ivy hatte schon fast ihr ganzes Geld verloren, hatte kaum Grundstücke gekauft und spielte im Prinzip ihr eigenes Spiel – mit dem Ziel, so schnell wie möglich bei Monopoly auszuscheiden und sich in Ruhe ihrem Drink widmen zu können.

»Ich fühle mich persönlich beleidigt«, sagte Grant. »Das Spiel ist ein Klassiker.«

»Das sind sexuelle Belästigung und eine männerdominierte Arbeitswelt auch, aber wir wissen inzwischen alle, dass das eine absolut veraltete Ansicht ist, die man nicht mehr einfach hinnehmen kann«, gab Ivy spitz zurück. »Wir leben schließlich im Jetzt.«

Ivys blonde Haare waren zu einem perfekten Messy Bun gebunden, aus dem strategisch ein paar Strähnen herausfielen. Ihr pinkfarbener Pulli passte zu diesem gewollt unordentlichen Look; er war oversized, wirkte aber nicht zu schlabberig, und ließ den Blick frei auf die spitzenbesetzten Träger ihres Tops. Dazu trug sie eine eng anliegende ausgebleichte Jeans und schlichte flache Schuhe.

Meine Freundin sah aus, als wäre sie geradewegs den Seiten eines Modemagazins entsprungen, doch ich wusste, dass sie zumindest den Pulli selbst entworfen und genäht hatte.

Grant seufzte ergeben und stellte seine Spielfigur – ein Pferd, obwohl es meiner Meinung nach eher ein Esel hätte sein müssen – ins Gefängnis. Felix unterbrach seine geflüsterte Unterhaltung mit May lang genug, um einen Zug zu machen, bevor May an der Reihe war und auf einem meiner Grundstücke landete, auf dem ein Hotel stand. Keinen der beiden kümmerte es, ob sie verloren, solange sie dicht nebeneinandersitzen und sich berühren konnten.

Unsere kleine Gruppe spielte nun schon seit über einer Stunde, und so gern ich auch Ivys Einstellung angenommen hätte, mein Konkurrenzdenken erlaubte es mir nicht. Genauso wenig wie Jo, weshalb sie und ich uns ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit ihrem Freund Noah lieferten. Unsere Geldstapel wurden immer höher, die der anderen kleiner. Micah summte leise, während er abwesend seinen Zug machte; sein Blick war in die Ferne gerichtet, und er schien in Gedanken einen neuen Song zu schreiben, denn er machte sich nicht mal die Mühe, die billigen hellblauen Straßen zu kaufen, bevor er an Ivy weitergab.

»Habt ihr auch schon eure Abschlussbriefe bekommen?«, fragte May ein paar Minuten später, während sie ihre Finger mit denen von Felix in ihrem Schoß verschränkte.

Wir alle nickten, und ein Grinsen breitete sich auf unseren Gesichtern aus. Die Golden Isles Academy hatte die Unterlagen in den Winterferien verschickt, vermutlich weil sie dachte, unsere Eltern müssten sichergehen, dass wir auch alles darin rechtzeitig ausfüllten und erledigten.

Der dicke Umschlag war voll mit Informationen, unter anderem darüber, wo wir Talar und Barett kaufen konnten, einem Katalog mit Absolventenringen, mehreren Bestellformularen für die Einladungen zur Abschlussfeier und diversen Infoblättern mit Fragen über unsere Zukunftspläne – und obwohl jeder von uns wusste, dass dieser Tag bevorstand, hatte das Gefühl, all diese Unterlagen tatsächlich in meinen Händen zu halten, eine wahre Kettenreaktion an Emotionen in mir ausgelöst. Vorfreude darüber, ein neues Kapitel in meinem Leben zu beginnen. Wehmut darüber, wen und was ich alles zurücklassen würde. Beklommenheit darüber, auf mich allein gestellt zu sein. Vor allem jedoch dieselbe rastlose Ungeduld, endlich dieser Hölle des letzten Highschooljahres zu entkommen, die mich schon zu Beginn des Schuljahres im August heimgesucht hatte.

Nur noch ein Semester und die Highschoolzeit wäre zu Ende.

Wir alle hatten unsere Collegezusagen, hatten unsere Entscheidungen getroffen und damit angefangen, Pläne für den Herbst zu machen, aber noch waren wir hier … und traten in Golden Isles auf der Stelle herum.

Es fühlte sich an, als säßen wir auf der Insel fest, als könnten wir weder vor noch zurück.

Sosehr ich meine Freunde auch mochte, wir kannten uns seit unserer Kindheit. Es gab nicht viel, worüber wir nicht gesprochen hatten, und nun, da beide James-Brüder eine ernste Beziehung führten, waren Gerüchte eher dünn gesät.

Wir spielten noch etwa eine halbe Stunde, bis Ivy, Grant, Micah, Felix und May aufgeben mussten. Es würde mindestens eine weitere Woche dauern, bis Jo, Noah und ich den wahren Gewinner gefunden hätten, daher einigten wir uns auf ein Unentschieden.

Es war typisch Grant, dass er das schrecklichste Brettspiel in der Geschichte der Brettspiele aussuchte – und die Tatsache, dass die Spielidee ursprünglich von einer Frau stammte und von einem Mann gestohlen wurde, hinterließ zusätzlich jedes Mal einen schlechten Nachgeschmack.

Nächsten Monat war ich an der Reihe, ein Spiel auszuwählen, und ich würde auf jeden Fall etwas nehmen, das schnell ging und tatsächlich Spaß machte, wie zum Beispiel Stadt, Land, Fluss mit eigenen Kategorien.

Bevor wir ein neues Spiel begannen, ging ich die gewundene Treppe hinunter, durchquerte die Eingangshalle der James, wo mich der Marmorboden und der glänzende Kronleuchter mit einem kühlen, dumpfen Licht begrüßten, und betrat die Küche, um meinen Drink aufzufüllen.

»Hey«, sagte Ivy, die hinter mir in die Küche kam und auch zum Kühlschrank wollte.

