Impressum
Gesamtherstellung: Verlag Waldkirch KG
Satz & Gestaltung: Verena Kessel
Fotos Umschlag-Rückseite
oben links: Ben van Skyhawk
oben rechts: Bianca Wellbrock
unten links: Thommy Mardo
unten rechts: Bianca Wellbrock
Fotos Umschlag-Vorderseite
Karin Lassen außer unten rechts Thommy Mardo
Fotos Innenteil
S. 8, 33, 161: Ben van Skyhawk
S. 13, 125: Karin Lassen
S. 86, 164: Pia Barchet
S. 143, 176: Bianca Wellbrock
S. 157: Isabella Stadler
S. 219: Ben van Skyhawk / Slowly Veggie, Ausgabe 1/2018
ISBN 978-3-86476-118-8
eISBN 978-3-86476-658-9
Seit 1542 |
Verlag Waldkirch KG Schützenstraße 18 68259 Mannheim Telefon 0621-129 15 0 Fax 0621-129 15 99 E-Mail: verlag@waldkirch.de www.verlag-waldkirch.de |
© Verlag Waldkirch Mannheim, 2019
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlags.

Angefangen hatte alles …
Der Businessplan
Die Hummel
Und täglich grüßt das Mauerwerk
Die Aroma Station
Die Konfitürenverordnung
Was der Bauer nicht kennt
Alles Bio oder was
Des einen Freud, des anderen Leid
Baustellenblues
Stromausfall
Veggie Döner
Die kulinarische Weltreise
»Griaß Di« – Auf geht’s nach Österreich
Hüttenburger (
egan)
Nächste Reiseetappe – Kroatien
Ražnjići (Spieße) mit Tomaten-Dip (
egan)
Merhaba – Wir reisen in die Türkei
Möhren-Köfte (
egan)
Ein Besuch bei Scheherazade – Auf nach Iran
Ash-e Anar für 4 Personen (
egan)
Weiter in den Orient – Pakistan
»Gulab Jamun« – süße frittierte Bällchen (
egan)
Indien – Land der Superlative und Gegensätze
Sambar – indische Linsen in Kokossoße (
egan)
Der Berg ruft – Hoch hinauf nach Tibet und Nepal
Momos (Masu Momo) mit Tomaten-Chutney (
egan)
Willkommen im Reich der Mitte – China
Wintergemüse mit chinesischem Fünf-Gewürz (
egan)
Kleinod am Mekong – Laos
Hamburger Luang-Prabang-Style mit Dip für 4 Portionen (
egan)
Land der Khmer – Kambodscha
Kroeung-Würzpaste
Vive la France – Frankreich
Tarte aux tomates
Aloha – Hawaii
Haupia (Kokosnuss-Pudding) (
egan)
»Golden State« – Kalifornien
California Wrap mit Hummus und Spinat
Land der unbegrenzten Möglichkeiten – Streifzug durch die USA
Zitronige Zucchini-Linsen-Suppe (
egan)
Maimarkt-Interview
Eviva España – Spanien
Spinat-Tortilla
Ars Vivendi – Italien
Spargel Tricolore
Über Venedig in die Toskana
Tagliatelle mit Walnusssoße
Pfingstferien – Griechenland und die Mittelmeerküche
Griechische Gemüse-Linsen-Suppe (
egan)
Samba! – Brasilien
Brasilianischer Schichtsalat für 4-6 Personen als Hauptspeise
Arabische Köstlichkeiten – Reise in den Orient
Libanesische Tomaten-Karotten-Suppe »Schorba Banadora wa Jesar« (
egan) süße Grießschnitten aus Syrien »Harisse«
Very British – Zu Besuch in Großbritannien und Irland
Shepherd’s Pie mit Kürbis-Kartoffel-Haube
Back to the roots – Deutschland
Dibbelabbes
Die Hummel taumelt
Hinfallen, aufstehen, Krone richten, weitergehen
Tapas
Portwein-Champignonpâté (
egan)
Die Sache mit den Jahreszeiten
Erfolg ist eine ständige Baustelle
Essen ist ein Bedürfnis …
Wider Jägerschnitzel und Curry-Wurst
Die mobile Kaffeebar
Die Kaffeebar zieht weiter
Wasser läuft doch nicht bergauf
Und noch eine Kaffeebar
Das Café, das es nicht gibt
Diebstahl
Die erste Messeteilnahme
Baustellen-Blues
Kaffeeplätzchen
Brittas Weg der Kundengewinnung
Doch keine Kaffeebar
Türen, Türchen und die Untermietersuche
Laden zu verkaufen
Taschen, Mode oder …
Das Restaurant nebenan
Feine italienische Küche
Licht am Ende des Tunnels?
