KAPITEL DREI 
Es war kurz nach 22 Uhr, als der Anruf einging. Detective Chief Inspector Mike McGuire, der gerade erfahren hatte, dass das Auto, auf das er bei einer Onlinewette gesetzt hatte, in der letzten Schikane eines Autorennens verunglückt war, ging über den öffentlichen Parkplatz an Canterburys Pound Lane. Das Rennen war zwar nur virtuell gewesen, aber McGuires Einsatz sehr real, und seine Miene war nicht nur wegen der Höhe seines Verlusts so gequält, sondern auch wegen seiner drückenden neuen Schuhe. Er hatte sie bereits am Wochenende gekauft, aber heute war der erste Tag, an dem er sie trug – bequeme Halbschuhe, in die er am Morgen noch mühelos hineingekommen war, die sich aber im Laufe des langen heißen Tages mehr und mehr als eine Form von mittelalterlicher Folter entpuppt hatten.
McGuire hatte sie in Größe 10 gekauft, aber in letzter Zeit schien sein Schuhwerk auf unerklärliche Weise zu schrumpfen. Entweder das, oder seine Füße wurden größer, auch wenn er schon neununddreißig Jahre alt war. Vielleicht orientierten sie sich an seiner Taille, die im vergangenen Jahr ebenfalls etwas zugelegt hatte, was er auf den Umzug nach Canterbury zurückführte. In London war er aktiver gewesen und hatte jede Woche zweimal Squash gespielt, aber damit war jetzt Schluss, da er nun meist an den Schreibtisch gefesselt war – und seine Arbeitstage mehr und mehr der Tyrannei des Verwaltungskrams unterworfen waren. McGuire bereute seine Versetzung nach Canterbury bereits und begann all dem nachzutrauern, was er am Dienst in London so gehasst hatte: den ständigen Adrenalinschub pausenloser Aktivität, den Leistungsdruck, ausgelöst durch zu viele Dinge, die in zu wenig Zeit erledigt werden mussten, der Hektik auf den Straßen, dem Stress des täglichen Überlebenskampfs. Am meisten vermisste er allerdings die Anonymität des Großstadtlebens. Im Vergleich dazu erschien ihm Canterbury provinziell und kleinkariert.
Ironischerweise war es die Gefahr, die ihm fehlte. Und Donna. Aber aufgrund der Art, wie sie ihm genommen worden war, waren die beiden jetzt unauflöslich miteinander verbunden. Ihr Verschwinden aus seinem Leben hatte alles auf den Kopf gestellt und nicht nur seine Ambitionen verkümmern lassen, sondern seinem Leben eine Weile auch jeden Sinn geraubt. Ein dummer Zufall hatte sie das Leben gekostet: Zwei mit Drogen vollgepumpte Jugendliche, die mit einem gestohlenen Auto durch die Straßen von Peckham gerast waren, hatten sie wie ein Ziel in einem Computerspiel aufs Korn genommen und überfahren. Von diesem Augenblick an hatte sich McGuires Weltsicht so drastisch verändert, dass nichts als Chaos zurückgeblieben war. Wochenlang hatte er sich in Wut und Trauer gesuhlt und sich mit dem nächtlichen Allheilmittel Bourbon zu betäuben versucht, aber der Schmerz hatte nicht nachgelassen. Nur die Rückkehr in den Polizeidienst hatte sich als eine brauchbare Stütze erwiesen, an die er sich klammern konnte: Das Mittelmaß der Routine verdrängte das überwältigende Verlustgefühl, das ihn so lange gelähmt hatte. Ein Jahr nach dem schrecklichen Unfall war er wieder in der Lage, jede Nacht zu schlafen und am nächsten Morgen aufzuwachen, als hätte sein Herz keinen Schaden genommen. Aber nur er wusste, dass ihm ironischerweise ausgerechnet der Dienst beim CID, der ihn so oft mit dem Tod in Berührung brachte, einen Grund gab, weiterzuleben.
Als McGuire sein Auto erreichte, hörte er sich aufmerksam die Einzelheiten des Vorfalls in Whitstable an, bevor er sich mit einem knappen »Bin schon unterwegs« abmeldete. Er steckte das Handy in seine Tasche, und als er wenige Augenblicke später aufs Gaspedal trat, erinnerten ihn seine zu engen Schuhe auf schmerzhafte, aber zugleich auch tröstliche Weise daran, dass er am Leben war.
