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Sabrina J. Kirschner

Zwei Herzen – Eine Pferdeliebe: Pias Geschichte

Zwei Mädchen. Zwei Pferde. Ein großes Geheimnis.

Pia liebt Pferde! Immer wieder träumt sie von einem goldbraunen Pferd. Da passiert es: Auf der Klassenfahrt stürzt sie vom Pferd – und wacht in einem neuen Leben auf. Denn sie wird mit der reichen Gestütstochter Marie verwechselt, die ihr bis aufs Haar gleicht. Pia will den Irrtum aufklären, als sie ihn sieht: Goldglanz, das Pferd ihrer Träume! Er gehört Marie und soll verkauft werden. Nur Pia kann ihn retten – wenn sie in die Rolle von Marie schlüpft …

Die Serie »Zwei Herzen – Eine Pferdeliebe« umfasst zwei Bände, dieses ist der erste Band.

Wohin soll es gehen?

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Für Di Sandro
Einer kann nach den Sternen greifen,
zwei können sie erreichen.

Wenn ich ihn reite, so schwebe ich, ich bin ein Falke. Er trabt durch die Lüfte, die Erde singt, wenn er sie berührt.
William Shakespeare

Der Hengst stand reglos in seiner Box. Sein Hals hing tief, die dunklen Augen waren fast glanzlos. Eine fette Schmeißfliege krabbelte über sein goldenes Fell, er zuckte nicht. Auch das geschäftige Treiben auf der Stallgasse nahm er kaum wahr. Wozu auch? Er hatte die Hoffnung längst aufgegeben. Hin und wieder knabberte er am Stroh.

Als er noch jung war, ja, da war alles anders gewesen! Da hatte er übermütig in seinem Stall getobt, hatte gegen die Wände geschlagen, auf der Stelle gebockt und manchmal einen Pfleger in den Arm gezwickt. Doch mit der Zeit war er ruhiger geworden, hatte gelernt, dass es keinen Zweck hatte, sich aufzubäumen. Nichts würde sich jemals ändern. Es war so, wie es war.

Draußen wieherte eine Stute. Der Wind trug ihren hellen, schrillen Ruf durch das offene Stallfenster. Es war ein schöner Stall – sauber und geräumig –, aber es war eben nur ein Stall.

Langsam drehte der Hengst ein Ohr in Richtung Fenster. Wie es wohl wäre, mit den anderen über die große saftige Wiese zu galoppieren? Die feuchte Erde unter den Hufen zu spüren? Der Geschmack von jungem Gras … Die salzige Meeresluft in den Nüstern …

Die fette Fliege landete direkt neben seinem Auge. Der Hengst blinzelte und schüttelte sich endlich. Dann kaute er weiter Stroh.

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Pia hatte die Augen geschlossen. Hinter ihren Lidern tanzten bunte Lichter mit schwarzen Sprenkeln. Sie drehte den Kopf zur Sonne, um die Schwärze zu vertreiben. Die Lichter wurden größer, weiteten sich aus, leuchteten golden.

Pia entspannte sich. In dem winzigen Raum hinter ihren Lidern fühlte sie sich nahezu unsichtbar, genau wie früher, wenn sie als kleines Mädchen Verstecken gespielt hatte. Sie seufzte. Fast konnte sie den Duft von frisch geschnittenem Gras riechen im Frühsommerwind, der ein sanftes Schnauben an ihr Ohr trug …

Pia saß am Rand der Koppel unter der Eiche, ihrem Lieblingsplatz, und sah den Pferden beim Grasen zu. Der Baum spendete Schatten, an seinen breiten Stamm konnte sie sich anlehnen, seine tief reichenden Äste verbargen sie. Selbst von dem schmalen Fußweg aus, der von der Straße zur Koppel führte, war Pia unsichtbar.

In Gedanken versunken beobachtete sie die vier Warmblüter auf der Weide, als wie aus dem Nichts ein fünftes Pferd herbeigesprungen kam. Es bäumte sich auf und dann galoppierte es stolz und erhaben direkt auf Pia zu. Ihr Herz begann zu trommeln. Das Pferd schien von innen heraus zu leuchten! Wie flüssiges Gold verschwamm seine Silhouette mit dem Sonnenlicht. Pia stockte der Atem. Ohne das imposante Tier zu kennen, spürte sie instinktiv, dass sie zusammengehörten. Er und sie. Ihr Seelenpferd. Ihr Partner.

Wie es wohl wäre, einfach aufzuspringen und loszugaloppieren? Das weiche Fell unter den Händen zu spüren? Die raue Mähne zwischen den Fingern hindurchgleiten zu lassen, zu spüren, wie sich das Trommeln seiner Hufe mit ihrem Herzschlag vereinte …

„He, kannst du nicht mal die Füße einziehen?!“, zischte ein Mädchen und trat grob gegen Pias Wade. Das Buch auf ihrem Schoß klatschte auf den Boden.

Erschrocken schlug Pia die Augen auf und das goldene Licht hinter ihren Lidern zerstob. Plötzlich saß sie nicht länger an einer sonnenbeschienenen Koppel, sondern wieder in einem dunklen Reisebus. Der Geruch nach alten Synthetiksitzen und Wurstbrot stieg ihr in die Nase.

„Tut mir leid“, sagte Pia mit dünner Stimme, aber da war das Mädchen, ihre Mitschülerin Helene, bereits weitergegangen und setzte sich weiter vorn neben ihre beste Freundin Zoe.

Pia zog ihre langen Beine ein und klemmte die Füße unter den Sitz ihres Vordermanns Marven. Sie war froh, dass sie einen Platz hinter ihm ergattert hatte. Marven ließ sie wenigstens in Ruhe. Der Sitz neben ihr war frei geblieben, was im Grunde nicht weiter verwunderlich war. Der Bus hatte über 50 Plätze – für 24 Schüler, und Pia war längst nicht die Einzige, die allein saß. Trotzdem schmerzte es.