Augenweide & Gaumenschmaus
Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer
Lemon-Tonic-Cooler (
egan)
Die absurde Krisenberatung
Die Brandschutztür
Hopp oder top
Die Würfel sind gefallen
Endspurt
Auflösungserscheinungen
Abschied
Das Leben geht weiter

… mit Currywurst, Pommes und Tiefkühlpizza. Neben Käsebrot und Radieschen über Monate hinweg mein Hauptnahrungsmittel. Sonntagnachmittags mit besagtem Brot- und Radieschen-Vorrat in den Zug Richtung Essen, mittwochabends zurück nach Mannheim – ohne das bereits aufgegessene Brot mit Radieschen. Dafür mit einem sich schleichend auffüllenden Kalorienkonto dank der nahezu täglichen Portion Currywurst mit Pommes im Projektbüro. Daheim schnell eine Tiefkühlpizza, Koffer auspacken, Unterlagen für die nächsten beiden Tage richten, ab ins Bett. Ehemann und Katzen bekamen natürlich auch die ihnen zustehende Aufmerksamkeit. Zumindest rudimentär. Donnerstag und Freitag Termine in Frankfurt oder in der Rhein-Neckar-Region (Hauptnahrungsmittel: belegte Brote oder eine schnelle Brezel am Bahnhof), Samstag Wäschewaschen, Kofferpacken und zwischendurch einen Teller Pasta. Sonntag in den Zug, nebst einer Packung Brot, eingeschweißten Käsescheibchen und natürlich auch einer Schüssel Radieschen im Koffer. Überflüssige Pfunde, die sich im Lauf der Wochen rund um die Hüfte ansiedelten, wurden mittels Pilates und Walking am Abend (halbwegs) in Schach gehalten. Auf Essen folgten weitere Projekte in Bocholt (Radfahrerparadies), Köln (hektische Taxifahrer), am Fuße der schwäbischen Alb (man spricht für Kurpfälzer Ohren eine schwer verständliche Fremdsprache), in einem beschaulichen Örtchen bei Heilbronn (Hauptattraktion: die Tankstelle gegenüber vom Hotel), in Karlsruhe (funktionierendes Straßenbahnnetz) …
Die besten Brezeln gibt es übrigens rund um Stuttgart, Currywurst ist in NRW eine Delikatesse. Wer in Essen den ICE Richtung Mannheim besteigen will, orientiert sich am besten Richtung Mitte des Bahnsteigs – in mindestens 50 Prozent aller Fälle fahren die Wagen in umgekehrter Reihenfolge ein – das verkürzt die Rennstrecke zum gebuchten Platz. Taxistände sind in Hockenheim Fehlanzeige, und wer einen Infostand am Bahnhof Pirmasens sucht, ist verloren. Dafür lassen sich die Fenster in einem bestimmten Dreisternehotel in Bocholt nur unter Anwendung roher Gewalt öffnen, und den Föhn teilt man sich mit anderen Gästen (abendliche Absprachen erforderlich). Über die hauseigene Küche dort schweige ich besser (wie haben die eigentlich ihre drei Sterne bekommen?), aber der Pizza-Schnelldienst ist gar nicht übel (sofern man auf Salat verzichtet …).
Aus unterschiedlichen Gründen, die sich wie Mosaiksteinchen zusammenfügten, beschloss ich irgendwann, auf Currywurst, Käsebrot mit Radieschen und Bahnhofsbrezeln zu verzichten, Zugausfälle und den Ansturm auf Ersatzzüge zu meiden und auch keine weiteren Hotelabenteuer mehr zu überstehen. Im zarten Alter von fünfundvierzig plus sollte mein Leben nochmals einen Richtungswechsel bekommen. Also Koffer in den Keller und ran an den Businessplan. Mein Ziel war es – neben dem dauerhaften Schlafen im eigenen Bett (welche Wohltat) und geregelten Arbeitszeiten (hahaha, aber man kann nicht alles haben) – ein Angebot an saisonal und regional orientierten Rezepten zu platzieren, die auch Einzelpersonen in Zeitnot mit überschaubarem Aufwand zubereiten können. Dazu sollten Anregungen für reisetaugliche Speisen ins Repertoire aufgenommen werden, um anderen Reisenden den Dauerverzehr von Käsebrot mit Radieschen und Currywurst mit Pommes zu ersparen. Immer wieder anders schmeckende (Feld-)Früchte genießt man mit aromatischen Kräutern und Gewürzen – natürlich ohne Geschmacksverstärker –, gart oder brät sie mit gutem Öl, verfeinert schon einmal mit einem besonderen Balsamico oder experimentiert mit Senfzubereitungen. Perfekte Produkte fürs Sortiment. Und probieren sollte man natürlich auch können, was sich da mithilfe meiner Zutaten zubereiten ließ. Viele unserer heimischen Ackererzeugnisse kennt man auf der ganzen Welt, nur die Zubereitung ist anders. Kochevents, um diese Vielfalt vorzustellen, gehörten also auch unbedingt dazu.
Die Idee der »Möhre auf Weltreise« – Exotisches für den heimischen Teller, gezaubert aus regionalen Zutaten, verfeinert mit aromatischen Gewürzen – war geboren, der geeignete Laden dafür auch bald gefunden. Ein wunderschöner Jugendstilbau von 1895, ein echtes Juwelchen, das Ladenlokal im Erdgeschoss stand seit Jahren leer. Mit Behördenkram kannte ich mich aus, alles also machbar, wenn das Konzept stimmte. Und im Konzepte entwickeln war ich schon immer gut.
