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Für alle, die beim Blick in den Himmel an Aviv, Sol, Jesien und Nevis denken.

PROLOG

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Maya

Ich werde wach, weil gequälte Laute an mein Ohr dringen. Mein Herz verkrampft. Nevis hat wieder einen Albtraum. Als ich die Augen aufschlage, kämpft er verschwitzt im Schlaf mit einer furchteinflößenden Erinnerung.

»Nein … Aviv …«, murmelt er und mein Herz zerbricht. Zuerst will ich ihn zärtlich mit meinem Kopf anstupsen, doch dann wird mir klar: Die Vollmondnächte haben begonnen, ich bin ein Mensch. Ich streiche sanft über Nevis’ Wange und rufe seinen Namen. Schweiß steht auf seiner schneeweißen Stirn. Die eisblauen Augen öffnen sich. Angst und Panik haben sie geweitet. Nur langsam gleiten sie ins Hier und Jetzt. Ich gebe ihm etwas Zeit, seine Umgebung zu begreifen.

»Aviv geht es gut«, flüstere ich. »Du bist hier bei mir, Nevis.« Ich schmiege mich an ihn. Verschlafen nimmt er eine Strähne meines weißen Haars.

»Maya«, haucht er. Das Feuer im Kamin knistert noch leise, wir können nicht lange geschlafen haben.

»Wieder der Traum von Aviv im Grenzgebiet?«, frage ich.

Er nickt.

»Es ist doch alles gut ausgegangen«, erinnere ich ihn. Nevis atmet tief durch, kämpft die letzten Funken Angst in sich nieder. Er kann vor mir nichts verbergen. Ich lese in seinen Augen wie in einem offenen Buch.

»Ich weiß«, seufzt er und gähnt. »Es ist nur … Ich sehe es immer und immer wieder. Diesen Moment, als er das Messer in seine Brust stößt.« Er schüttelt sich kaum merkbar. Ich ziehe ihn in meine Arme und küsse seine verschwitzte Stirn.

»Hmm, Vollmond«, raunt er plötzlich und ich muss schmunzeln.

»Was für ein Stimmungswechsel«, gluckse ich. Nevis will seinen Traum wohl vergessen und ich bin gerne bereit ihm dabei zu helfen.

»Na ja, wie du schon sagtest, er lebt noch.« Er beginnt meinen Hals zu küssen. Ich schließe meine Augen und genieße. Dann hält er inne und ich sehe ihn an. Meine Seele verschmilzt mit seiner und er lächelt.

»Jetzt hoffe ich nur noch für Sol, dass endlich eine Frau sein Herz erobert und es schafft, ihn an sich zu binden«, sage ich.

Nevis hält inne und denkt nach. »Mutter hat mir da was erzählt …«

»Was?«, frage ich neugierig. »Gibt es da schon jemanden?« Oh, Neuigkeiten! Ich liebe Neuigkeiten.

»Ja, das war einer seiner Gründe, auf der Erde zu bleiben.«

»Nanny?«, frage ich erstaunt. Sollte Sol wirklich so ritterlich sein und zu seiner alten Liebe stehen? Das wäre ja so romantisch!

»Nein.«

»Nevis«, drängele ich und er lacht.

»Manchmal bist du noch so sehr Mensch, dafür liebe ich dich!«

Ich neige fragend den Kopf zur Seite.

»Diese Ungeduld … Als ob wir nicht alle Zeit der Welt hätten!« Er streicht über mein Haar und gibt mir einen Kuss.

»In dieser Form«, ich deute auf meinen Körper, »jedenfalls nur ein paar Tage, also rückst du besser raus mit der Sprache.« Ich versuche streng auszusehen, um ihn ein wenig aufzuziehen, aber das Lächeln in meinen Augen verrät mich.

»Sol liebt einen Mann«, platzt er heraus.

»Bitte, was?«, frage ich erstaunt.

»Ja, Ileas besten Freund.«

»Yannik?« Moment, wie war das noch … schwarze Haare, schlank und nicht besonders groß, aber dafür sehr hübsch. Und ein unglaublich sympathisches Lächeln, daran erinnere ich mich am meisten.

»Yannis«, korrigiert mich Nevis.

»Oh.« Wow … wer hätte das gedacht? Sol und Yannis …

»Maya?«, raunt Nevis und seine hellblauen Augen funkeln mich mit einer Sehnsucht an, der ich mich gerne hingebe.