Pia beugte sich herunter, um ihr Buch aufzuheben.

„Suchst du das hier?“ Marven hatte sich zu ihr umgedreht und streckte ihr den abgewetzten Roman entgegen.

Sofort spürte Pia, wie ihr die Röte in die Wangen schoss. „Ähm, ja … danke.“ Verlegen griff sie nach dem Buch.

„Kein Ding“, erwiderte Marven knapp und drehte sich zurück nach vorn. Eine Quasselstrippe war Marven nicht gerade. Aber vielleicht mochte Pia ihn genau deshalb.

Sorgfältig strich sie den Einband ihres Buches glatt, legte es auf den freien Platz neben sich und sah aus dem Fenster. Sie hatten die Autobahn bereits vor einiger Zeit verlassen. Jetzt fuhren sie über eine Landstraße Richtung Küste, vorbei an ausgedehnten Wiesen und den stählernen Riesen der Hochspannungsleitungen und Windkrafträder, zwischen denen wollige weiße Schäfchen grasten. Als Pia die Augen zusammenkniff, sah sie in der Ferne einen dünnen silbernen Streifen aufblitzen.

Das Meer.

Pia war noch nie am Meer gewesen. Überhaupt hatte sie noch nicht viel von der Welt gesehen. Auch darum hatte sie sich so auf diese Klassenfahrt gefreut. Sie würden acht Tage auf einer Nordseeinsel verbringen, aber das Beste daran war, dass es dort auch einen Reiterhof gab!

Pia seufzte. Seit sie ein kleines Mädchen gewesen war, träumte sie davon, einmal auf einem Pferd sitzen zu dürfen, und nun – endlich! – würde ihr Traum in Erfüllung gehen!

Der Bus wurde langsamer und rollte schließlich in Schrittgeschwindigkeit zum Anleger der Fähre, die sie auf die Insel bringen würde.

Die meisten Schüler waren jetzt aufgestanden. Nach der langen Fahrt hatte keiner mehr Lust zu sitzen. Neugierig sahen alle aus dem Fenster.

Marven zog seine Kopfhörer aus den Ohren und tippte Melina, seiner Sitznachbarin, auf die Schulter. „Sind wir da?“

Das etwas kräftigere Mädchen mit langen aschblonden Haaren nickte und packte sein Salamibrot ein. „Jetzt müssen wir nur noch zur Insel übersetzen. Hach, bin ich aufgeregt! Das wird ultraspitze!“ Melinas Tasche war voll mit Wurstbroten. Darum hatte außer Marven auch niemand neben ihr sitzen wollen.

Pia hätte ihr sofort den Platz neben sich angeboten, aber sie hatte sich nicht getraut, aus Angst, auch von Salamibrot-Melina einen Korb zu bekommen.

Ein Lautsprecher knackte. Pia sah nach vorn. Ihre Klassenlehrerin Frau Winkler hatte das Mikro ergriffen.

„Alle mal herhören!“, rief sie durch den Bus. Das Mikro quietschte ohrenbetäubend. Erschrocken zuckte Frau Winkler zusammen und sah hilflos zum Busfahrer. „Was mache ich falsch? Hallo? Das geht irgendwie nicht!“ Frau Winkler war die jüngste Lehrerin an Pias Schule und immer etwas übermotiviert und konfus.

Pia sah die Hand des Busfahrers auftauchen und das Mikro ein Stück von Frau Winklers Gesicht wegziehen.

„Ah … danke! Wunderbar! Großartig!“, rief sie. Dann wandte sie sich wieder an die Klasse: „Wir müssen während der Überfahrt den Bus verlassen. Ich möchte, dass wir uns alle draußen vor der Tür sammeln und dann gemeinsam an Deck gehen. Was meint ihr, kriegen wir das hin?“

Pia hatte da so ihre Zweifel. Schon jetzt herrschte wildes Gedrängel, denn jeder wollte als Erstes raus. Sie schaute noch einmal aus dem Fenster und sah grauen Asphalt, schwarz glänzende Pkw und einen mit bunten Graffiti beschmierten Kiosk hinter der Scheibe vorüberziehen, bevor der Bus auf die Rampe fuhr und im Bauch der Fähre verschwand.

Pias Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen, und nun, da sie ihrer Aussicht beraubt worden war, spürte Pia umso stärker das Schwanken des Schiffes. Sie band ihre wirren blonden Locken zu einem Zopf zusammen und wartete, bis alle anderen ihre Sachen gepackt hatten und ausgestiegen waren.

Als Pia aus dem Bus kam, schlängelten sich ihre Mitschüler schon zwischen den parkenden Autos hindurch. Die Fähre war voll. Ein Luxusschlitten reihte sich an den nächsten. Im Vorbeigehen runzelte Pia die Stirn. Was war das hier? Autotreff für teure Sportwagen? Fasziniert starrte sie auf das Cabriolet eines Porsche-Oldtimers – und stolperte prompt. Ihr Blick wanderte nach unten. Vor ihren Füßen lag eine Zeitschrift. Pia hob sie auf. „Pferd und Sport“ stand auf dem Cover. „Mit der korrekten Hilfengebung zum Turniererfolg“ lautete eine fett leuchtende Überschrift. Die Zeitschrift musste eindeutig Helene verloren haben. Sie hatte ein eigenes Pferd – worum Pia sie glühend beneidete – und prahlte ständig mit ihren Reiterfolgen. Einen Moment überlegte Pia, die Zeitschrift einfach liegen zu lassen. Helene würde es ihr sicher nicht danken, wenn sie ihr die Zeitschrift mitbrachte. Andererseits könnte Pia so vorher selbst noch einen Blick hineinwerfen und sich in die Welt der Reiter träumen, bevor sie Helene das Magazin zurückgab. „Ach, was soll’s!“, murmelte sie vor sich hin und steckte die Zeitschrift in die Tasche ihrer Sommerjacke.