Da ich bis zu diesem Zeitpunkt weder vom Einzelhandel noch von der Gastronomie besondere Ahnung hatte – mit Ausnahme meiner Kenntnisse hinsichtlich Kundenkommunikation – musste zunächst eine gründliche Recherche her. Ich glaube, ich habe damals alles bedacht. Studien über Marktentwicklungen von Verbänden und Statistischen Ämtern wurden ebenso zu Rate gezogen wie Kaufkraftkennziffern der verschiedenen Stadtteile. Preiskalkulationen und infrage kommende Lieferanten der Wunschprodukte recherchierte ich genauestens, Berechnungen hinsichtlich Verfügbarkeit von Zutaten und der Verarbeitungsdauer eigener Erzeugnisse stellte ich akribisch an. Der Ehemann wurde Testopfer und musste u.a. Rote Bete in allen denkbaren und undenkbaren Varianten probieren. Der Rote- Bete-Macchiato mit einem Hauch frisch geriebenem Meerrettich zum Beispiel war prima, aber die Rote-Bete-Muffins mit Sonnenblumenöl ein Albtraum. Falls jemand ein Rote-Bete-Rezept braucht, ich habe bestimmt 30 oder mehr ausprobiert …
Ich suchte nach vergleichbaren Konzepten und wurde in Teilen fündig. Alles ohne Konkurrenzdruck, ähnliche Idealisten fand ich zum Beispiel in Hamburg und Berlin, also weit weg von meinem eigenen Wirkungskreis. Mein Konzept nahm nach und nach Gestalt an, die Finanzierung schien tragbar. Schließlich stand auch kein kostenintensiver Umbau, sondern lediglich eine Renovierung an. Es sollte auch kein Nobelschuppen im Designer-Look werden, also konnte man von akzeptablen Anschaffungskosten ausgehen. Eine große Lagerhaltung war nicht geplant, »Frische« und »Saisonalität« lauteten die Zauberworte. Die Miete bereitete mir etwas Kopfzerbrechen, aber nach ausführlichen Gesprächen mit Steuerberater und kreditgebender Bank kam ich zu dem Schluss: machbar.
Die Hummel hat 0,7 cm2 Flügelfläche bei 1,2 g Gewicht. Nach den Gesetzen der Aerodynamik ist es unmöglich, bei diesem Verhältnis zu fliegen. Die Hummel weiß das aber nicht und fliegt einfach trotzdem. (Arthur Lassen)
Ich bin mir ziemlich sicher, dass Bürokratie eine deutsche Erfindung ist. Bestimmt nur zum Wohle aller, vielleicht mit Ausnahme derer, die auf die Idee kommen, ein Gewerbe aufzubauen, das nicht im Behördenkatalog vorgesehen ist. Üblicherweise eröffnet man entweder einen Einzelhandel ODER einen gastronomischen Betrieb ODER ein Unternehmen im Dienstleistungsbereich. Sollen aber all diese Säulen unter einem Dach vereint werden, stellt das sowohl Antragsteller als auch zu genehmigende Behörde vor ein Problem. Ein lösbares, man muss nur die entsprechenden Formulare finden und geduldig erklären, erklären, erklären. Schwieriger ist da schon die Sache mit einem seit Ewigkeiten leerstehenden Ladenlokal. Denn nach Ablauf einer längeren Frist (die selbstverständlich in meinem Fall lange überschritten war) kann man nicht einfach renovieren und eröffnen. Nein! Behördlicherseits betrachtet man dieses viel zu lange ungenutzte Ladenlokal als eine Art Baugrube, die nur nach Bearbeitung eines Antrags auf Nutzungsänderung ihrem künftigen Zweck zugeführt werden darf. Natürlich kann nicht jeder diesen Antrag stellen, wo käme man da hin! Planstellungsberechtigt (tolles Wort) ist nur ein Architekt, der ein unfassbar dickes Papierwerk an die Behörde abzuliefern hat, inklusive einer Vielzahl maßstabgerechter Grundrisse, Aufrisse, Querschnitte (die in meinem Falle alle neu angefertigt werden mussten, da nirgends irgendwelche Unterlagen existierten). Zu berücksichtigen sind außerdem solche Kleinigkeiten wie Denkmalschutz und Barrierefreiheit. Letzteres ist ein Widerspruch in sich. Denn wenn die Fassade denkmalgeschützt ist, kann eine Ladentür nicht beliebig verbreitert werden. Und Stufen darf man nicht einfach entfernen und durch eine Rampe ersetzen. Aber dafür gibt es ja dann einen Antrag auf Befreiung von der Barrierefreiheit. Das weiß der Architekt, der sich Wissen und Arbeitszeit vergolden lässt. Gut zumindest, dass von vornherein klar war, dass hier kein Umbau stattfindet, sondern »nur« eine Renovierung. Und die konnte parallel zu den diversen Antragsgeschichten stattfinden, sofern sie fachkundig durchgeführt wurde. In gewisser Hinsicht war (bin?) ich wohl eine Hummel, denn ich bin dann mal losgeflogen …
Nachdem Farbgebung, Beleuchtung und Möblierung geklärt waren, mussten eigentlich nur noch ein paar alte Tapeten entfernt, stellenweise neue angebracht, Decken und Wände gestrichen, neue Lampen montiert, die Küche gefliest und in dieser ein rutschfester Boden verlegt werden. Zudem galt es zu prüfen, ob ein Starkstromanschluss für den Herd existierte oder vom Sicherungskasten noch gezogen werden musste. Die Sanitäranlagen sollten raus und durch neue ersetzt werden. Die Wasserleitung zur Küche wollte ich um eine Entkalkungsanlage erweitern. Nichts wirklich Kompliziertes. Eigentlich.