Noah und Felix hatten immer einen Vorrat an allen möglichen Getränken, auf die jemand Lust haben könnte, auch wenn ihre Haushälterin die Bier- und Ciderflaschen immer »unabsichtlich« wegwarf. Andererseits trank Noah sowieso keinen Alkohol, und auch Felix hatte aufgehört zu trinken. Allerdings erst, seit er letztes Jahr mit May zusammengekommen war. Das war eine der vielen Veränderungen, die May in das Leben der James gebracht hatte – Felix’ und Noahs jüngere Schwester Sophie hatte sich dank ihrer Hilfe auch gebessert und verursachte in der Schule kaum noch Ärger. Schwer zu glauben, dass Sophie auch bald auf die Golden Isles Academy kam, doch wenn es so weit war, würden wir alle schon weg sein.

Abgesehen von Felix, der sich bereit erklärt hatte, auf der Insel zu bleiben, um sich um Sophie zu kümmern.

Auch wenn die James-Brüder nichts tranken, waren sie zu guten Gastgebern erzogen worden, und wir alle brauchten ein bisschen Alkohol, damit der Spieleabend noch gemütlicher und lustiger wurde.

Ivy nahm sich eine Flasche Light-Bier, während ich mich dazu entschied, Kaffee zu kochen – auch wenn es dafür eigentlich schon zu spät war.

Aber eine Tasse Kaffee mit einem Schuss Baileys, um meine kalten Hände zu wärmen, war jetzt genau das Richtige.

»Was ist los?«, frage ich Ivy, die sich nicht vorhandene abstehende Haarsträhnen hinters Ohr strich – etwas, das sie nur dann tat, wenn ihr etwas auf dem Herzen lag.

»Na ja, ich weiß, dass du vermutlich sofort abblocken wirst, sobald ich das Thema anspreche, aber hör mir einfach zu, okay?« Sie setzte sich auf den Stuhl hinter der massiven Arbeitsplatte aus Quarz und fing an, an dem Etikett ihrer Flasche zu knibbeln.

»Das hört sich nicht gut an«, murmelte ich, während ich mich mit den Ellbogen auf der anderen Seite der Kücheninsel abstützte. Ivy kannte mich genauso gut wie ich sie, was hieß, sie kannte mich verdammt gut. Doch das hielt sie nicht im Geringsten davon ab, mich dazu bringen zu wollen, meine Komfortzone zu verlassen. Was ziemlich anstrengend war, aber das machte schließlich eine gute Freundin aus.

Nahm ich zumindest an.

»In ein paar Monaten ist unser Abschlussball …«

Mein Magen verkrampfte sich bei dem Thema. Es war nicht so, dass ich nicht zum Abschlussball gehen wollte. Nicht direkt. Denn ich wollte mich durchaus gern mit einer großen, unvergesslichen Party von meiner Highschoolzeit verabschieden und ich wollte auch mit meinen Freunden hingehen.

»Jaaaa«, sagte ich gedehnt, als Ivy nicht weitersprach. »Hat dich jemand gefragt?«

»Was? Nein, Micah und ich haben längt beschlossen, dass wir zusammen gehen werden, wenn wir bis dahin kein anderes Date haben.«

Ich lachte. »Das war bei euch doch schon von Anfang an klar, schließlich datest du nicht. Und er auch nicht.«

Ivy ging mit niemandem aus, weil sie sich für was Besseres hielt und der Meinung war, dass keiner der Jungs, die wir schon seit dem Kindergarten kannten, ihre Zeit wert war.

Micah, da war ich mir ziemlich sicher, datete niemanden, weil er sich nicht auf eine Person beschränken wollte, wenn es so viele Optionen gab, und jemanden zum Abschlussball auszuführen, war vermutlich zu ernst für ihn.

»Na ja.« Sie zuckte mit den Schultern. »So passt es doch ganz gut.«

»Da hast du recht.«

»Aber wenn du nicht vorhast, mit Grant …«

»Das wird nicht passieren.« Ich versuchte, bei dem Gedanken nicht die Nase zu rümpfen. Vergeblich.

Grant war ein guter Freund, und er war witzig, aber ich hielt seine übertrieben unbekümmerte Art keinen ganzen Abend lang aus. Allerdings würden Felix und Noah mit May und Jo gehen, und wie es aussah, hatten sich Ivy und Micah ebenfalls zusammengetan, blieben also nur noch Grant und ich übrig.

Was mich vor ein Problem stellte, denn davon abgesehen, dass seine ganze Persönlichkeit das genaue Gegenteil von meiner war, hatte Grant mich zu Beginn der Elften um ein Date gebeten. Er hatte es zwar als Scherz abgetan, als ich Nein sagte, aber ich wusste, dass er es ernst gemeint hatte. Ihn zu fragen, ob er mit mir zum Abschlussball gehen wollte, würde ihn nur wieder dazu ermutigen, sich falsche Hoffnungen zu machen. Und einen extrem unangenehmen Abend mit einem meiner engsten Freunde zu verbringen, war definitiv nicht, wie ich mir das Ende meiner Highschoolzeit vorstellte.

»Na ja, du willst doch hingehen, oder?« Ivys Frage riss mich aus meinen Gedanken, bevor ich mich noch mehr darin verlieren konnte.

Vergeblich versuchte ich, ein Seufzen zu unterdrücken. Ich hatte keine Lust, über den Abschlussball zu reden. Darüber nachzudenken, ob ich hingehen wollte oder nicht, oder wie ich mich in zehn Jahren fühlen würde, wenn ich das letzte und anscheinend allerwichtigste Highschoolritual einfach ausfallen ließe. Wenn ich ehrlich war, allein der Gedanke, mit jemanden auf den Ball – oder allgemein auf ein Date – zu gehen, der nicht David Monroe war, versetzte mir einen Stich.