Suchend blickte sie sich um und sah ihre Klasse am anderen Ende des riesigen Schiffsbauches durch eine Tür verschwinden. Sie sprintete zwischen den Fahrzeugen hindurch und schob sich in letzter Sekunde durch die zufallende Tür. Dahinter kam eine schmale, steile Treppe, die nach oben führte.

Plötzlich gab es einen heftigen Ruck.

„Woah!“, keuchte Pia und griff nach dem Geländer. Das Schwanken des Schiffes wurde stärker. Das laute Dröhnen der Motoren ließ den Boden erzittern. Unsicher tastete sie sich an der stählernen Wand entlang die Treppe hinauf und öffnete die Tür am oberen Ende. Frische Meeresluft blies ihr entgegen.

Erleichtert trat Pia ins Freie und sog den salzigen Geruch des Wassers ein. Da war es also, das Meer!

Vorsichtig spähte sie über die Reling. Schäumendes Wasser schwappte ihr ins Gesicht und sie taumelte erschrocken rückwärts. Plötzlich drehte sich alles. Ihre Füße waren mit einem Mal bleischwer und ihr Kopf federleicht. Pias Magen krampfte sich zusammen. Kalte Schauer jagten ihr über den Rücken, während das Schiff sich schaukelnd vom Ufer entfernte.

Panisch sah sich Pia um. Hinter ihr befanden sich ein Freideck mit Sitzbänken und ein Bordcafé. Dann sah sie das Schild mit der Aufschrift „Toiletten“. Ihre Rettung! Pia rannte los.

Im Vorraum zu den Toiletten dröhnte ein Handföhn, der sogar den wummernden Schiffsmotor übertönte. Es roch nach Kloreiniger. Pia würgte.

„Ich hoffe, es gibt da auch Zweierzimmer!“, vernahm sie Zoes Stimme. Zoe stand weiter vorn mit Helene und noch ein paar anderen Mädchen in der Schlange an. Als die Tür zur vordersten Klokabine sich öffnete, drängte sich Pia hastig an ihren Mitschülerinnen vorbei und stürzte in die Kabine. Knallend schloss sie die Tür und schob den Riegel vor. Ihr war so schlecht!

„He! Was soll das?“, hörte sie Helene blaffen, und die Kappen zweier blütenweißer Ballerinas kamen unter der Tür zum Vorschein. Helene stand direkt vor der Kabine und hämmerte dagegen. „Stell dich gefälligst hinten an!“

„Jetzt lasst sie doch! Dem armen Ding ist sicher schlecht. Das muss die Seekrankheit sein!“, hörte Pia eine Frau noch sagen, dann erbrach sie sich auch schon in die Kloschüssel. Vage bemerkte sie, wie ihr dabei Helenes Pferdezeitschrift aus der Tasche glitt und direkt neben der Tür auf den versifften Toilettenboden klatschte.

„Ist das nicht deine?“, hörte Pia Zoe fragen.

„Na klar ist das meine!“, kreischte Helene. „Diese Assibraut kann sich doch nie im Leben so eine teure Zeitschrift leisten. Die hat sie mir geklaut!“

Pia war nicht in der Verfassung, sich zu verteidigen. Sie musste immer wieder würgen. Dabei hatte sie doch eigentlich nur ein paar der pappigen Umsonstkekse gegessen, die es im Bus gegeben hatte. Sie hörte, wie sich jemand an der Klotür zu schaffen machte, war aber zu erschöpft, sich zu rühren. Jemand kicherte gehässig, eine Tür wurde zugeschlagen. Dann war es still.

„Großartig, Pia!“, flüsterte sie, immer noch auf die Kloschüssel gestützt. So was konnte auch nur ihr passieren!

Sie seufzte tief, wischte sich mit einem Fetzen Klopapier ein paarmal über den Mund und richtete sich langsam auf. Ihr war noch immer flau im Magen und schwindlig war ihr auch, aber zumindest hatte der Würgereiz nachgelassen.

Dann fiel ihr Blick auf die Pferdezeitschrift. Das Cover war total fleckig und durchgeweicht. Und wenn schon! Kurz entschlossen klaubte sie das Heft vom Boden, riss das Cover ab und stopfte die Zeitschrift zurück in ihre Tasche. Helene würde sie wohl nicht mehr wollen, aber Pia konnte sie noch lesen!

Pia entriegelte die Tür, doch als sie die Klinke herunterdrücken wollte, ließ sie sich nicht bewegen, egal wie kräftig sie daran rüttelte. Das durfte doch nicht wahr sein! Pia warf sich gegen die Tür, aber sie blieb zu. Dann sah sie nach oben. Weder über noch unter der Kabine war genug Platz, um rauszukommen. Na super! Pia knallte den Klodeckel zu und sackte darauf nieder.

Das Schaukeln des Schiffes hatte nachgelassen und auch der Lärm der Motoren war verstummt. Sie mussten angelegt haben. Ihr blieb also nichts weiter übrig als zu warten, bis man sie fand. Irgendwann würde man sie ja wohl vermissen. Bestimmt.

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Nach ein paar Minuten, die sich für Pia wie Stunden anfühlten, hörte sie ein lautes Klappern. Ein Wischmopp klatschte auf den Boden.

„Hallo?“, rief Pia und rappelte sich auf. „Können Sie mir bitte helfen? Ich sitze hier fest!“ Sie bemühte sich, nicht allzu verzweifelt zu klingen, aber wenn sie nicht bald hier rauskam, würde der Bus womöglich doch ohne sie fahren.

„Nanu?“, fragte eine Frauenstimme verwundert zurück.

