Ein Forschungsauftrag über einen vergessenen Dichter verschlägt die junge Germanistin Julia Völcker auf eine kleine Ostseeinsel. Auf den ersten Blick eine Idylle! Doch hier gelten andere Regeln als in der Großstadt auf dem Festland, wie Julia bald am eigenen Leib erfährt. Die Inselbewohner bilden eine eingeschworene und wortkarge Gemeinschaft und begegnen der Zugezogenen zunächst mit einer gehörigen Portion Skepsis. Aber Julia lässt sich nicht unterkriegen. Sie fragt nicht, macht ihre Arbeit, trotzt Stürmen und Widrigkeiten aller Art. Als sie sich in den Tierarzt Hanno verliebt, scheint sie endlich angekommen, doch die Beziehung wird auf eine harte Probe gestellt …
Gabriela Jaskulla wurde 1962 in Franken geboren, wuchs in Hessen auf, lebte in Spanien, liebt Hamburg, kleinere Inseln und lebt heute bei Berlin. Sie ist Kunsthistorikerin und Journalistin, arbeitete 17 Jahre für den Rundfunk und lehrt Kulturjournalismus und Kreatives Schreiben an der Hochschule in Hannover.
www.gabrielajaskulla.de
GABRIELA JASKULLA
Ostseeliebe
Roman
INSEL VERLAG
Die Erstausgabe erschien 2003 im btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
eBook Insel Verlag Berlin 2016
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4451.
© Insel Verlag Berlin 2016
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Das Wasser war trüber, als sie erwartet hatte, dunkler – und so unbeweglich wie eine überfressene Seelöwin. Sie musste lächeln: Seelöwen gab es hier natürlich nicht. Sie zögerte: wahrscheinlich nicht. Wenn sie ehrlich war, hatte sie keine Ahnung, was da unter ihr an Lebendigem existieren mochte. Und es interessierte sie auch nicht, jedenfalls so lange nicht, wie es nicht ein warmer, sonnendurchfluteter Tag sein würde, sie mit den Zehen im Wasser plätschernd, das lau und sanft wäre – Urlaubswasser, mit dem sie sich auskannte, Mittelmeerwasser, Badewasser für den Sommer.
Julia seufzte. Davon war sie nun allerdings meilenweit, monateweit entfernt. Ganz allmählich hatte sie die Orientierung verloren, je weiter sie in die Dunkelheit hineinfuhren. Es war ziemlich kalt. Jeanette würde sagen: »Verdammt schattig hier!«
Nun musste sie sich die Ironie schon bei ihrer besten Freundin ausleihen, was nicht oft vorkam. Aber dies war auch kein Urlaubstrip, das unwillige Wasser unter ihr plätscherte keineswegs sommerlich verheißungsvoll, und es würde auch keine Tintenfische liefern, die sie zum Abendessen mit einer köstlichen Knoblauchmayonnaise vertilgen würde, Kalorien hin oder her. Gab es irgendeine Situation, in der sie es nicht schaffte, früher oder später ans Essen zu denken? Doch es beruhigte, lenkte sie ab von dieser merkwürdigen Passage. Eine Reise ins Ungewisse, das hatte sie gewusst – nicht aber, wie schnell sie die Orientierung verlieren würde, die Richtung, das Ziel. Woher war sie aufgebrochen, wohin war sie unterwegs? Sie kannte sich schon lange nicht mehr aus.
Etwas zu sich nehmen. Sattwerden. Sattsam bekannt das alles. Sie liebte diese meist plötzlich eintretende Schwere, wenn sie sich durch einen Braten oder notfalls durch hastig heruntergeschlungene Pizzamengen selbst zur Unbeweglichkeit verurteilt hatte, den Kopf leer, die Beine gelähmt und die Arme nur noch dazu geeignet, einen müden Kopf auf die Tischplatte zu stützen. So hätte sie stundenlang unbeweglich verharren können, am liebsten tagsüber, wenn sie um sich herum noch Geräusche von Geschäftigkeit vernahm, Kinder, die sich zum Spielen aufmachten, anspringende Wagenmotoren – lauter Betriebsamkeiten, die sie in aller Ruhe an sich vorüberziehen lassen konnte.
»Du und deine Mittagsmeditation!«, pflegte ihre Mutter vorwurfsvoll zu sagen, um dann Puddingschalen und Salatschüsseln außer Reichweite zu räumen. Sie bemühte sich dabei, keinen Lärm zu machen, als schliefe Julia. Eigentlich tat sie das ja auch, war nicht ansprechbar, war nicht da. War ganz bei sich. Das waren Momente der völligen Zufriedenheit, der Wunschlosigkeit, in denen ihr kein Zweifel und kein Ehrgeiz in die Quere kamen, in denen sie niemanden vermisste und sich nicht wünschte, angesprochen zu werden, Momente des Trostes.
Es ist nur, weil ich mich so allein fühle, dachte sie jetzt und, mit plötzlicher Ernüchterung: Ich bin ja auch allein!
Das hatte sich schon bei Beginn der Reise eingestellt, dieses leise Gefühl der Enttäuschung. Im Nu war die Zeit vergangen zwischen Bielefeld und Berlin, in einem Augenblick flogen mehrere hundert Kilometer vorbei, Gleise und Orte und fahle Landschaften und Städte von hinten. Die schienen plötzlich alle nur noch aus Lagern, Abraumhalden und Werkstatthöfen zu bestehen, Vorstädte, Durchgangsdörfer mit schmalen Schultern, die kaum abwichen von ihren schnurgeraden Hauptstraßen, oft eingeklemmt zwischen Asphaltbahnen und Eisenbahntrasse.
Doch dann, von Spandau an, waren mit jedem Halt die Bahnhöfe elender und bei jedem Umsteigen die Züge schmuddeliger geworden, hatte sich das Tempo verringert, hatte die Bequemlichkeit abgenommen. Kein Speisewagen zwischen Berlin und Stralsund, keine Abteile bis Bergen. Und dann diese größte deutsche Insel, die sich als Festland ausgab, eine belanglose grüngraue Hügellandschaft, mit allzu vielen landwirtschaftlichen Großbetrieben, Silos, die zum Himmel stanken, und in der Weite verlorenen Menschen, die auf den Bus warteten und sich gegen den Wind stemmten. Gegen einen Wind, der scheinbar ins Leere pfiff und kein Laub fand zum Spielen, keine Lämmer, um sie vor sich her zu treiben, keine Regenschirme, die sich verheddern ließen. Diese Leute trugen Kapuzen oder zogen die Köpfe tief ein beim Gehen.