TEIL 1

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1. DER PLÄTZCHEN-EFFEKT

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Yannis

Fertig, der Göttin sei Dank. Ich stehe vornübergebeugt auf einem Dach und wische mir mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. Ein Blick zur Seite verheißt nichts Gutes: Die Wolken, die sich da zusammenbrauen, sind dunkel und ein Grummeln ist bereits zu hören. Das wird ein Unwetter geben. Zum Glück bin ich mit der Arbeit am Dach fertig geworden, sonst wäre die Familie vom alten Milo-Jesien Herbstkind wohl nass geworden. Ich kann ihn in der Ferne sehen, wie er einer entlaufenen Ziege hinterherrennt und versucht sie vor dem Sturm in Sicherheit zu bringen. Sein wackeliger Sprint über das Feld ringt mir ein kleines Lächeln ab. Die Ziege ist eindeutig im Vorteil. Vielleicht sollte ich ihm helfen …

»Hey, Yannis!«, ruft Calebs vertraute Stimme von unten. »Kommst du bald runter? Ich will nicht, dass du vom regennassen Dach rutschst.«

Lachend sehe ich zu ihm runter. »Du kannst mich ja auffangen!«

Er zeigt mir den Vogel und ich frage mich, wie es wohl für ihn sein muss, Milo zu sehen. Immerhin ist er einer seiner Nachfahren und er … der wiedergeborene Herbstgott. Ihre Seelen sind irgendwie verwandt, auch wenn es schwer zu begreifen ist. Ich fürchte, das würde ich ohnehin nicht verstehen und Caleb ist eben Caleb. Er war nie ein Kind von Traurigkeit. Seufzend strecke ich den Rücken durch und möchte am liebsten schreien.

»Verdammt«, zische ich. Vielleicht hätte ich nicht den ganzen Tag gebückt verbringen sollen. Mein Rücken straft mich jetzt für meine Dummheit. Selbst das Luftholen tut weh. Ich beiße die Zähne zusammen und klettere vom Dach.

Caleb mustert mich kritisch, er hat gerade mit einer Plane das restliche Holz auf seinem Karren abgedeckt. »Alles gut?«, fragt er.

»Ja, ja«, murmele ich und deute zum Himmel. »Sieht übel aus.«

Caleb folgt meinem Blick und brummt zustimmend, während er sich die alte schlabberige Mütze seines Vaters auf dem blonden Haarschopf zurechtzieht. Meine beste Freundin Ilea würde bei ihrem Anblick einen Anfall bekommen und ihm binnen weniger Stunden sofort eine neue nähen. Ich vermisse sie so sehr. Hoffentlich geht es ihr in Gaias Reich gut. Ich bin wirklich auf den ersten Sommer gespannt, den sie uns als neue Halbgöttin bringen wird.

»Ich mache mich besser auf den Heimweg«, sage ich und klopfe Caleb auf die Schulter. Er erwidert die Geste und ich kann mir ein Aufjaulen nur mit Mühe verkneifen.

»Grüß die Familie«, erwidert der ehemalige Herbst und springt auf seinen Karren. Die Zügel in den Händen zwinkert er mir zu. »Du solltest was Warmes auf deine wehen Knochen legen.«

»Halt die Klappe«, gebe ich beleidigt zurück. »Du wusstest es und hast mir mit deiner Pranke trotzdem voll auf die Schulter gehauen?«

»Stets zu Diensten.« Er grinst mich frech an und schnalzt dann mit der Zunge. Die Pferde setzen sich in Bewegung und ich kann ihm nur mit zu Schlitzen verengten Augen nachstarren. Ein Donner erinnert mich daran, dass ich mich schleunigst auf den Heimweg machen sollte. Ich gehe zu meiner Tinkerstute Lucy. Ihre Augen sind durch das nahende Gewitter ängstlich geweitet. Ich nehme ihren Kopf in meine Arme.

»Keine Angst, Süße. Wir gehen nach Hause.« Ich gebe ihrer Blesse einen Kuss und beginne sie zu satteln. Die ersten Tropfen fallen schon, als ich endlich losreite. Milo winkt mir vom Fenster zu. Neben ihm, die Hufe auf die Fensterbank gestellt, die Ziege, die er anscheinend gerettet hat. Ob die Herbstabkömmlinge alle so verschroben sind?, denke ich und pruste laut los. Mein Rücken bestraft mich sofort dafür, deshalb hebe ich die Hand und winke Milo zurück. Ich hätte mich ja gerne noch anständig verabschiedet, aber die Zeit drängt. Lucy trabt los und ich beiße die Zähne zusammen. Zum Glück ist es kein weiter Ritt und ich bin ein halbwegs geübter Reiter, weshalb ich den meisten Stößen in meine Rückenwirbel ausweichen kann. Schon bald sind wir in der Stadt und als ich an der Schneiderei Nachtblüte vorbeikomme, fühle ich einen Stich im Herzen. An Tagen wie diesem fehlt mir Ilea sehr. Wie gerne wäre ich jetzt zu ihr gegangen, hätte mich mit ihr auf das Sofa gelegt und einen Film geguckt. Mit Sicherheit hätte sie genäht oder mir den Rücken massiert. Morgen sollte ich unbedingt mal wieder bei Nanny und Paulek vorbeischauen. Und bei Liora und … Sol. Ich schlucke, ignoriere die Gefühle, die sein Name in mir auslöst, und steige vom Pferd. Nachdenklich bringe ich Lucy in den Stall. Während ich sie versorge und in die Box führe, wird das leichte Tropfen draußen zu einem anständigen Platzregen.