„Die Tür klemmt! Können Sie bitte aufmachen?“, rief Pia.

„Ja, so etwas! Wer hat denn da die Tür verkeilt?“ Die Frau kam schlurfend näher, und dann hörte Pia, wie sie sich an der Klinke zu schaffen machte. Sekunden später wurde die Tür geöffnet und eine kleine Frau in Putzkittel lugte in die Kabine herein.

Pia strahlte sie dankbar an. „Vielen, vielen Dank! Sie sind meine Retterin!“, rief sie, schob sich an der Frau vorbei aus der Kabine und sprintete los. „Ich muss weg, mein Bus fährt!“

Zurück an Deck sah sich Pia hektisch um. Die Treppe … Wo war denn nur die blöde Treppe? Ah! Da drüben!

Pia wetzte los. Dabei nahm sie aus dem Augenwinkel wahr, wie ein Reisebus über die Rampe fuhr. Verdammt! Die fuhren tatsächlich ohne sie! Panisch hetzte Pia die Stufen runter, durch den nun leeren Bauch des Schiffes, über die Rampe und hinaus ins Freie.

Der Bus war nirgends zu sehen.

Es vergingen ein paar fürchterliche Schrecksekunden, bis Pia aufatmen konnte: Im Schatten eines Gebäudes am Rand des Parkplatzes stand der Reisebus mit laufendem Motor. Davor wartete eine sichtlich nervöse Frau Winkler.

Pia schnappte erleichtert nach Luft. Sie waren noch da! Sie hatten sie nicht vergessen!

Während sie auf den parkenden Bus zulief, riskierte Pia noch einen schnellen Blick zurück zum Ufer. Wo Sand und Meer aufeinandertrafen, brachen sich schäumend die Wellen, und ihr Rauschen vereinte sich mit dem Pfeifen des Windes. Der Anblick raubte Pia kurz den Atem und ein unbeschreibliches Gefühl machte sich in ihr breit. Ihre Fingerspitzen kitzelten, ihre Haut prickelte, all ihre Sinne schienen mit einem Mal geschärft. Sie fühlte sich lebendig, sie fühlte sich wie am Ziel einer langen Reise, sie fühlte sich …

„Pia, wo warst du denn?“, fragte Frau Winkler aufgeregt, als Pia beim Bus ankam.

Was sollte sie jetzt sagen? Dass Helene und ihre fiesen Kühe ihr mal wieder einen ihrer dämlichen Streiche gespielt hatten? Auf keinen Fall. Dann würden sie ihr diese Klassenfahrt garantiert zur Hölle machen. Außerdem war Pia keine Petze.

Also zuckte sie bloß verlegen die Schultern. „Mir war schlecht. Ich war die ganze Zeit auf dem Klo …“, nuschelte sie kaum hörbar.

Frau Winklers Züge wurden weicher. „Oh weh, das tut mir leid. Ich hätte euch vorwarnen sollen. So eine Überfahrt kann eine ziemlich schauklige Angelegenheit sein. Geht es dir jetzt besser?“

Pia nickte nur.

Als sie den Bus betrat, hörte sie Helene und Zoe schon kichern. Auch die anderen Schüler reckten neugierig den Hals.

Mit gesenktem Kopf ging Pia zwischen den Reihen durch. Sie wollte keine mitleidigen Blicke ernten. Sie hasste Mitleid. Es machte alles nur noch schlimmer.

Zum Glück ergriff Frau Winkler in diesem Moment das Wort: „Okay, Leute, da jetzt alle da sind, möchte ich die Gelegenheit nutzen, um euch noch ein paar wichtige Regeln für die kommenden Tage mit auf den Weg zu geben …“

Pia blendete die Stimme ihrer Lehrerin aus und versuchte so schnell wie möglich nach hinten zu ihrer Sitzreihe zu gelangen. Als sie an Helenes Reihe vorbeihuschte, schoss blitzschnell ein Fuß in den Gang und verstellte ihr den Weg. Pia sah es zu spät und stolperte, konnte sich aber im allerletzten Moment an der Lehne von Marven festklammern.

„Hey, Pia, alles klar?“, fragte er besorgt.

Einerseits fand Pia es nett, dass er fragte – immerhin schien er der Einzige zu sein, der sich ernsthaft für sie interessierte –, andererseits scheute sie jede Form von Aufmerksamkeit. Ihr Gesicht fühlte sich heiß an und sie wusste, dass sie schon wieder über und über mit diesen hässlichen roten Flecken übersät war, die sie immer bekam, wenn sie sich schämte. Also ziemlich oft.

„Alles gut“, nuschelte sie. Zu mehr fehlte ihr einfach die Kraft. Sie ließ sich auf ihren Sitz plumpsen, rutschte ans Fenster und schaute hinaus auf die vorbeiziehenden Häuser hinter der Scheibe. Es kam ihr vor, als zöge eine andere Welt an ihr vorbei – eine wunderschöne, absolut perfekte Welt. Die reetgedeckten Häuser leuchteten in der Abendsonne und strahlten eine heimelige Wärme aus. In den Vorgärten blühten blaue Hortensien und am Wegesrand rosarote Rhododendronbüsche, und dazwischen leuchteten die weiß lackierten Gartenzäune.

„… niemand wandert allein im Watt umher …“, holte Frau Winklers Stimme Pia in ihre eigene Welt zurück. „Niemand verlässt den Gasthof nach 22 Uhr, dann ist nämlich Sperrstunde, und ihr haltet euch bitte zu jeder Zeit an die Anweisungen von Familie Heinemann, die Besitzer des Gasthofes und der Reitanlage. Habt ihr das so weit verstanden?“

Pia sah blinzelnd nach vorn. Diese Regeln würden ihr wohl kaum Schwierigkeiten machen. Es waren mehr oder weniger dieselben wie in ihrem Wohnheim zu Hause in Frankfurt. Eine Sperrstunde gab es da auch und sich nicht daran zu halten, war selten eine gute Idee. So was wurde gern mit Putzdienst geahndet. Und was die Sache mit dem Watt betraf: Pia hatte sowieso nicht vorgehabt, allein durchs Watt zu wandern. So schön ihr das Meer gerade erschienen war – aus Erzählungen wusste sie durchaus um seine Tücken.

