Nicole Strüber

Risiko Kindheit

Die Entwicklung des Gehirns verstehen und Resilienz fördern

Klett-Cotta

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Klett-Cotta

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© 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Favoritbuero, München

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96287-1

E-Book: ISBN 978-3-608-11551-2

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Erläuterungen für den Leser

Im Detail: Diese Absätze vertiefen Zusammenhänge, ohne zu sehr ins Wissenschaftliche hineinzugehen. Es ist möglich, dass ich auf diese Informationen an anderer Stelle noch einmal zurückkomme. Möchten Sie das Buch jedoch nur oberflächlich lesen, dann können Sie diese Blöcke aussparen.

Was Experten beschäftigt: Hier geht es um vertiefende wissenschaftliche Informationen, auf die ich im weiteren Verlauf des Buches nicht oder nur in anderen Abschnitten dieser Art zurückkommen werde. Sie können sie, wenn Sie mögen, überspringen.

Aus der Forschung: Hier finden Sie Forschungsergebnisse, die das Gesagte belegen oder unterstreichen. Wer sich dafür nicht interessiert, kann auf diese Absätze verzichten.

Aus dem Alltag: Kleine Geschichten zur Illustration des Gesagten.

MERKE: Wichtige Definitionen, bitte merken!

TAKE HOME: Als Abschluss jedes Unterkapitels finden Sie hier eine zusammenfassende Botschaft, die Sie mit »nach Hause« nehmen können.

… und dann gibt es an einigen wenigen Stellen noch kurze Exkurse.

1 Ist Kindheit ein Risiko?

Eine Kindheit in der Kleinstadt. Eine Kindheit in der Millionenmetropole. Eine Kindheit in Armut. Eine Kindheit auf der Flucht. Eine Kindheit im Wohlstand. Eine Kindheit in einer Hütte in einem Wald in den Bergen. Die Umwelt kann sich sehr unterscheiden, und mit ihr die Bedingungen eines Kindes, das in ihr aufwächst. Weniger wichtig als die Anzahl der Häuser oder Bäume in der Umwelt des Kindes sind allerdings die sozialen Erfahrungen, die ein Kind in seiner Umwelt macht.

Kinder brauchen eine stressarme Kindheit und sie brauchen Liebe. Kinder brauchen zugewandte und verfügbare Bindungspersonen, die zuverlässig ihre Bedürfnisse erkennen, die feinfühlig ihre Gefühle aufgreifen, diese spiegeln und die Kinder gegebenenfalls trösten. Und sollte die Kindheit doch von erheblichem Stress begleitet sein, dann gilt dies umso mehr. Das Gehirn benötigt diese Erfahrungen, um eine hohe emotionale und soziale Kompetenz zu entwickeln, um spätere Anforderungen der Umwelt effizient bewältigen zu können und um den Menschen in einer hochkomplexen Welt voller Herausforderungen und Risiken auf einem sicheren Kurs zu halten.

Aber wie kommen Liebe, Bindung und Nähe in das Gehirn?

Und, mindestens genauso wichtig: Was passiert im Gehirn, wenn diese Erfahrungen von Liebe, Bindung und Nähe nicht gegeben sind? Wenn keiner für die Kinder da ist? Wenn ihre Bindungspersonen mit etwas anderem beschäftigt sind, etwa mit sich selbst, vielleicht weil sie selbst traumatisiert oder psychisch erkrankt sind, oder auch, weil sie mit ihrer Scheidung zu tun haben oder sogar suchtkrank sind. Vielleicht schauen sie auch einfach ständig auf ihr Smartphone. Oder wenn ihre Bindungspersonen vor allem die Leistung, den Fortschritt, die Anpassung des Kindes im Blick haben und kindliche Gefühle und Bedürfnisse ignorieren oder gar bestrafen. Oder wenn sie ihre eigenen Gefühle nicht unter Kontrolle haben und dem Kind deshalb Schaden zufügen. All dies kann die Entwicklung des kindlichen Gehirns erheblich beeinflussen und die spätere Persönlichkeit des Kindes, seine emotionale und soziale Kompetenz und seine Psyche prägen.

Wir schauen auf die betroffenen Kinder. Vielleicht, weil wir mit ihnen arbeiten. Wir wollen, dass sie rational und situationsentsprechend handeln. Sie sollen einsichtig sein, sich zusammennehmen, nicht aggressiv sein, Frustrationen ertragen, Herausforderungen annehmen, sich konzentrieren können, sich Ziele setzen und darauf hinarbeiten. Sie sollen sich in andere hineinversetzen, empathisch sein und sozial handeln. Wir reden mit Engelszungen auf sie ein, könnten aber ebenso gut mit einer verschlossenen Tür sprechen, denn die Kinder sind weiterhin unaufmerksam, ängstlich, egozentrisch, impulsiv oder explosiv. Oder alles zusammen. Warum ist dies so? Und was können wir tun?