»Vielleicht sollte ich hier bei dir warten?«, sage ich zu Lucy, als ich ihre Trense aufhänge. Doch das Pferd beachtet mich nicht und frisst lieber weiter sein Heu. Vorsichtig strecke ich mich durch und wimmere leise. Ob ich will oder nicht, meine Familie wartet auf mich und würde sich sicher Sorgen machen.

»Also ein Sprint«, flüstere ich und seufze. Es geht doch nichts über einen Lauf durch peitschenden Regen. Ich ziehe mir die Kapuze meines Pullovers über den Kopf.

»Bis später, Lucy. Grüß mir Zehlda und sag ihr, sie soll dich nicht immer so verwöhnen.« Damit verlasse ich den Stall und renne los. Es ist nicht weit, aber als ich zu Hause ankomme, bin ich trotzdem nass bis auf die Haut. Ich stoße die Tür auf und ernte sofort einen bösen Blick von meiner Mutter. Sie steht mitten im Zimmer, meinen jüngsten Bruder an der Brust, und sieht mich an, als wäre ich das Unheil in Person.

»Wie siehst du denn aus?«, schrillt sie mir entgegen. »Zieh dir sofort die Sachen aus, bevor du durch mein Haus läufst.« Sie beobachtet mit Argusaugen, wie ich die Tür hinter mir schließe. »Schön auf dem Schmutzfänger bleiben.« Dank ihrer sechs Kinder ist Mutter zum Feldwebel mutiert. So war sie nicht immer, sie war früher viel entspannter. Aber je mehr dreckige Füße hier herumliefen, desto strenger wurde sie. Ich kann sie verstehen und lächele sie an.

»Entschuldige, Mama«, sage ich und sehe, wie ihr Blick weich wird. »Ich habe es auf die letzte Minute geschafft, das Dach beim alten Milo Herbstkind abzudichten.« Damit ziehe ich die Schuhe von den Füßen und stelle sie zu denen meiner Geschwister in die kleine Wanne. Meine Socken sind größtenteils trocken geblieben.

»Du bist ein gutes Kind.« Meine Mutter kommt auf mich zu und streicht mir über die Wange. »Zieh dir schnell diesen Pullover aus, du holst dir noch den Tod.« Sie sieht kurz zu Hannes, der wohl beim Trinken eingeschlafen ist, und überlegt. »Hoffentlich rückt Milo zum Dank für deine Hilfe beim nächsten Schlachten ein ordentliches Steak für dich heraus.«

»Das wäre was«, stimme ich zu und hebe meine Arme, um mir den schweren, vom Regen getränkten Pullover über den Kopf zu ziehen. Mutter deutet meinen Gesichtsausdruck sofort.

»Wieder der Rücken?«

Ich nicke und lasse mir den Pullover von ihr abnehmen.

»Sag deiner Schwester, sie soll dich mit Franzbranntwein einreiben.« Mutter mustert das Kleidungsstück in ihren Händen und lässt mich dann alleine zurück. Meine Hose klebt ebenfalls an mir, aber ich wage es, damit den kurzen Weg die Treppe herauf in mein Zimmer zu laufen. Dort entledige ich mich ihrer und trockne mich mit einem Handtuch ab. Ich sehe zum Bett meines Bruders. Normalerweise sitzt Zimon dort immer und liest. Die Göttin hat ihn leider nicht mit Gesundheit gesegnet. Mein jüngerer Bruder ist oft krank und deswegen immer wieder ans Bett gebunden. Ich höre die Klospülung und kurze Zeit später öffnet sich die Tür. Zimon ist weiß wie die Wand. Er hat genau wie ich die pechschwarzen Haare von unserem Vater geerbt, doch seine Augen sind blau und meine dunkelgrün mit braunen Flecken. Das habe ich von unserer Mutter.

»Hey, Kurzer«, begrüße ich ihn und ziehe mir eine trockene Hose an. »Wie geht es dir?«

»Nicht so gut«, murmelt er und schlüpft unter die Bettdecke. Ich halte inne und lege den frischen Pullover vorerst beiseite.

»Was ist los?«, frage ich ruhig.