Eine Reise, die zunehmend alles kleiner werden ließ: erst im funkelnagelneuen Intercity, weiter mit einem immer noch stattlichen Expresszug, mit einer Regionalbahn, mit Fähre und Bus. Das übliche Gefühl des Sich-Entfernens wollte sich partout nicht einstellen, und ein Abenteuer war das hier schon gar nicht. Es waren Alltagsstrecken, die Julia benutzte, Pendlerstrecken, Zweckstrecken, kein Mensch achtete auf die Landschaft; im Bus starrten die Leute mit seltsam blicklosen Augen auf den Nacken des Vordermanns, und schon die vorbeiziehenden Hecken und Weiden zu beobachten, kam Julia unpassend vor. Als würde sie in fremde Fenster schauen, um sich ein Bild vom Wohnzimmer der Leute zu machen. Niemand schaute zur Seite, niemand wandte sich um, wenn ein Fahrgast ausstieg. Alle schienen sich bestens auszukennen, schienen Fahrpläne, Verbindungen, Streckennetze im Kopf zu haben. Und Julia, die bei jedem Umsteigen unsicherer wurde und mehr und mehr fröstelte, wurde bewusst, wie sehr sie nicht hierhergehörte. Kein Fremder gehörte hierher. Hier war man offenbar seit Jahrhunderten unter sich geblieben und hatte auch niemanden vermisst. Gewiss, niemand musterte sie neugierig im Bus, auch nicht, als sie, wiederum als Einzige, nach dem Fahrpreis fragte, aber gerade das irritierte sie. Die Leute zeigten deutlich, dass sie sich nicht für sie, Julia, interessierten, dass sie keine Rolle spielte.
Und dieses Gefühl kannte Julia von Kindesbeinen an: Schön, dass du da bist, hatte Großmutter Evi gesagt – um sich sofort wieder dem kleinen Bruder zuzuwenden. »Du warst ein Wunschkind«, behauptete ihre Mutter und fügte hinzu, dass nach ihrer Geburt nichts mehr gewesen sei wie vorher. Wenn Julia fragte, was sich denn geändert habe, sagte die Mutter: »Na, eben alles!« Und konnte sich genau an ihre Neigung zu geschwollenen Beinen erinnern, die sie seit damals mit Zinktabletten und Unmengen grünen Tees bekämpfte. Seit einigen Jahren roch das Haus fremd und gesund, und es schien unvorstellbar, dass Vater und Mutter jemals zu Rock 'n' Roll johlend Polonäsen getanzt hatten, im Partykeller, mit den Nachbarn und dass sie dazu »Grüne Chartreuse« getrunken hatten.
Und doch hatten sie es getan, hatten oft davon erzählt, und einmal hatten sie sogar später noch einen solchen Ausbruch riskiert. Julia war dabei gewesen, im neu eingerichteten Keller der Goldnüssens, Nachbarn, die wohlhabender waren als die eigenen Eltern, neben ihren zwei halbwüchsigen Söhnen mehrere Jagdhunde besaßen und außer dem blitzenden Mercedes auch noch einen Zweitwagen für die Dame des Hauses, den ersten Zweitwagen des Ortes. Und von Goldnüssens Ältestem wurde behauptet, er rauche Haschisch, es rieche immer so merkwürdig aus seinem Zimmer, das er, der Älteste, Uwe, seine »Bude« nannte und meist verdunkelt hielt. Julia fand Uwe aufregend, aber das bemerkte der natürlich nicht, und wenn er es doch bemerkte, dann ignorierte er es. Goldnüssens also hatten eingeladen, und Julia war durch die dröhnende Musik angelockt worden. Sie lief nacheinander über zwei genau gleich kurzgeschorene, gleich leuchtendmittelgrüne Rasenflächen, tätschelte einen der nutellafarbenen Hunde und ging durch die offene Tür ins Haus. Altdeutsch nannte man diese Art der Einrichtung, das wusste Julia und wunderte sich jedes Mal aufs Neue, warum dazu nicht auch Ritterrüstungen und Schatztruhen gehörten.
Die Kellertür war nur angelehnt, die messingfarbene Türklinke klebrig, jemand hatte Goldfischlis verstreut auf der Schwelle. Von unten herauf klang Frauenlachen, dröhnte die Musik. Musik, die alle verrückt fanden und zu der sie immer und auf der Stelle tanzen mussten:
»I said move over once / Move over twice / Come on, baby, don't be as cold as ice / I said I'm travelling on the one after nine o' nine …«
Normalerweise schimpfte ihr Vater immer auf diese Halbstarken und dass sie alles auf Englisch singen mussten: »Die ganze Sprache wird verhunzt!« Und wenn Mutter einwandte, dass Liverpool schließlich in England liege, dann parierte er: »Wenn die hier singen, können sie auch unsere Sprache lernen! Ich sage ja auch ›Thank you‹, wenn ich drüben was kaufe!« Tat er nicht, wie Julia wusste. Denn er war ja nie »drüben«, er war noch in überhaupt keinem »Drüben« gewesen! Aber jetzt tanzte er mit Frau Goldnüssens pummeliger Cousine, deren Haare vom unglaublichsten Goldblond waren, das Julia je gesehen hatte. Ihre hochtoupierte Frisur wankte bedenklich, als Vater und sie umeinander herumhopsten. Wie der runde Turm auf einem etwas merkwürdigen Bild, das ein Onkel Julia mal geschenkt hatte und das, wie er meinte, die »Babylonische Sprachverwirrung« darstellte. Den Begriff merkte sich Julia damals, und jetzt fiel er ihr wieder ein, jetzt, während dieser merkwürdigen Reise, die sie in etwas führte, was ihr gänzlich unbekannt und seltsam ungreifbar schien. Sie schüttelte den Gedanken ab. Wie viel selbstsicherer war sie doch als Kind gewesen, damals, bei Goldnüssens. Sie hatte sich wichtig gefühlt, im Begriff, eine Eroberung zu machen, sie traute sich hinunter in den brodelnden, hüpfenden, johlenden Erwachsenenabgrund, denn der Lärm würde sie beschützen.
»I've got my back / Run to the station / Railman says, you've got the wrong location … I said I'm travelling on the one after nine'o nine / I said move over honey / move on twice …«
Und da waren Frau Goldnüssen und ihre Mutter und hielten sich an den Händen. Eine Art Ringelreihen für Erwachsene schien das zu sein, ungewohnt, aber lustig. Julia hüpfte mit, und als die beiden Frauen an ihr vorbeisprangen wie eine etwas zu kurzgeratene, aber quicklebendige Schlange, da erwischte sie gerade noch die linke Hand von Frau Goldnüssen, die mit den vielen Bernsteinringen, und … »O Gott, schon wieder dieses Kind!«, hörte sie Frau Goldnüssen plötzlich rufen, trotz des Lärms, ganz klar und deutlich, und diese Frau schüttelte sie von ihrer Hand ab, als wäre Julia eine tote Fliege. Es wurde ganz kalt in ihrem Kopf und ganz still. »Julia!« sagte ihre Mutter streng und aus ihrer Ausgelassenheit gerissen, »Julia!«, aber da war sie schon zur Tür hinaus, die Treppe hinauf, über den Rasen mit den plötzlich ganz scharfen Halmen gerannt, weiter, weiter, verfolgt von den bellenden Hunden, und nur heim, nur heim.
