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Pearl Nolan stellte eine eisgefüllte Platte mit pazifischen Felsenaustern vor ein Trio skeptischer Gesichter und wischte sich die nassen Hände an ihrer Schürze ab. Ihre Gäste waren eine Familie – die Eltern, wie Pearl, Ende dreißig, obwohl sie hoffte, nicht so ausgelaugt auszusehen. Möglicherweise lag das an der pampigen pubertären Tochter: Ihr knappes Top und das Nasenpiercing signalisierten unverhohlene Auflehnung gegen einen stinklangweiligen Urlaub mit Mama und Papa.

Schon nach wenigen Worten hatte Pearl ihren Gateshead-Akzent richtig eingeordnet. Aber selbst wenn ihre Gäste stumm geblieben wären, hätte sie gemerkt, dass sie Landsleute waren – Briten hatten nicht das nassforsche Auftreten amerikanischer Touristen oder die distinguiert zurückhaltende Art der Franzosen. Deutsche und Skandinavier, entweder auf Rad- oder Wandertour, schienen es immer eilig zu haben und nahmen sich kaum Zeit fürs Essen. Dagegen waren die Briten in der Regel deutlich zurückhaltender und blieben zuerst unsicher auf dem Gehsteig stehen, um die Speisekarte zu studieren, bevor sie sich ins »Pearl’s« wagten, um dort die berühmteste Delikatesse Whitstables zu probieren – Austern. Die Familie aus Gateshead blieb jedoch unerschütterlich unbeeindruckt und blickte starr vor Abscheu auf ihre Muscheln herab, bis die Tochter einen Kommentar abgab, dem sogar ihre Eltern beigepflichtet haben dürften: »Die sehen ja aus wie Rotz.«

Pearl hatte durchaus Verständnis für die betreten zusammenzuckenden Eltern; auch sie versuchte sich in letzter Zeit damit abzufinden, dass ihr Kind flügge und erwachsen wurde. Aber wenigstens hatte Charlie inzwischen diese pubertäre Aufmüpfigkeit abgelegt. Als Pearl sich dem Tisch näherte, um ihren Gästen die üblichen Zutaten zu erläutern, die Zitronenschnitze und die Mignonette-Soße, die den »Rotz« genießbarer machten, ertönte hinter ihr eine Stimme: »Da hat die junge Dame nicht ganz unrecht.« Alle Köpfe drehten sich in Richtung Küchentür, aus der gerade Pearls Mutter Dolly kam. Mit einer Wachstuchschürze, auf der ein farbenprächtiger schiefer Turm von Pisa prangte, näherte sie sich ihnen, um schließlich, wie um des theatralischen Effekts willen, mit einer Austernschale in der Hand stehen zu bleiben. »Aber nicht selten kann das Äußere auch täuschen.« Mit einem geübten Schlenker des Handgelenks kippte sie den Inhalt der Muschel in ihren Mund, biss abrupt laut knirschend zu und schluckte. »Köööstlich.«

Die Familie saß da und schaute ihr zu, alle mit weit offenem Mund, sichtlich fasziniert und wahrscheinlich auch ein wenig angeekelt von dem Schauspiel, dessen Zeuge sie gerade geworden waren. Pearl dagegen sah den Zeitpunkt für gekommen, den Auftritt ihrer Mutter zu beenden. Mit einem freundlichen, an ihre Gäste gerichteten »Lassen Sie es sich schmecken« steuerte sie Dolly mit festem Griff in Richtung Küche zurück.