»Mir ist schlecht.« Blaue Augen sehen mich über den Deckenrand an. Zimon ist erst vierzehn und das Leben hat ihn schon so gestraft. Ich gehe zu ihm und setze mich an sein Bett. Als ich ihm die Hand auf die Stirn lege, merke ich, dass er erhöhte Temperatur hat.

»Soll ich dir einen Tee kochen?«, frage ich. Er nickt und ich erhebe mich wieder vorsichtig. Mein Rücken schickt schmerzende Blitze durch meinen ganzen Körper, als ich mir den Pullover überziehe. »Bin gleich wieder da«, verspreche ich und verlasse das Zimmer.

Ich schließe die Tür leise hinter mir, für den Fall, dass Zimon einschläft. In der Küche steht meine einzige Schwester Nanessa am Fenster und starrt hinaus in den Regen. Sie hat Mutters brünette Lockenpracht geerbt und trägt heute eine Blume in den Haaren – ich glaube, es ist eine Dahlie, ich kenne mich da nicht aus. Sicher hat sie heute ihren großen Schwarm Ricardo getroffen. Sie ist sechzehn und kennt im Moment kein anderes Thema.

»Na, du«, begrüße ich sie, hole einen Topf aus dem Schrank und fülle ihn mit Wasser.

»Hallo, Yannis.« Sie beobachtet, was ich mache. »Tee?«

Ich nicke.

»Zimon?«, rät sie richtig.

»Ja, ihm ist wieder schlecht.«

»Oh Mann, er tut mir echt leid.« Trotzdem grinst sie in sich hinein. »Ich habe heute Ricardo gesehen.«

Es erfordert viel Kraft, den zynischen Kommentar herunterzuschlucken, der mir schon auf der Zunge liegt. Stattdessen sehe ich sie interessiert an, während ich das Wasser auf dem Herd erhitze.

»Er hat mir diese Blume geschenkt«. Nanessa deutet auf ihr Haar.

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Das war … nett von ihm.« Und faul. Mal ehrlich, hätte er sich nicht die Mühe machen können, ein paar mehr zu pflücken? Aber Nanessa scheint glücklich zu sein und ich habe absolut keine Ahnung davon, wie man eine Frau umwirbt. So, wie sie strahlt, macht Ricardo wohl alles richtig.

»Wann suchst du dir endlich eine Frau?«, kommt die Frage unverblümt, die sie mir in regelmäßigen Abständen stellt.

»Wenn ich eine finde, die mir gefällt«, antworte ich jedes Mal, woraufhin sie nur schnaubt. »Willst du mich loswerden?«

»Lass deinen Bruder in Ruhe, wir können froh sein, dass er noch hier ist und uns hilft«, fällt Mutter ein, die in die Küche geeilt kommt. »Zimon übergibt sich schon wieder.«

»Ich bin gerade dabei, Tee zu kochen.«

Mutter schnappt sich einen nassen Lappen und gibt mir das Baldrianöl. Das hilft Zimons Magen meist zur Ruhe zu kommen. Mein Wasser kocht mittlerweile und ich übergieße getrocknete Kamillenblüten damit. Anschließend tröpfele ich etwas von dem Öl hinein.

»Ach, Nanessa«, ruft Mutter im Weggehen, »reib deinem Bruder den Rücken ein, ja?«

»Heute wieder keine Pause gemacht?« Dieses Mal sind es die Augenbrauen meiner Schwester, die sich heben. Ich nicke und seufze.

»Komm her«, bittet sie mich und kramt in Mutters Hausapotheke direkt neben dem Spülbecken. »Der Tee muss ohnehin noch ziehen.« Sie findet den Franzbranntwein und starrt eine Weile auf die Flasche. »Yannis?«

»Ja?«

»Glaubst du, Zimon …«

»Er wird wieder«, unterbreche ich ihre Frage schroff und mit den Augen gebe ich ihr zu verstehen, dass ich keinen Widerspruch dulde. »Vermutlich liegt es daran, dass er so schnell wächst.« Zumindest tröstet Mama ihn immer mit dieser Ausrede. Vielleicht ist ja was Wahres dran. Zimon ist jetzt schon fast so groß wie ich und er wird mich, so die Göttin es zulässt, nächstes Jahr Kurzer nennen. Allerdings bin ich wirklich nicht besonders groß und es gibt in Hemera einige Frauen, die mich überragen.

Nanessa schaut traurig zu Boden und es tut mir sofort leid, dass ich sie so angefahren habe. Ich gehe zu ihr und ziehe sie in meine Arme. Mit einem tiefen Seufzen lehnt sie ihren Kopf an meine Schulter.

»Alles wird gut«, tröste ich sie. »Verzeih mir, dass ich so barsch war.«

Sie löst sich mit einem gepressten Lächeln von mir und mustert eine Weile mein Gesicht. Dann scheint sie sich daran zu erinnern, was sie tun wollte.