Noch immer schämte sich Julia, wenn sie an diese Episode dachte. Ein Grundgefühl der Unbehaglichkeit hatte sich damals bei ihr eingestellt, das Gefühl, sich nie ganz am richtigen Ort zu befinden. Immer schien alles richtig gewesen zu sein, bevor sie kam, zur Unzeit, oder nachdem sie zu früh gegangen war. Irgend etwas passte nicht, wie bei einem Puzzle-Stück, das eigentlich in eine ganz bestimmte Lücke gehörte, aber trotzdem ein bisschen klemmte, man musste es verbiegen – und dann krumpelte es und stand vor, und jeder sah, dass es so nicht richtig war. Und vielleicht war es ja dieses Grundgefühl, das dazu führte, dass sie immerzu überall anstieß, gegen Wände und Türen lief, Entfernungen falsch einschätzte, letzte Treppenstufen übersah oder in ihrer Vorstellung dazuerfand. Ein Grundkrumpelgefühl.
Manchmal dachte sie, dass sie sich deshalb dieses Fettpolster zugelegt hatte, das sie so hasste. Vor allem um die Hüften und den Hintern herum beulte und knäulte es sich, während die Beine kräftig, aber gerade und keineswegs formlos waren und der Oberkörper von starken, jedoch überraschend schlanken Schultern und einem ebensolchen Hals abgeschlossen wurde. Nein, mit den Armen konnte Julia sich verteidigen, konnte gestikulieren beim Sprechen, konnte abwehren und überzeugen, sich, wenn nötig, die ganze Welt vom Leibe halten. Nur im äußersten Notfall gestattete sie sich über ihre Gesten hinaus eine einzige scharfe Bemerkung, und dann verstummte selbst ihr vorlauter Bruder. Aber in solchen Augenblicken mochte sie sich nicht, sie zog es vor, einfach nur dazusein, abwartend, passiv, die Arme verschränkt. Mit ihrem Kopf war Julia Völcker einverstanden, mit ihrer Fähigkeit, sich auszudrücken, da hatte sie alles im Griff. Nur der Bauch, der empfindliche und immer unruhige, immer verlangende Bauch! Vom Magen an wurde es kritischer, da ließ ihre Konstitution sie im Stich, und darum wohl diese beruhigenden Polster, die ihr in den Augen der Freundinnen etwas Sanftmütiges, Robbenhaftes gaben.
Julia hatte viele Freundinnen, weil sie anderen Frauen keine Angst einflößte. Gutmütig hörte sich Julia ihre Ratschläge an, die darauf zielten, dass sie Sport treiben, eine Diät machen, mehr unter die Leute gehen solle – und wusste genau, dass das Gerede über Veränderung letztlich ein Spiel war, das im Laufe der Jahre feste Regeln angenommen hatte, über die keiner mehr sprach. Denn ihre Freundinnen liebten sie so: weich und nachgiebig und ungefährlich.
Sie sah sich um: Mit niemandem hier hätte sie wirklich gern ein Wort gewechselt.
Eine Gruppe von Rauchern saß zusammen, ein paar Männer, auf dem Heimweg offenbar. Die hatten sich stumm und selbstverständlich nebeneinandergesetzt auf die Bänke in der Mitte, und kaum waren sie losgefahren, war einer aufgestanden und hatte für sich und die anderen Bier geholt, breitbeinig, den schwankenden Boden offenbar gewohnt, ohne ein Wort.
Das Licht der Neonröhren flackerte auf den Gesichtern, die sich glichen in ihrer grauen Mattigkeit. Sie kannte solche Gesichter aus der Straßenbahn, solche Männer, unbeweglich, gleichgültig. Nie machten sie Aufhebens von sich, und meist tauchten sie zu mehreren auf, so, als wären sie jederzeit bereit für ein Kartenspiel, eines, bei dem es nicht viel zu verlieren und noch weniger zu gewinnen gab. Sorgenmänner, die sich dicht beieinanderhielten.
Der Aufenthaltsraum glich einer Küche, von der ein minderbegabter Architekt geglaubt haben mochte, sie sei modern oder würde es über kurz oder lang. Ein Raum, der nie jemandem gefallen hatte, das spürte man, um den sich nie jemand gekümmert hatte. Er erfüllte seinen Zweck, wie eine Konservendose ihren Zweck erfüllt. Heller, gestrichelter Linoleumboden, auf dem unzählige Frauenabsätze, kratzende, schabende, schleifende Koffer, Kisten, Rucksäcke, Plastikbeutel, Körbe ihre Spuren hinterlassen hatten. Bänke für mehr als zwei, aber weniger als drei Personen, mit niedrigen Tischen dazwischen, an denen man sich beim Hinsetzen unweigerlich die Knie stieß. Leuchtstoffröhren. Ein paar weiße Hängelampen. Gardinen, die sicher noch nie jemand zu gezogen hatte. Warum auch? Eine Treppe führte nach oben. Als Kinder sie hinaufkletterten, schepperte es, und Dreck rieselte von Turnschuhsohlen durch die metallenen Stufen. Keinen kümmerte das. Alle schienen diese Fahrt nur möglichst schnell hinter sich bringen zu wollen.
Und so wurden Würstchen hastig zwischen zwei Pappdeckel geklemmt, wartete die Bedienung nicht, bis das Bierglas gefüllt war, knüllten die Kinder das Papier ihrer Schokoriegel achtlos neben sich zusammen. Ein Geruch von angelernter Ergebenheit lag in der Luft, durch die Rauchkringel schwebten. Die Verbotsschilder waren neu und wurden nicht beachtet.
Drei Typen im Gastraum mit karierten Sakkos und rätselhaft geblümten Krawatten dazu. Siegessicher bleckten sie beim Bier die Zähne, redeten einander laut in die geröteten Gesichter: über das prima Geschäft, das sich machen ließe, man müsse es nur richtig anpacken. Und keine Frage, das würden sie! Natürlich gebe es hier keine Infrastruktur wie auf Sylt, bis dahin sei es noch ein weiter Weg, und denkt ja nicht, das Hotel Pirat biete besonderen Komfort – der mittlere meckerte ein anzügliches Lachen –, aber die Voraussetzungen seien nicht schlecht, gar nicht schlecht, und Nachfrage ließe sich schließlich wecken. Dass der Baumann, der alte Baumann, gescheitert wäre, habe rein gar nichts zu sagen. Nix! Rein gar nix! Auch habe es mit dessen Beziehungen zur Staatskanzlei ja nicht zum Besten gestanden, und außerdem: Man dürfe nie vergessen, wie es an der Front riecht! Der Älteste der drei lachte immer am lautesten, die Hackordnung blieb gewahrt. Julia gähnte.
Ein Paar, jung und blass, hatte so viel Gepäck dabei, als wollte es auswandern – und der Gesichtsausdruck der beiden war zutiefst beunruhigt. Was wussten die, was Julia nicht wusste? Sie beschloss, ein Bier zu trinken.