In der Tür drehten sich die beiden Frauen kurz um und beobachteten, wie »Papa« seinen ganzen Mut zusammennahm und eine Auster von der Platte pflückte. Als er sie hastig hinunterschluckte, gestand Dolly, um Spucke ringend: »Wie ich dieses Glibberzeug hasse.« Und Pearl gab ihre gewohnte Antwort: »Wem sagst du das?«

Ein Klingelton mit der Melodie eines seelenlosen »Für Elise« rief Pearl in die Küche, wo sie unter Stoffbeuteln mit frischen Shrimps und Muscheln nach ihrem Handy suchte. Dolly, die ihr gefolgt war, blickte in der Gewissheit, der Versuchung widerstehen zu können, auf einen Stapel frischer Krabben-Sandwiches hinab, die sie gerade gemacht hatte. Dank einer Diät, bei der sie nur Flüssigkeiten zu sich genommen hatte, wog sie inzwischen genauso viel wie ihre Tochter – dreiundsechzig Kilo, um genau zu sein. Um an diesen Punkt zu kommen, war allerdings ein Monat mit abscheulichen Milchshakes nötig gewesen. Sechzig Jahre alt zu werden hätte sich als höchst unerfreulich erweisen können, wenn sie nicht die Gelegenheit beim Schopf ergriffen hätte, sich selbst über das Alter zu erheben und ihren Triumph über die Sterblichkeit mit ein paar kühnen magentaroten Strähnen und neumodischer Unterwäsche in Gestalt eines weit über die Taille reichenden Elastanschlüpfers zu feiern, der aus den Fugen geratenem Gewebe wie durch ein Wunder wieder Form verlieh. Als Dolly ihre mit ihrem Handy beschäftigte Tochter beobachtete, wurde ihr wieder einmal bewusst, wie wenig Ähnlichkeit sie mit ihrem einzigen Kind hatte. Pearl stand am Fenster, durch das die Sommersonne auf sie fiel wie ein Spotlight und den Kontrast zwischen ihrem fliederfarbenen Vintage-Kleid und der gesunden Bräune ihres Gesichts und ihrer Arme und Beine noch besser zur Geltung brachte. Meistens band sie ihr langes, dunkles Haar hoch, und bis auf den kleinen flachen Silberanhänger an ihrem bloßen Hals trug sie in der Regel auch keinen Schmuck, vor allem keine Ringe, die bei der Küchenarbeit zwischen den Gerätschaften verlorengehen könnten. Oft musste das Restaurant als Entschuldigung für Pearls unprätentiösen Kleidungsstil herhalten, aber Dolly spürte, dass die schlichte Garderobe ihrer Tochter, die größtenteils auf Zweckmäßigkeit und Bequemlichkeit ausgerichtet war, Ausdruck ihrer Ablehnung der extravaganten Art war, mit der sie selbst sich kleidete. Die Wahrheit lag vermutlich irgendwo dazwischen, denn egal, was Pearl anhatte und wie sie sich zurechtmachte, sie sah immer umwerfend aus. Mit ihrem zigeunerschwarzen Haar und den mondsteingrauen Augen hatte Pearl den »Black Irish«-Look der Abkommen der spanischen Matrosen, die nach der vernichtenden Niederlage ihrer Armada an den Küsten Westirlands dem Tod entronnen waren und unter rebellischen Clanführern wie Sorley Boy McDonnell und Hugh O’Neill gedient hatten. Obwohl Dolly aus Whitstable stammte, hatte ihr verstorbener Mann Tommy, seit jeher eine rebellische Natur, seine Wurzeln nach Galway zurückverfolgen können. Und so hatte Pearl die beherzte Art ihrer Mutter und den dunklen Teint und das gute Aussehen ihres Vaters geerbt. Groß und schlank wie sie war, stand nicht zu befürchten, dass sie in absehbarer Zeit einen Traumfigurschlüpfer brauchen würde.

Inzwischen hatte Pearl ihr Handy gefunden und sagte, nachdem sie dem Anrufer kurz zugehört hatte: »Nein, das Büro ist geöffnet, ich musste nur kurz weg.« Sie sah auf die Uhr und nahm ihre Schürze ab, bevor sie hinzufügte: »Wenn Sie sich noch zwei Minuten gedulden würden, ich bin sofort da.« Sie beendete das Gespräch und erklärte angesichts Dollys fragend hochgezogener Augenbrauen: »Sieht so aus, als hätte ich endlich einen Kunden.«

Dolly runzelte die Stirn. »Du meinst wohl eher einen Klienten? Deine Kunden bekommen Meeresfrüchte …«

»Serviert von meiner Lieblingsbedienung.« Mit einem Lächeln griff Pearl nach ihrer Leinenumhängetasche.

