Matthew Horace

mit Ron Harris

Schwarz Blau Blut

Ein Cop über
Rassismus und Polizeigewalt
in den USA

Aus dem amerikanischen Englisch von
Volker Oldenburg

Suhrkamp

Im Gedenken an
Delaware State Trooper Stephen Ballard
und
ATF Special Agent Gregory Holley,
zwei stolze Schwarze in blauer Uniform.

Inhalt

Vorwort

1. DIE BEDROHUNG

Tony April

2. SCHWARZE IN BLAUER UNIFORM

Brian Mallory

3. WESSEN LEBEN ZÄHLT AM MEISTEN?

Kathleen O’Toole

4. DAS SYSTEM

5. DIE VERSCHWÖRUNG

6.  DAS LÄSST SICH NICHT WIEDERGUTMACHEN

Crystal King-Smith

7. KRIMINALITÄTSKULTUR

8. KULTUR KONTRA STRATEGIE

Chris Magnus

9. MORD IN CHICAGO

10. DIE VERTUSCHUNG

11. SCHADENSBEGRENZUNG

12. WEGE IN DIE ZUKUNFT

Philip Banks

13. WENN DIE GESELLSCHAFT VERSAGT

Nachwort

Quellen

Vorwort

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich bin Cop. Ich stehe für das Gute und das Schlechte unseres ehrenwerten Berufs, den ich fast dreißig Jahre lang ausgeübt habe. Ich habe mit Cops Sport getrieben, gegessen, getrunken und gebetet. Mit ihnen gepicknickt, gefeiert und einen draufgemacht. Ich habe mit Cops geweint, und wenn einer von uns gestorben ist, ist ein Teil von mir mit ihm gestorben. Ich habe in jedem Bundesstaat und sogar auf Guam Verbrecher gejagt und die Bürger geschützt, in fast allen Bereichen der Strafverfolgung. Ich habe in meiner Karriere viele Posten bekleidet. Angefangen habe ich als Streifenpolizist in Arlington, Virginia, später wurde ich Special Agent beim Bureau of Alcohol, Tobacco and Firearms und übernahm dort schließlich verschiedene Führungspositionen. Beim ATF habe ich Spezialeinheiten und hochriskante Einsätze geleitet, Nachwuchs ausgebildet, landesweite Ermittlungen koordiniert und vieles mehr.

In meinem Herzen aber bin ich immer ein ganz normaler Cop geblieben, einer der vielen Hunderttausend Männer und Frauen, die geschworen haben, die Bürger unseres wunderbaren Landes zu schützen und der Gerechtigkeit zu dienen.

Ich bin der Cop, der auf Notrufe reagiert, bei häuslicher Gewalt einschreitet und Türen aufbricht, hinter denen möglicherweise Gefahr und Tod lauern. Dem bewusst ist, dass jeder »Routineeinsatz« sein letzter sein kann. Der vermisste Kinder aufspürt, Opfer von Verbrechen tröstet und tobende Liebhaber zur Vernunft bringt. Der auf einer spärlich beleuchteten Straße kaum erkennen kann, ob es sich bei dem Gegenstand in der Hand eines Verdächtigen um ein Handy oder eine Pistole handelt, und der im Bruchteil einer Sekunde entscheiden muss, ob der Autofahrer, der nervös ins Handschuhfach greift, die Fahrzeugpapiere oder eine Schusswaffe zückt.

Ich bin Officer Gabriel Figueroa und Officer Paul Abel aus Pittsburgh, die ein kleines Kind aus einem gefährlich schwankenden SUV retteten, der einen steilen Abhang hinabzustürzen drohte. Fahrer und Beifahrer saßen zusammengesackt auf dem Vordersitz, vollgepumpt mit Heroin.

Ich bin Officer Katrina Culbreath aus Dothan, Alabama, die mit einer achtzehnjährigen Mutter zum Einkaufen in den nächsten Supermarkt fuhr, nachdem die junge Frau sich vor Gericht des Diebstahls bekannt hatte, weil das Geld nicht reichte, um ihre siebzehn Monate alte Tochter zu ernähren.

