UNTERWEGS IN BURMA
Mit 80 Fotos
Auf Wunsch des Autors werden in diesem Buch Ortsnamen sowie der Landesname Burmas in jener Form verwendet, wie sie vor der Umbenennung durch die Militärregierung 1989 in Gebrauch waren beziehungsweise im deutschen Sprachgebrauch üblich sind.
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© 2018 by Amalthea Signum Verlag, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Elisabeth Pirker/OFFBEAT
Umschlagabbildungen sowie alle Abbildungen im Buch: © Michael Schottenberg
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Karte Seite 8: © arbeitsgemeinschaft kartographie
Herstellung und Satz: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten Gesetzt aus der 11,25/14,7 pt Minion Pro
Designed in Austria, printed in the EU
ISBN 978-3-99050-089-7
eISBN 978-3-903217-26-3
Für Claire
Glorious!
Wien – Dubai – Bangkok – Rangun, 5. Jänner
Ein Kreis schließt sich
Rangun, 6. Jänner
Eine Stadt aus Gold
Rangun, 7. Jänner
Der Architekt der Freiheit
Rangun, 8. Jänner
Puppen hinter Gittern
Rangun, 9. Jänner
Mingalabar!
Rangun, 10. Jänner
Der Krähenpalast
Rangun – Nyaung Shwe, 11. Jänner
Der See
Nyaung Shwe, 12. Jänner
Die schwarze Stadt
Bagan, 13. Jänner
Von Schwalben und Fledermäusen
Bagan, 14. Jänner
Dem Himmel nahe
Bagan, 15. Jänner
Auf der Shwe Keinnery
Bagan – Mandalay, 16. Jänner
Behämmertes Gold
Mandalay, 17. Jänner
Der Glaspalast
Mandalay, 18. Jänner
Ein Schwein für die Braut
Mandalay – Hsipaw, 19. Jänner
Vom Wunder, wieder sehen zu können
Hsipaw, 20. Jänner
Knockin’ on heaven’s door
Hsipaw – Pyin U Lwin, 21. Jänner
Der Park
Pyin U Lwin, 22. Jänner
Über das Lachen
Pyin U Lwin – Mandalay, 23. Jänner
Der Abschied
Mandalay – Rangun – Dubai – Wien, 24. Jänner
Meine Rezepte aus Burma
Burmesisches Fischcurry
Le-pet-thouk-Salat
»Mohinga« Shan-Nudeln und Fisch
Gedämpfter Fisch
Shan-Nudeln mit Garnelen
Schottis Burma-Tops
Schottis Burma-Flops
Entspannt lehne ich mich zurück und trinke einen Schluck dessen, was man außerhalb von Wien für Kaffee hält. Ich sitze in einem dieser riesigen Gefrierschränke, in Dubai, und warte auf den Weiterflug. Und wie das häufig so ist, verspätet sich der, sodass es, was ebenso oft zutrifft, noch sehr fraglich ist, ob die weitere Verbindung hält. Mal sehen.
Ich bin, kaum dass ich in Wien-Schwechat gestartet bin, bereits gelandet: im Ferienmodus. Diese Reise, obwohl schon lange geplant, ergab sich letztlich doch überraschend. Seit über zehn Jahren bin ich Mitglied der Hilfsorganisation Helfen ohne Grenzen des Südtirolers Benno Röggla. Die Gründung von HoG war für das Volk der Karen, eine der hundertfünfunddreißig Volksgruppen in Burma, eine Überlebenschance. Die Karen zählen zu den südostasiatischen Bergvölkern und wurden, neben anderen ethnischen Minderheiten, von der ehemaligen Militärdiktatur Burmas jahrzehntelang verfolgt. Die Militärs gingen systematisch und mit beispielloser Gewalt vor – vorgegebenes Ziel war die »Stabilisierung« des Landes. Die Vertreibung nach Thailand bedeutete für die Vogelfreien eine Zukunft ohne Heimat und Hoffnung. HoG organisierte 2002 in Mae Sot, einer Grenzstadt aufseiten Thailands, eine Enklave, in der große Gruppen der Karen Zuflucht fanden. Während meiner Direktionszeit im Volkstheater Wien habe ich jährlich eine Benefizveranstaltung durchgeführt, und ich darf mit Stolz sagen, dass manche der großartigen Initiativen von Helfen ohne Grenzen mit den Reinerlösen dieser Abende finanziert wurden.