Zeitsprung. Wir sind erwachsen. Im Großen und Ganzen ist alles gut. Wären da nur nicht diese kleinen Unzulänglichkeiten. Eigenschaften, von denen wir rational wissen, dass sie unangebracht sind, und die wir dennoch einfach nicht loswerden. Und die wir verdächtigen, irgendetwas mit unserer frühen Kindheit zu tun zu haben.

Wir kennen es alle. Wir haben ein glasklares Konzept davon, wie wir uns verhalten wollen, und dann das: Wir fahren aus der Haut, obwohl wir ruhig bleiben wollten, wir werden laut, obwohl wir wissen, dass leise besser klingt, wir handeln übereilt statt bedächtig und sind ängstlich, obwohl wir wissen, dass – statistisch betrachtet – nichts für eine Gefahr spricht.

Es ist zum Verzweifeln. Die »Du kannst alles schaffen – Kraft Deiner Gedanken«-Ratgeber stapeln sich auf dem Nachtschrank. Wir haben unsere positiven Gedanken auf Zettel geschrieben und unter das Kopfkissen gelegt und uns in mentalen Ruheräumen der eigenen Wertigkeit versichert. Auch der Beitrag der Hirnforschung über die unendliche Plastizität des lernbegierigen Gehirns, dessen Lektüre vor dem Einschlafen doch recht qualvoll war, ist Teil des Stapels. Worte um Worte, und doch gelingt es uns nur selten, uns so zu verhalten, oder unsere Gefühle so im Griff zu haben, wie wir das gerne wollen.

Manchmal überdauern die Vorsätze eine gewisse Zeit. Bis zum nächsten Streit mit dem Partner, in dem uns auf merkwürdige Art und Weise schon wieder die Besonnenheit verlässt. Bis zur nächsten Auseinandersetzung mit dem Kind, in der wir laut schimpfend unserem Ärger Luft machen oder unkluge Strafen verhängen, nur um sie entgegen aller Vernunft etwas später wieder aufzuheben. Bis zur nächsten Frustration oder bis zur nächsten Herausforderung, der wir entgegen aller guten Vorsätze doch lieber nicht ins Auge blicken.

Warum nur, können wir die Dämonen nicht einfach aus unserem Gehirn verbannen? Es will einfach nicht funktionieren, das mit der Veränderung.

Vielleicht mag der eine oder andere über die aufgezählten Unzulänglichkeiten nur milde lächeln. Belanglosigkeiten, verglichen mit den eigenen Dämonen. Diese treiben in einem Umfang ihr Unwesen, dass die eigene Existenz wackelt. Angst und Depressionen zwingen ins Abseits. Wenn die übermächtige Angst mit autoritär erhobenem Zeigefinger davor warnt, den dünnen und fragilen Pfad der Gewohnheiten nicht zu verlassen. Wenn der Gesellschaftsabend der Firma erneut ohne die eigene Teilnahme stattfindet, obwohl doch ausgerechnet dort die Karriereleiter geknüpft wird. Und wie oft beginnt der Morgen mit diesem Gefühl in den Knochen, schwer, übel, unerträglich, und endet mit einem von künstlichem Husten begleiteten Anruf beim Arbeitgeber. Vielleicht sind es auch die verstörenden Rückblenden einer posttraumatischen Belastungsstörung oder die seelischen Narben einer Borderline-Erkrankten, die tief drinnen, dort, wo Sigmund Freud das ES vermutete, in unheilvoller und unkontrollierbarer Weise ihr Unwesen treiben.

Wo haben unsere Schwierigkeiten ihren Ursprung? In unserer frühen Kindheit? Oder waren es vielleicht sogar die Erfahrungen der Generation davor, die uns heute zu schaffen machen? Sind es vielleicht die Kriegserlebnisse unserer Eltern oder Großeltern, die den Dämonen Einlass gewährten? Können Eigenschaften, auch solche, die sich infolge von Traumatisierungen ergeben haben, von einer Generation an die nächste weitergegeben werden? Welche Rolle spielt hier die Epigenetik? Und ist eine solche generationsübergreifende Weitergabe auch der Grund, weshalb Eltern mitunter trotz besseren Wissens im Umgang mit ihren eigenen Kindern beeinträchtigt sind? Und die gleichen Fehler machen wie bereits deren eigene Eltern?

Was passiert im Gehirn, dass eine schwierige Kindheit so nachhaltige Spuren hinterlassen kann?

Davon, wie eine behütete frühe Kindheit mit feinfühliger Fürsorge und sicheren Bindungserfahrungen die Gehirnentwicklung prägt, handelt mein vorheriges Buch, »Die erste Bindung. Wie Eltern die Entwicklung des kindlichen Gehirns prägen«. Auch in diesem Buch ging es darum, dass es genetische und vorgeburtliche Belastungen geben mag, die einen erhöhten elterlichen Einsatz erfordern. Der Ausblick auf eine potentiell problematische Entwicklung wurde darin allerdings nicht fortgesetzt. Immer wieder ist in dem Buch die Frage angeklungen, was denn eigentlich passieren kann, wenn der elterliche Einsatz diesen Ansprüchen nicht genügt und das Kind deshalb, oder auch aus anderen Gründen, erhöhten Risiken ausgesetzt ist.