Zu oft habe ich Haltung angenommen, wenn wir Abschied von einem getöteten Kameraden nahmen, und zu oft hat mir das traurige Klagen der Dudelsäcke die Tränen in die Augen getrieben.

Ich bin die beiden Officer, die im kalifornischen Palm Springs bei einem Einsatz wegen Hausfriedensbruchs erschossen wurden: Officer Jose Gilbert Vega (63), Vater von acht Kindern und kurz vor der Pension, und Lesley Zerebny (27), Mutter einer vier Monate alten Tochter, die gerade erst in den Dienst zurückgekehrt war.

Ich bin die fünf Officer aus Dallas, die bei einer Black-Lives-Matter-Demonstration gegen Polizeigewalt, auf der sie das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit schützen sollten, von einem psychisch kranken Sniper erschossen wurden – Brent Thompson, Patrick Zamarripa, Michael Krol, Lorne Ahrens und Michael Smith.

Aber ich bin auch ein »männlicher Schwarzer«, sprich, einer der zig Millionen afroamerikanischer Männer, die aufgrund von uralten Lügengeschichten und Vorurteilen von vornherein als verdächtig und gefährlich gelten. Wo wir auftauchen, halten Frauen instinktiv ihre Handtaschen fest, verriegeln Familien die Autotüren und melden Verkäufer bei der Polizei einen »verdächtigen Schwarzen«. Wir sind immer eine Bedrohung, tragen immer eine furchteinflößende Waffe. Diese Waffe ist unsere Haut. Wir können sie nicht ablegen.

Wie alle schwarzen Männer verspüre ich den Frust, die Kränkung, die Angst und die Wut darüber, dass ich in Gefahr bin, nur weil ich atme. Als schwarze Männer sind wir bei jeder Begegnung mit der Polizei auf der Hut, ob wir nun Manager, Kantinenangestellte, Computerfachleute, Lehrer, US-Senatoren, Leistungssportler, Architekten oder Cops sind.

Auch als Cop bin ich der schwarze Junge, dem von seinen besorgten Eltern eingeschärft wurde: Egal, wie absurd die Gründe sind, aus denen die Polizei dich anhält, und egal wie schlimm sie dich beleidigen und erniedrigen, füge dich, damit du lebend nach Hause kommst.

Ich bin der Filmemacher und Harvard-Professor Henry Louis Gates Jr., der in seinem eigenen Haus in Cambridge, Massachusetts verhaftet wurde, nachdem jemand bei der Polizei gemeldet hatte, ein »verdächtiger Schwarzer« sei in Gates’ Haus eingebrochen.

Ich bin Gregory Gunn, Sohn eines angesehenen Polizisten aus Montgomery, Alabama. Gunn hatte bis spät in die Nacht mit Freunden Karten gespielt. Auf dem Nachhauseweg wurde er von einem Streifenpolizisten angehalten, der ihn für »verdächtig« hielt. Gunn war unbewaffnet. Der Officer erschoss ihn.

Ich bin Tamir Rice, ein zwölfjähriger Junge, der in einem Park mit einer Spielzeugpistole Räuber und Gendarm spielte. Ein Verwandter hatte ihm das Spielzeug geschenkt. Jemand rief die Polizei, und Rice wurde zwei Sekunden nach Eintreffen des Streifenwagens erschossen.

Ich bin DeJuan Guillory, ein 27-jähriger Vater von drei Kindern und Sohn eines Ex-Polizisten. Er und seine Freundin waren mit seinem Geländewagen unterwegs, als sie von der Polizei angehalten wurden. Der Officer war von der Zentrale über ein gestohlenes Geländefahrzeug informiert worden und forderte die beiden auf, sich auszuweisen. Obwohl Guillorys Wagen nicht gestohlen war, erschoss ihn der Officer. Guillorys Freundin landete wegen versuchten Mordes an einem Gesetzeshüter vor Gericht.