Am Nachbartisch versuchten ein Mann und eine Frau, ihre beiden quengeligen Mädchen irgendwie ruhigzustellen. Dem älteren rutschte ständig die Brille aus dem Gesicht, während das kleinere in einer offenbar selbst erfundenen Comic-Sprache auf den Vater einredete: »Uh-ha, moi? Quoi-quoi ju-hu, nana-tuh?«
Der Vater schien daran gewöhnt, jedenfalls reagierte er nicht. Er hatte die ein wenig formlosen, weichen Züge eines ewigen Studenten, denen auch ein dunkler Bart nichts Entschiedeneres verleihen konnte. Ein Brillengesicht, nur halb erwachsen, redlich. Der Typ Mann, der immer irgendetwas für seine Frau durch die Gegend trägt und gelegentlich auch irgendetwas sagt, einfach, um nicht übersehen zu werden. Dagegen wehren sich solche Männer mit halblauten, undeutlichen Sätzen, die allerdings in fürchterlich quälende, endlose Monologe übergehen können, sobald ein solcher Mann anfängt zu trinken. Dieser hier trank nicht, blickte nur stumm vor sich hin. Die Mutter hatte das angestrengte Gesicht einer Frau, die längst begriffen hat, dass alles schiefgelaufen ist, und die nun verzweifelt versucht, das Beste, also das Schlimmste daraus zu machen. Sie lächelte so mechanisch, wie eine Kirchturmuhr schlägt.
»Kwitschie-tu-ih? Anabanna-moi-moi jahasuri?«
Julia seufzte. »Wenn du müde bist, wirst du erst immer so philosophisch!«, beschwerte sich Jeanette oft. Denn sie mochte die andere, die nächste Phase von Julias Müdigkeit lieber: Wenn zu der Mattigkeit noch die Wirkung von ein paar Gläsern Rotwein kam, dann war Julia in der Lage, sämtliche Heinz-Erhardt-Gedichte auswendig vorzutragen. Immer nur Heinz Erhardt, sie wusste selbst nicht, warum.
Nun, diese zweite Phase würde sie hier nicht erreichen, denn ewig konnte diese Passage doch nicht dauern? Passage. Ein schönes, altmodisches Wort. Julia sammelte solche Wörter, die beinahe ausgestorben waren, zumindest aber gefährdet. Und das, obwohl es keinen gleichwertigen Ersatz für sie zu geben schien, für die Wörter nicht und auch nicht für die Zustände, die sie beschrieben. Passage. Müßiggang. Boudoir. Im Englischunterricht hatte sie sehr an »nevertheless« gehangen, weil das Wort immer einen kleinen sprachlichen Abhang hinunterzukollern schien und umständlicher und deshalb richtiger wirkte als ein simples »but« oder das ebenso schnippische deutsche »trotzdem«. Julia brauchte immer mehr als eine Silbe, um sich gegen etwas zu entscheiden, um gedanklich kehrtzumachen, etwas Neuem entgegen.
Mit dem soeben erstandenen Bier in der Hand ging Julia nach hinten, stemmte sich gegen die schwere Glastür, und dann traf es sie schlagartig, gewaltig, düster: der Geruch von zäher, bleierner Feuchtigkeit, in die sich Diesel mischte und Maschinenöl. Ein handgreiflicher Geruch, der ihr die Kehle füllte und zum Husten reizte. Wie ein fremdes Gewürz. Beißend. Endlich fühlte sie die Reise. Endlich fühlte sie das Schiff.
Hier draußen hörte es sich anders an: Das Stampfen des Motors klang nun nicht länger behäbig und langweilig wie ein ausrangierter Linienbus. Wacker und entschlossen schoben sie durch die See. Die See! Die blieb allerdings weiterhin nahezu unsichtbar, denn Wellen konnte Julia keine entdecken, nur weiße Gischtlinien im bleifarbenen Wasser. Der Bodden, das wusste Julia, war gerade tief genug, dass man darin ertrinken konnte, und sie stellte sich vor, wie Schiffe an den sandigen Untiefen hängenblieben, steckenblieben im Schlick. Lust, darin zu schwimmen, machte so ein seichtes Gewässer nicht. Es schien Julia kein Wasser, um Spaß darin zu haben, kein Meer zum Zeitvertreib, sondern ein merkwürdiges, dumpfes Ding, eine unbestimmbare Masse, zum Leben erwacht weit vor dem Menschen. Man musste es kennen, dieses Meer, um auf ihm zu fahren, es verlangte Wissen, Erfahrung, einen kühlen Verstand und Geduld, unendlich viel Geduld. Keine Eile zählte, kein noch so ernsthaftes Anliegen und Sehnsüchte schon gar nicht. Das Meer kam und ging nach seinem eigenen Gutdünken, und Julia fragte sich, woher es diese Selbstgewissheit nahm, diesen Hochmut.
Ich weiß Bescheid, du, sagte Julia und trat mit dem Fuß ein bisschen in Richtung des Wassers, ich weiß Bescheid, mir machst du nichts vor.
Julia musste sich eingestehen: Sie hatte etwas anderes erwartet, deshalb war sie nun enttäuscht. Dabei hatte sie es doch geschafft, sie hatte eine Forschungsstelle bekommen, wenn auch befristet, wenn auch im hintersten Winkel der Republik, wenn auch – im Osten.
Julia Völcker, die Landratte. Sie musste über sich lachen. Julia Völcker, die leider etwas birnenförmig geratene wissenschaftliche Hoffnung des germanistischen Fachbereichs, hatte es tatsächlich so weit gebracht, trotz diverser zeitraubender Nebenjobs und trotz diverser leider nicht ganz so zeitraubender Liebschaften ihr Studium zu beenden, und hatte nun, in endloser Verlängerung der Adoleszenz, wie der Vater sagen würde, eine Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft gefunden. Für ein Jahr. Auf einer Insel, deren Namen sie bis dahin nur gelesen hatte in Verbindung mit ihrem Dichter.
Minchen meine Traute
Spiel auf meiner Laute
Minchen du mein Tausendschön
Beschenkt sollst du nach Hause gehn!
Minchen hoppe-hopp!
Ihr Dichter! Julia hörte Jeanette schon wieder kichern. So viele Monate hatte Julia mit dem längst verstorbenen, unbekannten Mann verbracht, dass er ihr näher und vertrauter erschien als so mancher Kommilitone. »Typischer Fall von Realitätsverlust!«, pflegte Jeanette zu seufzen, aber nicht ohne Neid, denn Julia, das gab auch Jeanette zu, hatte wirklich immenses Glück mit ihrem Thema gehabt. Ihr Dichter war jung gestorben, an einer chronischen und daher unheilbaren Bauchspeicheldrüsenentzündung, am Suff mit anderen Worten, und dieser frühe Genietod hatte ihm nicht nur die Aura des Tragischen verliehen, er hatte ihn auch davor bewahrt, gewaltige Mengen langatmiger Altersprosa aufzuhäufen, an der sich Generationen von Studenten mit zunehmendem Hass die Zähne hätten ausbeißen müssen.