Zwar ging bei den Wahlen am 10. November 2010 die militärnahe USDP als Sieger hervor, doch Präsident Thein Sein leitete zur Überraschung aller Reformen ein. Dies war der Beginn eines zaghaften Überganges zur Demokratie. Inwieweit ausländische Investitionszusagen den Präsidenten zur Öffnung des zum Armenhaus verkommenen Landes überzeugten, sei dahingestellt. Erst seit einigen Jahren ist es möglich, ohne »offiziellen Begleitschutz« durch das Land zu reisen.
Meine Sehnsucht nach dem sagenumwobenen Burma wurde durch die Lektüre einiger bemerkenswerter Bücher geweckt: Der Glaspalast von Amitav Ghosh, George Orwells Klassiker Tage in Burma und die märchenhafte Geschichte Dämmerung über Burma von Inge Eberhard, der letzten Shan-Prinzessin und Mahadevi of Hsipaw.
Allein der Klang des Namens »Burma« weckte in mir Sehnsuchtsbilder: Götter und Dämonen, Pagoden, Tempel, undurchdringlicher Urwald, riesige Flüsse, sagenhafte Königsstädte. Kein anderes Land in Südostasien rief ähnliche Träume hervor. Was haben diese Bilder mit der Realität zu tun? Um es vorwegzunehmen: Burma ist tatsächlich so, wie man es sich vorstellt – und doch ganz anders. Kaum ein Land kann mit einer solchen Vielfalt an unterschiedlichen Kulturen, landschaftlichen Schönheiten, exotischen Riten und Bräuchen aufwarten. Burma erfüllt alle Klischees und bleibt doch rätselhaft. Beispiele?
•Die Landeswährung ist der Kyat. Er existiert, wie jede andere Währung auch, in gerader Stückelung: Es passiert kaum noch, dass man mit den alten Fünfunddreißiger-, Fünfundsiebziger- oder Fünfundneunzigerscheinen konfrontiert wird.
•Die Burmesen leben zwischen der Zeit: Eine halbe Stunde nach Bangladesch und dreißig Minuten vor Thailand.
•In Burma rudern die Männer mit den Beinen, tragen Röcke und einmal in ihrem Leben müssen sie Mönch gewesen sein.
•Aufgrund einer Weissagung, die »Rechten« würden die Macht übernehmen, wurde 1970 unter General Ne Win der Linksverkehr in Rechtsverkehr umgewandelt. So wurde die Prophezeiung trickreich erfüllt und der zu erwartende politische Umsturz vermieden. Da die rechtsgesteuerten Schrottkisten bis heute unterwegs sind, sind die Fahrzeuglenker bei Überholmanövern nach wie vor auf die Mithilfe des besser platzierten, links sitzenden Beifahrers angewiesen.
•Burmesen sind sich nicht einig, ob die Zahl Neun Glück bringt oder nicht. In einem Zugsabteil, in dem neun Passagiere sitzen, wird vorsichtshalber ein Stein zusätzlich auf die Sitzbank gelegt, damit die Zahl gerade wird – man weiß ja nie.
•Waren Sie schon einmal in einem Land, in dem die Einwohner ihre eigene Hauptstadt nicht kennen? Sie heißt Naypyidaw, wurde von den Militärs im Nirgendwo aus dem Boden gestampft und ist der Bevölkerung bis heute weitgehend unbekannt.
