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»Du hast was getan?«

»Ihn abgewimmelt.«

Dolly, die gerade die Tür des Restaurants abschloss, hielt abrupt inne. »Was wollte er überhaupt von dir? Dass du seiner Frau nachspionierst?«

Pearl zögerte und fragte sich, was für eine Frau einen Mann wie Stroud heiraten könnte. »Etwas in der Art.«

Mehr fügte sie dem nicht hinzu, denn sie wusste nur zu gut, was ihre Mutter von ihrem Detektivbüro hielt. Als Pearl vor mehr als zwanzig Jahren beschlossen hatte, zur Polizei zu gehen, war das für Dolly ein schwerer Schock gewesen. Vor allem hatte sie um die Sicherheit ihrer Tochter gefürchtet, aber sie war auch nicht gerade eine Freundin der Polizei. Zeit ihres Lebens eine überzeugte Alternative, war es einfach zu viel für ihre blühende Phantasie gewesen, sich vorzustellen, wie Pearl, mit einem Schlagstock bewaffnet, gegen unschuldige Demonstranten vorging. Dolly machte sich heftige Vorwürfe, ihre Tochter als Kind zu viel Cagney & Lacey schauen gelassen zu haben, obwohl Pearls Entscheidung nicht von der amerikanischen Fernsehserie beeinflusst worden war. Ein Psychologe hätte Pearls Ordnungsliebe und ihr Bedürfnis, Lösungen zu finden und Ungereimtheiten aufzuklären, vielleicht als Gegenreaktion auf eine Kindheit gedeutet, die größtenteils sorgenfrei und ohne Einschränkungen verlaufen war. Es ließ sich jedenfalls nicht leugnen, dass Pearl innerhalb des streng umrissenen Rahmens, den ihr die polizeiliche Grundausbildung geboten hatte, regelrecht aufgeblüht war. Allerdings hatte sich in ihrer Probezeit auch gezeigt, dass sie nicht nur jemand war, der gut mit Menschen konnte, sondern sie instinktiv auch sehr gut durchschaute. Vor allem diese Eigenschaft war es gewesen, die sie als potentielle Kandidatin für strafrechtliche Ermittlungen empfohlen hatte, bis ein positiv ausgefallener Schwangerschaftstest zu ihrem Ausscheiden bei der Polizei geführt hatte, sehr zur stillen Freude ihrer Mutter, die ihre Tochter lieber als alleinerziehende Mutter denn als »Lakaiin des Staates« sah.

»Manchmal ist es besser, Träume Träume bleiben zu lassen«, hatte Dolly damals mit demselben Blick gesagt, mit dem sie jetzt Pearl die Schlüssel des Restaurants in die Hand drückte. »Ich versuche dir doch schon die ganze Zeit klarzumachen, dass du damit nur alle möglichen Spinner anlockst.«

»Damit dürftest du dich ja am besten auskennen«, konterte Pearl lächelnd, da sie nur zu gut wusste, dass auch ihre Mutter noch so manche Träume hegte.

Anlässlich eines Wettbewerbs, bei dem jedes Jahr die schönste Auslage prämiert wurde, hatte Dolly das Fenster des Restaurants neu gestaltet. An diesem wichtigen Ereignis nahmen fast alle Geschäfte und Lokale der Stadt teil. Während jedoch die meisten auf altbewährte Dekorationen zurückgriffen, hielt Dolly nichts von den ewig gleichen Fischernetzen und mit Austernschalen gefüllten Schatztruhen. Sie hatte ein Faible für Ausgefalleneres. Diesmal ließ sie blaue Taftwellen über eine Handvoll verstreuter Perlen wogen.

»Und?«, fragte sie zaghaft.

»Sehr schön«, antwortete Pearl wahrheitsgemäß.

»Aber nicht sehr kulinarisch«, bemängelte Dolly, die nicht wirklich zufrieden war mit ihrem Werk. »Irgendetwas fehlt noch, sonst halten sie es noch für die Auslage eines Juweliers.«

»Ein paar Fische vielleicht?«

»Viel zu naheliegend. Aber etwas mehr Bezug zu Meer und Wasser könnte nicht schaden.«

Während sie weiter das Fenster betrachtete, neigte sich Pearl zu ihr. »Musst du nicht zu einer Probe?«

Dolly sah sie verständnislos an.