Nein, Hansjörg Ladestein hatte die Güte besessen, sich rechtzeitig aus diesem irdischen Dasein zu verabschieden – unter Zurücklassung etlicher Gedichtbände und einiger Theaterstücke sowie diverser Kisten, die vielversprechende Manuskripte bargen, Romananfänge und in verzwickter Handschrift hingestrichelte Korrespondenz, ein luftiges, häufig frivoles Tagebuch, das deshalb besonders charmant wirkte, weil Ladestein offenbar wirklich nicht mit einer Veröffentlichung geliebäugelt hatte. Liebäugeln war seine Sache ohnehin nicht. Der packte zu. Beim Trinken. Beim Schreiben. In dieser Reihenfolge leider. Aber immerhin: Das verschaffte ihr Arbeit. Wenigstens für ein Jahr, ein Jahr, in dem gesichtet und sortiert, gelesen und katalogisiert werden konnte. »Du solltest Ladestein in deine Nachtgebete einschließen!«, hatte Jeanette gemeint, »als Dank für euer kleines Bündnis für Arbeit.«
Und Julia, die in einem Berliner Archiv bisher nur die fehlerhaften Abschriften der wichtigsten Manuskripte zu sehen bekommen hatte, war geradezu feierlich zumute, dass sie die Erste – oder nun ja, beinahe die Erste – sein sollte, die die originalen Schriften Ladesteins zu Gesicht bekommen würde. »Du redest darüber, als wolltest du den Kerl entjungfern!«, hatte Jeanette respektlos angemerkt, und da war etwas Wahres dran: Julia pflegte ein fast sinnliches Verhältnis zu ihrem Dichter.
Mein Gott, das musste man auch! Wie sonst sollte man es vier, sechs Monate lang mit einem toten Autor aushalten, der, zugegeben, eigentlich eher merkwürdig als ausgesprochen attraktiv ausgesehen hatte. Ein eher mickriger Großstadtdichter der zwanziger Jahre, den es im Sommer immer wieder auf diese eine, auch damals schon unmoderne Ostseeinsel gezogen hatte.
Es hatte ja schon etwas Altmodisches, dachte Julia, einem Dichter so hinterherreisen zu müssen, im Zeitalter von E-Mail und Internet. Aber so komfortabel ausgestattet war man auf der Insel noch nicht, vor allem im wissenschaftlichen Bereich nicht. Der bestand, genaugenommen, aus einem kleinen Haus am Dünenhang und nannte sich stolz: Gedenkstätte.
Das Boddengewässer blubberte, es kam Julia vor wie ein dösendes Tier. Es gluckste verschlafen, es duckte sich. Und das sollte die See sein? Offenes Meer? Julia blinzelte in die Dunkelheit. In größerer Entfernung waren Lichter zu erkennen, Laternen und beleuchtete Häuser. Die Ostsee tat ja nur so. Die drückte sich zwischen Häusern und Inseln herum wie ein streunender Hund. Julia trank das schon schale Bier in einem Zug aus.
Mit einem Ruck riss sie die Tür zum Gastraum wieder auf: Unterwegs sein mit Boddenfähren, das hatte sie sich anders vorgestellt. Und wehmütig dachte sie an Amrum, an Föhr, an die offenherzigen, großzügigen Inseln der Nordsee. Dorthin gelangte man mit richtigen Schiffen, an die richtige Wellen schlugen. Da merkte man, dass man reiste, dass man unterwegs war, dass es weiterging irgendwie, aber hier, in dieser undurchdringlichen Ostseenacht, bewegte sich kaum etwas, es schien nicht vorwärtszugehen, und der Gleichmut der anderen Passagiere begann Julia nun zu reizen. Was, wenn es überhaupt nie weiterginge, wenn das Leben, wie in einem angehaltenen Film, einfach stehenbliebe, immer das gleiche verzerrte Standbild vom eigenen Leben. Julia fröstelte. Hielten nicht alle ihr Leben in Wahrheit überhaupt nur deswegen aus, weil sie sich einbildeten, dass es weiterlaufen würde, vielleicht nicht gerade geordnet, schon gar nicht sinnfällig auf ein Ziel zu, aber der morgige Tag würde doch anders beginnen als der heutige, in einem Jahr hätte die Nachbarin noch mehr Sorgenfalten, hätte der Mann der liebsten Tante vielleicht einen kleinen Sieg gegen den Krebs errungen. Es veränderte sich etwas. Glaubte man. Redete man sich ein. Nur hier nicht. Hier wurde man auf sich selbst geworfen, unbarmherzig, unerbittlich, still. Julia ließ sich in einen der Sessel fallen. Was für ein Abend. Plötzlich vermisste sie Jeanette.
»Und du bist sicher, dass sie uns abholt?« Das war die blasse junge Frau, deren abgekämpfte Unscheinbarkeit ihr vorhin aufgefallen war. Ein Gesichtsausdruck wie immerzu Faltenröcke tragen müssen. Eine Stimme wie nie klagen dürfen.
»Natürlich wird sie uns abholen.« Das war der Mann, den Julia sogleich »Ehemann« getauft hatte, denn seine Besorgnis war eingeübt, monatelang, jahrelang. Es ist das Alltagsgesicht, das gesellschaftlich akzeptierte Gesicht der Liebe. Zuversicht täglich, stündlich, automatisch, beim Aufwachen schon. Sorgsam hatte er darauf geachtet, dass er mit seiner zerbrechlich wirkenden Frau einen Platz möglichst weit entfernt von der anderen jungen Familie fand, möglichst weit weg von Barbiepuppen, Plastikflaschen und unbefangenem Kinderlärm. Und instinktiv hatte sich auch niemand zu den beiden gesetzt. Man mutete sich ihnen nicht zu. Julia fühlte sich in der Nähe solcher Frauen immer zu laut und zu gesund.
»Warum soll sie uns nicht abholen?«, fragte der Mann jetzt weiter. »Sie weiß doch genau, dass wir ohne sie nicht weiterkommen.«
»Nur deshalb frage ich ja auch. Es ist so komisch, an einen Ort zu kommen, wo's keinen Bus gibt, keine Straßenbahn, nicht mal ein Taxi.«
»Vielleicht könnten wir ja ein Pferd kaufen?«, versuchte der Mann zu scherzen.
Sie schwiegen. Sie waren nicht aggressiv. Sie hatten einander.
»Meinst du, dass wir alles richtig gemacht haben?«
»Sie hat gesagt, wir können bei ihr anfangen. Das hat uns noch nie jemand gesagt, einfach so. Sie hat nicht mal nach 'nem Zeugnis gefragt.«
»Aber das ist ja gerade das Merkwürdige. Und dann – das Foto!«
Die Frau kramte in einem Stoffbeutel, die mausbraunen Haare fielen ihr ins Gesicht. Julia sah, dass ihre Hände an den Knöcheln blaurot gefärbt waren, wie bei sehr empfindlichen Naturen, und richtig, jetzt, als sie den Kopf gesenkt hielt, um die Tasche zu durchwühlen, traten auch schon die Adern an den Schläfen hervor.