•Wussten Sie, dass in Rangun, der größten Stadt des Landes, Mopeds und Motorräder offiziell verboten sind? Weshalb? Ein hoher Militär wurde vor Jahren von einem Motorrad touchiert.
•In Burma zählt die Woche einen Tag mehr. Den Mittwoch gibt’s doppelt: als Vormittag und als Nachmittag.
•Und: Der Fluss Irrawaddy heißt Ayeyarwady, die Stadt Rangun heißt Yangon und das Land Burma heißt Myanmar. Die Militärregierung, die im Jahr 1962 die Macht übernahm, wollte es so. In diesem Buch werden aus Gründen politischer Korrektheit die alten Namen verwendet.
Burma ist mehr als rätselhaft. Dabei will ich es vorerst bewenden lassen.
Im Sommer 2015 habe ich mich vom Theater, dem ich über vierzig Jahre lang die Treue gehalten habe, verabschiedet. Der Moment zur Richtungskorrektur war für mich nach zehn anstrengenden Direktionsjahren im Volkstheater Wien gekommen. Ich war der Überzeugung, dass dem Haus eine neue, unverbrauchte Handschrift gut anstünde (dass es anders kommen sollte, konnte ich damals noch nicht ahnen). Ich selbst wollte mich verstärkt meiner großen Leidenschaft, dem Reisen, widmen. Nur einmal bin ich rückfällig geworden: in jenem Haus, in dem vor langer Zeit mein Weg begann, im Theater in der Josefstadt – ich ließ mich zu einem »Nestroy-Stück« überreden. Aber wie das so ist mit sentimentalen Entscheidungen, sie sind meist falsch. Die Arbeit hat mich mehr Kraft gekostet, als ich einzusetzen bereit war. Es ist reizvoller, Neues zu erobern als Altes zu verwalten. Dass ich mich nun in literarisches Neuland vorwagen darf, habe ich der liebevollen Obsorge wagemutiger Damen eines feinen Verlagshauses zu verdanken, die mich dabei unterstützen. Der Verlag trägt den Namen jener Nymphe der griechischen Mythologie, die den nachmaligen Göttervater Zeus mit der Milch einer Ziege aufzog. Einer anderen Erzählung zufolge ist Amalthea die Ziege selbst. Das aber mag ich meinen aufmerksamen Mentorinnen nun doch nicht andichten …
Ich will über mein Lachen schreiben, über meine Schmerzen und über meine Wehmut. Reisen, zumindest was ich darunter verstehe, ist immer auch eine Suche nach Wahrheit. Selten findet man die in der glattgebügelten Prospekt-Ästhetik des Massentourismus, die Länder und Kulturen möglichst keimfrei erscheinen lässt, um sie besser zu vermarkten. Reisen bedeutet nicht, in ein Flugzeug zu steigen, um es innerhalb weniger Stunden möglichst weit weg wieder zu verlassen. Reisen ist der Weg zu Menschen und ihren Geschichten. Man muss sie nur sehen und hören wollen. Man muss essen, was sie essen, riechen, was sie riechen und darüber lachen, was sie zum Lachen bringt. Dafür aber braucht es Zeit. Meine Reisen sind langsam. Erst der Schmutz der Hinterhöfe, der Gestank von Müllhalden, die Unbequemlichkeit überfüllter Züge haben mir Südostasien nahegebracht. Von dort bis zur Wahrheit ist es dann nicht mehr weit.