Den Mietvertrag unterzeichnete ich im Dezember 2013. Ganz feierlich war mir zumute, als ich überglücklich meine Unterschrift neben die der Hausverwalterin und des Immobilienmaklers setzte. Der überreichte mir anschließend mit strahlendem Lächeln die Schlüssel und seine Provisionsrechnung. Wegen der nötigen Renovierungen und der Nutzungsänderungsgeschichte (deren Kosten ich alleine tragen musste) durfte ich, dank dem Verhandlungsgeschick meiner ebenfalls anwesenden Steuerberaterin, die Räume bis zur Eröffnung mietfrei nutzen. Mein Wunschtermin war März 2014, allzu lange konnte das alles ja nicht dauern. Der erste Denkfehler: problemlose Verfügbarkeit von Handwerkern. Es ist schier unglaublich, wie schwierig es ist, Handwerker zu finden, die nicht nur Ahnung, sondern auch noch Zeit haben. Und hat man sie endlich gefunden, bleibt die Baustelle dennoch tagelang verwaist, weil geschäftstüchtige Handwerker an allen möglichen Orten parallel arbeiten. Aber mit Geduld und gutem Zureden …
Im ersten Schritt sollten die Malerarbeiten im vorderen Bereich erfolgen. Die Mischung aus düsterem Aubergine und fragwürdigem Toskana-Ocker in Wischtechnik sollte einer lichten Farbgebung aus zartem Grau und cremigem Weiß weichen. Der Sternenhimmel aus stromintensiven Mini-Heizkraftwerken konnte später durch eine moderne Lichtschiene mit energiesparenden LED-Strahlern ohne Wärmeentwicklung ersetzt werden. Einen Teil der Glasfasertapete, auf der anscheinend etliche Farbschichten lasteten, wollten wir entfernen und eine neue anbringen.
Der zweite Denkfehler: Ausbesserungsarbeiten sind keine große Sache. Nach knapp drei Wochen (in denen insgesamt nur an zwei Tagen gearbeitet wurde) eröffneten mir die Maler, dass der Plan so nicht aufginge, da sich beim Entfernen der alten Tapete, die hartnäckig darauf bestand, an Ort und Stelle zu verbleiben, auch Teile des Putzes lösten. Würde man nun die schadhaften Stellen flicken, bekäme man keinesfalls ein einheitliches Bild hin. Ihre Empfehlung: alle Tapeten runter, wo nötig den Putz ausbessern, alles verspachteln, tapezieren und dann streichen. Würde nur zwei bis drei Tage länger dauern. Dass diese zwei bis drei Tage letztendlich in mehrere Wochen gipfeln könnten, kam mir nicht in den Sinn. Handwerker haben eine andere Definition von Zeit. Außerdem brauchen Maler um Weihnachten herum Urlaub. Etwa vier Wochen lang blieben Pinsel und Spachtel zugunsten der Malerfamilien unberührt. Wer hätte dafür kein Verständnis?
Bevor die Küche in Angriff genommen werden konnte, musste der Elektriker zunächst einen Blick auf die Leitungen werfen. Und schon meldete sich Denkfehler Nummer drei. Von wegen nur mal schauen, ob der Starkstromanschluss bereits dort ist, wo er hinsollte! Der stellte das kleinere Problem dar. Schlimmer war die Entdeckung, die der Elektriker bei seiner Überprüfung machte. Es stellte sich nämlich heraus, dass die gesamten Leitungen in den hinteren Bereichen nur zweiadrig statt dreiadrig, wie sie sein mussten, waren. Was bedeutete, dass nach hinten die Wände aufgeklopft und die komplette Elektrik neu verlegt werden musste. Betroffen waren Flur, die künftige Küche und das Büro. Auf mein Flehen hin, dabei möglichst geringe Kollateralschäden anzurichten, reagierte der Elektriker verständnisvoll. Was aber nichts nützte. Bei jedem Schlitz, den er klopfte, bröselte der Putz. Mir standen neben Sorgenschweißperlen auf der Stirn weitere umfangreiche Ausbesserungsarbeiten ins Haus.
Wie umfangreich die werden sollten, zeigte sich bei den Vorbereitungen für die Fliesenarbeiten in der künftigen Küche. Die Leitungen waren verlegt, nun musste auf eine Höhe von zwei Metern gefliest werden. Darüber waren abwaschbare Tapeten geplant. Da die alte Tapete unbrauchbar war, sollte sie vorsichtig entfernt werden. Das Ergebnis war ein Raum ohne Putz, der den Blick auf das durchaus interessante Fachwerk von 1895 – inklusive der auf die Holzbalken angebrachten Strohmatten – erlaubte. Hat schon was, wenn man die Steine berührt, die staubbedeckte Zimmerleute Generationen zuvor mühevoll gemauert hatten. Bringt nur Zeit- und Berechnungspläne vollkommen durcheinander. Das gleiche Bild bot sich im angrenzenden Büro. Dort verzichtete ich anschließend auf verschönernde Tapeten. Wir beschlossen, direkt aufs neu verputzte Mauerwerk zu streichen.
Um den antiken Dielenboden in der Küche in spe zu schützen, beauftragte ich einen Fachbetrieb für Bodenbeläge damit, zunächst Spanplatten zu verlegen und darauf dann den extra ausgesuchten, gastronomiegeeigneten und rutschfesten Belag aufzubringen. Ich glaube, dies war die einzige Arbeit, die während der gesamten Renovierung ohne Überraschungen und im veranschlagten Zeitrahmen erfolgte.
Die Personaltoilette, direkt neben der Küche gelegen, schien die kleinste Baustelle zu sein. Mussten ja nur Toilette und Waschbecken ausgetauscht und ein kleines Loch zur Küche gebohrt werden, um diese mit Wasser zu versorgen. Sinnvollerweise so, dass das Abwasser in einem kleinen Gefälle auch abfließen kann. Das hatten die Sanitärleute dann etliche Monate nach der Fertigstellung auch so gesehen. Genauer gesagt, nachdem die erste Überschwemmung in der Küche für unliebsame Überraschungen sorgte. Die Leitung war nämlich so angebracht, dass dieses Gefälle fehlte. Mit dem Ergebnis, dass sich im Lauf der Zeit immer wieder Ablagerungen bildeten, die irgendwann zum Rückstau führten. Also unbedingt auf Siebe im Waschbecken-Abfluss achten – und wehe eine meiner Aushilfen schob die Dinger heimlich zur Seite! Nach besagter Überraschung, die mit einem ordentlichen Teich in der Küche einherging, wurden übrigens die diversen Schläuche der Spülmaschine mittels Kabelbindern äußerst trickreich so fixiert, dass ein leichtes Gefälle entstand. Gut, wenn Sanitärleute eine kreative Ader haben. In meinen Räumen entwickelten die verschiedenen Spezialisten ungeahnte Talente.