Bei dem Telefonat hatte McGuire erfahren, dass der »Tatort« gesichert worden war: Das Fischerboot lag inzwischen im Hafen von Whitstable, und ein Notarzt hatte bestätigt, dass keine Lebenszeichen mehr festzustellen waren. Von einem Verkehrsunfall, der sich in der Nähe ereignet hatte, war bereits ein Wagen der Spurensicherung zum Hafen unterwegs, und McGuire war froh, dass sein Erscheinen nicht erforderlich war. Whitstable wäre keine zwanzig Minuten Fahrt entfernt gewesen, und die Straße dorthin, die durch das fast zwanzig Meter hohe Westtor in der Stadtmauer führte, war früher ein Saumpfad gewesen, auf dem die Fischerfrauen nach Canterbury gekommen waren. Jetzt führte sie, an den Feldern und Bungalows des Dorfes Blean vorbei, geradewegs zum Kamm des Borstal Hill hinauf, von dem man einen unverstellten Blick auf das graue Sims der Themsemündung und der Küste hatte. McGuire hielt nicht viel von Whitstable – oder sonst einer Kleinstadt. Die alte Polizeiwache war längst in ein Wohnhaus umgewandelt worden, und inzwischen gab es bloß einen »Polizei-Shop« in der High Street, der sich von den anderen Geschäften lediglich durch die davor hängende blaue Laterne unterschied – und durch die Öffnungszeiten von 10 bis 15 Uhr, nur werktags versteht sich. Das bestätigte McGuire wieder einmal, dass das Küstenstädtchen ein langweiliges Nest für Touristen und die Sorte spießiger Einheimischer war, die nichts lieber taten, als ihre Nase in die Angelegenheiten ihrer Nachbarn zu stecken. Er konnte sich die Szene am Hafen gut vorstellen – das Polizei-Absperrband, das mit den Wimpeln, auf denen die Fischer reduzierte Seezungen anpriesen, um die Wette flatterte.
Als McGuire in seiner Dienststelle in Canterbury eintraf, parkte er auf dem für ihn reservierten Parkplatz und ging direkt zum Zellentrakt hinauf, hinter dessen schwerer Eingangstür ihm das Gesicht einer jungen Frau entgegenblickte, die sich gerade einen eingetunkten Keks in den Mund schieben wollte. WPC Jane Quinn war zweiundzwanzig Jahre alt, sah aber aus wie ein Teenager. Manchmal, wenn sie es mit jugendlichen Ausreißern zu tun hatten, war das durchaus von Nutzen, aber in den meisten anderen Fällen erwies es sich als wenig förderlich. Beim Anblick McGuires sprang sie erschrocken auf und ließ den Keks in ihre Tasse fallen, so dass etwas Kaffee auf das Revers ihrer Uniform spritzte. Während sie den Fleck vergeblich abzutupfen versuchte, wandte McGuire angesichts ihres unprofessionellen Verhaltens betreten den Blick ab.
»Was haben Sie für mich?«
»Pearl Nolan, Sir.« Sie reichte ihm eine Akte. »Die Inspektoren Shetcliffe und Barnes haben sie bereits vernommen, und der DS vor Ort hat am Tatort ein erstes Protokoll aufgenommen.«
McGuire deutete mit dem Kopf auf die geschlossene Tür vor ihm. »Wie geht es ihr?«
»Den Umständen entsprechend ganz okay. Wir haben bereits alle Formalitäten geklärt, aber sie will keinen Anwalt.«
McGuires Blick wanderte zu der Tasse in Quinns Hand. »Könnten Sie mir vielleicht auch einen Kaffee besorgen?«
Die junge Polizistin entfernte sich rasch, und McGuire blickte auf die Akte in seiner Hand. Um seine Füße zu entlasten, setzte er sich, nahm zwei Tonbandkassetten aus dem Ordner und legte eine davon in ein Aufnahmegerät ein.
Im Vernehmungszimmer auf der anderen Seite der Tür schob Pearl gerade einen angeschlagenen Becher von sich. Der Kaffee darin war kalt, und die stickige Luft im Zimmer roch trotz des RAUCHEN-VERBOTEN-Schilds an der Wand nach abgestandenem Rauch. Im Zug einer Vernehmungspause, die ihr, wie sie wusste, zustand, hatte man sie eine Weile allein gelassen. Nach ihrem Eintreffen auf der Wache hatten die Mühlen der Justiz mit beeindruckender Schnelligkeit zu mahlen begonnen: Sie war eingeliefert und auf ihre Rechte hingewiesen worden, dann hatte man sie fotografiert, ihr eine DNA-Probe und Fingerabdrücke abgenommen und sie schließlich aufgefordert, zwecks einer forensischen Untersuchung ihre Kleider abzulegen. Obwohl sie sicher war, bald von der Liste der Verdächtigen gestrichen zu werden, verstärkte es ihr Gefühl von Verletzlichkeit, dass sie bei der Schilderung der tragischen Ereignisse des Abends einen kratzenden weißen Jogginganzug tragen musste. Vierzig Minuten waren vergangen, seit sie um 22:14 Uhr ihre Aussage unterschrieben hatte. Zunehmend rastloser und ungeduldiger spielte sie mit dem Gedanken, sich zu beschweren. Sie stand auf und ging zur Tür, als diese plötzlich von der anderen Seite geöffnet wurde. Vor ihr erschien ein neuer Polizist, der mit einem förmlichen Lächeln auf sie zukam und sich mit DCI McGuire vorstellte.