Um genau diese Frage soll es nun in diesem Buch gehen: um das »Risiko Kindheit«. Es betrachtet frühe Risikofaktoren, deren Einfluss auf das Gehirn, aber auch emotionale Schwierigkeiten, soziale Schwächen, Persönlichkeitsprobleme und psychische Erkrankungen, die daraus resultieren können. Es beschreibt die Weitergabe von Eigenschaften über Generationen, die Entstehung von Resilienz und skizziert Möglichkeiten zur Veränderung, die sich durch Prävention, Intervention und Psychotherapie ergeben – immer mit einem klaren Bezug zu Erkenntnissen aus der Hirnforschung.

Ein erhöhtes Risiko kann bereits vor der Geburt entstehen, wenn sich die eigenen Gene in einer ungünstigen Konstellation zusammenwürfeln oder mütterlicher Stress in der Schwangerschaft das kindliche Stresssystem und auch die Darmflora prägt und dem beginnenden Leben signalisiert, dass die Umweltbedingungen wohl ein wenig ungünstig zu werden scheinen. Stress hin oder her. Im Bauch der Mutter ist es zumindest warm und in der Regel gibt es dort etwas zu essen. Nach der Geburt ist das Kind noch mehr auf das Wohlwollen und die Zuverlässigkeit seiner Eltern angewiesen. In den meisten Fällen wird es mit liebevoller Fürsorge überhäuft. Diese stattet das Kind mit einer stabilen Psyche aus, mit innerer Zufriedenheit und guten Ressourcen für den Umgang mit Belastungen. Nicht immer ist die Kindheit so makellos und unkompliziert. Nicht immer ermöglicht sie den optimalen Start ins Leben. Verschiedene Risiken können in dieser Zeit die Entwicklung problematischer Persönlichkeitseigenschaften oder gar die Entstehung psychischer Erkrankungen fördern. Die potentiellen Risiken sind vielfältig, beinhalten allerdings häufig ungünstiges Elternverhalten – dann, wenn psychische Erkrankungen, eigene Traumatisierungen, Drogenabhängigkeit oder äußere Lebensumstände wie Flucht oder Armut die Eltern darin beeinträchtigen, die Signale des Kindes zu erkennen, und sie daran hindern, seinen Bedürfnissen nachzukommen. Aber auch andere Risiken, etwa überfüllte Krippen oder eine Überdosis Social Media wirken auf die Kinder ein und beeinflussen die Entwicklung von Gehirn und Verhalten.

Um all diese Risiken der frühen Entwicklung soll es in diesem Buch gehen. Aber nicht nur mit dem Blick auf die heutzutage aufwachsenden Kinder, sondern auch auf diejenigen, die vor dreißig, fünfzig oder siebzig Jahren ihre Kindheit verbrachten. Mit dem Blick auf uns, uns ehemalige Kinder. Uns ehemalige Kinder mit all unseren Defiziten und Unzulänglichkeiten, die sich jeglichen Versuchen der Änderung zu verschließen scheinen. Wie gehen wir damit um, mit einem längst vergangenen und fast vergessenen »Risiko Kindheit«, auf dessen Spuren wir uns noch Jahrzehnte später bewegen?

Was müssen wir verändern und wie geht das?

Auch wenn es unendlich schwer erscheint, diese Spuren zu verlassen, so ist das doch in Grenzen möglich, wie uns etwa die Psychotherapie gelehrt hat. Dass dies allerdings durch rein willentliche Vorsätze möglich sein soll, ist bei Kenntnis der Vorgänge im Gehirn sehr unwahrscheinlich.

Im Gehirn sind nämlich nicht diejenigen Hirnstrukturen Herrscher über unser Verhalten, deren Aktivität unsere bewusst getroffenen Entscheidungen und rationalen Überlegungen begleitet, sondern diejenigen, die unsere Gefühle steuern. Diese emotional wichtigen Hirnzentren entwickeln sich in den ersten Lebensjahren und werden entsprechend früh geprägt. Ihre Verschaltungen werden ebenso durch frühe Erfahrungen beeinflusst wie die Wirksamkeit bestimmter Stoffe im Gehirn. Stoffe wie Dopamin, Oxytocin, Cortisol, die sich im Gehirn auf die Aktivität von Nervenzellen, unsere Gefühlswelt und unser Verhalten auswirken. Diese Stoffe bilden die Grundlage für Persönlichkeitsmerkmale, etwa für unsere Neigung, mit Stress oder Belohnungen umzugehen, für unsere Fähigkeit, uns beruhigen und Impulse hemmen zu können, für unseren Umgang mit Bindungsbeziehungen ebenso wie für unsere Bewertung von Risiken. Frühe Erfahrungen beeinflussen gemeinsam mit der individuellen genetischen Veranlagung die spätere Funktion dieser Stoffe und hierüber unsere Persönlichkeit.