Was einfach nur dumm war. Ich wartete nun schon seit fast zwei Jahren auf ein Wunder, als wäre ich ein naives Highschoolmädchen, das nicht wusste, dass das hier die Realität und nicht ein romantischer Hollywood-Streifen war. Dabei wusste ich, dass er nicht zurückkommen würde. Dass er nicht anrufen würde. Ich konnte zum Ball gehen mit wem auch immer ich wollte, oder ich konnte auch einfach gar nicht gehen, es würde sich nichts an dieser Tatsache ändern. Ich schüttelte den Gedanken ab und hörte gerade noch, wie Ivy etwas über Tripp Michaels sagte.

»Sorry, was ist mit Tripp Michaels? Hat er wieder irgendwas in Brand gesetzt?«

Ivy verdrehte die Augen. »O mein Gott, Riley, das war ein Unfall, und der war in der achten Klasse.«

»Ein Unfall vielleicht, aber nur, weil er und Avery Rollings versucht hatten, Ameisen mit einer Lupe anzuzünden. So jemand ändert sich nicht.«

»Ich schätze, das ist dann ein Nein zum Abschlussball.«

»Du willst, dass ich mit einem Ameisenmörder auf den Ball gehe?«, fragte ich ungläubig.

Dabei war Tripp Michaels wirklich gut aussehend, seine Gesichtszüge waren scharf geschnitten, und unter all den reichen Kids an unserer Schule gehörte seine Familie zu den Topverdienern. Er war ruhig, zumindest seit dem Vorfall in der achten Klasse, er bewahrte immer einen kühlen Kopf, hielt seinen Notenschnitt oben und ging Ärger aus dem Weg. Kein schlechter Kerl, trotz meiner anfänglichen Reaktion.

Ivy stieß einen so lauten Seufzer aus, dass man ihn glatt hätte auf dem Festland hören können. »Ich sag ihm dann, dass du abgelehnt hast.«

Ein Teil von mir wollte sie bitten, es nicht zu tun. Wollte noch eine Nacht darüber schlafen und dann mit Tripp zum Ball gehen, Spaß haben, vielleicht sogar zulassen, dass er mir einen Gutenachtkuss gab, nur um herauszufinden, wie es sich anfühlte, von jemand anders als David geküsst zu werden …

Doch ich schwieg. Und Ivy drängte mich auch nicht.

Sobald mein Kaffee fertig war, gingen wir wieder nach oben, meine leidgeprüfte beste Freundin und ich. Unsere beiden Pärchen saßen um den Couchtisch herum und spielten Karten, vermutlich Spades oder vielleicht auch Hearts, während Micah und Grant auf dem Sofa lümmelten und auf dem großen Bildschirm einen alten James Bond schauten. Ivy ließ sich neben Micah fallen, der – inzwischen mit einem Notizbuch auf dem Schoß – immer noch vor sich hinsummte, und nahm sich eine Handvoll Popcorn.

Ich stellte meine Tasse auf den Boden, bevor ich es mir in dem dick gepolsterten Sessel bequem machte. Eine Weile versuchte ich noch, dem vorhersehbaren Plot des Films zu folgen, doch schließlich holte ich mein eigenes Skizzenbuch und einen Bleistift aus meiner Tasche. Ich zog die Beine auf das Sitzkissen und blätterte zu einer leeren Seite. Der Film, die Stimmen und das Lachen meiner Freunde waren genug Ablenkung, dass ich erst bemerkte, dass ich schon wieder Davids Hand zeichnete, als ich mit den Fingern die Schatten um sein Tattoo herum verwischte.

Unwillkürlich stockte mir der Atem, als ich die schönen Linien betrachtete – die detaillierten Schnörkel um seine Finger, die auf dem Handrücken in die Initialen NM übergingen, bevor sie sich weiter über sein Handgelenk hinaus ausdehnten und in dem lateinischen Wort memoro mündeten, das sich über den ganzen Unterarm erstreckte. Meine Darstellung, egal wie ehrfurchtsvoll, konnte ihnen aber nicht gerecht werden. Die Erinnerung daran, wie er mir gestanden hatte, warum ein Sechzehnjähriger ein so aufwendiges Tattoo trug – und wie ich ihn auf Abstand gehalten hatte, selbst nachdem er mir die Wahrheit anvertraut hatte –, brannte in meiner Kehle. Weitere Erinnerungen, die ich, wann immer es möglich war, verdrängte, kamen an die Oberfläche – Momente, in denen wir uns geküsst und zusammen gelacht hatten … Doch meist waren es Dinge, die ich bereute. Dinge, die ich nicht getan hatte, nicht gesagt oder nicht mal gedacht hatte, bis es zu spät gewesen war, etwas daran zu ändern.

Ich musste mich zusammenreißen. Ein Date für den Abschlussball finden, mich mit dem Gedanken anfreunden, mich in jemand anderen zu verlieben. Wenn schon nicht in Golden Isles, dann im Herbst an der Columbia University.

David Monroe war wie ein Sommerwind in mein Leben gewirbelt, nur um dann zwei Monate später ohne richtige Verabschiedung wieder zu verschwinden. Es gab also keinen Grund, darauf zu hoffen, dass sich unsere Wege noch mal kreuzen würden. Und ich konnte niemand anderem die Schuld dafür geben als mir selbst.

Ich blinzelte die Tränen weg und sah mich um. Niemand beobachtete mich; die anderen waren immer noch in ihre Gespräche, ihr Kartenspiel und den Film vertieft – so wie es für jemanden in unserem Alter, der kurz davor war, die Highschool abzuschließen, normal war.

Nicht so wie ich, die immer wieder dieselbe tätowierte Hand zeichnete und einem Jungen nachweinte, mit dem sie vor eineinhalb Jahren gerade mal zwei Monate zusammen gewesen war. Einem Jungen, der nie angerufen, nie geschrieben hatte, und der vermutlich innerhalb weniger Wochen über mich hinweggekommen war und jemand Neues gefunden hatte. Einem Jungen, in den ich mich verliebt hatte, ohne es ihm je zu gestehen.

Energisch sperrte ich die Erinnerungen, die immer noch frische Reue und meine schwelende Sehnsucht nach David in eine undurchdringliche Box und schlug den Deckel zu.

Immer und immer wieder.