Dollys Miene verfinsterte sich schlagartig. »Sag bloß, du …«

»Ich sehe zu, dass ich so schnell wie möglich wieder zurück bin.« Damit ging Pearl rasch zur Tür und steckte ihr Handy in die Tasche.

»Heute ist aber mein freier Tag«, zischte Dolly. »Ich habe mich lediglich bereit erklärt, ein paar Sandwiches zu machen …«

»Die niemand so gut macht wie du.« Pearls bezauberndes Lächeln ließ keine Spur nach, als sie eins der Dreiecke von der Platte nahm und hineinbiss. Dolly sah sie erwartungsvoll an. Im Gegensatz zu ihrer Tochter war sie immer eine nachlässige Köchin mit der Sorte Geringschätzung gegenüber Zutaten gewesen, die sie einmal in einer truite aux almondes statt Mandeln Erdnüsse hatte verwenden lassen. Als sie jetzt beobachtete, wie Pearl die leicht säuerliche Zitronenmayonnaise kostete, die eine Lage frischer Krabben umhüllte, wartete sie auf ein weiteres Lob – das jedoch ausblieb. Pearl nutzte die Gelegenheit vielmehr, um rasch in den Gastraum zu entfliehen, wohin ihr Dolly auf den Fersen folgte. »Pearl, bitte. Ich muss fürs Festival unser Fenster dekorieren und in der Pension Verschiedenes umgestalten …«

»Ich weiß, aber ich komme ja wieder. Ehrenwort. Bis dahin, denk einfach dran …« Sie nahm eine Auster von der Theke und drückte sie ihrer Mutter in die Hand. »Köööstlich.«

Drei Schritte, und Pearl war weg. Dolly blieb nichts anderes übrig, als mit offenem Mund auf die zufallende Eingangstür des Restaurants zu starren. Es dauerte nicht lang, und die Tür ging wieder auf, aber herein kam nur eine Gruppe Touristen in Wanderkleidung, mit Rucksäcken und roten Gesichtern. Dolly blickte auf den blassen Schleim in der Muschel in ihrer Hand und knipste wie auf Kommando ihr strahlendstes Lächeln an.

Sobald Pearl den Fuß auf die Straße setzte, schlug ihr die Hitze entgegen und erinnerte sie daran, wie sie das letzte Mal im Urlaub aus dem Flieger gestiegen war, obwohl das schon einige Zeit her war. Da sie in Whitstable mit seinem Kiesstrand, seinem Hafen und seiner bunten Mischung aus Einheimischen und Urlaubern lebte, überlegte sich Pearl seit jeher sehr genau, ob sie für einen Sommerurlaub irgendwo anders Geld ausgeben sollte. Vor ein paar Jahren hatte sie eine Reise nach Sorrent gebucht, wo vierzehn Tage lang buchstäblich jeden Tag schlechtes Wetter geherrscht hatte. Nachdem sie außerdem festgestellt hatte, dass sie eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf Mücken ausübte, war sie übel zerstochen und mit einer scheußlichen Erkältung nach Hause gekommen, um sich sagen lassen zu müssen, dass das Wetter an der Küste von Nordkent perfekt gewesen war. Seitdem war sie zu Hause geblieben, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie das Restaurant im Sommer nicht allein lassen wollte, vor allem nicht mit Dolly, die immer schon eine sehr hippiemäßige Einstellung zur Arbeit gehabt hatte. Zu verreisen, wenn die Saison zu Ende ging, bedeutete normalerweise, gerade dann irgendwo in Europa zu landen, wenn sich andere Gastronomen nichts mehr wünschten, als sich endlich ihren jährlichen Urlaub gönnen zu können – in Whitstable. Das idyllische Fischerstädtchen war nicht nur zunehmend beliebter, sondern auch weltoffener geworden, als es jemals gewesen war, und das »Pearl’s« profitierte in jeder Hinsicht von dieser Entwicklung, die mit einer landesweit rückläufigen Rate von Balkonienurlaubern einherging.