Das Verlassen unliebsamer Spuren ist nicht nur deshalb wichtig, damit wir selbst uns subjektiv besser fühlen, sondern auch, um die Wahrscheinlichkeit zu reduzieren, dass wir unsere eigenen Dämonen an die Nachfolgegenerationen weitergeben. Denn das ist eine zentrale Erkenntnis der vergangenen Jahrzehnte: Stresserfahrungen können auch die nachfolgenden Generationen belasten, es entstehen generationsübergreifende Teufelskreise, die zu unterbrechen für uns selbst und für das Wohl unserer Gesellschaft unbedingt notwendig ist.

Zur Zielgruppe des Buches gehören entsprechend nicht nur Eltern, die sich fragen, ob die frühe Kindheit wirklich so wichtig ist, sondern auch Menschen, die sich wundern, warum sie selbst Schwierigkeiten im Bereich Impulskontrolle, Belohnungsaufschub, Bindung, Stressverarbeitung oder gar eine psychische Erkrankung entwickelt haben und warum es ihnen manchmal schwerfällt, mit den eigenen Kindern in einer Weise umzugehen, wie es ihnen ihre Vernunft nahelegt. Und es richtet sich auch an diejenigen engagierten Personen, die mit den betroffenen Kindern und Erwachsenen arbeiten und ihnen beistehen.

So verschieden wie die potentiellen Leser, so unterschiedlich mag das Interesse an den jeweiligen, in diesem Buch dargestellten, Zusammenhängen ausfallen. Es ist für das Verständnis der in den späteren Kapiteln dargestellten Inhalte jedoch nicht erforderlich, das ganze Buch durchzuarbeiten. Lesen Sie einfach das, was Sie interessiert.

Im nun folgenden zweiten Kapitel des Buches steht das Gehirn im Fokus. Es geht darum, wie das Gehirn Psyche und Persönlichkeit hervorbringt und warum eine schwierige Kindheit häufig mit Folgen für die eigene Gefühlswelt und das Verhalten verbunden ist. Der Blick ist dabei auf die Entwicklung von Persönlichkeitsmerkmalen gerichtet, aber auch auf die Entstehung von emotionaler und sozialer Kompetenz. Warum bringen frühe belastende Erfahrungen so häufig eine Gefühlsblindheit und Schwierigkeiten in der Kontrolle der eigenen Gefühle hervor? Warum machen sie uns mitunter bedrohungsempfindlich und unflexibel? Warum beeinträchtigen sie manchmal das Vermögen, die Gefühle und Perspektiven anderer zu erkennen und mit ihnen zu fühlen? Und welche Rolle spielen die eigenen Gene bei alldem, was genau ist Epigenetik und – eine Frage, die sich dem einen oder anderen stellen mag – muss das alles sein?

In Kapitel 3 beschreibe ich die verschiedenen Risikofaktoren und spanne einen Bogen von vorgeburtlichen Erfahrungen, der Geburt, der für das Gehirn so wichtigen Darmflora, über problematisches Elternverhalten, Kinderkrippe, Smartphone, bis hin zu extremen Bedingungen wie Armut und Flucht.

Anschließend, in Kapitel 4, geht es um Vererbung, und hiermit darum, wie Eigenschaften und auch Auswirkungen früher Traumatisierungen von einer Generation an die nächste weitergegeben werden. Warum wird gewalttätiges Verhalten häufig von einer Generation an die nächste weitergetragen? Können epigenetische Veränderungen vererbt werden? Und warum wird auch fürsorgliches elterliches Verhalten so oft an die eigenen Kinder weitergereicht?

Thema von Kapitel 5 ist die Resilienz. Warum scheinen einige Menschen gegenüber den Auswirkungen extremer Stresserfahrungen immun zu sein, während andere Menschen den Boden unter den Füßen verlieren? Gibt es wirklich widerstandsfähige Löwenzahn-Kinder und empfindliche Orchideen-Kinder? Wie kann man sie unterscheiden? Und wie kann man die Widerstandsfähigkeit beeinflussen, wie kann man Kinder mit Resilienz ausstatten? Welche Rolle spielt Bindung? Und was kann man noch tun? Können Babymasssage, Pekip und Co helfen?

In Kapitel 6 kommen wir zu den Möglichkeiten und Grenzen von Auswegen. Etwa solchen im Kindesalter, mittels einer Förderung der elterlichen Kompetenzen oder über eine Förderung der Kinder in Ersatzfamilien. Bis wann können Kinder eine gesunde Entwicklung nachholen und worauf kommt es an, wenn man ihnen dies ermöglichen möchte? Im Anschluss daran geht es um Auswege im Erwachsenenalter. Wie wirkt Psychotherapie im Gehirn und welche Voraussetzungen müssen aus Sicht der Hirnforschung gegeben sein, damit die Veränderungen nachhaltig sind? Wie kann Veränderung gelingen?

Verstehen wir die Entwicklung und die Funktionsweise des Gehirns und gelingt es uns, diese Erkenntnisse mit psychologischen Modellen zusammenzubringen, dann können wir versuchen, dieses Wissen zu nutzen, um präventiv die psychische Gesundheit zu fördern und mit Interventionen eine ungünstige Entwicklung abzufedern. Dieses Wissen kann uns zudem helfen, nachsichtiger mit den Schwächen anderer umzugehen und unsere eigenen zu akzeptieren oder zu verändern.