Auf diese Weise verbannte ich jeden Gedanken an ihn – bis zum nächsten Mal, wenn mein Unterbewusstsein die Kontrolle über meinen Bleistift übernahm oder wenn ich nicht aufpasste, in welche Richtung meine Gedanken wanderten.

Es würde jedoch nicht lange dauern. Das tat es nie.

Also klammerte ich mich an die Hoffnung, dass die Entfernung zwischen Golden Isles, wo die Erinnerungen an David an jeder Ecke lauerten, und New York City groß genug sein würde, um ihn auf dem Weg dorthin aus meinem Kopf zu bekommen.

David

»Ich kann nicht glauben, dass ihr wirklich umgezogen seid«, sagte mein bester Kumpel Wes; seine Stimme klang über Zoom etwas metallisch.

Das Internet in unserem neuen Zuhause war gerade mal vor einer Stunde eingerichtet worden und musste wahrscheinlich erst noch richtig damit klarkommen, dass Mom ihre Arbeitsmails abrief, Dad über Alexa Musik aus den Achtzigern hörte, während er das Geschirr auspackte, und ich gleichzeitig mit meinen Freunden über Zoom redete.

Es sollte sich besser schnell daran gewöhnen.

»Ich weiß«, antwortete ich. Auch wenn es meine Entscheidung gewesen war, unser Haus in Charleston gegen eins in Golden Isles auszutauschen, spürte ich einen Kloß im Hals, nun, da wir tatsächlich umgezogen waren.

»Wie ist das Haus so?«, durchbrach Julie die peinliche Stille, während sie sich eine lange blonde Haarsträhne um den Finger wickelte. Sie war ziemlich gut darin, solche unangenehmen Momente zu glätten, da sie seit der Achten mit Wes zusammen war – und mein Kumpel war nicht gerade der Beste, wenn es darum ging, was man in schwierigen Situationen sagen sollte.

»Es ist wirklich schön.« Vielleicht sogar schöner als unser Haus in Charleston, aber es war kein Altbau. Das nicht.

Die Vorstellung, hier in Golden Isles zu wohnen, hinterließ einen schlechten Geschmack in meinem Mund. Da ich auf dem Festland aufgewachsen war, war meine Meinung über diesen Ort geprägt von jahrelangen hämisch-spöttischen Bemerkungen über »die reichen Kids, die glaubten, sie wären zu gut für Charleston«.

»Ja, aber ihr hattet doch hier auch ein schönes Haus«, sagte Rand, den Blick auf etwas hinter dem Bildschirm gerichtet. Vermutlich zockte er nebenbei.

»Ich weiß.«

Erneut entstand eine Stille, doch dieses Mal versuchte niemand, sie zu füllen.

Es gab keine Anleitung dafür, wie man mit seinen Freunden umgehen sollte, nachdem einem die leibliche Mutter Millionen von Dollar dafür geboten hatte, mitten in der Elften die Highschool zu wechseln. Und es gab auch keine Möglichkeit, jemanden in meiner Situation aufzumuntern, nachdem sein Leben – und das seiner Eltern – auf den Kopf gestellt wurde, weil besagte Highschool, die Golden Isles Academy, verlangte, dass die Schüler auch auf der Insel wohnten. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und verdrängte die Gedanken daran, dass ab jetzt alles anders sein würde, egal wie sehr wir vier versuchten, so zu tun, als wäre es ein Semesterbeginn wie jeder andere auch.

»Erzählt mir vom Fußballtraining. Hat Asher Kopans wieder den Coach nachgeahmt, während der Coach was erklärt hat?«

Wes prustete los. »Ja. Nur hat er diesmal nicht gemerkt, dass der Coach ihn im Spiegel sehen konnte.«

»O Mann«, sagte ich lachend. »Was ist dann passiert?«

Rand gluckste leise. »Wir dachten, der Coach würde ausrasten, aber er hat Asher nur ein paar Runden um den Sportplatz laufen lassen. Im Regen.«

»Während er Asher ziemlich treffend nachmachte – und du weißt ja, wie er beim Rennen mit den Armen rudert? Es war zum Brüllen komisch.«

Ich lachte noch lauter, als ich wieder daran denken musste, wie unser Coach in der Grundschule versucht hatte, Asher davon abzubringen, mit den Armen zu rudern, nur um ihm dann zu sagen, dass »seine Ellbogen nun aussehen, als wären sie an seinem Trikot angenäht«.

Es fühlte sich gut an, mit meinen Freunden herumzualbern. Zoom war zwar nicht dasselbe, wie tatsächlich bei ihnen zu sein, aber wir hatten den ganzen Tag gebraucht, um unsere Sachen ins Haus zu bringen – das Haus, das meine leibliche Mutter entweder gemietet oder gekauft hatte, so genau wussten wir das nicht –, und so weit auszupacken, dass wir zu Abend essen und ins Bett gehen konnten. Danach hatte selbst die zwanzigminütige Fahrt über die Brücke und zu meinen Freunden nach zu viel Aufwand geklungen.

Was meine Sorge nur noch verstärkte, da das vermutlich noch öfter der Fall sein würde.

Nur zwanzig Minuten, eine Bucht und eine Brücke trennten Charleston von den vorgelagerten Inseln, darunter Golden Isles, aber es fühlte sich eher an, als läge ein ganzer Golf dazwischen – und das auf mehr als eine Art.

Erneut schluckte ich hart, versuchte, daran zu glauben, dass Wes, Rand, Julie und ich weiterhin so eng befreundet sein konnten, auch wenn es von nun an anders sein würde, da wir nicht mehr auf dieselbe Highschool gingen. Es würde nicht mehr so viel gemeinsame Gesprächsthemen geben, jeder wäre mit seinen eigenen Sachen beschäftigt, und unsere Terminkalender würden nicht mehr zusammenpassen. Der Sommer und unsere Fußballmannschaft schienen Lichtjahre entfernt zu sein. Ich stieß einen leisen Seufzer aus.

»Wirst du versuchen, ins Fußballteam der Academy zu kommen? Die sind ziemlich schlecht«, unterbrach Rand schließlich das Schweigen.