»Dein Bauchtanzkurs?«, half Pearl ihrer Mutter auf die Sprünge.

Dolly machte große Augen. »Flamenco! Wieso hast du mich nicht schon früher daran erinnert? Juana Parientes Kurs fängt heute Abend an.«

»Juana …?«

»Der neue Kurs, für den ich mich angemeldet habe. Die Lehrerin aus Granada. Ich komme noch zu spät zur Einführung«, erklärte sie und machte sich hastig auf den Weg die High Street hinauf.

»Warte noch!«, rief ihr Pearl hinterher, aber ihre Mutter machte nur eine abweisende Handbewegung, bevor sie in die Bonner Alley bog und verschwand. Pearl blieb nichts anderes zu tun, als auf die Schlüssel in ihrer Hand zu blicken und dann hinauf zu ihrem Namen über dem Fenster des Restaurants, was ihr nur wieder einmal bestätigte, dass Träume manchmal tatsächlich wahr werden konnten.

»Pearl’s Oyster Bar« war nichts Großartiges – die schicken Restaurants lagen alle unten am Strand –, aber das kleine Lokal in der High Street hatte eindeutig Charme, und was das Wichtigste war, es gab hier das beste Seafood der Stadt. Außer Austern hatte das »Pearl’s« noch eine ganze Reihe anderer interessanter Gerichte auf der Karte: Oktopus in leichtem Chili-Tempurateig, gebratene und in Brotkrumen gewendete Jakobsmuscheln oder marinierte Thunfisch-, Makrelen- und Wildlachs-Sashimi. Hier wurde kein großspuriges kulinarisches Statement abgegeben, sondern ein klares Bekenntnis zu einfachen Gerichten mit hochwertigen Zutaten. Alle Gerichte auf der Speisekarte waren im Laufe der Zeit perfektioniert worden, aber dank ihrer Einfachheit konnten sie auch jederzeit in Pearls Abwesenheit zubereitet werden. Das brachte zwei Vorteile mit sich: Zum einen war Pearl nicht an das Restaurant gefesselt, zum anderen war im Gegensatz zu anderen Restaurants in Whitstable, deren Güte mit dem jeweiligen Küchenchef oft erheblich schwankte, auf die Qualität des Essens immer Verlass.

An den Wänden hingen Charlies Zeichnungen, und trotz Dollys Gemeckere war das Restaurant ein Familienbetrieb geblieben, mit dem sich Pearl die ganze Kindheit ihres Sohnes hindurch über Wasser gehalten hatte, während sie gleichzeitig unvermindert am öffentlichen Leben der Stadt teilgenommen hatte, wie sich das für jemanden, der »gut mit Menschen konnte«, auch gehörte. Das einzige Problem dabei war, dass das Restaurant Pearl nicht mehr ausfüllte. Schon seit einiger Zeit stand ihr der Sinn nach einer neuen Herausforderung. Alte Ambitionen hatten sich wieder zu regen begonnen, und Pearl spürte, dass sie diese Träume, wenn nicht jetzt, dann nie mehr verwirklichen würde. Seit Charlie an der Kent University studierte, hatte sich eine gewisse Leere in ihrem Innern breitgemacht, nicht quälend, aber dennoch störend. Der Campus in Canterbury war zwar nur fünfzehn Minuten Fahrt entfernt, aber er hätte genauso gut am anderen Ende der Welt liegen können. Pearl wurde nämlich zunehmend deutlicher bewusst, was Dolly ihr schon immer vorgehalten hatte: dass sie ihr eigenes Leben für ihren Sohn hintangestellt und viele sich bietende Gelegenheiten, auch amouröser Natur, nicht ergriffen hatte. Den Wunsch, einen Partner fürs Leben zu finden, hatte Pearl keineswegs aufgegeben, und es hatte im Laufe der Jahre immer wieder gefunkt, aber nie mit derselben Intensität wie bei ihrer ersten großen Liebe, Charlies Vater. Mehrere Blind Dates, Verkupplungsversuche von Freunden und sogar ein paar Ausflüge ins Internet hatten zu wenig mehr geführt als einer Reihe von langweiligen Abenden, an denen sie sich hauptsächlich gefragt hatte, wann sie sich endlich verabschieden könnte, ohne allzu unhöflich zu erscheinen. Oft hatte Charlie – beziehungsweise Kinderkrankheiten, Zahnschmerzen oder Trotzanfälle – als Ausrede herhalten müssen, aber das ging nun nicht mehr. Denn Charlie war jetzt erwachsen und stand auf eigenen Beinen. Nach zehn Monaten in Canterbury, wo er Kunstgeschichte studierte, legte er ein erstaunliches Maß an Selbständigkeit an den Tag, auch wenn Pearl zu spüren glaubte, dass er sich immer noch freute, wenn sie mit einer Wagenladung Lebensmittel und frisch gewaschener Wäsche auf dem Campus auftauchte – außer vielleicht bei ihrem letzten unangekündigten Besuch, als sie ihn beim Lernen mit einem »Freund« ertappt hatte.