2 Unser Gehirn verstehen: Psyche und Persönlichkeit

Das Gehirn. Unzählige miteinander verbundene und sich austauschende Zellen, Nervenzellen, Gliazellen, durchzogen von Blutgefäßen. Man mag sich kaum vorstellen, dass ein solch ungeordnet anmutendes bräunlich-rosafarbenes Geflecht Gefühle und Verhalten, ja sogar Persönlichkeit und ein bewusstes Ich hervorbringen kann.

Das Gehirn ist kompliziert. Deshalb ist auch dieses Kapitel etwas schwieriger als die übrigen Teile des Buches. Es ist aber für das Verständnis der späteren Kapitel nicht zwingend nötig, dieses Kapitel vollständig durchzuarbeiten. Dem einen oder anderen Leser mag es gar reichen, sich zunächst auf die »TAKE HOME«-Botschaften zu konzentrieren.

86 Milliarden Nervenzellen, alles kommuniziert miteinander, über elektrische Signale und über chemische Moleküle. Natürlich ist Nervenzelle nicht gleich Nervenzelle. Es gibt Nervenzellen, die auf das Sehen oder Hören spezialisiert sind, solche, die auf Bewegungen ansprechen, und wiederum andere, deren Aktivität Gefühle in uns auslöst. Man weiß, dass Nervenzellen mit ähnlichen Aufgaben zusammengruppiert sind. Deshalb kann man den verschiedenen Hirnbereichen Funktionen zuweisen, auch wenn es immer mehrere Bereiche sind, die zusammenarbeiten, wenn wir wahrnehmen, uns bewegen und auf unsere Umwelt reagieren.

Grob unterscheiden kann man die Spezialisierungen der ummantelnden Hirnrinde und der tiefer gelegenen Hirnstrukturen. Die Hirnrinde ist in der Lage, Inhalte detailgetreu zu verarbeiten und gelegentlich wird dies von Bewusstsein begleitet. Im Vergleich dazu ist die Aktivität der tief im Gehirn gelegenen Bereiche ungenauer, automatischer und immer unbewusst, dafür aber umso wichtiger. Denn dort sind nicht nur unsere Gewohnheiten gespeichert, sondern werden auch Bewertungen vorgenommen und Gefühle ausgelöst. In jeder erdenklichen Situation des Lebens wird hier alles blitzschnell und unbewusst bewertet. Das, was unser Gehirn als wichtig und neu einstuft, wird – häufig bewusst – weiterverarbeitet. Gäbe es eine solche unbewusste Vorsortierung nicht, würden wir jeden Bordstein, jeden Grashalm, jeden Teppich, auf den wir unseren Fuß setzen, systematisch begutachten. Wir würden die Kleidung der im Bus vor uns sitzenden älteren Dame hinsichtlich Material, Farbe und Qualität sorgfältig analysieren und dies für jeden Busreisenden und jeden draußen an uns vorbeirauschenden Menschen wiederholen. Unser Bewusstsein wäre völlig eingenommen von den zahllosen Informationen in unserer Welt. Deshalb wird unbewusst vorsortiert. Wichtig sind solche Dinge oder Geschehnisse, die in irgendeiner Weise mit Folgen für uns verbunden sein könnten. Herannahende Autos etwa, eine rote Ampel oder ein potentiell giftiger Käfer im Salat. Die tief gelegenen Strukturen leiten unser Verhalten unbewusst an: Wir nehmen unser Kind an die Hand, bleiben an der Ampel stehen und ziehen erschrocken die Gabel zurück.

Insbesondere dann, wenn die Situation ein bisschen mehr Aufmerksamkeit erfordert, werden bewusste Gefühle in uns ausgelöst. Wir spüren sie deutlich, die Angst vor dem Verkehr oder den Ekel vor dem Käfer. Unerbittlich lenken die Gefühle unseren Aufmerksamkeitsfokus auf das Geschehen. Wir können gar nicht anders, als es bewusst und unter Einbezug der detailbegabten Hirnrinde zu beachten und zu analysieren. Die Hirnrinde bildet nun den Käfer, den der Ekel in den Fokus gesetzt hat, in hoher Auflösung ab. Wir können das Bild genau prüfen und stellen fest, dass es sich lediglich um einen schwarz gerösteten Pinienkern handelt.

Unsere Gefühle sind deshalb mitnichten schmückendes oder lästiges Beiwerk, das uns von der Erledigung unserer Pflichten abhält. Gefühle sind in das Denken eingebunden und leiten es an. Sie »markieren bestimmte Aspekte einer Situation oder bestimmte Ergebnisse möglicher Handlungen« (Damasio 2015, S. V). All unsere alltäglichen Tätigkeiten, all die kleinen Entscheidungen, die wir rational zu treffen meinen, stehen unter der Fuchtel unserer Gefühle. Furcht, Wut, Ekel, Verachtung, Traurigkeit, Scham, Überraschung, Stolz und Freude – unsere Gefühle leiten uns an. Sie informieren uns darüber, dass in unserer Umwelt oder unserem Körper gerade etwas Wichtiges passiert und wir unsere Aufmerksamkeit darauf lenken müssen. Sie leiten uns an, damit wir uns positiven, belohnenden Reizen zuwenden und von möglicherweise schädlichen Reizen Abstand nehmen.