Nach jahrelangem Kampf ums Überleben konnte Whitstable inzwischen von einer fast ganzjährigen Saison zehren. Nicht einmal der kälteste Winter seit dreißig Jahren hatte die ersten Urlauber davon abhalten können, schon im Februar zu kommen, um die Valentinstagsferien in einer der zahlreichen Bed & Breakfast-Pensionen der Stadt zu verbringen. Besonderer Beliebtheit erfreute sich Dolly’s Attic, eine originelle kleine Ferienwohnung, die sich über dem Laden befand, in dem Pearls Mutter ihre Shabby-Chic-Keramiken verkaufte. Schon seit Jahren servierte Pearl ihre Austern auf Dollys originellen Platten, die inzwischen von den Touristen genauso schnell weggekauft wurden wie die Austern selbst. Der enorme Aufschwung, den sowohl Whitstable als auch seine Geschäftsleute zurzeit erlebten, hatte aber auch seinen Preis. Der Charakter des einst so beschaulichen Städtchens hatte sich spürbar verändert. An den meisten Sommertagen musste sich Pearl auf den Straßen durch eine Flut von Touristen kämpfen, die zu den Souvenirläden und Cafés in der Harbour Street strömten, und da war auch dieser Tag keine Ausnahme. Die Urlauber hatten jede Menge Zeit, sie schauten und bummelten und sahen sich in den zahlreichen neuen Boutiquen und Kunstgalerien um. Dagegen legten die Einheimischen, die ihre Kinder irgendwo hinbringen oder Einkäufe erledigen mussten, ein wesentlich flotteres Tempo vor, wenn sie sich in einem eleganten Slalom zwischen den Touristen hindurchschlängelten, bei denen es sich an diesem Tag hauptsächlich um DFLs zu handeln schien, wie Urlauber »Down From London« hier landläufig hießen. Pearl gab es auf, gegen die Menschenmassen anzukämpfen, und bog in Richtung Squeeze Gut Alley ab.

Die Touristen benutzten nur selten das Netz uralter Gassen, von denen die meisten angelegt worden waren, um den Zugang zum wichtigsten Teil der Stadt zu ermöglichen – zum Meer. Noch wenige Jahrhunderte zuvor hatten sie auch als Fluchtwege für Schmuggler gedient, aber mittlerweile benutzten sie die Einheimischen vor allem als Abkürzungen auf ihrem Weg durch die Stadt. Die Squeeze Gut war, wie der Name bereits andeutete, ein schmaler Durchgang zwischen den Häusern eines Straßenabschnitts, der als Island Wall bekannt war. Der besondere Reiz dieser am Meer gelegenen Häuser mit ihren schlichten idyllischen Schindelfassaden lag in den Gärten auf ihrer Rückseite, die nur eine niedrige Ufermauer und eine schmale betonierte Promenade vom Strand trennten. Hier, auf der »Prom«, strömte ganz Whitstable zusammen, um zu bummeln und zu flanieren, angelockt von einem Meerblick unter derart klarem Polarlicht, dass sein Himmel und seine Sonnenuntergänge von Turner als »einige der zauberhaftesten Europas« beschrieben worden waren.

Als Pearl weitereilte, stob auf der Promenade eine Schar lärmender französischer Teenager auseinander und gab den Blick auf einen kleinen, gedrungenen Mann frei, der vor ihrem Cottage stand. In seinem Anzug litt er sichtlich unter der Hitze und wedelte nervös mit einem Panamahut vor seinem Gesicht herum, während er sich mit der anderen Hand den Schweiß von der Stirn wischte. Als Pearl näher kam, konnte sie ihn wie einen altersschwachen Hund hecheln hören.