Als hochrangiger afroamerikanischer Polizist habe ich im wahrsten Sinne auf beiden Seiten des Gewehrlaufs gestanden. Manchmal hatte ich schon den Finger am Abzug und war kurz davor, einen tödlichen Schuss abzugeben, andere Male richtete ein weißer Officer die Waffe auf mein Gesicht, und ich war dem Tode nahe.

In diesem Buch beleuchte ich das Thema Polizeigewalt von beiden Seiten. Dabei bin ich zu dem Schluss gelangt, dass die von Gesetzeshütern verübten Straftaten und die diskriminierenden Methoden innerhalb der Polizei oft, aber nicht nur auf Rassismus zurückzuführen sind.

Machen wir uns nichts vor: Niemand in unserer Gesellschaft – Schwarze, Weiße, Männer, Frauen, gebürtige und zugewanderte Amerikaner – ist frei von Vorurteilen, Stereotypen und Rassismus, und das gilt natürlich auch für die Polizei. Aber das Problem reicht viel tiefer. Die vielen Fälle von polizeilichem Fehlverhalten, unangemessenem Schusswaffengebrauch, Racial Profiling und »Polizeiirrtümern« weisen darauf hin, dass es nicht bloß um ein paar schwarze Schafe geht. Diese Vorfälle sind vielmehr Ausdruck eines systematischen Feindbilddenkens und einer Kultur der Missachtung gegenüber den Menschen, denen die Polizei von Berufs wegen dienen soll. Nicht selten wird diese feindselige Haltung von den zuständigen Politikern befördert, die diskriminierendes und gesetzeswidriges Vorgehen auf Polizeiseite nicht nur stillschweigend hinnehmen, sondern bisweilen sogar ausdrücklich gutheißen. Bestimmte Denk- und Verhaltensmuster, die in den meisten unserer Polizeibehörden fest verwurzelt sind, gefährden nicht nur die Bürger, sondern auch die Officer selbst.

Ein Großteil unserer Polizisten ist für die täglichen Anforderungen des Berufs unzulänglich ausgebildet. Obendrein schicken wir Polizisten ohne das nötige Rüstzeug in die Brennpunkte unseres ethnisch und sozial gespaltenen Landes. Folglich treffen sie Fehlentscheidungen. Sie jagen einen zu Unrecht Verdächtigten durch eine Seitenstraße, und am Ende gibt es Tote. Polizisten greifen unnötig zu Gewalt, anstatt ihren Verstand einzusetzen. Und so endet mancher Routineeinsatz in einer Tragödie.

Wir nehmen Männer und Frauen in den Polizeidienst auf, die dort nichts zu suchen haben. So mancher Kollege, mit dem ich gearbeitet habe, war eine tickende Zeitbombe, und alle wussten Bescheid. Dazu gibt es haufenweise Polizisten, die trotz zahlreicher Dienstvergehen von einer Strafverfolgungsbehörde zur nächsten ziehen.

Viel zu oft wird das Fehlverhalten von Polizisten aller Dienstgrade von einer Cop-Culture geduldet, die die Loyalität unter Polizisten über die Berufspflicht stellt, die Bevölkerung zu schützen und die so genannte »Blue Line«, die Grenze zwischen Gut und Böse, zu wahren. Officer fürchten sich davor, als Verräter geächtet zu werden, wenn sie einen Kollegen verpfeifen. Und das Schlimmste: Polizisten, deren Vergehen ans Licht kommen, werden so gut wie nie zur Rechenschaft gezogen.

Leider ist unser Bild von der Polizei derart von den Mythen in Filmen und Fernsehserien geprägt, dass wir dem Verhalten unserer Gesetzeshüter viel zu unkritisch gegenüberstehen. Selbst wenn eine Polizeibehörde miese Cops loswerden will oder sich ein Officer wegen des Todes einer Zivilperson vor Gericht verantworten muss, die Öffentlichkeit sucht die Schuld nur selten bei der Polizei, egal, wer das Opfer ist und wie brutal die Tat.