»Ja. Zumindest weiß ich so, dass ich es problemlos ins Team schaffen sollte.«

Wes jubelte. »Yeah, dann können wir dir in den Arsch treten, wenn wir gegen euch spielen!«

Julie verdrehte genervt die Augen, und wenn sie im selben Raum gewesen wären, hätte sie Wes in den Arm geboxt. Inzwischen traf sie jedoch kaum noch. Wes hatte ihr schon zu oft ausweichen müssen, aber Julie war zu faul, ihre Schläge zu variieren.

»Ich hasse das alles«, sagte ich nach einer weiteren langen Pause. »Vielleicht war es doch die falsche Entscheidung, das Angebot anzunehmen. Meine Eltern zu bitten, nach Golden Isles zu ziehen.«

»Nein, David«, versicherte Julie mir mit fester Stimme. »Fünf Millionen Dollar ist genug Geld, um auf jedes College deiner Wahl zu gehen – sogar im Ausland, wenn du das in einem Jahr immer noch willst. Es verschafft dir die Möglichkeit, es mit dem Schreiben zu probieren, ohne dass du dir Sorgen um Geld machen musst. Es bedeutet, dass deine Eltern sich keine Sorgen um Geld machen müssen.«

Sie wiederholte dieselben Gründe, die ich ihnen vor einem Monat genannt hatte, als ich mich dazu entschieden hatte, auf den Deal einzugehen, den meine leibliche Mutter mir über den Anwalt meiner Eltern angeboten hatte. Ich kannte nicht mal ihren Namen, wusste nur, dass sie aus Golden Isles kam und noch ein Teenager war, als sie mich vor fast achtzehn Jahren zur Adoption freigegeben hatte.

Ich wusste nicht, warum sie sich jetzt wieder einen Weg zurück in mein Leben bahnen wollte, mir Geld bot, damit ich für eineinhalb Jahre die Schule wechselte, aber wie mein Dad schon gesagt hatte, als der Brief Anfang Dezember kam, diese Menge an Geld konnte man nicht einfach so ausschlagen. Auch meine Mom war der Meinung gewesen, dass man diese Art von finanzieller Sicherheit nicht leichtfertig abwies … Allerdings hatte sie mich auch gewarnt, dass solche Angebote meist mit weiteren Verpflichtungen einhergingen.

Wäre es nur um meine Zukunft gegangen, hätte ich vielleicht abgelehnt, da es zu viele Dinge gab, die ich nicht beeinflussen konnte. Ich hatte keinerlei Zweifel daran, dass meine leibliche Mutter etwas von mir wollte und dass sie eines Tages auftauchen und eine Gegenleistung einfordern würde. Der Gedanke, dass diese Möglichkeit über meinem Kopf schwebte wie eine Gewitterwolke – oder vielmehr wie eine Axt, die jeden Augenblick herabfallen konnte –, bereitete mir Magenschmerzen. In ein paar Monaten würde ich achtzehn werden, obwohl ich noch in der Elften war. Meine Eltern hatten mich ein Jahr zurückgehalten, nachdem ich in der Vorschule wegen einer monatelangen Halsentzündung, bei der auch meine Mandeln herausgenommen worden waren, ziemlich viel verpasst hatte. Daher war ich erst ein Jahr später als alle anderen in die Schule gekommen.

Jedenfalls würde meine leibliche Mutter mich nach meinem achtzehnten Geburtstag persönlich kontaktieren dürfen. Und umgekehrt.

Inzwischen hatte ich keine Zweifel mehr daran, dass sie das machen würde.

»Golden Isles wird in den Collegebewerbungen auch gut aussehen«, griff ich die Unterhaltung wieder auf.

»Klar, vor allem bei den ganzen Elitecolleges, bei denen du dich bewerben willst«, witzelte Wes, obwohl wir alle wussten, dass er wahrscheinlich genau wie sein Dad auf die Auburn University gehen würde – und da war es auch nicht gerade einfach, ohne Beziehungen einen Platz zu bekommen.

»Und dann ist da ja auch noch die Tatsache, dass du dieses Mädchen wiedersehen wirst«, fügte Rand hinzu, während er mit gerunzelter Stirn auf sein Videospiel starrte. »Oder?«

Bei der Frage zog sich mein Herz krampfartig zusammen.

Dieses Mädchen war Riley Hayes, und auch wenn sie offiziell nichts mit meiner Entscheidung zu tun hatte, die Erinnerung an unseren kurzen Sommerflirt, die ständig in meinem Kopf herumgeisterte, kam immer in solchen Momenten an die Oberfläche, in denen sie nichts zu suchen hatte.

Ich schnaubte leise. »Ich bin mir sicher, dass sie mich längst vergessen hat.«

Die zahlreichen Briefe, die ich ihr geschrieben, aber nie abgeschickt hatte, und die ich immer noch in einer Schachtel in meinem Zimmer aufbewahrte, waren ein eindeutiger Beweis, dass ich sie nicht vergessen hatte.

»Du hast ihr nicht mal Bescheid gegeben?«, fragte Julie überrascht. »So, wie du nach diesem Sommer drauf warst, war das, was auch immer da zwischen euch lief, sicher nicht nichts.«

Es war inzwischen fast zwei Jahr her, seit ich Riley gesehen oder mit ihr gesprochen hatte. Bevor das Angebot meiner Mutter gekommen war, hatte es keinen Grund gegeben, davon auszugehen, dass ich überhaupt jemals wieder die Gelegenheit dazu haben würde, und jetzt … jetzt wusste weder mein Kopf noch mein Herz noch der Rest meines Körpers was sie fühlen sollten. Meine Brust schmerzte bei dem Gedanken an diesen Sommerflirt, der so aus dem Ruder gelaufen war – denn es war keine ungezwungene Affäre gewesen, stattdessen hatte es mich so heftig erwischt, dass ich immer noch nicht über Riley hinweg war. Und das, obwohl meine Gefühle für sie ohne Rücksicht zurückgewiesen wurden.