Gleichzeitig kommunizieren wir unseren Zustand unbewusst über unseren Gesichtsausdruck und unsere Haltung. Beim Anblick des Käfers in unserem Salat schrecken wir zurück und rümpfen die Nase – so wissen auch andere, was mit uns und der gemeinsamen Umwelt los ist. Die anderen können uns daraufhin helfen, beraten oder Trost spenden und wissen nun selbst ein kleines bisschen besser über die gemeinsame Umwelt Bescheid, über herannahende Autos beispielsweise, oder darüber, dass auch ihr eigener Salat möglicherweise käferhaltig ist.

Nicht immer merken wir, dass es die Gefühle sind, die unser Verhalten steuern. Schreibe ich noch eine komplizierte Email oder läute ich den Feierabend ein? Auch wenn ich meine, rational und vernunftgesteuert das Für und Wider abzuwägen, sind es doch die Gefühle, denen die Entscheidungsgewalt obliegt. Die Furcht vor der Reaktion des Adressaten auf eine ausbleibende Email, die vorweggenommene Freude darüber, so viel erledigt zu haben – all diese Gefühle können den Feierabend verzögern. Fühlen und Denken gehen auch dann Hand in Hand, wenn wir uns dessen nicht bewusst sind.

Was Experten beschäftigt: Benötigen Roboter Gefühle? Wenn unsere Gefühle so wichtig sind, was ist dann mit intelligenten Robotern? Müssen auch sie Gefühle haben, um differenzierte Entscheidungen zu treffen? Oder gehört gerade die rein kognitive Analyse des Sachverhalts zu ihren großen Stärken? Heutzutage wird angenommen, dass kognitive und emotionale Prozesse in der allgemeinen Informationsverarbeitung verflochten sind. Intelligente Verhaltensweisen wie Aufmerksamkeit, Problemlösung und Planung, die üblicherweise als kognitiv bezeichnet werden, beinhalten immer auch emotionale Komponenten. Auch ein Roboter muss die emotionale Bedeutung von Informationen kennen: Sind bestimmte Entscheidungen an positive Folgen gekoppelt? Können andere negative Auswirkungen haben? In der Folge muss auch der Roboter die in dieser Weise relevant gewordenen Informationen mit Priorität verarbeiten und deren potentielle Folgen berücksichtigen. Das, was beim Menschen oft bewusst als Gefühl wahrgenommen wird und eine Ausrichtung der Aufmerksamkeit mit sich bringt, muss beim Roboter nicht von Bewusstsein, d.h. von einem erlebten Gefühl, und auch nicht von Herzrasen begleitet werden, und vermutlich analysiert der Roboter die Situation auch schneller und wird nicht durch geröstete Pinienkerne fehlgeleitet – dennoch ist die Bewertung als Grundlage für Verhaltensentscheidungen streng genommen ein emotionaler Prozess (Pessoa 2017). Moralische Dilemmata, die sich aus dieser emotionalen Bewertung ergeben und die Menschen etwa im Hinblick auf das Trolley-Problem erfahren (würden Sie sich entscheiden, einen Menschen aktiv zu töten, um fünf weitere zu retten?), würden Roboter entsprechend der Vorgaben der sie programmierenden Menschen lösen (s.a. Walker 2015).

2.1 Wie unser Gehirn Fühlen und Denken hervorbringt

Richten wir unsere Augen nach innen, erleben wir uns als fühlendes und denkendes Wesen. Verschiedene Hirnzentren bringen diese Gefühle und Gedanken hervor. Früher hieß es oft, die Hirnrinde sei vor allem für kognitive Funktionen zuständig, also für das Denken, das Schlussfolgern und das Entscheiden, während unsere Gefühle tief drinnen, im sogenannten limbischen System entstehen. Heutzutage weiß man, dass es so einfach nicht ist, dass auch die Hirnrinde wesentlich an der Verarbeitung von Gefühlen beteiligt ist, dass also auch Teile der Hirnrinde zum limbischen System gehören. Um das Wirken der Hirnzentren besser begreifen zu können, kann man sie verschiedenen Ebenen zuordnen, und zwar drei limbischen Ebenen sowie einer kognitiv-sprachlichen Ebene, die diesen gegenübergestellt ist (Roth und Strüber 2018).1