Nachdem die Gästetoiletten im Keller mit neuen sanitären Anlagen versehen waren, konnten auch dort die Verschönerungsarbeiten beginnen. Die alte Wand- und Deckenfarbe blätterte ab. Und so gelungen empfand ich das gelb-orange, mit dem der Vorbesitzer vermutlich eine mediterrane Stimmung erzeugen wollte, ich aber eher einen Drogenrausch assoziierte, wahrlich nicht.
Lange hatte ich mit den Malern beratschlagt und mich dann für eine pragmatische Lösung entschieden: Ich würde in Eigenarbeit alles, was abblätterte, entfernen, etwaigen losen Putz abklopfen, die Maler konnten anschließend verspachteln und neu streichen. Natürlich hätte man sich auch überlegen können, ob man von Grund auf alles erneuert, also runter mit dem gesamten Putz, einen speziellen Haftputz für Kellerräume aufbringen und dann schick tapezieren und streichen. Doch der Aufwand wäre enorm gewesen, die Kosten entsprechend hoch. Und dann diese schiefen Wände – eine Herausforderung für jede Tapetenbahn. Nein, da wollte ich doch lieber in qualitativ hochwertige Produkte investieren und mich weniger mit dem Wand- und Decken-Design am stillen Örtchen verkünsteln. Sauber sollte es sein, hell und freundlich bitte auch. Aber meine künftigen Gäste musste ich sicherlich nicht mit coolem Glasgewebe und raffinierten Farbschattierungen auf dem Weg zum WC beeindrucken.
Soweit mal wieder die Theorie. Die Praxis bedeutete, dass mein Ehemann alleine im Staub badete, da er unvorsichtigerweise vorschlug, das Abklopfen zu übernehmen (»halbe Stunde, Stunde, dann ist das erledigt, du brauchst sonst ewig dazu«). Von wegen ein bisschen Putz und abblätternde Farbe! Wie schon bei vergangenen Aktivitäten, wo nur »ein bisschen alte Tapete« entfernt werden sollte, holte uns auch hier die Realität schnell ein. Wo man ein bisschen loses Zeugs abknibbelte, landete man flott viel tiefer als beabsichtigt im Gemäuer und schon war die halbe Wand freigelegt. Tja, mit ein bisschen Spachteln war es dann auch nicht getan. Also doch ein schickes Klo.
Die Maler stöhnten zuvor schon mehrfach: »Bei Ihnen ist es gefährlich. Man erlebt dauernd irgendwelche Überraschungen, wenn man etwas anfasst.«
»Und täglich grüßt das Mauerwerk« dürfte der Film zum »Making of« meines Ladens heißen.
Wenn sich auch die Baustelle in diesen Monaten fest in der Hand der verschiedenen Gewerke befand, so war ich selbst nicht untätig. Ich erlebte eine geradezu unheimliche Wandlung. Wenige Wochen zuvor für mich noch gänzlich undenkbar, schlenderte ich mittlerweile mit wachsender Begeisterung durch Baumärkte. Was gab es da nicht alles zu entdecken. Türbeschläge, verschiedenste Besen, Badzubehör, Farbeimerchen, Schrauben und Riegel. Und erst die Vielfalt an Schmirgelpapier! Das brauchte ich tatsächlich in rauen Mengen.
Die Winterzeit hatte ich unter anderem mit der Instandsetzung eines Jugendstilfensters, das bei einer Wohnungssanierung eine Etage oberhalb des Ladens entsorgt wurde, kreativ genutzt. In mühevoller Kleinarbeit hatte ich es von unzähligen Lackschichten befreit (bei der schätzungsweise fünfzehnten Lackschicht erahnte ich die wahre Bedeutung des Begriffs »Sisyphusarbeit«) und im Lauf dieser Zeit gelernt, dass so etwas nicht mit Nagellackentferner funktioniert und dass mit »am besten mit einem Föhn erwärmen und dann abschleifen« auch nicht ein profaner Haarföhn gemeint war. Am Ende habe ich das gesamte Teil per Hand mit Schmirgelpapier freigelegt und mir für Feinarbeiten extra einen Dremel geleistet. Als alle Farbe weg war, half mir mein Ehemann, Tafelfolie anstelle des Fensterglases anzubringen. Und fortan hing mein Meisterstück gut sichtbar für jedermann an der Wand und kündigte Veranstaltungen und Specials an. Ich bin fast geplatzt vor Stolz, als mein Werk beendet war – das erste Mal in meinem Leben hatte ich etwas Handwerkliches vollbracht. Die schmerzhaften Blasen an den Händen, verursacht durch völlig ungewohnten Einsatz dieser Extremitäten, waren schnell vergessen. Eine Schwiele ist geblieben – meine Heldennarbe!