Für Riley war es nämlich nur ein ungezwungener Flirt gewesen. Die Tatsache, dass ich danach nie wieder etwas von ihr gehört hatte, bestätigte das, was sie immer gesagt hatte – dass ich nur eine nette Abwechslung war. Ein Junge vom Festland ohne Geld und Beziehungen, den sie aus ihrem Gedächtnis verbannt hatte, sobald ich Golden Isles verlassen hatte.

»Es war nur ein Sommerflirt«, wehrte ich Julies Worte ab und hoffte, dass meine Stimme wirklich so fest und selbstsicher klang, wie ich beabsichtigte, während ich zum Tausendsten Mal versuchte, Riley aus meinen Gedanken zu verbannen, so wie sie es auch mit mir getan hatte.

»Nenn es, wie du willst. Aber du hast als Kind genauso oft Robin Hood gesehen wie ich. Die Liebe wächst mit der Entfernung«, zitierte Julie, während sie mich durch den Bildschirm fixierte. »Du weißt also nicht, wie es jetzt sein wird.«

Wes nickte zustimmend, während Rand leise jubelnd die Faust in die Höhe riss, um irgendwas zu feiern, was gerade in seinem Spiel passierte.

»Wir sind erwachsen«, erinnerte ich sie. »Ich denke, es wird langsam Zeit, dass wir aufhören, uns Liebestipps von ein paar Füchsen aus einem Disneyfilm zu holen, meinst du nicht?«

Julie lachte. »Mach, was du willst. Für mich funktioniert es noch wunderbar.«

Rand verdrehte die Augen, während Wes vor Verlegenheit rot wurde – und das, obwohl er und Julie jetzt schon so lange zusammen waren. Es war echt kitschig, den beiden zuzusehen, aber mit ihnen befreundet zu sein, ließ mich daran glauben, dass es möglich war, den oder die Richtige zu finden.

Riley Hayes war in dem Sommer, als wir beide sechzehn waren, wie ein Tsunami über mich hereingebrochen. Sie hatte mich überrollt, mich verschlungen, und ich hatte sie, ohne zu zögern, gelassen, da ich – trotz ihrer gegenteiligen Behauptungen – daran festgehalten hatte, dass es ihr genauso ging wie mir.

Doch ich hatte mich geirrt. Sie hatte mein Herz in Stücke gerissen, und es hatte Monate gedauert, es wieder zusammenzuflicken.

Aber das alles lag hinter mir. Ich war darüber hinweg. Über sie.

Riley und ich würden uns am Montag in der Schule sehen, oder am Tag darauf. Vermutlich würde es kurz seltsam sein, doch mir war bewusst, dass das zwischen uns nie die »Große Liebe« war, nach der es sich damals angefühlt hatte.

Und das war genau das, was ich der kleinen weiß glühenden Flamme in meinem Innern immer wieder sagte, die sich weigerte, die Hoffnung aufzugeben, dass Riley sich die letzten Monate vielleicht ebenfalls gewünscht hatte, dass wir noch eine zweite Chance bekamen.

Seit meiner Einschulung war ich am ersten Schultag nicht mehr so nervös gewesen. Ich war immer an derselben relativ kleinen öffentlichen Schule gewesen, hatte immer mit denselben Freunden abgehangen, und es gab nichts, worüber ich mir hätte Sorgen machen müssen. Heute jedoch würde ich durch unbekannte Gänge laufen. Die einzige Person, die ich kannte, war das Mädchen, das mir vor eineinhalb Jahren das Herz gebrochen hatte. Und der einzige Grund, warum ich hier war, war der, dass eine Frau, die ich nicht kannte, mir fünf Millionen Dollar dafür geboten hatte. Obwohl Julie gestern Abend ihr Bestes gegeben hatte, mich vom Gegenteil zu überzeugen, war ich immer noch der Meinung, dass das hier ein Fehler war. Ein großer. Ein riesengroßer.

»Alles wird gut«, sagte meine Mom und drückte kurz meine Hand. »Iss deine Pfannkuchen.«

Auf ihren Lippen lag ein sanftes Lächeln, als sie mir einen ermutigenden Blick zuwarf. Normalerweise machte sie mir kein Frühstück vor der Schule; weder Mom noch Dad waren sonst schon vor sieben Uhr morgens wach, aber durch den Umzug mussten sie nun dreißig Minuten in die Arbeit pendeln.

Ab heute war alles anders.

Allein das weckte erneut Unmut in mir, und am liebsten hätte ich mich schützend vor meine Eltern gestellt. Das waren meine Eltern. Mein Leben. Warum glaubte diese Frau, die mich zur Welt gebracht hatte, dass sie auch nur ansatzweise das Recht hatte, einfach so in mein Leben zu platzen und es auf den Kopf zu stellen? Wenn sie wollte, dass es mir gut ging, wenn sie achtzehn Jahre später plötzlich für mich sorgen wollte, warum dann diese Forderungen? Wie konnten meine Eltern damit einverstanden sein, dass sie sich so in mein Leben drängte, nach allem, was mit meiner kleinen Schwester geschehen war? Ihr leiblicher Vater hatte ebenfalls aus heiterem Himmel darauf beharrt, dass er sein Sorgerecht nie aufgegeben, dass er nicht mal von seiner Tochter gewusst hatte, doch anstatt über ein Gericht zu gehen, hatte er sie einfach entführt.

»Vielleicht sollten wir das Geld doch nicht annehmen«, murmelte ich. »Wir sollten nach Hause gehen. Es ist ja nicht so, als wären wir arm.«

Mein Dad schnaubte leise, dann schob er sich einen weiteren Bissen Pfannkuchen in den Mund. Seine dunklen Haare standen ihm wirr vom Kopf ab, und er trug immer noch seine USC-Pyjamahose und das löchrige Delta-Nu-T-Shirt – ein sicheres Zeichen dafür, dass meine Mom ihn gezwungen hatte, aufzustehen und sich an den Frühstückstisch zu setzen, um mir an meinem ersten Tag an der Golden Isles Academy moralisch beizustehen.