Als ich mit dem Schreiben dieses Buches begann, erzählte ich einem Freund und Ex-Abteilungsleiter beim New York City Police Department, dass ich die Gefahren, denen Polizisten bei der Arbeit ausgesetzt sind, auf keinen Fall herunterspielen wolle. Bei allem Verständnis für ihren Ärger und ihre Enttäuschung wolle ich Afroamerikanern und anderen begreiflich machen, wie schwierig dieser Job sein kann. Mein Freund sagte: »Das ist Schwarzen durchaus bewusst. Was sie nicht begreifen, ist, dass wir, die Polizei, nie etwas falsch machen. Sie verstehen einfach nicht, dass die Polizei immer unschuldig ist, wenn jemand erschossen wird. Dass Polizisten offenbar unfehlbar sind.«

Seit ein paar Jahren rückt die Black-Lives-Matter-Bewegung das Thema Rassismus in der Polizei in den Fokus des öffentlichen Interesses. Über die sozialen Medien macht Black Lives Matter hartnäckig auf Fälle aufmerksam, in denen schwarze Männer von der Polizei erschossen wurden. Mit ihren Protesten und Aktionen hat BLM Hunderttausende Menschen in ganz Amerika wachgerüttelt.

Entgegen allen Behauptungen ist Black Lives Matter nicht polizeifeindlich, so wie die Frauenbewegung nicht männerfeindlich ist und die Bürgerrechtsbewegung nicht weißenfeindlich war. Die Aktionen von Black Lives Matter haben in diversen Polizeibehörden zu Verbesserungen geführt. Die ersten setzen bereits auf Deeskalation und verwenden Body-Cams, um den Umgang ihrer Officer mit der Bevölkerung zu überwachen. Manche, wie das Cleveland Police Department, haben neue Einstellungstests entwickelt, um potenzielle Problemkandidaten gezielt auszusortieren. Andere haben die Ausbildung intensiviert und konzentrieren sich verstärkt darauf, Polizisten in der Bewältigung von Krisensituationen zu schulen, zum Beispiel im Umgang mit psychisch Kranken und Obdachlosen, zwei Personengruppen, die mittlerweile einen Großteil der Einsätze ausmachen.

Nur wenige sind bislang dem Beispiel des Seattle Police Department gefolgt, das seine Officer gezielt darin schult, sich mit den eigenen Vorurteilen auseinanderzusetzen. Der Generalstaatsanwalt von New Jersey hat derweil verfügt, dass jede Polizeibehörde in seinem Bundesstaat ein Trainingsprogramm zu angemessener Gewaltanwendung und zum Abbau von Vorurteilen anbieten muss.

Den meisten Menschen ist klar, dass etwas im Argen ist, doch bei der Frage, was in unserem Land nicht stimmt, gehen die Meinungen weit auseinander. Eine Fülle von Studien belegt, dass weiße und schwarze Amerikaner das Problem völlig unterschiedlich bewerten. In Minnesota, Schauplatz von zwei der prominentesten Todesfälle schwarzer Männer durch Polizeigewalt, befürworten laut einer Umfrage neunzig Prozent der schwarzen Bevölkerung die Kampagnen von Black Lives Matter. Lediglich sechs Prozent ihrer weißen Mitbürger teilen diese Einstellung. Das muss man sich einmal bildlich vorstellen. Neunzig von hundert Schwarzen wandern auf die eine Seite des Raums, und nur sechs von hundert Weißen gehen mit. Alle anderen lehnen Black Lives Matter ab.

Umgekehrt hatten fast alle der weißen Befragten eine positive Einstellung gegenüber der Polizei; bei den Schwarzen war es hingegen nur jeder Vierte. Auch das muss man sich bildlich vorstellen: Achtundneunzig Weiße versammeln sich auf der einen Seite des Raums, und sechsundzwanzig Schwarze stellen sich dazu.

Das ist kein Unterschied. Das ist ein Abgrund.