»Da!«
Vorwurfsvoll streckte sie dem Mann ein Foto entgegen. Der zuckte zusammen, als sähe er es zum ersten Mal und machte keine Anstalten, die Hand auszustrecken. Er schaute nur kurz darauf, wandte dann den Blick ab und machte eine wegwerfende Geste:
»Jaja, ich habe mich auch erschrocken. Sie ist, glaube ich, schon gewöhnungsbedürftig. Ist jedenfalls die erste Chefin, die mir ein Foto schickt, schon komisch. Und dann so eins! Aber von einem Foto her kann man unmöglich urteilen. Lass uns doch erst einmal abwarten …«
»Hauptsache, sie holt uns wirklich ab. Das Haus liegt weit weg vom Strand, oben, im Wald.«
Die junge Frau schien sich wirklich zu fürchten, und Julia fragte sich, was eine so zarte Person auf einer verlassenen Ostseeinsel zu suchen habe und dann noch bei einer offenbar recht eigenwilligen Arbeitgeberin. Wieder kramte die junge Frau in ihrer Tasche.
»Iris!«
»Mir ist nur kalt.«
Eine himbeerfarbene Strickjacke kam zum Vorschein. Als die junge Frau sie angezogen hatte, sah sie aus wie ein sorgsam eingewickeltes Bonbon, halb durchsichtig.
Julia sah nach draußen. Die Lichter schienen ein bisschen größer zu werden. Die drei Geschäftsleute waren still geworden. Leere Bierseidel, acht oder neun, standen vor ihnen auf dem Tisch, Schaumreste darin, wie festgefroren. Einer hielt die Hand vor die Augen und presste das Gesicht so nah wie möglich ans Fenster.
»Leute, wir haben es geschafft: Land in Sicht!«
»Ahoi!«, murrte der Zweite unwillig.
»Männer, dass ich das noch erleben darf.«
Am Tisch mit den beiden kleinen Mädchen brach Geschäftigkeit aus. Barbie-Pferde, Büchsen, Haarschleifen, Schokoriegel und Walkman – alles wurde hastig mit den Händen zusammengefegt. Beutel kamen zum Vorschein, Taschen, Rucksäcke.
»Los, los!«
»Mady, die fahren schon nicht wieder mit uns zurück, nun verbreite nicht solche Panik!«
Kein Zweifel, bei diesem Paar herrschte ein anderer Umgangston. Eines der Mädchen zwirbelte gedankenverloren dicke Haarsträhnen zusammen.
»Mein Gott, Jenny, so hilf doch ein bisschen!«
»Himmel noch mal, Mady, das ist keine S-Bahn …«
Das Gesicht der Frau sagte: Du hast auch immer die Ruhe weg, aber sie sprach es nicht aus. Julia rückte ihre Koffer von rechts nach links, dann wieder zurück, gar nichts zu tun zu haben wäre jetzt unpassend gewesen. Sie starrte nach draußen. Die Lichter wuchsen. Am Rand des rußfarbenen Wassers blitzte eine silberne Kante auf. Und darüber wuchsen nun Rechtecke, Quader, gezackte schwarze Pappdrachen: die Umrisse von Häusern und Bäumen. Viele Bäume, überraschend viele, direkt am Ufer. Die Häuser flach geduckt dazwischen. Es sah aus, als führen sie geradewegs in einen Wald. Die Straßenlaternen aus DDR-Zeiten spendeten wenig, aber warmes, goldfarbenes Licht. Sieht gar nicht so übel aus, machte sich Julia Mut, und dann: Jetzt habe ich dem jungen Paar so genau zugehört, wer weiß, ob für mich jemand da sein wird?
Es war ihr ungewöhnlich vorgekommen, dass Frau Bult, die Leiterin der Forschungsstätte, ihr gleich angeboten hatte, sie abzuholen. Um diese Zeit! Weit nach elf Uhr abends!
»Aber hören Sie«, hatte Frau Bults seltsam neutrale Telefonstimme gesagt. »Wie wollen Sie denn sonst unser Haus finden? Im Dunkeln!«
»Na, ich habe doch die Adresse!«, hatte Julia geantwortet. »Schließlich gibt es Straßenschilder und Hausnummern, und fragen kann ich auch!«
»Lassen Sie man. Ich hole Sie ab.«
Sie hatte aufgelegt, und Julia hatte schnell gelernt, dass dies Frau Bults Art war, Telefongespräche zu beenden. Es war nicht unfreundlich gemeint, sie ersparte sich offenbar nur die zeitraubenden Abschiedsfloskeln, die mit Leben, mit ungekünstelter Freundlichkeit zu erfüllen es noch zu früh war in ihrer Bekanntschaft. Julia verstand das. Und sie mochte es, fand es geradezu rücksichtsvoll, vielleicht, weil es sie selbst von der Notwendigkeit befreite, etwas sagen zu müssen, was sie noch nicht meinen konnte.
Im Stillen war Julia dankbar dafür, dass Frau Bult sie abholen wollte. Ihre vorgetragene Selbstsicherheit am Telefon war nur eine leere Floskel gewesen. Das Schiff drehte bei, die Maschine knurrte laut auf, gab scheppernd nach, und dann sah man am Ufer ein Grüppchen von Leuten stehen, von denen die meisten, Julia erkannte es nur schemenhaft, etwas Größeres dabeizuhaben schienen. Hunde? Nein, es waren – Handkarren. Ja, tatsächlich Handkarren! Julia blinzelte. Es kam ihr vor, als sei sie mit dieser Fähre vierzig Jahre in der Zeit zurückgereist.
Etwas glitzerte in der Dunkelheit: eine metallene Rampe. Das Schiff legte an. Zwei Männer schoben die Rampe herüber, und alle schienen plötzlich genau zu wissen, was sie zu tun hatten. Der Schiffsmotor grollte noch einmal, dann war es still.
»Stiftsdorf!«
Julia erhob sich und folgte den anderen. Die kleinen Mädchen schwatzten jetzt aufgeregt auf die Eltern ein, miteinander, ins Leere. Das schüchterne Paar hatte Rucksäcke geschultert, stand ganz still beieinander, hielt sich an den Händen. Andere Passagiere machten sich am Gepäck zu schaffen, und treppabwärts, vom Unterdeck, rumorte es: Von dort wurden weitere Kisten, metallene Container und Koffer nach oben gewuchtet.