»Mr. Stroud?«

Auf Pearls Ruf hin drehte sich der angespannt und leicht gereizt wirkende Mann sofort um. Aus der Ferne hatte er wegen seiner Korpulenz den Anschein erweckt, als befände er sich schon in fortgeschrittenem Alter, doch als Pearl sich ihm näherte, stellte sie fest, dass er vermutlich erst Anfang vierzig war. Ohne ein Wort der Begrüßung reichte er ihr lediglich seine verschwitzte Hand, die Pearl an einen Seestern erinnerte. Sie öffnete die hölzerne Gartentür des Seaspray Cottage und ging dem Besucher zu einem kleinen Schuppen voraus, den sie seit neuestem ihr Büro nannte. Dank eines kleinen Anbaus und einiger zusätzlicher Fenster wurde die ehemalige Strandhütte ihrer neuen Bestimmung jedoch bestens gerecht. Als sich Pearl an dem sperrigen Schloss zu schaffen machte, merkte sie, dass Stroud hinter ihr zunehmend ungeduldiger wurde und mit seinen verschwitzten Stummelfingern nervös am Türstock trommelte. Endlich bekam sie die Tür auf.

Sie deutete auf einen Holzstuhl und wünschte sofort, ihrem Besucher eine angenehmere Sitzgelegenheit anbieten zu können. »Machen Sie es sich bequem«, forderte sie ihn lächelnd auf, obwohl ihr längst klar war, dass er dazu nicht in der Lage wäre. In dem kleinen Raum mit der niedrigen Holzbalkendecke war es drückend heiß, und ihr angehender Klient schien zu vergehen vor Hitze. Bei dem Versuch, sich zu setzen, rutschte Stroud mit seiner Leibesfülle auf dem Stuhl herum wie ein Zirkuselefant auf einem winzigen Hocker. Als Pearl zum Fenster ging und es öffnete, stahl sich ein warmes Lüftchen in das Zimmer. Sie wandte sich ihrem Besucher zu und fragte: »Was kann ich für Sie tun?«

Stroud, der sich die ganze Zeit mit seinem Panamahut Luft zugefächelt hatte, hörte mit einem Mal damit auf, als bräuchte er sämtliche Energiereserven für das nun Kommende. Mit schroffem nordenglischem Dialekt stieß er hervor:

»Vielleicht können Sie mir ja schon mal sagen, wann er zurückkommt?«

»Wann wer zurückkommt?«

»Mr. Pearl.« Er blickte sich rasch im Zimmer um. »Wo ist er? Noch beim Mittagessen?«

Pearl blickte auf den Packen frisch gedruckter Visitenkarten auf ihrem Schreibtisch hinab. Sie hatte Charlie mit dem Entwurf beauftragt, und er hatte seine Sache gut gemacht, sah man einmal davon ab, dass er für die mit »Inhaber« beginnende Zeile eine extrem helle Schrift gewählt hatte. Sie schaute auf und erklärte ihrem Besucher: »›Mr. Pearl‹ ist eigentlich Miss Nolan.«

Daraufhin ging Strouds Mund auf, als wartete er darauf, mit einer passenden Antwort gefüllt zu werden.

»Pearl Nolan«, fügte sie hinzu. »Das ist mein Büro.«

Stroud wandte den Blick ab, als er das zu verarbeiten versuchte. Nur zu offensichtlich blickte er auf keinen erfreulichen Tag zurück, und dieses Treffen schien die Sache nicht besser zu machen. Sein Mund ging wieder zu, und er traf eine rasche Entscheidung.

»Das wird nichts.«

»Wie bitte?«

»Der Auftrag, den ich erledigt haben möchte.« Er warf einen kurzen Blick in Richtung Tür, als spielte er mit dem Gedanken an sofortige Flucht.

»Erzählen Sie mir doch erst mal, was das für ein ›Auftrag‹ ist«, sagte Pearl rasch.