Der Airbus A 380-800 der Emirates Airlines steht endlich, wenn auch verspätet, zum Einsteigen bereit. Ich nehme in einer nagelneuen Maschine Platz, unmittelbar neben dem Aufgang zur First Class – und fühle mich dementsprechend. Während des Fluges von Wien nach Dubai habe ich den wunderbaren Film Florence Foster Jenkins mit Meryl Streep gesehen. Vor einigen Jahren habe ich in meinem Theater denselben Stoff unter dem Titel Glorious! mit der nicht minder wunderbaren Maria Bill inszeniert. Das Stück erzählt die reichlich merkwürdige Geschichte der »schlechtesten Sängerin der Welt«. Die Bill, eine der besten Sängerinnen der Welt, hat die Rolle mit großer Wahrhaftigkeit gespielt. Der unbedingte Wille der sagenhaft unbegabten Florence, ihren Lebenstraum zu verwirklichen, machte die Wirkung des Abends aus. Glorious verstehe ich als Motto meiner Reise: Sie möge herausragend werden!
Auf dem Flug nach Bangkok der nächste Film: The Light Between Oceans ist eine romantische, wunderbar gespielte Liebesgeschichte. In Tränen aufgelöst erreiche ich Thailands Hauptstadt. Da wir die Verspätung nicht aufgeholt haben, verlasse ich die Maschine im Laufschritt. Mein Anschlussflug wird bereits geboardet. Weder weiß ich, wo das Gate liegt, noch bin ich bis zu meinem Ziel durchgecheckt. Der Suvarnabhumi Airport zählt zu den größten Flughäfen Asiens. Der Sprint, den ich über kilometerlange Förderbänder zurücklege, ist schweißtreibend. Verschwitzt erreiche ich die Abflughalle. Ich hätte mir Zeit lassen können. Die Verspätung des einen bedeutet oft auch die Verzögerung des anderen. Der Typ beim Security-Check knöpft mir ein schönes, kleines Taschenmesser aus Schildpatt ab, das Geschenk meiner Liebsten, die zu Hause im verregneten Wien jetzt wahrscheinlich vergeblich nach Schlaf sucht (traditionellerweise ist der Abflugabend immer auch der schlafärmste). Ich nehme in einer ausrangierten Propellerkiste der Bangkok Airways Platz (was für ein Kontrast zu dem schönen Flieger der Emirates) und lande eine Stunde und ein erstaunlich schmackhaftes Essen später am Rangun International Airport. Auf dem düsteren Rollfeld ist keine andere Maschine zu sehen.
Die ersten Schritte in der Fremde sind meist eine Herausforderung der besonderen Art: Normalerweise betritt man ein visumpflichtiges Land als Feind. Kalte, misstrauische Blicke bemustern den Neuankömmling und vergleichen das einer Verbrecherkartei entnommene Passfoto mit dem verschlafenen Original. Nicht so in Rangun. Der Beamte zwinkert mir freundlich zu, als wollte er mich zu der Entscheidung, sein Land zu besuchen, beglückwünschen. Nach Mitternacht sieht jede Ankunftshalle der Welt trostlos aus, dennoch halte ich meinen Pass wie eine Trophäe in der Hand (neben dem Visum leuchtet der fette Stempelabdruck »Immigration Myanmar«) und bin einfach nur glücklich. Kein Zweifel, ich bin angekommen. Burma, das ist was! Am Ende der Halle, gleich neben dem Gepäcksband, erregt eine Money Machine meine Aufmerksamkeit. Was ich jetzt brauche, ist Bares. Eine halbe Stunde und unzählige Fehlversuche später, halte ich mein erstes Geldbündel in der Hand. Für einen US-Dollar bekommt man eintausend Kyat. Dies und das Fehlen von Münzen erklärt die Unmenge an Papiergeld, die man hierzulande mit sich zu schleppen hat.