„Kommen wir zu meinem nächsten Punkt: der Zimmerverteilung!“, rief Frau Winkler.

Sofort erhob sich ein lautes Stimmengewirr.

„Yo! Ich und Johannes, was sonst!“, grölte Luis von hinten.

„Ich will mit Zoe in ein Zimmer!“, zeterte Helene dazwischen.

Pia rutschte unbehaglich auf ihrem Sitz herum. Die Zimmerverteilung hatte ihr schon die ganze Zeit Bauchschmerzen bereitet. Wer würde schon freiwillig mit ihr in ein Zimmer gehen? Sie war erst vor zwei Monaten in die Klasse gekommen und für die anderen immer noch „die Neue“ – oder im Fall von Helene: „das Heimkind“. Davon abgesehen gehörte sie nun mal nicht zu der Sorte Mädchen, dem alle Herzen zuflogen. Dafür war sie viel zu still und schüchtern.

Sie versuchte den Lärm um sich herum auszublenden und schaute wieder aus dem Fenster. Der Bus fuhr offenbar gerade durch das Zentrum der verträumten Inselgemeinde. Kleine Läden, Cafés und Restaurants säumten die Straße, gut gekleidete Feriengäste standen vor den Schaufenstern oder saßen in der Sonne bei einem Kaffee. Fast hätte Pia Frau Winkler überhört, so fasziniert war sie von der scheinbar ungetrübten Idylle auf der anderen Seite der Scheibe.

„Ich werde entscheiden, wer mit wem das Zimmer teilt!“, rief die Lehrerin – jetzt wieder durchs Mikro, anscheinend um sich endlich Gehör zu verschaffen.

Doch keinem entgingen die nächsten Worte von Helene: „Ich teile mit allen das Zimmer, nur nicht mit Pia!“, zischte sie gehässig nach hinten.

Pia wäre am liebsten im Boden versunken.

„Solche Bemerkungen verbitte ich mir, Helene. Das ist kindisch und unkollegial.“

Das Mikro heulte.

Pia wollte einfach nur noch weg. Raus aus diesem Bus. Raus aus dieser Situation. Denn sicherlich würde Helene Frau Winklers Worte nicht auf sich sitzen lassen.

„Sie hat mein Reitmagazin gestohlen!“, tönte es da auch schon durch den Gang. Alle Köpfe drehten sich zu Pia.

„Stimmt das, Pia?“, fragte Frau Winkler skeptisch.

Alle warteten auf Pias Antwort.

Pia brach der kalte Schweiß aus. Doch aus Erfahrung wusste sie, dass es ganz egal war, was sie nun sagte oder tat. Es würde nur schlimmer werden. Es wurde immer nur noch schlimmer. Zumindest in diesem Punkt war auf Helene Verlass.

Schließlich sagte die Lehrerin noch immer für alle hörbar durchs Mikrofon: „Das klären wir später. Aber es bleibt dabei: Ich werde über die Zimmervergabe entscheiden, sobald wir vor Ort sind.“

Der Lautsprecher knackte, dann wurde es still im Bus. Totenstill.

Pia schloss die Augen. Warum hatte sie bloß nichts gesagt? Jetzt würden sie alle für eine Diebin halten. In ihren Augen brannten Tränen, aber sie blinzelte sie weg.

Der Bus fuhr nun auf einem holprigen Schotterweg – kaum breit genug für ein normales Auto. Auf der einen Seite erstreckten sich die spärlich bewachsenen Dünen, auf der anderen Seite wurde der Weg durch einen maroden Holzzaun begrenzt. Dahinter lagen grüne Weideflächen und in einiger Entfernung erspähte Pia die ersten Pferde.

Sofort fiel ihr das Atmen leichter. Wie jedes Mal wenn sie die anmutigen Tiere erblickte, breitete sich eine große Ruhe in ihr aus. Sie legte die Hand auf die kühle Scheibe und rief sich ins Gedächtnis, warum sie eigentlich hier war.

Ihre Unterkunft auf dieser malerischen Nordseeinsel, der Gasthof der Familie Heinemann, lag einsam auf einer Landzunge, abseits von allem Touristentrubel. Früher einmal waren die Heinemanns stolze Züchter zahlreicher prämierter Oldenburger Sportpferde gewesen. Mittlerweile vermieteten sie ihr Haus an größere Reisegruppen und nutzten die Reitanlage für die bei Touristen so beliebten Strandausritte und Ferienreitkurse.

Seit Frau Winkler ihnen vor einigen Wochen zum ersten Mal von ihren Plänen für die Klassenfahrt erzählt hatte, hatte Pia es kaum erwarten können, endlich hier zu sein. Und nun würde sie sich diesen Augenblick ganz bestimmt nicht von Helenes intrigantem Gehabe verderben lassen.

Pia suchte die Insellandschaft nach einem Gebäude ab. Und da endlich kam es in Sicht! Pia presste die Nase gegen die Scheibe. Umringt von ein paar windschiefen Bäumen, thronte auf einer Hügelkuppe ein einzelnes Haus. Auch wenn es ein wenig heruntergekommen aussah, erkannte Pia, dass es früher mal ein stattliches Herrenhaus gewesen sein musste.

Der Bus holperte über einen gepflasterten Weg bis auf den großen Hof. Sie waren am Ziel.

Von Nahem sah das Gebäude noch viel schäbiger aus. Die Fensterläden hingen zum Teil schief in den Angeln und die hellblaue Farbe blätterte davon ab.