»Dreh dich um«, bittet sie und schraubt den Franzbranntwein auf. Der Geruch steigt mir in die Nase und ich verziehe das Gesicht. Vielleicht sollte ich nachher nicht direkt zu Zimon hochgehen, davon könnte ihm übel werden.

Nanessas Hände gleiten über meinen Rücken. Ich halte mich an der Anrichte fest und wünschte, sie hätte mehr Kraft, mehr Druck, der meine Muskeln ordentlich durchmassiert.

Sol hat starke Hände …

Wieso denke ich jetzt an ihn? Erschrocken atme ich ein.

»Entschuldige, tue ich dir weh?«, fragt Nanessa und hält inne.

»Nein … nein«, beruhige ich sie schnell. So sanft, wie sie mich berührt, könnte sie das auch gar nicht. Ich höre, wie sie die Flasche wieder zuschraubt, und ziehe meinen Pullover zurecht.

»Besser, ich bringe Zimon den Tee«, spricht meine Schwester die Gedanken aus, die mich beschäftigen. »Du stinkst.«

»Danke auch«, grummele ich und sehe sie lächelnd an. Sie stößt mich leicht in die Seite, wäscht sich schnell die Hände und nimmt dann die dampfende Tasse Tee mit einem leisen Fluch. Offensichtlich hat sie unterschätzt, wie heiß die Tasse ist. Ich sehe ihr nach, als sie im Flur verschwindet. Dann nehme ich ihren Platz ein und starre aus dem Fenster. Hinaus in den Regen. Sol. Seit ich ihn zum ersten Mal im Krankenhaus gesehen habe, schleicht er sich immer wieder in meine Gedanken. Ich ertappe mich selbst dabei, wie ich mir immer wieder Ausreden einfallen lasse, um in seine Nähe zu kommen.

Nanny wollte, dass er mit Ileas Tochter in den Orden zieht, doch Sol lebt zurzeit bei Caleb und Tereseh. Letztere hilft ihm mit dem Baby. Ich sehe sie abends oft mit der Kleinen vorbeispazieren. Sie wohnen nur wenige Häuser die Straße runter. Liora schläft am besten im Kinderwagen ein, das hat mir Tereseh beim letzten Besuch erzählt.

Was ist nur mit mir los? Warum bin ich so … fasziniert von Sol? Ist es, weil er ein Halbgott ist? Oder vielmehr war, denn jetzt ist er sterblich. Faszination … Nein, damit belüge ich mich selbst. Es ist etwas anderes. Denn wenn ich nachts wachliege … Ich schüttele mich. Daran darf ich nicht denken. Es ist eine Schande.

»Na, Sohn?« Vater sieht mich müde an. Vermutlich ist er gerade für die Nachtschicht im Krankenhaus aufgestanden. »Seit wann bist du wieder da?«

»Noch nicht lange. Eine halbe Stunde?«

Er kommt auf mich zu und zieht mich kurz in seine Arme.

»Wie geht es dir?«, will er wissen, nachdem er mich wieder losgelassen hat. »Du siehst so grüblerisch aus.«

»Zimon geht es wieder schlecht.« Daran habe ich zwar gerade nicht gedacht, aber zumindest ist es keine Lüge. Zimon wurde im Labor schon komplett auf den Kopf gestellt. Es wurde nichts gefunden. Mein Vater ist Kinderarzt und ebenfalls ratlos.

»Armes Kind, wenn ich nur wüsste, was ihm fehlt. Ich befürchte jedoch, es ist Kopfsache. Er macht sich immer viel zu viele Sorgen. Eben sprach er davon, dass du bei dem Wetter noch auf einem Dach sein könntest.« Vater mustert mich. »Und was fehlt dir? Dein Rücken? Ich rieche Franzbranntwein.«

Ich nicke.

»Yannis, ich habe dir doch gesagt, was du zwischendurch immer wieder tun sollst … Wenn du so weitermachst, wirst du niemals deine eigenen Kinder tragen können«, schimpft er mich und beginnt damit, sich einen schwarzen Tee aufzubrühen.

Aber was ist, wenn ich nie Kinder haben werde?, möchte ich ihn fragen. Was ist, wenn ich einer von denen bin, die nicht dem Weg der Göttin folgen?