Einige Männer lehnen an der Glaswand, die den eisgekühlten Transitraum vom dampfenden Empfangsbereich des International Airport trennt, drücken ihre Nasen platt und halten Ausschau nach frischer Jetlag-Ware. Als einziges, mutmaßliches Opfer konzentriert sich ihr Geschäftsinteresse auf mich (die meisten der mitgereisten Pauschaltouristen haben den Flughafen bereits verlassen). Hier, an der Schwelle zwischen hermetisch abgeriegelter Arrival Hall und dem Eintritt in unbekanntes Territorium, findet zu jeder Tages- und Nachtzeit die heiß umkämpfte Preisschlacht in Sachen Transport des zur Melkkuh mutierten Neuankömmlings in Richtung City statt. Nach den obligaten Rangeleien kämpfe ich mich zu einem um diese nachtschlafende Zeit halbwegs seriös aussehenden Taxifahrer vor und lasse mich in die Anawrahta Road chauffieren. Als ich die Adresse des Hotels nenne, bekommt mein neuer Freund einen Lachanfall, – als er den Namen ausspricht, bekomme ich einen.
Der Wagen hält in der Auffahrt eines Hotels, das auf der Homepage verführerisch nett aussieht, in Wirklichkeit aber Trauer pur ist, und ein Bündel Scheine wechselt den Besitzer. Drinnen erwacht einer der Pagen und schlurft unwillig zur überdimensional großen Glastüre. Ein eisiger Luftzug in Form einer wirbeligen Dampfwolke vermengt sich mit der feuchten Hitze des tropischen Morgens. Einige Formalitäten später werde ich als frisches Tiefkühlgut registriert und willkommen geheißen. Oben, in meiner Zelle, sinke ich in voller Adjustierung auf das Schlafbrett (anders kann man die eisenharte Matratze nicht bezeichnen) und überlasse mich einem komatösen Schlaf, während vor den beschlagenen Fenstern der in die Jahre gekommenen Touristenfalle der Großstadtverkehr Ranguns zum Leben erwacht. Ich bin mal wieder in Südostasien gelandet. Diesmal sogar an der Andamanensee.
Das Geschnatter der Zimmermädchen weckt mich, rund um mich ist das Leben in vollem Gang. Ich will dazugehören und gehe, zerknittert wie ich bin, in den Frühstückssaal. Zu spät. Aus Disziplinierungsgründen werde ich in ein Teehaus gegenüber des Hotels, das bei Tageslicht betrachtet noch trostloser aussieht, geschickt. Auch gut. Ich sitze also am Gehsteig und bestelle – was schon, Tee. Was ich bekomme, erkenne ich zunächst nicht. Eine rostrote Brühe wabelt in der Schale, der Rest flutet die Untertasse: Zucker mit Milch, in der ein Teeblatt schwimmt. Neben mir parkt eine junge Frau ihren Verkaufsstand und beginnt sich einzurichten. Auf dem Pult liegt eine Unzahl grüner Blätter, die sie mit einer weißen Pasta und kleingehackten Nüssen bestreicht und zu Päckchen faltet. Das Geschäft brummt. Im Nu hat sich eine Schlange potenzieller Käufer gebildet. Jeder von ihnen schiebt sich einen dieser Riegel in den Mund und mümmelt darauf herum. Das Zeug enthält Splitter der Arekanuss, die, mit gelöschtem Kalk vermengt und in Betelpfefferblätter verpackt, roten Speichelfluss produziert. Als Frühstück drängt es sich nicht gerade auf. Um die Mundpartie herum gleichen die Kauenden Feuer speienden Amphibien: Zunge und Rachen färben sich im Laufe des Lebens feuerrot und die Zähne verkümmern zu kleinen, schwarzen Ruinen. Angeblich ruft Betel eine appetithemmende, sedierende Wirkung hervor, ähnlich der von Alkohol. Unsummen dieser kleinen grünen Köstlichkeiten verschwinden in burmesischen Mündern und landen als Spucke auf den Straßen und Trottoirs.