„In dieser Bruchbude sollen wir wohnen? Das ist doch kein Gutshof!“, kreischte Helene.

Zoe kicherte freudlos. „Meinst du, die haben schon fließend Wasser da drinnen?“

Darüber konnte ihre Freundin nicht lachen. „Wenn es zu schlimm ist, rufe ich meinen Papi an und wir ziehen in eines dieser schicken Hotels im Ort“, prahlte Helene, während sie ihre klobige Designerhandtasche ins Freie schleppte.

Pia sah ihr nach. Manchmal fragte sie sich, ob Helenes Abneigung ihr gegenüber nicht doch auf Gegenseitigkeit beruhte. Vor allem immer dann, wenn Helene ihren Vater ins Spiel brachte. Papi hier, Papi da. Pia konnte es nicht mehr hören. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie selbst keinen Vater hatte. Unzählige Tage und Nächte hatte Pia als kleines Mädchen darauf gewartet, dass er kam, um sie zu retten. Doch ihr Vater war nie gekommen und würde es auch jetzt nicht tun.

Ein kühler Abendwind fuhr ihr in die Locken, als sie aus dem Bus stieg, fegte ein wenig Sand über den Hof, pfiff ums Haus und zerrte ächzend an einem abgerissenen Regenrohr.

Pia fröstelte. Nicht nur der Wind schien ihr kalt und abweisend. Die fleckigen Fenster des Gasthofes starrten ihr dunkel und leer entgegen. Nichts regte sich dahinter, kein Vorhang, kein Leben, nicht einmal ein Licht brannte.

Sie schlang die Arme um den Oberkörper. Irgendwas an diesem Haus machte sie unruhig. Es sah aus, als stünde es da und lauerte. Still und stumm, mit all seinen Geheimnissen hinter den dicken Steinmauern. Bei der Vorstellung, die nächsten acht Tage mit ihrer Klasse darin wohnen zu müssen, wurde Pia schon wieder flau im Magen.

Selbst Frau Winkler schien verunsichert, denn sie sagte kleinlaut: „Ja, das Haus hat schon bessere Tage gesehen … aber aus historischer Sicht ist es ohne Zweifel eine Perle in dieser Gegend.“

Johannes und Luis hatten ganz andere Vorstellungen. „Krass! Die Hütte sieht ja aus wie aus dem Game, das wir neulich gezockt haben! Horror Invasion 2!“, rief Luis begeistert.

„Ja! Stimmt! Wo die Monster die Soldaten fressen und ihnen die Eingeweide …“

„Iiiiiiiiih! Hört auf!“, kreischte Helene. „Das ist widerlich!“

Pia war ihrer Lehrerin gefolgt und blieb nun unter der knorrigen Eiche in der Mitte des Hofes stehen.

„Holt euer Gepäck aus dem Bus und versammelt euch erst mal alle hier!“, rief Frau Winkler über den Hof. Ihre zarte Stimme bebte verdächtig. „Ich gehe mal nachsehen, ob uns jemand in Empfang nehmen kann.“ Dann atmete sie tief durch, als müsste sie all ihren Mut zusammennehmen, und lief zur Eingangstür.

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Trotz der goldenen Abendsonne, die noch über dem blauen Streifen Meer hinter dem Gasthof leuchtete, war es im Inneren des Hauses düster. Durch die trüben Scheiben fiel kaum Licht und das Radfenster über der Eingangstür warf gruselige Schatten auf den Steinboden in der Empfangshalle. Von hier führte eine wuchtige, breite Holztreppe in die beiden oberen Etagen.

Pias Blick wanderte zu der Flügeltür, die gegenüber dem Eingang lag. Durch diese trat nun eine Frau mittleren Alters. Sie wischte sich die schwieligen Hände an einer geblümten Schürze ab und kam auf die immer noch etwas eingeschüchtert wirkende Frau Winkler zu.

Pia duckte sich hinter einen der schweren Samtvorhänge neben der Tür.

„Willkommen im Gasthof Heinemann“, sagte die Frau mit einer kehligen Großmutterstimme und reichte Frau Winkler die Hand. „Ich bin Frau Olberding. Ich kümmere mich stellvertretend für Herrn Heinemann um das Haus und seine Gäste. Er ist derzeit verhindert und wird Sie wahrscheinlich erst morgen begrüßen können.“

„Das ist doch kein Problem!“, sagte Frau Winkler. „Ich erinnere mich an Sie. Wir hatten vorletzte Woche telefoniert.“

Frau Olberding lächelte. „Ich nehme an, die jungen Herrschaften wollen erst einmal ihre Zimmer beziehen?“ Sie warf einen prüfenden Blick auf den Haufen Teenager, der sich in ihren heiligen Hallen versammelt hatte.

Frau Winkler nickte und strich ihr geblümtes Sommerkleid glatt. „Das wäre großartig. Wir haben ja eine lange Fahrt hinter uns.“

„Schön, dann kommen Sie mal mit!“ Die Haushälterin marschierte mit energischen Schritten zu der großen Treppe. „Frühstück gibt es um acht, Abendessen in einer halben Stunde, ansonsten nach Absprache“, erklärte sie, während sie die Stufen hinaufstieg. „Zum Mittag gibt es ein Lunchpaket für jeden. Die Lunchpakete werden direkt nach dem Frühstück verteilt. Wir haben auch eine Grillstelle hinter dem Haus, wo man bei schönem Wetter sitzen und speisen kann …“

Pia knurrte jetzt schon der Magen. Kein Wunder. Nach ihrer Höllentour auf der Fähre hatte sie ja so gut wie nichts mehr im Bauch.

„Es gibt Zweier-, Dreier- und Viererzimmer!“, hallte Frau Olberdings Stimme durchs Haus.