Vor vielen Jahrhunderten wäre das noch kein Problem gewesen. Früher hat man es zwar nicht verstanden, wenn Pärchen kein Kind haben wollten, aber man ließ sie in Ruhe. Seit jedoch Jesien auf der Erde gelebt hat, hat sich das verändert. Seine Kinder und deren Nachfahren sind heiß begehrt. Besser gesagt ihre Gene. Kinder galten schon immer als höchstes Gut, doch über die Jahrhunderte, lange nach Jesiens und Dahlias Tod, hat sich daraus eine Art Fanatismus entwickelt. Gleichgeschlechtliche Paare werden nur akzeptiert, wenn sich die Männer den Ordensfrauen zur Verfügung stellen oder Frauen in einer homosexuellen Beziehung schwängern. Zwei Frauen leben mitten in Hemera mit zwei Männern zusammen. Gemeinsam haben sie drei Kinder, die aber alle von derselben Frau stammen. Ihre Partnerin muss jeden Tag Getuschel und unterschwellige Beleidigungen ertragen. Schlimmer als gleichgeschlechtliche Paare haben es nur die, die aus Mann und Frau bestehen und sich bewusst gegen Kinder entscheiden. Davon haben wir auch eines, doch die haben sich als Grenzer an den Rand Hemeras verzogen. Die Obstgartens in der Ulmenallee hingegen werden von allen bemitleidet, weil Ilonora Obstgarten keine Kinder bekommen kann. Kurzerhand hat man ihnen zwei ungewollte Söhne der Hüterinnen aufgezwängt, damit das Bild in der Gesellschaft wieder stimmt.

Gütige Göttin, bitte lass mich nicht schwul sein. Ich schließe die Augen und fühle, wie mein Herz wild in meiner Brust schlägt. Es wäre eine Schande für meine Familie. Und dann auch noch ausgerechnet der Sohn der Göttin … Zum Glück hat der schon bewiesen, dass er Frauen anziehend findet und auch fruchtbar ist.

Ich lächele über meine Gedanken, doch das Lächeln vergeht mir schnell wieder. Denn wenn es anders wäre … das wäre der Super-GAU. Ich wäre sein Verderben und er meins. Das würde niemand akzeptieren. Niemand. Nicht mal die Göttin selbst.

»Yannis?«, ruft Mutter von oben.

»Zimon braucht bestimmt seinen großen Bruder«, sagt Vater und legt mir sanft eine Hand auf die Schulter. Ich sehe ihn entschuldigend an. Bitte verzeih mir, Vater. Verzeih mir, wenn ich dich enttäuschen werde.

Als ich am Morgen aufwache, bekomme ich nur schwer Luft. Es dauert ein wenig, bis ich begreife, dass mein jüngerer Bruder Mercur auf mir liegt. Ich erkenne ihn an seinem blonden Haar.

Als man ihn vor vier Jahren als Neugeborenen zu uns brachte, klammerte er sich sofort an mich – so wie eigentlich alle kleinen Kinder. Meine Schwester nennt es immer den Plätzcheneffekt, weil Kinder auf mich fliegen, als wäre ich ein großes Süßgebäck. Damals, als Vierzehnjähriger, hat es mich tierisch genervt, dass Mercur immer nur ruhig schlief, wenn er in meinen Armen lag. Immerhin war mein Vater sein Erzeuger und nicht ich. Es war merkwürdig für mich. Ich kannte diese Anhänglichkeit zwar schon von meinen anderen kleinen Geschwistern und von so ziemlich jedem Kind in Hemera, aber Mercur war für mich wie ein Eindringling. Ein Kind aus der Verbindung meines Vaters mit einer Hüterin. Nicht mit meiner Mutter.

Ich gewöhnte mich irgendwann daran und fand mich damit ab. Allerdings störte es mich immer noch, dass ich meine pubertären Nachtaktivitäten auf den Tag und das Badezimmer verschieben musste. Ich war zu der Zeit nicht einfach für meine Familie. Nur meine Mutter amüsierte sich köstlich darüber. Sie wusste genau, warum mich meine Geschwister alle so tierisch nervten, und versuchte mir meinen Freiraum zu geben.

Der Göttin sei Dank habe ich diese Phase mittlerweile erfolgreich hinter mich gebracht und mich vom Spritzgebäck zu einem ganz normalen Lebkuchenmann gewandelt.

Ich muss grinsen und betrachte den kleinen Kinderkörper auf mir. Wann ist Mercur so schwer geworden? Der kleine Fresssack! Ich drehe meinen Kopf und hebe ihn leicht an. Ein Blick zu Zimon zeigt mir, dass sein Gesicht wieder Farbe bekommen hat und er friedlich schläft. So heftig seine Anfälle auch sind, so schnell sind sie meistens wieder vorbei, lassen ihn aber müde und ausgezehrt zurück.

»Oh verdammt, du kleine Zecke«, zische ich leise, als mir auffällt, dass Mercur mich im Schlaf angesabbert hat. Noch immer läuft ihm der Speichel aus dem Mund. In dem Moment geht die Tür auf und meine Mutter schaut herein. Ihr erster Blick geht zu Zimon, dann sieht sie zu mir und lächelt.