Tiziana, aus der Toskana, hatte bernsteinfarbene Augen und honigfarbene Haut und sprach mit ihren makellos weißen Zähnen besser Englisch als Pearl. Wenn sie lächelte, was sie immer tat, wenn sie Charlie ansah, verschlug es Pearl jedes Mal von neuem den Atem, nicht zuletzt wegen der Wirkung, die es auf ihren Sohn hatte. Charlie hatte auch davor schon Freundinnen gehabt, aber irgendwie schienen sie bloß eine untergeordnete Rolle für ihn zu spielen, wie Komparsinnen, die hinter der Bühne warteten, während er mit Pearl darüber redete, was er gerade vorhatte oder wann er zurückkäme. Tiziana dagegen dominierte die Bühne geradezu, wie es sich, fand Pearl, für eine Studentin der darstellenden Künste auch gehörte. Mit ihrem bernsteinfarbenen, zu einem wallenden Chaos nach hinten gebundenen Haar zeigte »Tizzy« selbst dann Starqualitäten, wenn sie über die Kochplatte gebeugt stand und unter Charlies hungrigen Blicken – nach ihr wohlgemerkt – in Salbeibutter geschwenkte Tortellini probierte.

Auf Pearl hatte die erste Begegnung mit Tiziana nicht zuletzt deshalb einen so nachhaltigen Eindruck gemacht, weil das Mädchen so nett zu ihr gewesen war. Wäre sie nur eine kalte Personifizierung von Schönheit gewesen, »nur Fassade, aber keine Substanz«, wie Dolly es vielleicht ausgedrückt hätte, hätte Pearl etwas gehabt, was sie an ihr aussetzen konnte, aber stattdessen war das Mädchen nett und sympathisch gewesen und hatte ihr sogar ein Mitbringsel aus ihrer Heimat geschenkt, eine Wachstuchschürze mit dem schiefen Turm von Pisa darauf. Das Geschenk hatte Pearl angenommen, aber die Einladung zum Abendessen hatte sie abgelehnt und gleichzeitig erstaunt zur Kenntnis genommen, wie Charlie seiner Freundin mit dem Geschirr und dem Wein zur Hand ging. Zu Hause hatte er das nie getan. Ein paar Minuten später hatte Pearl erst einmal eine Weile in ihrem Auto gesessen, bevor sie losfuhr. Sie konnte immer noch nicht richtig fassen, was sie gerade gesehen hatte: ihr Sohn, vollkommen hingerissen von einer anderen Frau. Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihr noch mehr solcher emotionaler Purzelbäume bevorstanden, und hoffte, dabei jedes Mal auf den Füßen zu landen.

Pearl freute sich für ihren Sohn, wie auch nicht? Trotzdem hatte sie irgendetwas davon abgehalten, die Schürze zu tragen, und sie hatte auch nichts einzuwenden gehabt, als Dolly sie sich unter den Nagel riss. Wenn dieses »Irgendetwas« schleichende Eifersucht war, schien es noch einen weiteren Grund zu geben, mehr Energie in das Detektivbüro zu stecken, das sie zwei Wochen zuvor eröffnet hatte, ohne auch nur einen Moment damit zu rechnen, dass ihr erster Klient sie vor ein solches Problem stellen könnte. Pearl nahm es dorthin mit, wohin sie alle ihre Probleme mitnahm – zum Strand hinunter. Oft genügte es schon, den Wechsel von Ebbe und Flut zu beobachten, um eine Lösung oder zumindest die Hoffnung auf eine solche angespült zu bekommen, aber als Pearl nun den Blick über den Horizont wandern ließ, hatte sie das Gefühl, dass es in diesem Fall nicht so sein würde.