»Nein«, sagte Mom und legte meinem Dad eine Hand auf den Arm. »Wir sind nicht arm, aber wir haben das vor Weihnachten besprochen. Es gibt einen Unterschied zwischen einem Vermögen, das ausreicht, um ein angenehmes Leben zu führen, und dem, was deine leibliche Mutter bietet. Wir werden jemanden finden, der dich berät, wie du das Geld am besten anlegst, und danach musst du dir keine finanziellen Sorgen mehr machen, Schatz.«

»Aber … Ich stelle unser ganzes Leben auf den Kopf.«

»Mach dir um uns keine Sorgen, David. Wir kümmern uns um dich.« Mein Dad deutete mit der Gabel in meine Richtung, um seine Worte zu verstärken. »Wenn du wirklich glaubst, das hier ist die falsche Entscheidung gewesen, dann okay, lass uns unsere Sachen packen und nach Hause gehen. Aber wenn du nur ein bisschen nervös bist, weil es dein erster Tag an der Academy ist, dann trete ich gern deinen Hintern zur Tür raus.«

Dads etwas ruppige Art, seine Liebe zu zeigen, brachte mich zum Lachen. Aber er hatte recht. Julie hatte recht. Es war die richtige Entscheidung, aber der heutige Tag würde es echt in sich haben.

»Okay, gut. Ich gehe zur Schule.«

»So ist’s recht, Junge«, sagte mein Dad zufrieden, bevor er seine Pfannkuchen aufaß und dann aufstand, um den Tisch abzuräumen, während meine Mom in Ruhe ihren Kaffee austrank.

Jenny und Paul Monroe waren meine Eltern, auch wenn sie mich nicht zur Welt gebracht hatten. Sie hatten nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie mich adoptiert hatten, aber für mich waren sie immer meine Eltern gewesen. Sie hatten mir nie das Gefühl gegeben, nicht ihr Sohn zu sein. Und so lange ich zurückdenken konnte, bestand meine Familie aus uns dreien, bis auf die kurze Zeit, als meine Schwester noch bei uns und wir zu viert gewesen waren. Ich schluckte den Gedanken an sie hinunter.

Meine Eltern unterstützten mich bei allem, was ich tat, und ich hatte nie Zweifel daran gehabt, dass ich mich glücklich schätzen konnte, sie zu haben – auch wenn sie mir manchmal gewaltig auf die Nerven gingen, weil sie nicht nur ständig wissen wollten, wo ich mich rumtrieb, sondern auch, weil sie es sich nicht nehmen ließen, meine Freunde genau zu beäugen und uns zu sagen, was wir in unserer Freizeit tun sollten.

Ich reichte Dad meinen Teller und trank den Rest meines Traubensafts aus, bevor ich mir meinen Rucksack schnappte, den ich gestern Abend fertig gepackt neben die Tür gestellt hatte, und nach meinem Autoschlüssel griff. Er hing an einem Schlüsselbrett, das bereits an der Wand montiert war, als wir eingezogen waren – tatsächlich war das ganze Haus voll eingerichtet gewesen, mit Möbeln, die aussahen, als wären sie speziell für Sommertouristen angefertigt worden.

Ich verabschiedete mich von meinen Eltern, atmete tief durch und ging nach draußen, wo ich die kalte Januarluft einsog und mir selbst einredete, dass es das alles wert sein würde. Während ich in meinen Wagen stieg und in mein neues Leben aufbrach, hakte ich in Gedanken all die Gründe ab, die dafürsprachen.

Egal, was meine leibliche Mutter wirklich wollte, unsere Vereinbarung besagte, dass ich das Geld bekam, wenn ich an der Golden Isles Academy meinen Highschoolabschluss machte. Und dann könnte ich meine Eltern finanziell unterstützen. Ich könnte nach dem College ein Jahr pausieren und einen Roman schreiben, ohne mir darüber Gedanken machen zu müssen, wie ich meine Rechnungen bezahlen sollte.

Wenn ich das Geld anlegte, wie meine Mom vorgeschlagen hatte, wären fünf Millionen Dollar mehr, als man in einem Leben brauchte. Mathe war nicht unbedingt mein Lieblingsfach, aber meine Mom war Buchhalterin, und ihre pragmatische Art in Bezug auf Finanzen war über die Jahre auf mich übergegangen.

Meine Eltern hatten selbst ebenfalls geschickt investiert und führten gut gedeckte Rentenkonten, aber wenn ich das hier durchzog, könnten sie mehr verreisen oder früher in Rente gehen, anstatt meine Collegekosten zu bezahlen. Dad könnte sich mehr auf seine eigene Malerei konzentrieren oder einen der schlecht bezahlten Schauspieljobs annehmen, die er so sehr liebte. Es war seiner Rolle bei einem Shakespeare-Festival zu verdanken, dass wir den Sommer, an dem ich Riley kennengelernt hatte, in Golden Isles verbrachten. Sie hatten Der Sturm aufgeführt, was mir seitdem jeden Tag wie eine Ironie des Schicksals vorkam, nachdem Riley ebenfalls wie ein Wirbelsturm in mein Leben gefegt war und nichts als Verwüstung zurückgelassen hatte.

Die Fahrt zur Academy dauerte nicht lange – höchstens zehn Minuten. Die ersten Lichter der Morgendämmerung erstreckten sich bereits über den Himmel, und die Palmen bewegten sich sanft in der Brise hin und her, als ich von dem Grundstück am Strand, das von nun an mein Zuhause war, ins Stadtzentrum fuhr. Überall waren kitschige Restaurants, Bars mit besonders cleveren Namen und Läden, die hochwertige Produkte an die Einwohner verkauften. Die Touristen blieben in der Regel in Strandnähe und an der Promenade, weshalb dort vor allem billige Souvenirs zu finden waren.

Als ich wenig später auf den Parkplatz fuhr und den Motor ausstellte, war die Schule bereits beleuchtet. Die hellen Fenster hießen die Schüler an ihrem ersten Tag des neuen Semesters willkommen. Bei dem Gedanken daran, dass alle anderen sich auch mindestens ein paar Wochen lang nicht gesehen hatten, besserte sich meine Laune etwas.