Ich bezahle die ungenießbare Zuckermilch. Meine Gliedmaßen fühlen sich nach dem langen Flug immer noch wie verschraubt an, als wäre ich eines dieser bedauernswerten Geschöpfe aus dem exzentrischen Universum meines Malerfreundes Peter Sengl: von höherer Macht durchpflockt und mittels Halseisen in eine verzweifelte Pose gezwungen. Die feuchte Hitze und die Geräusche der fremden Welt sind mir vertraut. Was mir auffällt: Die Verkehrsteilnehmer verhalten sich diszipliniert, und es gibt, im Gegensatz zu dem Motorrad-Wahnsinn in Vietnam, so gut wie keine Mopeds. Ich schlendere die Anawrahta Road entlang. Die endlos lange Straße teilt Rangun in zwei Teile. Benannt ist sie nach jenem sagenhaften König, der vor langer Zeit von Bagan aus sein neu geschaffenes Riesenreich mit Hilfe einer einheitlichen »Religion«, dem Buddhismus, festigen wollte. Er schaffte einige der wichtigsten Reliquien Siddhartha Gautamas heran und begann Pagoden, Tempel und Stupas ohne Zahl um sie herum zu errichten. Allerdings war er nicht der Einzige, der sich dafür berühmen ließ, seine Untertanen mit der Lehre Buddhas zu überrumpeln. Unzählige seiner Regenten-Kollegen verstanden sich ebenfalls als unmittelbare Nachfahren des großen Philosophen, der, unter einem Bhodi-Baum schlafend, die Erleuchtung erfuhr, die es zu verbreiten galt.
Buddhismus ist eine kluge Sache. Dem, der die Lehre unkritisch befolgt, bedeutet sie Religion. Wer die Schriften studiert, sie aber nicht praktiziert, begegnet Buddha als Philosoph. Will man aber seine Probleme in den Griff bekommen, begreift man Buddhismus als Therapie. Alles ist dem Entstehen und Vergehen zugeordnet. Prinzipiell ist unser Dasein voller Leiden. Die Ursache dessen ist Begierde und Habsucht. Erst die Überwindung beider Laster führt zur Wahrheit. Die Grundlage ist sittliches Verhalten, Einsicht und Konzentration. Unser Dasein hat folgenden Prämissen zu gehorchen: »Aufrechte Ansicht, aufrechte Gesinnung, aufrechte Rede, aufrechtes Tun, aufrechte Lebensführung, aufrechte Anstrengung, aufrechte Achtsamkeit, aufrechte Meditation«. Das hat nichts mit Religion zu tun, aber viel mit Respekt jedem Lebewesen gegenüber. Die Stätten, die Buddha geweiht sind und die den Mittelpunkt des spirituellen Alltagslebens darstellen, sind von großer innerer und äußerer Ruhe. Verpflichtet sind sie dem Bedürfnis nach Vollkommenheit und Harmonie.
Bei einer Garküche mache ich halt und hole ein vollkommen harmonisches Frühstück nach. Ich sitze auf einem der von mir so geliebten Kinderstühlchen (blau) und bestelle Fischcurry* mit Kartoffeln und Eiern (scharf), dazu gibt es Reis und eine dünne Gemüsebrühe. Das Essen ist bei Bedarf noch zusätzlich mit Chili aufzu-peppen, wovon ich reichlich Gebrauch mache. Danach erweise ich dem mächtigsten Strom des Landes meine Reverenz, dem Irrawaddy: Er ist Burmas Antwort auf den Mekong, Nil, Amazonas und Jangtsekiang. Über zweitausend Kilometer legt er von der Vereinigung zweier schmaler Flüsschen im Norden bis in den Süden zurück, dort, wo er in die Andamanensee mündet. Auf fünfzehnhundert Kilometern ist die »Road to Mandalay«, wie Rudyard Kipling den Strom nannte, schiffbar. Seit ich mich von der wundersamen Erzählung Rajkumars und dessen Teakholz-Handel zwischen Rangun und Mandalay in Der Glaspalast gefangen nehmen ließ, wurde mir der Name zum Versprechen: Einmal wollte ich an seinem Ufer stehen und den Liedern lauschen, die er von seiner abenteuerlich langen Reise mitbringt.