»Nun fass doch mal mit an!«
»Jo!«
Die Nachtluft war kühl und klar und weich. Unwillkürlich strich sich Julia über das Gesicht. Die Koffer hatten unterwegs ihr Gewicht auf rätselhafte Weise verdoppelt. Julia verfluchte die Idee, die Hartschalenkoffer mitgeschleppt zu haben, weil die ja so solide waren. Solide – und scharfkantig und unnachgiebig obendrein. Die Leute mit See- und Rucksäcken waren nun eindeutig im Vorteil. Schon hatte selbst die Familie mit den beiden Mädchen ihre gesamte Habe von Bord geschleppt, hatte sich ein paar Handkarren gegriffen und lachend und lärmend alles aufgeladen, um dann ebenso lärmend auf einem Weg zur Linken zu verschwinden. Lässig, so kam es Julia vor, schlenderten die Übrigen von Deck, hatten noch Zeit, dem Kapitän ein fröhliches »Tschüss denn!« zuzurufen. Tschüss denn! Julia ächzte. Der improvisierte Übergang war schmal und schlüpfrig! Sie balancierte vorsichtig an Land.
»Frau Völcker?«
Das also war Frau Bult.
Das Gesicht einer Bäuerin, aufgeweckt und mit klaren Gesichtszügen. Ein Gesicht für Wasser und Seife. Wache, helle Augen. Die Haare halblang, irgendwie nach hinten gekämmt und von irgendetwas zusammengehalten, bei Tageslicht wahrscheinlich genau von jenem dunklen Aschblond, das sich Mutters Freundinnen für viel Geld ins Haar strähnen ließen. Eine Jacke von undefinierbarer Farbe. Und Gummistiefel! Julia ertappte sich dabei, entsetzt nach unten zu starren.
»Ja, das sind meine Party-Galoschen«, sagte Frau Bult, die sich offenbar um einen umgänglichen Ton bemühte. »Werden Sie auch brauchen.«
»Aber es regnet doch gar nicht.«
»Nein, nein, aber Sie werden schon sehen, da unter den Bäumen hält sich der Moder monatelang. Und dieses Jahr hat es geregnet wie nichts Gutes.«
Zweifelnd sah sie auf Julias halbhohe Schuhe.
»Hatte ich Ihnen nicht gesagt …«
»Doch, doch, aber die halten eine Menge aus.«
»Na gut, dann mal her mit den Klamotten.«
Frau Bult bemühte sich, nicht wie die Wissenschaftlerin zu reden, die sie war, sondern locker zu erscheinen, und bediente sich der schnodderigen Sprechweise einer gebürtigen Berlinerin. Was hätte sie auch sagen sollen: Herzlich willkommen, liebe, verehrte Frau Kollegin?! Julia gestand sich ein, dass sie so etwas schon gut hätte gebrauchen können. Einen feierlichen oder zumindest festen Händedruck. Ein bisschen Förmlichkeit. Ein bisschen Halt. Sie selbst hatte keine Zeit, ihrerseits irgendetwas Höfliches zu sagen, denn plötzlich wurden sie unterbrochen. Ein Poltern, Lärmen, Drängen … – Himmelherrgott, es war nur eine Frau, die das alles auslöste, und plötzlich schien der gesamte, eigentlich eher großzügig bemessene Anlegeplatz überfüllt. Aber was war das auch für eine Person: gewaltigen Ausmaßes, so erschien es Julia, jedenfalls gut und gerne einen Meter neunzig groß, in mehrere Schichten wallenden schwarzen Stoffes gehüllt, eine imposante Gestalt und eine Stimme wie zahllose Trompeten, aber allesamt erbärmlich verstimmt.
»Kinders, nu' lasst mich doch mal durch!«
Die Person kreiste mit den Armen, als wären es Windmühlenflügel.
»Marianne!«, rief Frau Bult. »Hallo, Marianne, nun hab' dich doch nich' so! Wirst deine Gäste schon finden!«
»Gäste, Gäste! Arbeitskräfte! Ich lasse mir das Leben retten, deshalb habe ich es so eilig!«, schnaubte die Person gar nicht unfreundlich und schob ein paar Männer zur Seite.
»Ehret die Fremdlinge! Das hat schon Moses gesagt. Denn der Herr, euer Gott, ist der Gott der Götter und der Herr der Herren, der große, mächtige und furchtbare Gott, der niemanden bevorzugt und der kein Bestechungsgeld annimmt, der Recht schafft, der Waise und der Witwe und der den Fremden liebt, sodass er ihm Brot und Kleidung gibt. Und eins und drei macht zehn! Ehret die Fremdlinge!«
Die »Fremdlinge« standen vor ihr wie begossene Pudel. Es war das blasse junge Paar vom Schiff. Die beiden sahen jetzt womöglich noch ein wenig grauer und verhärmter aus als zuvor. Die Dicke hatte die beiden erspäht und dröhnte:
»Na, da habe ich ja meine beiden Lieben! Willkommen, willkommen! Auch ihr sollt den Fremdling lieben, denn Fremde seid ihr im Ägyptenland gewesen. Und eins und drei macht zehn, will heißen: Für manche Überraschung ist hier gesorgt. Sorgt ihr nur für das Eure, also das Heutige, denn was der morgige Tag bringt, wissen wir nicht!«
Mit einer mächtigen Gebärde zog sie die beiden an sich. Die Geste erinnerte Julia an die verhasste Koblenzer Tante, in deren wogendem, nach billigem Eau de Cologne riechendem Busen sie zweimal pro Jahr zu ersticken gedroht hatte: an ihrem Geburtstag, zu dem Tante Amelie zwangsläufig immer eingeladen war, und am zweiten Weihnachtstag:
»Sie ist doch allein, die Arme!«
Kein Wunder, dachte Julia dann immer.
Diese enorme Person hier wirkte allerdings, als käme sie auch allein ganz gut zurecht. Sie trug eine herrische Pagenkopf-Frisur, die ihrem mächtigen Schädel etwas Kriegerisches gab. Die wallenden Stoffbahnen entpuppten sich beim näheren Hinsehen als ein schwerer Wollmantel, über den noch ein Cape geworfen war. Eine Art Pelerine darüber, ein Tuch. Der in den Nacken geschobene Hut wurde von einem Band um den Hals gehalten. Mehrere Broschen glänzten wie Tapferkeitsmedaillen. Große, derbe Hände, immer in Bewegung. Füße, die nicht gehen, nur wandern und stampfen konnten. Jeder Hund, und sei er noch so beherzt, fuhr in ihrer Nähe zusammen. Keine Frage, sie war der Typ Frau, vor dem sich Katzen und Kinder zu Tode erschreckten, und jedes Blumengebinde wäre in ihren Pranken wie ein kümmerliches Gewürzsträußchen verschwunden. Sie lachte über irgendetwas. Es blitzte. In ihr Gebiss hat die Gute investiert, dachte Julia nüchtern. Jede Menge Gold! Unwillkürlich erinnerte sich Julia an den Mann mit dem stählernen Kiefer, der in einem von diesen James-Bond-Filmen den beeindruckendsten Bösewicht abgegeben hatte. Der hatte bei ihr an irgendeine Urangst gerührt.