Vinnie hatte nicht auf Pearls Anruf reagiert, obwohl sein Boot, die Native, draußen auf dem Meer zu sehen war. Das veranlasste Pearl, in Richtung Street loszugehen, zu dem schmalen Kiesstreifen, der fast einen Kilometer weit ins Meer hinausragte und bei einsetzender Ebbe rasch sichtbar wurde. Als sie über einen der niedrigen Wellenbrecher kletterte, sah sie ein junges Paar auf dem Rumpf ihres umgedrehten Holzboots sitzen. Die beiden Teenager, die Händchen haltend die Gesichter in die letzten Strahlen der Abendsonne hielten, wirkten so still und reglos wie eine Fotografie. Plötzlich trug der Wind den Text eines alten Shakespeare’s-Sister-Songs zu Pearl herüber, der sie an einen mehr als zwanzig Jahre zurückliegenden Sommerabend am selben Strandabschnitt erinnerte. »You’d better hope and pray you make it back to your own world.« (Hoffe und bete lieber, dass du es in deine Welt zurückschaffst.) Marcella Detroits Sopran ertönte noch ein paar Momente länger, bis das Radio leiser gestellt wurde. Ein Kiesel unter Pearls Schuh verrutschte, und das »Foto« erwachte zum Leben. Die Hände des Pärchens lösten sich voneinander, als sie Pearl vor sich stehen sahen. Die zwei Jugendlichen erhoben sich brav und machten sich auf die Suche nach einer anderen Sitzgelegenheit, während Pearl das kleine Boot aufrichtete und zum Wasser hinunterzog.

Weil die Ebbe eingesetzt hatte, war der Außenbordmotor nicht nötig. Pearl bräuchte keine fünfzehn Minuten zu Vinnies Boot hinaus, und die kühle Luft war angenehm, als sie losruderte. Im Osten drehten sich gemächlich die bleichen Propeller des Windparks, die neuen Nachbarn des Red Sands Fort, das seit dem Zweiten Weltkrieg acht Meilen vor der Küste lag. Die aus sieben Stahltürmen bestehende Anlage hatte früher der Flugabwehr gedient und Waffen, Munition und über zweihundert Soldaten beherbergt, die feindliche Flugzeuge daran hindern sollten, nach London zu gelangen. In den 60er Jahren hatten sich dort verschiedene Piratensender eingenistet, deren DJs aus den trostlosen Türmen, in denen einst Soldaten ihr Leben riskiert hatten, Mersey-Beat-Singles durch den Äther schickten. Inzwischen rostete die Anlage auf ihren alten Stahlstreben verlassen vor sich hin, und nur noch eine einsame Glockenboje machte die Seeleute, die in ihre Nähe kamen, auf sie aufmerksam.

Tagsüber war das Meer fast blau gewesen, aber im schwindenden Abendlicht nahm das Wasser des ausgedehnten Mündungsbereichs wieder seinen gewohnten Zinnton an. Auf die Ruder gestützt, ließ sich Pearl eine Weile treiben und betrachtete die Küste. Am Strand gingen die ersten Lichter an, und vor dem Hotel Continental herrschte reger Betrieb; vor seiner Art-déco-Fassade fuhren Autos vor, auf dem Parkplatz verloschen Scheinwerfer. Die Möwen, die am Himmel in Richtung Küste flogen, stießen immer wieder aufs Meer hinab. Am nächsten Tag begann das Oyster Festival. In den zwei Wochen, die sowohl der Traditionspflege wie auch der zeitgenössischen Kultur gewidmet waren, lockte es Besucher aus London und von noch weiter her nach Whitstable. Im Moment war jedoch alles noch ruhig und beschaulich.

Pearl griff wieder nach den Riemen und ruderte weiter zur Native hinaus. Sie sah, dass der 40-Fuß-Kutter noch vor Anker lag, aber wegen der einsetzenden Ebbe würde er jeden Moment an Land zurückkehren. Pearl, die so oft mit ihrem Vater fischen gewesen war, kannte den Ablauf: wie das schwere Schleppnetz, das vom Heck ausgeworfen und über den Meeresgrund gezogen wurde, zum Schluss mit dem Fang hochgeholt und von unerwünschten Eindringlingen befreit wurde. Obwohl auch Krabben in der Lage waren, die Schalen junger Austern aufzubrechen, waren die schlimmsten Feinde der Austernfischer die Seesterne, die sich mit unschuldigen Babyfingern an einer Austernschale festklammerten und ihr alles Leben aussaugten. Als Kind hatte Pearl ihrem Vater geholfen, sie von ihrer Beute abzulösen, und als sie bei der Erinnerung daran plötzlich an Strouds Händedruck denken musste, legte sie sich beim Rudern stärker ins Zeug.