»Da ist er ja«, flüstert sie und deutet auf Mercur. »Ich dachte mir schon, dass es wohl wieder nach Plätzchen geduftet hat.« Sie geht auf Zehenspitzen durch das Zimmer und hebt Mercur mit einem leisen Ächzen von mir herunter. Dann begutachtet sie mich mit leuchtenden Augen. »Du glaubst gar nicht, wie ich mich darauf freue, dich mal mit eigenen Kindern zu sehen.«

Ich schlucke und zwinge mich zu lächeln. Hoffentlich sieht es halbwegs echt aus oder sie schiebt es darauf, dass ich noch müde bin. Mercur brummt leise und schmiegt sich dann an Mutter.

»Komm, Schatz, steh auf. Die Sonne geht bald auf«, sagt sie leise zu mir und scheint noch in ihrem Tagtraum von Enkelkindern gefangen zu sein. Ich habe plötzlich einen Stein im Magen.

»Was sagt das Wetter?«, frage ich flüsternd, um sie und mich auf andere Gedanken zu bringen.

»Es hat die ganze Nacht geregnet und gestürmt. Deshalb hat Mercur bestimmt den Weg in dein Bett gesucht.« Mutter streicht dem Kleinen über den Rücken. »Jetzt weht nur noch Wind und es beginnt zu trocknen, aber irgendwie ist es noch grummelig. Ich schätze, das Unwetter zieht weiter.« Sie seufzt. »Hoffentlich legt Nevis bald mit Schnee los. Das ist mir lieber als dieser Übergang.«

Unten sitzt mein Bruder Franklin am Tisch. Er ist gerade acht geworden und liebt nichts mehr als Ballspiele. Deshalb wundert es mich auch nicht, dass unter dem Tisch ein Ball zwischen seinen Füßen klemmt.

»Guten Morgen, Yannis«, grüßt er mich gut gelaunt und ich wuschele ihm über den Kopf. Ich bin zwar kein Morgenmuffel, aber es dauert ein wenig, bis ich kommunikativ werde.

»Utha und ich spielen vor der Schule noch eine Partie, machst du mit?«

»Lass deinen Bruder«, fährt Mutter dazwischen, die Mercur im Wohnzimmer auf das Sofa gelegt hat und jetzt in die Küche kommt. »Yannis hat Rückenschmerzen.«

»Die sind vorbei«, sage ich und schütte mir etwas Milch in eine Tasse. »Wir könnten ja Caleb fragen, ob er auch mitmacht?« Ach ja, Yannis, wieso hast du das wohl vorgeschlagen? Ich zucke innerlich zusammen, weil ich gesprochen habe, ehe ich Gelegenheit hatte, darüber nachzudenken.

»Ja, lass uns gehen und ihn fragen«, freut sich Franklin und überlegt einen Moment. »Vielleicht spielt Sol ja auch mit!«

»Keine Ahnung«, bringe ich gerade so hervor.

»Gütige Göttin«, brummt Mutter vor sich hin. »Jungs und ihr Bewegungsdrang.« Sie sieht mich ernst an. »Übertreibe es heute nicht, in Ordnung? Weder beim Ballspielen noch beim Klettern auf den Dächern. Wenn es zu nass oder zu windig ist, bleibst du unten.«

»Ja, Mutter. Ich verspreche auf mich aufzupassen.« Ich schenke ihr ein strahlendes Lächeln. Die Chance, Sol zu sehen, sollte mich nicht in solche Hochstimmung versetzen.

»Iss erst mal was.« Mutter gibt mir einen Kuss auf die Stirn. »Solange du in meinem Haus lebst, gehst du nicht mit leerem Magen vor die Tür.«

»Beeil dich, Yannis«, drängt Franklin, wofür Mutter ihm einen angedeuteten Klaps in den Nacken gibt.

»Dein Bruder hat einen Knochenjob, lass ihn in Ruhe essen.«

»Ja, Mama«, murmelt mein kleiner Bruder verlegen und spießt mich dann fast mit seinem Blick auf. Da Zimon gerade in die Küche kommt, fliegt Franklin jetzt wieder unter Mutters Radar und fuchtelt wild mit den Armen herum, damit ich mich beeile. Ich schmunzele in meine Tasse und nehme mir eine Scheibe Brot, um sie genüsslich in die Milch zu tunken. Grinsend kaue ich langsam vor mich hin, während Franklin fast aus der Haut fährt. Mutter kocht derweil Tee für Zimon, der sich zu mir stellt und mit mir über Franklin lacht. Schnell hat er den Grund für seine Nervosität erkannt. Nanessa kommt mit Baby Hannes herein und die Küche füllt sich.