Da ist zum einen die untere limbische Ebene. Den ihr angehörenden Strukturen geht es um das Überleben und um die Fortpflanzung. Sie arbeiten unbewusst und kümmern sich nicht nur um Atmung, Kreislauf, Schlaf-Wach-Rhythmus, Nahrungsaufnahme und Temperatur, sondern steuern auch unbewusste und automatische Verhaltensweisen – Handlungen, die nicht gelernt werden müssen, sondern bereits im Programm »Mensch« enthalten sind. Sie lassen uns unwillkürlich vor einem tiefen Abgrund zurückschrecken und böse gucken, wenn uns jemand bedroht. Sie lösen auch die dazugehörigen Gefühle wie Angst oder Aggressionen aus. Um komplizierte soziale Befindlichkeiten wie Empathie, Stolz oder Schadenfreude scheren sich die Hirnstrukturen der unteren limbischen Ebene nicht, ebenso wenig darum, dass es in der einen oder anderen Situation des Lebens unangebracht ist, böse zu gucken, wegzurennen oder zuzuschlagen. Diese Ebene bildet die Basis unseres Daseins.

Abb. 1: Verschiedene Hirnzentren können vier Ebenen der Hirnfunktion zugeordnet werden.

Dennoch arbeitet sie bei jedem Menschen unterschiedlich. Dies äußerst sich darin, wie wir auf unsere Umwelt reagieren, ob wir also besonders ängstlich und gehemmt oder eher forsch und draufgängerisch sind. Sie gibt unser Temperament vor.

Die Entwicklung der Hirnstrukturen dieser Ebene beginnt bereits früh in der Schwangerschaft und ist zum Zeitpunkt der Geburt größtenteils abgeschlossen. Entsprechend wird sie vor allem durch die eigenen Gene, durch vorgeburtliche Erfahrungen oder auch den Geburtsverlauf beeinflusst. Spätere Erfahrungen, beispielsweise im Rahmen der Erziehung, können die Funktion der unteren limbischen Ebene nur schwer verändern.

Die Strukturen der mittleren limbischen Ebene speichern die jeweiligen emotionalen Lernerfahrungen eines Menschen. Diese Hirnzentren bewerten die Erfahrungen hinsichtlich ihrer Folgen und speichern das Ergebnis ab, damit der Mensch für zukünftige ähnliche Situationen gerüstet ist. Werden wir beispielsweise bedroht, dann wird dies fest in die Verschaltungen der sogenannten Amygdala integriert (die komplizierterweise übrigens mit ihrem zentralen Bereich zur unteren und mit ihrem seitlichen Bereich zur mittleren limbischen Ebene gehört). Ohne dass wir dies bewusst steuern, werden Assoziationen geschaffen, mit dem Ziel, ähnliche Bedrohungen später vermeiden zu können. Unbewusst speichern wir die Eindrücke, die negative Erfahrungen begleiten. Erleben Kinder etwa frühkindlich sexuellen Missbrauch, dann ist die lebenslange Abscheu vor den Begleitumständen hier unbewusst gespeichert. Der Geruch von Zigarettenhänden, der Anblick schwerer Gardinen, die das Zimmer verdunkeln, aber auch Gefühle der Hilflosigkeit und Resignation werden auf dieser Ebene tief verankert.

Auch das Wissen darum, wie wir uns verhalten müssen, um uns gut zu fühlen, wird auf dieser Ebene festgehalten. Die tröstende Wirkung der elterlichen Umarmung, das Vogelgezwitscher, das immer den Spielplatzbesuch begleitete, das Geschirrklappern aus der Küche, das so an die Geborgenheit und die Unbeschwertheit des Zuhauses erinnert, der Geruch selbstgebackener Weihnachtsplätzchen, der uns das nahende Weihnachtsfest ankündigt – all dies hält Einzug in das Netzwerk der mittleren limbischen Ebene und lässt uns auch später immer wieder ähnliche Situationen suchen.

Auch die Hirnstrukturen dieser Ebene beginnen bereits in der Schwangerschaft zu reifen. Dennoch werden die dortigen Verschaltungen vor allem durch Erfahrungen, insbesondere denen der frühen Kindheit, beeinflusst.

Die nächste Ebene, die obere limbische Ebene, ist für die bewusste und reflektierte emotionale Verarbeitung zuständig. Sie beinhaltet die für das Gefühlsleben wichtigen Teile der Hirnrinde. Diese liegen vor allem vorne, hinter der Stirn, ein kleiner Teil aber auch etwas oberhalb der Ohren. Diese Hirnstrukturen haben so komplizierte Namen wie »orbitofrontaler Cortex«, »ventromedialer präfrontaler Cortex«, »anteriorer cingulärer Cortex« oder »anteriore Insula«.