Pia überlegte, mit wem sie am liebsten das Zimmer teilen würde. Wahrscheinlich gab es Mädchen- und Jungenzimmer, genau wie bei ihr im Wohnheim. Dort musste sie sich das Zimmer auch mit einem anderen Mädchen teilen. Das war aber zum Glück nur noch sehr selten da, weil es eine Ausbildung angefangen hatte.

Vielleicht wäre Melina nicht schlecht? Sie verspottete Pia immerhin nicht, und dass sie gut befreundet mit Marven war, sprach auch für sie. Marven war echt ein netter Kerl. Überhaupt waren die Jungs aus Pias Klasse um einiges netter zu ihr als die Mädchen. Dabei gab es außer Helene, Zoe und Greta – Helenes zweitbeste Freundin oder ihre beste, wenn sie sich gerade mit Zoe gezofft hatte – eigentlich niemanden, der wirklich ein Problem mit Pia hatte. Pia vermutete, dass viel von dem Spott und Hohn, den sie erntete, mehr mit Gruppenzwang als mit ihrer Person zu tun hatte. Das zumindest versuchte sie sich als Trost immer wieder zu sagen.

„Pia?“

Pia zuckte erschrocken zusammen und stolperte über die nächste Stufe. Wie aus dem Nichts war Frau Winkler neben ihr aufgetaucht.

„Ich möchte kurz mit dir über Helene sprechen, wegen der Sache im Bus.“

Alarmiert riss Pia die Augen auf.

„Hast du ihr die Zeitschrift gestohlen?“, fragte Frau Winkler mit gedämpfter Stimme, während Pias Mitschüler sich an ihnen vorbeischoben, um die Zimmer in den oberen Stockwerken zu besichtigen.

„Nein, hab ich nicht!“, erwiderte Pia empört. „Die Zeitschrift ist Helene auf der Fähre aus der Tasche gefallen und ich wollte sie ihr zurückbringen.“

„Hatte Helene etwas damit zu tun, dass du so lange auf der Toilette verschwunden warst?“, fragte Frau Winkler nun und machte dabei ein so mitleidiges Gesicht, dass Pia am liebsten weggerannt wäre.

Pia biss sich auf die Lippe. „Nein.“ Niemals würde sie zugeben, dass Helene sie eingesperrt hatte. Zum einen war sie keine Petze und zum anderen pfiff sie auf Frau Winklers Mitleid! Wenn sie es nicht mehr aushielt, dann lag es bei ihr, nur bei ihr selbst, etwas an der Situation zu ändern! Wenn das Heimleben sie eines gelehrt hatte, dann das: niemals auf andere zu hoffen. Weder Mitleid noch Selbstmitleid brachten einen weiter. Am Ende war man immer auf sich allein gestellt.

Frau Winkler seufzte. „Du weißt, du kannst jederzeit mit mir sprechen und zu mir kommen, wenn dich etwas belastet.“

Pia sagte nichts.

„Ich denke, du und Helene solltet euch besser kennenlernen. Dann würde es solche … Missverständnisse vielleicht gar nicht mehr geben.“

In diesem Moment kamen Luis und Johannes aus einem der Zimmer im ersten Stock geschossen. „Frau Winkler! Frau Winkler! Können wir das Zimmer da drüben haben? Das ist winzig und echt nicht schön, aber wir würden es nehmen, wenn wir zusammen reindürfen!“, startete Luis einen ziemlich durchschaubaren Versuch, doch noch zu seinem Wunschmitbewohner zu kommen.

Frau Winkler seufzte und wandte sich nun an alle Schüler. „Okay, hört mal her: Ich habe mir überlegt, dass wir diesen Ausflug dazu nutzen sollten, uns alle ein wenig besser kennen und verstehen zu lernen.“

Ein Stöhnen hallte durch den Flur.

„Darum werden sich diejenigen von euch, die normalerweise nicht viel miteinander zu tun haben, ein Zimmer teilen. Die Mädchen beziehen ihre Zimmer im zweiten Stock, die Jungen hier im ersten.“

Während von überall her Proteste laut wurden, schob sich Pia in eine kleine Fensternische neben der Treppe.

„Entweder regelt ihr das selbst oder ich werde es für euch tun!“, erklärte Frau Winkler mit Nachdruck.

Plötzlich herrschte Stille.

Pia klammerte sich an ihren Rucksack und wartete gespannt, was als Nächstes geschehen würde. Sie hatte mit keinem ihrer Mitschüler sonderlich viel zu tun und war somit für alle eine mögliche Zimmerpartnerin. Aber würde sich jemand freiwillig melden?

Pia wagte es kaum zu atmen.

„Ich geh mit Marven in ein Zimmer“, sagte Luis schließlich, klatschte sich mit seinem Kumpel Johannes ab und schnappte sich seine Reisetasche.

Marven nickte und deutete auf den Flur. „Dürfen wir das Zimmer aussuchen?“, fragte er Frau Winkler.

Die Lehrerin zuckte die Achseln. „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.“

„Ich gehe mit Greta zusammen!“, rief Helene eilig.

Frau Winkler schüttelte den Kopf. „Das ist gegen die Absprache, Helene. Greta ist deine Freundin und ihr sitzt nebeneinander.“

„Aber nur in Mathe und Deutsch!“, protestierte Helene.

„Du wirst dir das Zimmer mit Pia teilen“, sagte Frau Winkler bestimmt.

Helene heulte auf. Ein paar Mitschüler lachten.

Pia stolperte rückwärts und stieß mit dem Hinterkopf heftig gegen den Fensterrahmen. Sofort schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie wollte etwas sagen, sich wehren, doch sie brachte keinen Ton hervor.