Nach kurzem Zögern zog Stroud ein zerknülltes Taschentuch aus seiner Brusttasche. »Jemand schuldet mir Geld«, seufzte er und begann, sich den Schweiß von der Stirn zu tupfen. »Ein Darlehen, das überfällig ist. Ich will das endlich vom Tisch haben.«

»Das heißt, Sie brauchen einen Schuldeneintreiber …«

»Nein«, unterbrach Stroud sie gereizt. »Was ich brauche, sind Informationen.«

Als er den Blick auf Pearl heftete, erinnerten sie seine braunen Knopfaugen an die von Ernie und Bert. Pearls Schweigen lieferte Stroud das Stichwort, weiteren Unmut loszuwerden. »Fünf Jahre ist das jetzt schon her, und das Darlehen sollte längst Rendite abwerfen, aber bisher: einfach nichts. Nicht einen Penny.« Er trommelte mit einem Stummelfinger auf die Schreibtischplatte. »Nicht einmal eine Geste des guten Willens.« Ein verständnisvolles Nicken seitens Pearls schien ihn vorübergehend zu besänftigen. Als sie ihm eine Packung Papiertaschentücher hinhielt, nahm er sich eines und schüttelte es auf, bevor er sich mit einem kurzen Trompetenstoß die Nase putzte. »Rein rechtlich gesehen, könnte ich natürlich Druck machen, aber ich möchte diesen Kerl nicht kopfscheu machen, jedenfalls nicht, solange ich nicht weiß, ob er zahlen kann.«

»Und das ist, was ich für Sie herausfinden soll?« Pearl suchte Strouds Blick, worauf dieser die Augen noch fester zusammenkniff.

»Ich möchte mir über verschiedene Dinge Klarheit verschaffen, ein paar Nachforschungen anstellen lassen. Ich muss wissen, ob er mich hinhält.«

Als wäre eine schwere Last von seinen Schultern gefallen, holte Stroud tief Luft und hielt sein Gesicht in den schwachen Luftzug, der vom Fenster kam. Doch das Klingeln des Telefons machte seinem kurzen Moment der Erleichterung ein jähes Ende. Nach einem kurzen Blick auf die Anruferkennung setzte Pearl ein entschuldigendes Lächeln auf und nahm ab. Aus der Leitung gellte Dollys Stimme.

»Die Zitronen sind aus!«

»Im Kühlschrank.«

»Fehlanzeige.«

»Dann sieh in der Speisekammer nach.«

Stroud rutschte unbehaglich auf seiner unzureichenden Sitzgelegenheit herum, während Pearl angespannt in den Hörer zischte: »Hat das nicht bis später Zeit? Ich habe gerade zu tun.«

Dolly überhörte den dezenten Hinweis und fuhr unerbittlich fort: »Ich auch. Ich habe für morgen vier Reservierungen entgegengenommen.«

»Ist doch super.«

»Nicht, wenn sie uns ausgehen.«

»Die Zitronen?«

»Die Austern.«

Pearl seufzte. »Mach dir deswegen mal keine Sorgen. Ich habe genügend bestellt.«

Stroud sah auf die Uhr. Er wirkte zunehmend ungeduldiger.

»Pazifische und irische auch.«

Das ließ Stroud aufblicken, und bevor Dolly etwas erwidern konnte, legte Pearl auf, hielt aber die Hand weiterhin fest auf das Telefon, als wollte sie ihre Mutter zum Schweigen bringen. »Entschuldigen Sie bitte die Unterbrechung.« Sie wandte sich wieder Stroud zu und setzte ein gequältes Lächeln auf. »Morgen beginnt das Oyster Festival.«

Stroud schaute mit unverhohlenem Argwohn auf das Telefon. »Und inwiefern betrifft Sie das?«