Mittlerweile schrieben wir April 2014. Den angedachten Eröffnungstermin im März hatte ich zähneknirschend erst einmal verschoben, es fehlte noch immer die Genehmigung vom Bauamt, dem seit einigen Wochen, nach rund 60-stündiger Arbeit des Architekten, 195 Din A4- und 15 Din A3-Seiten zur Entscheidung vorlagen. Die Küche wurde geliefert, die Schreiner stellten die Ladeneinrichtung fertig, nur die Betriebsgenehmigung wollte und wollte nicht erfolgen. Irgendwann stellte sich heraus, dass das Bauamt noch immer auf ein Formular vom Architekten wartete, der jedoch keine Lust mehr hatte und zudem mit der zuständigen Sachbearbeiterin nicht klarkam, die er anscheinend auch noch beschimpft hatte. Irgendwie gelang es mir, die Wogen zu glätten, auch mit dem sorgenvollen Hinweis, dass meine Kapitaldecke bedrohlich schrumpfte. Was als Reserve für die ersten beiden Jahre gedacht war, wurde zum einen durch die unerwartet hohen Renovierungskosten und zum anderen durch den fehlenden Umsatz bei weiterer Wartezeit aufgefressen. Nach langem Hin und Her eröffnete ich am 30.05.2014 die Aroma Station; die Möhre konnte endlich ihre Weltreise antreten.
Mit dem erwachenden Frühling startete ich parallel zur Baustellenbeaufsichtigung und Fensterinstandsetzung die Rhabarber-Verarbeitung. Bei Eröffnung sollten schließlich schon erste hausgemachte Köstlichkeiten in den Regalen stehen. Insgesamt rund 60 Kilo Rhabarber verwandelten sich in Saft, Sirup, Gelees, Konfitüren und Chutneys. Kleine Hängeetiketten informierten über den jeweiligen Inhalt. Gestalterisch hatte ich mir große Mühe gegeben. Mit dem Erstbesuch des Wirtschaftskontrolldienstes einige Wochen nach der Eröffnung erhielt meine diesbezügliche Euphorie einen leichten Dämpfer, denn nun machte ich Bekanntschaft mit mir bis dato gänzlich unbekannten EU-Vorschriften (Saftverordnung, Konfitürenverordnung, Kennzeichnungsverordnung).
Glücklicherweise waren die Kontrolleure zwar streng in der Auslegung dieser Vorschriften, aber auch hilfsbereit dem Ersttäter gegenüber. Ich lernte, dass die Zutaten immer und ausnahmslos in mengenmäßig absteigender Reihenfolge aufzuführen sind. Vorangestellt werden MUSS das Wort »Zutaten«. Mit einem Doppelpunkt dahinter. Etwaige Allergene (dafür gibt es spezielle Listen) sind fett oder farbig zu kennzeichnen. Die Mengenangabe auf einem Marmeladengläschen darf nur in Gramm angegeben werden und keinesfalls in Millilitern, auch wenn das Gläschen Milliliter fasst. Milliliter gibt es nur bei Flüssigem. Ein Mindesthaltbarkeitsdatum muss drauf (wie man das ermittelt, bleibt einem im Grunde selbst überlassen. Bei einer Warenprobe, die beliebig gezogen werden kann, stellt ein Lebensmittellabor dann schon fest, ob die Angabe korrekt ist).
Mengenangabe und Mindesthaltbarkeitsdatum müssen auf die Vorderseite des Etiketts. Schreibt man sie aus Platzgründen auf die Rückseite, muss auf der Vorderseite ein Hinweis angebracht werden, dass sie auf der Rückseite zu finden sind. Eine Marmelade ist nur eine Marmelade, wenn sie aus Zitrusfrüchten besteht. Ob man tatsächlich eine Konfitüre gekocht hat, kann eigentlich nur lebensmitteltechnisch ermittelt werden. Nicht alles, was wir ein Leben lang als Konfitüre geliebt haben, ist auch eine im Sinne der Konfitürenverordnung der EU. Gleiches gilt auch für Gelee. Von wegen, ich habe das Gelee so gekocht, wie meine Oma schon vor 100 Jahren. Nur weil meine Oma etwas gekocht hat, was anschließend als Gelee verspeist wurde, bedeutet nicht, dass dies auch heute noch ein Gelee-Rezept darstellt. Die EU weiß das besser und hat einen mehrseitigen Katalog erstellt, der das genauestens definiert. Es hängt unter anderem vom Verhältnis Zucker zu Frucht ab. Mit einem Gelierzuckeranteil von 2:1 beispielsweise ändert man dieses Verhältnis schon und darf nicht mehr ungestraft von Gelee sprechen. Am besten lässt man auch hier seine Gläser von einem Labor untersuchen, die sagen dann schon, ob es sich bei dem Gelee um ein Gelee handelt oder nicht. Aus Kostengründen und der Einfachheit wegen standen in meinen Regalen seither nur noch Fruchtaufstriche. Diese Bezeichnung ist unkritisch.
Auch bei der Bezeichnung »Saft« sollte man sich in die Regelwerke vertiefen und hoffen, dass man sie auch versteht. Meinen (Rhabarber-)Saft hatte ich mittels Dampfentsaftung gekocht. Bei der Dampfentsaftung kommen die Früchte (zusammen mit Zucker und den gewünschten Gewürzen) in einen Korb, der sich über einem mit Wasser gefüllten Topf befindet. Beim Kochen steigt Dampf in den Korb, der dann den Früchten den Saft entzieht. Dieser sammelt sich in einem Auffangbehälter, von dem aus man ihn in Flaschen ablaufen lässt. Im Korb zurück bleiben reichlich blasse und ausgemergelte Fruchtreste. Nun darf ein Saft nur Saft heißen, wenn ihm kein Wasser zugefügt wird. Die Gretchenfrage lautete: Wurde durch den Dampf Wasser zugefügt oder nicht? Glücklicherweise findet sich in den Untiefen der Regularien ein Hinweis, dass ein Saft auch dann ein Saft ist, wenn mittels Wasserdampf der Saft extrahiert wurde. Gott sei Dank musste ich kein Fruchtsaftgetränk verkaufen wie befürchtet!