Als sie sich der Native näherte, war auf Deck niemand zu sehen, aber aus der kleinen Kajüte hinter dem Ruderhaus kamen gedämpfte Stimmen. Doch erst als sie längsseits anlegte und ihr Boot an der Steuerbordklampe der Native festmachte, merkte sie, dass sie aus einem Radio kamen. Ihre eigene Stimme verlor sich im Dämmerlicht, als sie gegen den Rumpf klopfte und rief: »Vinnie. Ich bin’s – Pearl.« Die einzige Antwort kam von den Sprechern des Hörspiels, das in Vinnies Kajüte lief. Pearl kletterte an Bord.

Im Heck der Native zeugten Körbe voller Austern von einem erfolgreichen Fang, doch als sich Pearl der Kajüte näherte, kam ihr das Radio so ohrenbetäubend laut vor, dass kaum vorstellbar war, dass Vinnie bei diesem Lärm ein Nickerchen machte. An der Wand des Ruderhauses hing ein Christophorus, auf der Kochplatte der winzigen Kombüse rutschte, ungehindert von irgendwelchen Schlingerleisten, ein Topf hin und her. Auf dem Tisch in der Kajüte lagen Gezeitentabellen und Taschenbücher, aber von Vinnie fehlte jede Spur. Das Boot schien verlassen worden zu sein – wie die Mary Celeste.

Plötzlich ertönte aus dem Radio Konservengelächter. Pearls Herz begann schneller zu schlagen, als sie wieder auf Deck zurückkehrte. Ihr kamen erste Bedenken. Der Himmel verdunkelte sich, aber weil von Vinnie nichts zu sehen war, fragte sie sich, ob er aus irgendeinem Grund in ein anderes Boot umgestiegen war. Möglicherweise hatte jemand Hilfe benötigt, vielleicht ein anderer Fischer oder ein Tagesausflügler. In der Ferne zog das laute Röhren eines Jetski vorbei. Er hinterließ nichts als seine Heckwelle und ein leichtes Ruckeln an der Ankerkette unter dem Boot. Pearl fasste einen Entschluss. Sie würde einen Funkspruch an Land absetzen und die Native selbst in den Hafen bringen, bevor die Ebbe ihren Tiefststand erreichte. Sie ging ins Ruderhaus und ließ Vinnies Dieselmotor an. Die Native erwachte wieder zum Leben.

Als Pearl darauf rasch zum Bug ging, um den Anker zu lichten, sah sie, dass die Luke des Laderaums offen war; neben mehreren aufgerollten Tauen stapelten sich darin nur ein paar stinkende Fischbehälter. Hand über Hand zog sie mit aller Kraft an der Ankerleine, bis sie sich immer schwerer bewegen ließ. Daraufhin befestigte Pearl die Leine an einer Klampe und beugte sich über die Reling, um zu schauen, wie weit sie den Anker bereits gelichtet hatte.

Im schwindenden Licht war unter Wasser nichts zu erkennen, aber plötzlich schien etwas Bleiches an die Oberfläche zu steigen. Ein kleines Meeresgeschöpf trudelte, vom grünen Steuerbordpositionslicht der Native erfasst, aus einer dunklen Höhlung. Dicht über Pearl kreischte eine Möwe, und als sie sich an der Reling bereits wieder aufrichten wollte, erschrak sie plötzlich heftig, nicht wegen des heiseren Möwenschreis, sondern weil sie merkte, dass das Tier im Wasser ein winziger Seestern war, der aus der klaffenden Öffnung eines Munds kam.

Es war Vinnie, der mit weit aufgerissenen Augen zu Pearl heraufstarrte. Sein Oberkörper stand aufrecht wie bei einem an die Oberfläche steigenden Taucher, nur seine kräftigen bloßen Arme schlenkerten im Sog des ablaufenden Wassers, und um sein Fußgelenk war ein Stück der Ankerkette geschlungen.