Die Beratungslehrerin hatte meinen Eltern mitgeteilt, dass einer der Schüler um sieben Uhr – eine halbe Stunde, bevor der Unterricht begann – vor dem Sekretariat auf mich warten und mir alles zeigen würde, auch wenn ich mir sicher war, die Raumnummern auf meinem Stundenplan auch ohne Hilfe zu finden. Trotzdem war es schön, zumindest schon mal einen der Schüler hier kennenzulernen. Vielleicht könnte er sogar zu einem guten Freund werden. Wenn ich die nächsten eineinhalb Jahre hier verbringen musste, wäre es praktisch, wenn ich jemanden hätte, mit dem ich an den Wochenenden lernen konnte.

»Hey, bist du David?« Ein großer, schlaksiger Junge mit einem Manchester-United-Shirt begrüßte mich mit einem breiten Lächeln, als ich das Schulgebäude betrat. Seine blonden Haare waren zurückgegelt und an manchen Stellen ausgeblichen, als hätte seine Familie die Winterferien in der Sonne verbracht. Vermutlich hatte sie das auch.

»Ja, das bin ich«, antwortete ich und warf einen Blick durch die Glastür ins Sekretariat. Die Sekretärinnen waren bereits fleißig am Arbeiten, aber die hinteren Büros, wo die Schulleitung tagsüber ihren Geschäften nachging, waren noch dunkel.

»Ich bin Jesse Adams. Mrs. Walsh hat mich gebeten, dir vor dem Unterricht schnell noch die Schule zu zeigen. Ich hab hier auch schon deinen Stundenplan.«

»Danke«, sagte ich, als er ihn mir in die Hand drückte.

»Sieht ziemlich heftig aus«, meinte er, während er sich seinen Rucksack über die Schulter warf. »Leistungskurs Englisch und Geschichte? Bist du so was wie ein Streber?« Er schwächte seine Frage mit einem weiteren Lächeln ab, woraus ich schloss, dass er mich nur ein bisschen aufziehen wollte und es nicht böse meinte. Wahrscheinlich sollten die Mitglieder der Schülervertretung sich auch nicht über die Neuen lustig machen.

»So was in der Art.« Ich lachte, obwohl mir seine Reaktion Sorgen machte, dass ich mir vielleicht doch mehr Gedanken über den Arbeitsaufwand an einer strengen Privatschule hätte machen sollen. Na ja, es war ja nicht so, dass ich hier Freunde oder sonstige Kontakte hatte, die mich vom Lernen ablenken konnten.

»Lass uns hier langlaufen. Dann können wir deinen Stundenplan von hinten durchgehen und du landest direkt dort, wo du deine erste Stunde hast.«

»Alles klar, du bist der Chef.«

Schweigend folgte ich Jesse, während er mir die Räume meiner letzten drei Kurse des Tages zeigte, und beobachtete, wie sich die Gänge langsam füllten. Ich suchte nicht nach Riley, doch unbewusst hielt ich trotzdem nach ihr Ausschau – und wenn es nur deshalb war, weil ich sie auf jeden Fall zuerst sehen wollte.

»Hast du dir schon Gedanken darüber gemacht, welche außerschulischen Aktivitäten du machen willst?«, fragte Jesse, nachdem er mir die Cafeteria gezeigt hatte.

»Hmm?«

»Wir müssen zwei pro Semester machen. Einen Club oder Sport oder so etwas wie die Schülervertretung.« Grinsend drehte er sich zu mir. »Dem hab ich es auch zu verdanken, dass ich so früh aufstehen musste, um dir die Schule zu zeigen. Und das an einem Montag.«

»Klingt nach ’ner ziemlich großen Verantwortung.«

Er zuckte mit den Schultern. »Es geht nur darum, dass es auf den Collegebewerbungen gut aussieht.«

»Ich werde wahrscheinlich versuchen, in die Fußballmannschaft zu kommen. Davon abgesehen, keine Ahnung.«

Jesse wurde langsamer, sodass wir nebeneinander gingen. »Du spielst Fußball?«

»Seit ich klein bin. Ligaspiele im Sommer, Hallenfußball im Winter, in der Schule, das volle Programm.«

»Von welcher Highschool bist du noch mal gewechselt?«

»Magnolia Charter.«

Seine Augenbrauen schossen nach oben; er wusste also, welchen Ruf meine alte Schule auf dem Feld hatte. »Wow. Welche Position?«

»Linkes Mittelfeld.«

»Okay, du solltest auf jeden Fall beim Auswahlspiel teilnehmen. Ich stell dich nachher noch Coach Carr vor, wenn wir hier fertig sind. Er unterrichtet auch Geschichte, das heißt, sein Büro ist in der Nähe deines ersten Kurses.«

»Klar. Danke.«

»Ich zeig dir noch schnell die Bibliothek, dann können wir uns auf den Weg machen.«

Wir bogen um eine Ecke, und dahinter, am Ende des Flurs, lag die Bibliothek. Sie sah riesig aus und wirkte, als würde es drinnen nach alten Büchern, Leim und Kaffee riechen. Am liebsten hätte ich mir ein ruhiges Plätzchen gesucht, mein Notizbuch rausgeholt und einfach die Wörter aufgeschrieben, die mir in den Sinn kamen. Ich hatte meine Texte noch nie jemandem gezeigt, außer meinen Lehrern, und denen auch nur, wenn wir etwas Kreatives schreiben mussten. Es war meine Art, das Erlebte zu verarbeiten, meine Gedanken zu sortieren und einen Sinn darin zu erkennen, und zwanzig Minuten mit Stift und Papier hätten an diesem Morgen voller Erwartungen, Nervosität und alter Reue sicher geholfen. Dafür war jedoch vor dem ersten Klingeln keine Zeit mehr.

Ich stieß ein tiefes Seufzen aus, als ich noch mal über die Schulter zu der großen, doppelflügeligen Glastür zurückschaute … genau rechtzeitig, um zu sehen, wie Riley Hayes hindurch- und auf den Gang trat.