Ein Jahr später stellte ich die Kontrolleure vor eine weitere Herausforderung. Um ja keinen Fehler zu machen, fragte ich sicherheitshalber vor Abfüllung meiner neuesten Kreation nach, wie ich denn einen »Vin des noix«, den ich nach original französischem Rezept gerade im Topf hatte, korrekterweise bezeichne. Man darf nämlich nur einen deutschen Begriff verwenden, wobei nach Weinverordnung die Bezeichnung »Wein« strengstens reglementiert ist. Für einen Likör waren Alkohol- und Zuckergehalt zu gering. Nach zahlreichen Rücksprachen mit diversen Experten und Laboren erhielt ich einige Wochen später die Auskunft, dass es sich um ein »weinähnliches Getränk« handelte …
… frisst er nicht. Sagt der Volksmund. Vielleicht liegt es auch einfach daran, dass Mannheim nicht Berlin ist. Und manche Ideen, die die Bewohner Berlins begeistern, lassen den Kurpfälzer kalt. Oder sie sind zu neu und daher noch nicht vertrauenswürdig.
Nach knapp einem halben Jahr jedenfalls war ich des Erklärens müde und beerdigte meine Idee, wöchentlich einen neuen Tisch mit einem Rezept samt Zutaten aus dem Trockensortiment (zum Beispiel Linsen, Reis, Kichererbsen) und Gewürzen zu präsentieren, den dazugehörenden Küchenservice (Einkauf der Gemüsezutaten, in der gewünschten Menge geputzt und topffertig vorbereitet) anzubieten und das Gesamtpaket auch noch verkaufen zu wollen.
Etliche Besucher der Aroma Station fanden diese Idee zwar richtig toll, begriffen aber nicht, dass die in mühevoller Detailarbeit erstellten Rezepte mit ihren Schritt-für-Schritt-Anleitungen, Fotos und Hintergrundinformationen nicht zum Mitnehmen gedacht waren (»Ach, ich dachte, das Rezept ist kostenlos«). Wieder andere wollten sich das unbedingt merken und den Service zu einem späteren Zeitpunkt nutzen, der jedoch nie eintrat. Und dann gab es noch die Kategorie Menschen, die ohnehin »einfach nur mal gucken« wollten und den Laden mit maximal einem Gläschen Senf, in der Mehrheit aber nur einem »Schön haben Sie es hier!« wieder verließen.
Nachdem die Tasten »Rezept« und »Küchenservice« auf der Registrierkasse nach Monaten noch immer jungfräulich und unbenutzt waren, habe ich auf das wöchentliche Umdekorieren dieser Präsentationstische schweren Herzens verzichtet und mein Lieblingsangebot gestrichen. Ich war nicht die Einzige.
Einige Wochen nach mir eröffnete in einer wesentlich belebteren Gegend ein anderer Laden, der ebenfalls mit wechselnden Rezepten und den dazugehörigen Zutaten ein Gesamtpaket verkaufen wollte – er hatte es auch nach kurzer Zeit wieder gelassen, sich stattdessen auf Pastagerichte zur Mittagszeit konzentriert und nach weniger als drei Jahren seinen Betrieb ganz eingestellt. Anscheinend funktioniert derlei nur in Berlin oder via Internet, wo man solche Rezepte samt Zutatenboxen abonnieren kann. Wobei sich mir bis heute nicht erschließt, warum man sein Gemüse nach einer Deutschlandreise in Kühlboxen vom Paketboten beziehen muss, wenn man es doch marktfrisch aus der Region und küchenfertig vorbereitet vom Laden um die Ecke bekommen könnte.
Da der Rezepte-Zutaten-Küchenservice nicht überzeugen konnte, beschloss ich, stattdessen mein Sortiment um eine größere Auswahl an Bioprodukten als ursprünglich geplant zu erweitern. Schließlich musste ich auch daran denken, dass irgendwann die heimischen Früchte, wachstums- und erntebedingt, eine längere Pause einlegten und die Fruchtaufstrich-, Saft- und Chutney-Produktion dann einen Stillstand erdulden müsste. Die sich leerenden Regale nur mit Senf aus der Region und Gewürzen zu befüllen, machte wenig Sinn. Denn um davon die Miete zahlen zu können, müsste ich schon Tonnen verkaufen, was bei all den Aldi-, Edeka- und Rewe-Märkten in der Nähe eher unwahrscheinlich schien. Aber ein ansprechendes Bio-Trockensortiment, das fehlte in der Nachbarschaft. Weil zunehmend Menschen mit Interesse an veganen Produkten meinen Laden entdeckten, wollte ich auch dieser Kundschaft ein handverlesenes Sortiment anbieten.
Möglich machte dies ein Bio-Großhändler, der – im Gegensatz zu vielen anderen – keinen Mindestumsatz verlangte. Bei ihm bezog ich nun alles, was das Bio-Herz begehrte. Verschiedene Mehle, Linsen, Kichererbsen, Reis, Nudeln, Leinsamen, Sesam, Sojamilch, Mandelmilch, Kokosöl, Rapsöl, diverse Essige, vegetarische und vegane Brotaufstriche, glutenfreie Produkte, Seitanpulver, ein paar Süßigkeiten, vegane Powerriegel und wechselnde Aktionsprodukte fanden ihren Platz in meinen Regalen. Etwas Kühlware, wie Tofu, Räuchertofu und vegane Würstchen, wanderte in den Kühlschrank, und der Tempeh einer kleinen Manufaktur aus der Nähe bekam ein Plätzchen im Tiefkühlfach. Was ich nicht verkaufte, verwendete ich für meine eigenen Zubereitungen, denn auch die Nachfrage nach einem Mittagstisch stieg langsam an.