Nehmen wir wahr, dass in uns selbst oder in unserer Umwelt etwas Wichtiges geschieht, dann erzeugen die Hirnstrukturen der anderen beiden Ebenen, d.h. der unteren und der mittleren limbischen Ebene, unbewusst und automatisch Gefühle. Auf der oberen limbischen Ebene werden die Eindrücke einer genaueren, manchmal von Bewusstsein begleiteten Prüfung unterzogen. Gewissenhaft wird analysiert und geprüft, ob die automatisch entstandenen Gefühle auch situationsgerecht sind. Nimmt das Gehirn unbewusst besagten Käfer im Salat wahr und drückt die anteilig zur unteren und mittleren limbischen Ebene gehörende Amygdala daraufhin hektisch den Alarmknopf und lässt uns zurückschrecken, dann ist es Aufgabe der oberen limbischen Ebene, zu prüfen, ob hier wirklich eine Gefahr vorliegt, oder ob es sich um einen als Käfer verkleideten Pinienkern handelt. Die obere limbische Ebene analysiert hierfür die Informationen aus der visuellen Hirnrinde im Detail und bringt sie mit Erfahrungen im Umgang mit Käfern und Pinienkernen zusammen. Kommt sie zu dem Schluss, dass das betrachtete Objekt keine mit Widerhaken versehenen Beine hat und von matter Oberfläche ist, und stößt sie nicht auf unangenehme Erinnerungen an Pinienkerne, dann gibt sie Entwarnung: Sie hemmt über Nervenzellverbindungen zur Amygdala deren Aktivität. Wir beruhigen uns.

Auf der oberen limbischen Ebene geht es außerdem nicht mehr nur noch um einfache Gefühle wie Angst, Aggression oder Freude, sondern um so komplizierte menschliche Befindlichkeiten wie Stolz, Scham, Enttäuschung, Schadenfreude usw. Die Hirnstrukturen der oberen limbischen Ebene reflektieren, ob das eigene soziale Verhalten mit den Bedürfnissen und Gefühlen anderer vereinbar ist. Unangemessene Impulse werden gegebenenfalls gezügelt.

Die Hirnstrukturen der oberen limbischen Ebene beginnen sich zwar ebenfalls in der Schwangerschaft zu entwickeln, sind jedoch nach der Geburt noch sehr unreif und verändern sich bis in das Jugendalter und darüber hinaus noch erheblich. Sie werden deshalb erheblich durch Kindheitserfahrungen beeinflusst.

Die letzte Ebene, die kognitiv-sprachliche Ebene, ist für die sprachlich unterstützte Aufrechterhaltung und Koordination von Verhaltenszielen zuständig. Sie beinhaltet andere Teile der Hirnrinde. Dazu gehören seitlich gelegene Bereiche der vorderen Hirnrinde, etwa solche, die für das Sprachverständnis und die Spracherzeugung zuständig sind. Sie umfasst aber auch Hirnzentren, die das Arbeitsgedächtnis hervorbringen, die es uns also beispielsweise erlauben, den ersten Teil des Satzes im Kopf zu behalten, während wir den zweiten aussprechen. Diese Ebene arbeitet rational, kühl und bewusst. Zu ihren Aufgaben gehört es, Gedanken zu strukturieren, Verhaltensziele abzubilden, aufrecht zu erhalten und in eine Reihenfolge zu bringen. Sie nimmt die glühenden Emotionen aus den drei limbischen Ebenen zur Kenntnis, kann aber nicht wirklich etwas an ihnen ausrichten. Viel zu sagen hat sie nicht.

Allerdings vergleicht die kognitiv-sprachliche Ebene die eigenen Gefühle und das eigene Verhalten mit ihren erlernten Modellen darüber, wie wir zu sein haben. Gegebenenfalls bringt sie die Dinge in Einklang. Sie lässt uns glauben, gesund zu leben, und rechtfertigt die Tüte Chips damit, dass wir Sport getrieben haben. Eine Lüge nickt sie mit der Begründung ab, dass sie dem anderen ja nicht wehtut. Nicht immer stimmt das, was die kognitiv-sprachliche Ebene sich zurechtlegt, auch mit den in den Verschaltungen der limbischen Ebenen gespeicherten tatsächlichen Beweggründen überein. Gerne verdreht und verzerrt sie, um passend zu machen, was nicht passt. So kann sich diese Ebene auch bei einem egoistischen Menschen für dessen eigenes positives Selbstbild zusammenreimen, er sei – wie es sich gehört – mitfühlend und sozial, vielleicht weil er etwas gespendet oder der Großmutter einen Kurzbesuch abgestattet hat. Umgekehrt können Menschen, in deren gewaltgeprägtem Umfeld das Zeigen von Mitgefühl tabu ist, der festen Überzeugung sein, sie seien eiskalt, obwohl sie immer dann, wenn sie Gewalt ansehen oder ausüben, innerlich sehr aufgewühlt sind.

TAKE HOME: Zahlreiche Hirnstrukturen bringen unser Fühlen, Denken und motiviertes Handeln hervor. Insbesondere die unbewusst arbeitenden unteren beiden limbischen Ebenen sind hierbei mächtige Antriebe und häufig Quelle ganz gegensätzlicher Motive. Beschreiben wir uns selbst, ist dies ein Versuch der kognitiv-sprachlichen Ebene, Sinn in das unbewusste Treiben zu bringen. Sie sucht Rechtfertigungen für unser Handeln, damit wir uns selbst im Einklang mit den Normen unserer Gesellschaft erleben. Dass sie dabei aber nicht immer objektiv ist, sollten wir im Kopf behalten.

2.2 Warum wir uns unterscheiden und was früher Stress bewirkt