Helene war dafür umso lauter. „Das können Sie nicht machen!“, schrie sie aufgebracht. „Dann fahre ich zurück nach Hause oder ziehe ins Hotel!“

Frau Winkler stemmte die Hände in die Hüften. „Das wirst du ganz sicher nicht tun, Helene. Solange wir hier sind, habe ich die Verantwortung für euch – und das Sagen.“

Pia wischte sich hastig die Tränen aus den Augen und war auf einmal froh, den Mund gehalten zu haben. Sie hatte Frau Winkler noch niemals so streng erlebt!

Helene war ebenfalls verstummt, doch ihre Unterlippe zitterte. Ihre Freundinnen Zoe und Greta schwiegen betreten.

„So eine Schwachsinnsidee!“, stieß Helene wütend hervor und stampfte die Treppe nach oben in den zweiten Stock.

Pia erwachte aus ihrer Starre. Ihre Gedanken rasten. Sollte sie Frau Winkler doch noch mal bitten, ihr eine andere Zimmergenossin zuzuteilen? Aber ein Blick ins Gesicht der Klassenlehrerin verriet ihr, dass jeder Widerspruch zwecklos war. Also drückte sie sich an den anderen Mädchen vorbei und stieg die Treppe nach oben.

Dabei spürte sie die Blicke ihrer Mitschüler im Nacken, spürte sie wie glühende Nadelstiche auf der Haut. Pia lief schneller, sah nicht mehr nach rechts oder links, nahm nichts mehr wahr außer ihrem trommelnden Herzschlag, bis sie am Ende des Flures im zweiten Stock angelangt war. Dort blieb sie vor der offenen Zimmertür stehen.

„Ich schlafe oben, dass das klar ist!“, zischte Helene. Dann schleppte sie ihren schweren Koffer in eine Ecke, zog den Reißverschluss auf und zerrte einen Beutel hervor.

Pia beobachtete sie von der Tür aus.

„Wehe, du klaust mir noch mal was oder gehst auch nur in die Nähe von meinen Sachen!“ Helene kam auf sie zugestampft. „Dann werde ich dafür sorgen, dass mein Vater dich anzeigt. Vom Kinderheim in den Jugendknast – so ein Werdegang würde zu dir passen!“ Sie rauschte aus dem Zimmer und rempelte Pia dabei mit der Schulter an.

Pia verharrte noch einige Sekunden wie betäubt in der Tür, während ihre Mitschüler über die Flure trampelten und lärmend die Zimmer bezogen. Niemand schenkte ihr mehr Beachtung. Schließlich ging sie ins Zimmer und schloss behutsam die Tür hinter sich. Dann ließ sie ihren Rucksack langsam von der Schulter gleiten und sackte auf dem Bett zusammen, das Helene ihr zugeteilt hatte.

Nachdem sie eine Weile reglos dagesessen hatte, sah sie sich um. Das Zimmer war sauber, aber die spärlichen Möbelstücke, die es gab, waren genauso heruntergekommen wie der Rest des Gasthofes. Außer dem quietschenden Stockbett gab es nur eine Kommode, die zwischen Dachschräge und Bett gequetscht war, und einen wackeligen Stuhl.

Der Ausblick aus dem kleinen Fensterchen jedoch war atemberaubend: Jenseits der Wiesen hinter dem Gasthof glitzerte das Meer in der Bucht. Dahinter ragten die schroffen Klippen der Steilküste empor. Vor dem rotgoldenen Himmel zeichnete sich die Silhouette eines Leuchtturmes ab.

Auf der satten grünen Wiese erspähte Pia die Umrisse einiger Pferde. Friedlich grasten sie in der Abendsonne, ihre Mähnen und Schweife bauschten sich im Meereswind. Pia atmete durch. Morgen, sagte sie sich. Morgen würde ihr großer Traum in Erfüllung gehen. Alles, was sie tun musste, war durchhalten.

Pias Magen rumorte. Eigentlich hatte sie furchtbaren Hunger, doch Helene beim Abendessen noch einmal gegenübertreten zu müssen, wäre einfach zu viel gewesen. Sie griff nach ihrem Rucksack. Irgendwo musste noch ein Apfel sein. Den hatte sie am Morgen aus der Obstschale in der Heimküche mitgenommen.

Erst nachdem sie den kompletten Rucksack ausgeräumt hatte und ihn umdrehte, fand sie den Apfel. Sie verspeiste ihn mit wenigen Bissen und packte ihre Sachen zurück in den Rucksack. Ein paar Klamotten, eine Tüte mit Waschsachen, ihr Buch und eine kleine neongrüne Stoffschildkröte. Die hatte Pia als kleines Mädchen auf dem Stadtfest gewonnen, an ihrem sechsten Geburtstag. Keinesfalls würde sie die Sachen in den Schrank räumen! Auch das hatte sie sich im Lauf der Jahre angewöhnt: die wenigen Habseligkeiten, die sie besaß, bei sich zu behalten. Wenn man von einer Pflegefamilie zur anderen gereicht wurde, war es sinnvoll, stets auf gepackten Koffern zu sitzen. Pia seufzte. Immerhin hatte ihr Nomadenleben ein Ende gehabt, seit sie in dem betreuten Wohnen für Jugendliche gelandet war.

Pia sah neidvoll auf Helenes prall gefüllten Koffer in der Ecke. Er war randvoll mit Kleidern – Kleidern, wie Pia sie niemals besitzen würde.

Sie schüttelte sich. Es hatte keinen Sinn, darüber traurig zu sein. Helene lebte einfach in einer anderen Welt. Und daran würde auch Frau Winklers verquere Erziehungsmaßnahme nichts ändern. Niemals.

Pia warf einen letzten Blick nach draußen, dann ließ sie sich auf das knarrende Bett sinken. Erschöpft zog sie die Decke über sich und schloss die Augen. Sie dachte wieder an das goldene Pferd auf der Koppel. Ihr Seelenpferd. Vielleicht würde sie heute Nacht von ihm träumen.