Pearl überlegte kurz und entschied, Stroud, wenn sie ihn schon nicht als Klienten halten konnte, zumindest als Gast zu gewinnen. »Ich habe ein Seafood-Restaurant«, erklärte sie. »Gleich hier um die Ecke, in der High Street.« Stroud sagte nichts, aber wegen seines Stirnrunzelns fühlte sich Pearl zu einer Rechtfertigung bemüßigt. »Darunter hat meine Arbeit hier aber nicht zu leiden. Normalerweise jedenfalls nicht.« Stroud musterte sie weiter, weshalb Pearl beschloss, reinen Tisch zu machen. »Das Detektivbüro ist zwar neu, aber ich stamme aus dem Ort und bin eine erfahrene Ermittlerin. Ich war früher bei der Polizei, und wenn Sie Referenzen wollen, werden meine letzten Klienten für mich bürgen.« Pearl entschied sich dagegen, damit herauszurücken, dass Mr. und Mrs. Phillip Caffery bisher ihre einzigen Klienten waren und dass die tausend Pfund Belohnung, die sie für das Aufspüren ihres über alles geliebten Wheaten Terriers erhalten hatte, das Grundkapital gewesen waren, um ihrem Detektivbüro einen professionelleren Anstrich zu geben. Das Geld hatte sie für die Umgestaltung ihres Büros sowie für Werbemaßnahmen und den Kauf spezieller Software verwendet, und es hatte sie in der Überzeugung bestärkt, dass der Umstand, dass sie »gut mit Menschen konnte«, sich auch außerhalb der vier Wände ihres Restaurants nutzbringend einsetzen ließ. Pearl hatte den Caffery-Fall genau zum richtigen Zeitpunkt bekommen, und wenn sie auch nicht sonderlich abergläubisch war, verschloss sie dennoch nicht die Augen vor den kleinen Synchronizitäten des Lebens, und ganz besonders dann nicht, wenn sie von ihnen in eine Richtung geschubst wurde, die sie ohnehin hatte einschlagen wollen. Pearl war fest davon überzeugt, dass in irgendeinem Paralleluniversum eine Doppelgängerin von ihr als Detective Chief Superintendent Karriere machte. Eigentlich hätte das Pearl selbst sein sollen, wäre da nicht der unglückliche Umstand gewesen, dass sie bereits mit neunzehn Jahren schwanger geworden war. Das hatte ihre Aufstiegschancen bei der Polizei zunichtegemacht, auch wenn sie felsenfest davon überzeugt war, dass es kein Fehler gewesen war, Charlie zu bekommen.

»Dann kennen Sie sich also mit Austern aus?«

Pearl lächelte. »Ich kann eine gute von einer schlechten unterscheiden und weiß, wie man sie am besten serviert.«

Darüber dachte Stroud eine Weile nach, um schließlich seine Meinung zu ändern. »Dann können Sie mir ja vielleicht doch helfen.« Er steckte sein Taschentuch ein und warf einen kurzen Blick zum Fenster. »Wussten Sie, dass jemand die Bänke auf eigene Faust abgefischt hat?«

»Jemand?«

Stroud erwiderte ihren Blick ungerührt. »Ein Fischer, ein gewisser Vincent Rowe. Er kam vor einiger Zeit zu mir und erzählte mir von seinem Plan, die freien Gewässer östlich von der Tankerton-Sandbank abzufischen …« Er verstummte, schien kurz nicht weiterzuwissen.

»Hinter der Street«, kam ihm Pearl zu Hilfe.

Stroud nickte kurz, bevor er fortfuhr. »Er meinte, er könnte dort einheimische Austern anbauen und so schneller als mit irgendeiner anderen Investition Profit machen. Eigentlich müsste ich längst etwas von meinem Geld zurückbekommen, aber bisher habe ich noch keinen Penny gesehen, und wenn er nicht zahlen kann, möchte ich wissen, warum.«

»Warum fragen Sie das nicht einfach ihn selbst?« Pearl war sich der komplizierten Vergabe der Fischereirechte im Watt nur zu deutlich bewusst. Ihr Vater hatte nämlich sein ganzes Leben lang Austern gefischt, ein vergeudetes Leben lang, wie mancher gesagt hätte, denn im Grunde seines Herzens war Tommy Nolan ein Poet gewesen. Als junger Mann hatte er mit seinen musikalisch untermalten Versen in den Hafenkneipen der Stadt die Runde gemacht, mit schwermütigen, bildgewaltigen Zeilen über das Leben, die Liebe und das Fischen von Austern. Doch dann hatte er Dolly geheiratet, die Letztere nicht mochte.