Meine Kunden wollten sich nicht mehr nur mit einem Sandwich, Panini oder Salat begnügen. Auch ein warmes Mittagessen war gefragt. Das war eine Gratwanderung, schließlich hatte ich nur die Genehmigung für eine Zubereitungsküche, nicht aber für ein umfassendes gastronomisches Angebot. Doch es gelang mir, ein tägliches kleines Gericht anzubieten, das dem Anspruch »Mittagstisch« gerecht wurde, den Rahmen »Snack« aber nicht sprengte.
Einer meiner Topseller zur Mittagsstunde war der Veggie Döner. Hierzu rührte ich zunächst den Seitan mit Gewürzen aus meinem Sortiment an, kochte ihn und marinierte ihn dann mit Shawarma, das man in der libanesischen Küche für Fleisch am Spieß verwendet. Anschließend wurde er in feine Streifen geschnitten und in der Pfanne scharf gebraten. Das Ergebnis ließ sich durchaus mit dem messen, was man von der Imbissbude als Döner kennt. Das Ganze wurde mit etwas Salat und einer hausgemachten veganen Mayonnaise in ein Fladenbrot gepackt und mit einer ordentlichen Salatbeilage serviert. Lecker!
Die Kombination schien gelungen – die Produkte aus dem Regal wanderten ins Mittagessen. Einige Gäste wollten die Gerichte nachkochen und kauften die erforderlichen Zutaten, die sie im Regal fanden. Natürlich Bio.
Ungefähr zum gleichen Zeitpunkt traten Bioprodukte und vegane Lebensmittel ihren unaufhaltbaren Siegeszug in Discounter und Supermärkte an, die ihr Sortiment entsprechend rasant ausbauten. Es ist ja wirklich prima, dass man im Supermarkt nicht mehr nur den üblichen Verdächtigen in Form von Fertigprodukten, Konserven, geschmacklosem Treibhausgemüse, Schokoladenbergen, Chipstüten und überzuckerten Limonaden begegnet, sondern auch hochwertige Erzeugnisse aus Bioanbau und – für Veganer – sogenannte tierleidfreie Lebensmittel erhält. Da greift fast jeder Kunde gerne einmal zu, probiert aus und erledigt seinen Wocheneinkauf auf einen Rutsch im Vollsortimenter. Beladen mit genfreien Tomaten, Vollkornmehl, Bioreis, Kokosöl, Tofubratlingen, veganem Brotaufstrich und den darüber hinaus benötigten Alltagsartikeln wie Toilettenpapier, Geschirrspülmittel, Marmelade aus industrieller Herstellung und WC-Reiniger tritt er zufrieden den Heimweg an.
Blöd nur für kleine Läden, die sich auf eben diese Bio- und Nischenprodukte konzentriert haben. Denn warum als Kunde in ewiger Zeitnot extra noch einen Umweg machen, wo doch so alles auf einmal im Einkaufskorb landet? Auch die Preispolitik der Biogroßhändler hilft dem kleinen Ladenbesitzer nicht. Denn zu allem Überfluss erhalten die Großabnehmer bedeutend niedrigere Einkaufspreise. Um konkurrenzfähig zu bleiben, lässt sich am Verkaufspreis nichts ändern, entsprechend gering ist die Marge des Einzelkämpfers. Der arme Tropf müsste den Umsatz deutlich steigern, um seine laufenden Kosten tragen zu können – was aber hinsichtlich des nachvollziehbaren Kaufverhaltens seiner Kundschaft mit Hang zum »alles auf einmal« nicht ohne weiteres gelingt. Daher: Vorhang auf zur nächsten Runde des permanenten »sich Neuerfinden«.
Nachdem sich herausstellte, dass das Interesse am Biosortiment zwar unverändert hoch (»Oh toll, Sie haben ja auch Quinoa / Bio-Vollkornmehl / …«), die Neigung meiner Kunden, dieses auch bei mir zu erwerben, aber rückläufig war (»Habe ich mir gerade bei Edeka / Rewe / Lidl / … gekauft«), nahm ich diese Produkte nach und nach wieder aus dem Sortiment, brauchte sie für meinen Mittagstisch auf und machte mich auf die Suche nach Ersatz in Form von Feinkost, die man (noch) nicht in den Supermarktregalen fand. Über verschiedene Messen (Slow Food, Veggie, Frei von), die oft von mir wohlgesonnenen Mitmenschen besucht wurden, die mich dann anschließend mit Flyern der verschiedenen Aussteller versorgten, stieß ich nach und nach auf Hersteller, die ähnlich wie ich arbeiteten. Weitere Anbieter fand ich durch umfassende Recherchen in der digitalen Welt oder wurde durch Empfehlungen auf sie aufmerksam. Und so füllten bald feine Senf-, Kräuter-, Salz- und Essigzubereitungen die Lücken, die Mehl, Quinoa, Mandelmilch und Räuchertofu hinterlassen hatten. Feinkost aus kleinen Manufakturen, vieles davon aus der Region, bereicherten nun die Aroma Station und machten sie zu einem Anziehungspunkt für Menschen mit einem Faible für Genuss; für die, die das Besondere suchten.
… oder die unendliche Geschichte der Bauarbeiten, die die Aroma Station das ganze Jahr 2014 begleiteten.