Jetzt erstickte das junge Paar. Oder fast erstickte es. Die gewaltige Marianne hatte es fest im Griff und wandte sich nun ab, die beiden mit sich schleudernd, von hinten sahen die drei aus wie eine Christusfigur am Kreuz mit den beiden Sündern rechts und links … Julia kicherte, und auch Frau Bult lächelte, als hätte sie ihre Gedanken erraten können.
»Ist das so eine Art Inseloriginal?« Julia traute sich, einen formlosen Ton anzuschlagen.
»Marianne Brant? Um Himmels willen, nein! Der gehört der halbe Föhrenwald! Also – der gesamte Wald da oben! Und ein imposantes Anwesen hat sie, hat dringend Hilfe nötig. Für die Restauration, aber auch sonst. Sie hat hochfliegende Pläne, müssen Sie wissen …«
Sie unterbrach sich selbst.
»Aber das hat noch Zeit, lassen Sie uns erst mal Ihre Sachen nach Hause bringen.«
Julia sah den armen Tröpfen nach, die im Klammergriff dieser Marianne im Dunkel verschwanden.
»Ach du liebe Zeit! Sind diese Schildkrötenpanzer da etwa Ihre Koffer?«
Julia hätte es gern abgestritten.
Frau Bult mühte sich, einen hochzuhieven.
»Der gesammelte Nietzsche, was?«
Das war einer dieser Momente, in denen man am besten schwieg. Nie hätte Julia jetzt zugegeben, was sich wirklich in den Koffern befand. Kleider, Wäsche, Bücher natürlich. Aber vor allem: Dosen mit Macadamia-Nüssen. Studentenfutter. Extragroße Tafeln Schokolade. Und als Füllmaterial: Erdnußflips. Puffmais mit Schokolade. Blätterteig zum Croissantbacken. Eine winzige Flasche – eine wenigstens! – mit Ahornsirup. Und dazu der übliche Kosmetikkram. Massagebälle unterschiedlicher Größe. Messingkugeln. Ihr Wasserfilter, denn hier im Osten wusste man nie so genau. Und eine Magnumflasche Champagner. Eine noble Geste von Jeanette, zum Abschied:
»Die kannst du versetzen, wenn es mal ganz dicke kommt! Oder austrinken, in einem Zug – mit einem Kerl, damit es ganz dicke kommt.«
»Na los denn!«
Julia packte zu. Und stemmte diesen verfluchten Hartschalenkoffer dahin, wo eben noch die Ladefläche des Handkarrens gewesen war. Die schien aber plötzlich höher. Und weiter weg. Praktisch unerreichbar. Mit Schwung!
Ein kurzer, trockener Knall, ein Poltern –
»Nein!«
Zu spät. Julia Völckers Habseligkeiten ergossen sich auf den Inselboden.
Dosen mit Macadamia-Nüssen. Extragroße Tafeln Schokolade. Puffmais. Die dunkelrote Brokatschachtel öffnete sich, die chinesischen Kugeln kollerten heraus, Richtung Wasser, Klingelang – Yin und Yang! Es kam Julia jetzt vor wie Hohn. Wäsche, Schuhe. Der Wasserkocher.
Julia schrie auf und stürzte den Kugeln hinterher.
Irgendwie kamen sie doch noch vom Anleger weg. Mit dem Koffer, der selbstverständlich nicht mehr zu schließen war. Mit einem Schal zurrten sie ihn fest, den anderen hatte Julia vorsichtig obenauf gelegt, um dann, gebeugt wie eine Hexe aus dem Kindertheater, eine Hand immer auf den Gepäckberg gestützt, hinter dem Handkarren herzugehen, den Frau Bult zog.
»Bestimmt wird es besser gehen, wenn wir erst einmal auf der Straße sind!«, hatte Julia noch zaghaft gemeint.
»Das hier ist die Straße«, hatte Frau Bult geantwortet.
Die Straße, ein schlammiger Pfad. Der sich recht steil nach oben wand und dann in einen etwas breiteren, aber ebenso morastigen Weg mündete. Riesenhaft hohe Baumschöpfe. Sie begannen zu rauschen, so laut, dass keine Unterhaltung möglich war. Langmähnige Kiefern, zottelige Birken – und waren das da drüben nicht Eichen? Hier und da schlugen wachsame Gänse an, entfernt bellten Hunde, ihr Kläffen trug der Nachtwind verzerrt herüber. Die Straßenlaternen hüllten wenige Meter des Wegs in anheimelnde Dämmerung. Stolpern, Taumeln, das brennende Bedürfnis, sich aufzurichten. Scham über das alberne Gepäck, die unangemessene Kleidung, den verkorksten Anfang.
Plötzlich: Peitschenknallen. Blitzschnelles Trappeln von Hufen, ganz nah. Julia hörte Räder rumpeln, eine kräftige Männerstimme, die offenbar Pferde antrieb, und erkannte schemenhaft ein größeres Gefährt, das sich direkt auf sie zu bewegte. Sie ließ den Handkarren los, sprang erschrocken zur Seite, und da preschten sie vorbei, zwei stämmige Pferde vor einer leichten, offenen Kutsche. Vorne auf dem Bock stand, nur halb aufgerichtet, ein Mann in einem wehenden weiten Mantel, auf dem Kopf einen Hut, der sein Gesicht verbarg.
»Lauf schon Leo, lauf!«
Und dann waren sie verschwunden. Und Julia stand knöcheltief im Matsch. Frau Bult kauerte über dem schwankenden Gepäckberg wie eine gutartige, neunarmige Krake, aber Julia hatte jetzt keinen Blick dafür. Zorn hatte sie gepackt, ganz plötzlich, heller, scharfer Zorn. Sie nannte den Kutscher einen Idioten, einen Rüpel sondergleichen, einen Schimmelreiter für Arme. Und als Frau Bult, die seltsam atemlos erschien, entgegnete, dies sei der Tierarzt gewesen, sicher auf dem Weg zu einem Notfall-Patienten, da fauchte Julia, dass ihr das egal sei, wirklich vollkommen egal, und ob hier blöde kalbende Kühe vielleicht so wichtig seien, dass man harmlose Passanten einfach umnieten dürfe und … – sie wusste später nicht mehr, was sie alles noch gesagt hatte, aber in diesem Moment meinte sie alles genau so.
Frau Bult hielt sich während Julias Ausbruch ein Taschentuch vor den Mund, gab glucksende Geräusche von sich, sagte aber nichts, und so setzten sie ihren Weg fort. Es hatte zu regnen begonnen, aber das war unwichtig, so, wie sie ohnehin schon aussah.
Die Forschungsstätte lag etwas abseits von der »Straße«. Mit einem großen Schlüssel öffnete Frau Bult ein sich heftig sträubendes Gartentor. Und dort, hinter dem Hauptgebäude lag Julias zukünftige Bleibe, ein Gartenhaus. Endlich war sie angekommen. Gerade noch schaffte sie es, sich die Schuhe auszuziehen, dann fiel sie erschöpft aufs Bett und in den Schlaf.