»Ständig kommt er mir mit irgendwelchen Ausflüchten«, fuhr Stroud fort. »Aber ich lasse mich nicht gern an der Nase herumführen.« Er stopfte sein Taschentuch tief in eine Hosentasche und fummelte aus einer anderen eine schicke Lederbrieftasche. »Ich zahle Ihnen schon mal einen Vorschuss, und Sie hören sich ein bisschen um, wie es um seine finanzielle Situation bestellt ist, und sagen mir dann, wie viel Geld er hat. Wenn er mich hinhält, möchte ich das wissen.«

Pearl schaute aus dem Fenster. Wie gern wäre sie jetzt an der Stelle des asiatischen Drachens gewesen, der gerade draußen vorbeischwebte. Doch Strouds Stimme sägte sich erbarmungslos durch ihre Gedanken. »Und? Wie sieht es aus?«

Pearl wandte den Blick vom Fenster ab und sah die dicke Brieftasche offen in Strouds verschwitzter Handfläche liegen. Das Angebot war verlockend, nicht nur wegen des Geldes, sondern auch wegen der Möglichkeit, einen Bona-fide-Klienten zufriedenzustellen. Ihre neugegründete Agentur hatte nämlich noch eine mühsame Anlaufphase vor sich, wenn Pearl ihren langgehegten Traum verwirklichen wollte. Deshalb dachte sie gut über das Angebot nach, bevor sie schließlich antwortete: »Ich glaube, Sie haben völlig recht, Mr. Stroud. Ich bin tatsächlich nicht die Richtige für diese Aufgabe.«

Stroud wirkte nicht sonderlich überrascht. Eher schien es ihn mit stiller Genugtuung zu erfüllen, dass ihn sein erster Eindruck nicht getrogen hatte. Er klappte seine Brieftasche zu und atmete geräuschvoll aus, bevor er sich unbeholfen von seinem Stuhl erhob. Dabei verlor er seinen Panamahut, der auf dem Boden landete und unter Pearls Schreibtisch rollte. Dieser kleine Zwischenfall schien für Stroud das Fass zum Überlaufen zu bringen, und als er sich bückte, um ihn aufzuheben, lief sein Gesicht so rot an, dass Pearl sicherheitshalber einschritt. Als sie nach dem Hut griff und ihn ihrem Besucher reichte, stellte sie fest, dass es sich um ein hochwertiges Modell handelte, auf dessen edles Seidenetikett eine Kathedrale und der Herstellername Portells gestickt waren. Stroud nahm seine Kopfbedeckung ohne ein Wort des Dankes entgegen, setzte sie auf und wandte sich zum Gehen. An der Tür blieb er kurz stehen und brummte sarkastisch: »Sie waren wirklich eine große Hilfe.«

Als die Tür hinter ihm zuging, ertappte sich Pearl dabei, wie sie dem Klienten, der ihr gerade entgangen war, durch das offene Fenster nachschaute. Er schlängelte sich an einer Gruppe älterer Touristen vorbei, die auf der Promenade stehen geblieben waren, um ihren Garten zu bewundern, und entfernte sich in Richtung Stadt. Pearl holte tief Atem, um den schalen Geruch, den er zurückgelassen hatte, durch frische Luft zu ersetzen. Dann fischte sie ihr Handy aus ihrer Tasche, wählte eine gespeicherte Nummer und hatte nach kurzem Klingeln eine Mailbox dran. Um den Angerufenen nicht unnötig zu beunruhigen, begann sie nach dem Pfeifton in beiläufigem und ruhigem Ton zu sprechen. »Ich bin’s, Vinnie. Ruf mich bitte an, sobald es bei dir passt, ja?«

Pearl beendete das Gespräch und ließ in der festen Überzeugung, das Richtige getan zu haben, den von ihrem Fenster eingerahmten Meerblick auf sich wirken.