»Hör auf so zu zappeln«, mahnt Nanessa Franklin und setzt Hannes in einen Hochstuhl. Dann wendet sie sich Mutter zu. »Ist Papa schon wieder zu Hause?«

»Er müsste jeden Moment kommen, wieso?«

»Weil ich ihn etwas fragen wollte«, druckst Nanessa herum. Ich spüre Zimons Atem in meinem Nacken.

»Sicher wegen Ricardo«, flüstert er. Ich zwinkere ihm verschwörerisch zu und nicke, während die beiden Frauen des Hauses miteinander diskutieren. Kleine Hände legen sich auf meine Beine. Ich sehe hinunter zu Mercur, der offensichtlich wach geworden ist. Er hebt die speckigen Arme. Ganz verschlafen findet er noch keine Worte, aber ich weiß, was er will, und hebe ihn hoch. Er legt seinen Kopf an meine Schulter und seufzt. Zimon bohrt ihm spielerisch einen Finger in die Seite, was Mercur zum Glucksen bringt. Irgendwie schaffe ich es, mein Brot zu essen und meine Milch auszutrinken. Nahrungsaufnahme mit einem Kleinkind im Arm habe ich über die Jahre perfektioniert. Ich gebe Mercur einen Kuss auf die Wange und setze ihn ab, woraufhin er laut protestiert. Mama hält ihn davon ab, mir nachzulaufen. Er tut mir ja leid, aber ich muss mich anziehen und waschen, wenn ich Franklin wirklich die Freude machen will, mit ihm noch vor der Schule etwas Ball zu spielen. Rasieren wäre auch nicht schlecht. Da viele Kinder morgens zu Hause mithelfen müssen und zum Beispiel die Tiere versorgen, beginnt die Schule in Hemera unterschiedlich. Je nach Jahreszeit mal früher, mal etwas später. Wir haben noch gut eine Stunde Zeit, als Franklin, sein Freund Utah und ich bei Caleb vor der Tür stehen. Mein Bruder klopft selbstbewusst an, während mein Mut Achterbahn fährt.

Es ist Caleb, der uns die Tür öffnet. Enttäuschung und Erleichterung machen sich gleichzeitig in mir breit.

»Tagwindjungs? Was für ein freudiger Überfall am frühen Morgen!«, sagt er und betrachtet Franklin mit dem Ball in der Hand. Er erkennt sofort, warum wir hier sind. »Ich bin so was von dabei! Kommt nur kurz rein, ich muss Tereseh noch helfen den Frühstückstisch abzuräumen.«

»Spielt Sol auch mit?«, platzt Utah heraus und ich spüre, wie mein Herz einen Sprung macht. Caleb schließt die Tür hinter uns und sieht den Kurzen kopfschüttelnd an.

»Sol hat die halbe Nacht damit verbracht, Liora zu beruhigen, er ist eben auf dem Sofa eingeschlafen.« Caleb führt uns in die Küche, wo Tereseh an der Spüle steht.

»Der Göttin zum Gruß, Jungs«, sagt sie fröhlich.

»Guten Morgen, Tereseh.« Ich lächele sie an und gehe zu dem Stubenwagen, in dem Liora schläft. Sie sieht zufrieden aus und zieht Grimassen im Schlaf. Ich muss immer darüber lachen. Babys sehen so ulkig aus, wenn sie die Mimik üben, die sie tagsüber gesehen haben.

Tereseh tritt neben mich. »Ilea fehlt dir, oder?«

»Ja«, gebe ich offen zu. »Ich kann immer noch nicht richtig glauben, dass sie wirklich ihre Tochter ist.«

Es kam alles zu schnell und unvorbereitet. Auch für Ilea und Aviv, wie man mir erzählte …

Während ich das Baby betrachte, haben sich Franklin, Utah und Caleb nützlich gemacht und den Tisch abgeräumt. Caleb schnappt sich ein Tuch zum Abtrocknen und flachst mit den Jungs herum. Er wird mal ein guter Vater werden, dessen bin ich mir sicher. Tereseh legt eine Hand auf meinen Arm und lächelt mich wissend an, als sich jemand hinter uns räuspert. Ich weiß sofort, wer es ist, und erstarre für einen Moment, ehe ich mich ihm zuwende, den Bauch voller Schmetterlinge. Sol trägt eine warme Wollmütze und eine dünne Jacke über dem Pullover. Offensichtlich ist dem Sommer kalt im Herbst. Seine starken Arme halten seinen Oberkörper umklammert und seine Augen wirken vollkommen erschöpft. Ich muss mich innerlich zur Ruhe rufen.

»Guten Morgen«, murmelt er und sieht mich an.

Diese blauen Augen … Hallo! Sag was, Yannis!

Franklin und Utah sind vor Ehrfurcht erstarrt und ich … ich fange mich zum Glück schnell. »Guten Morgen, Sol. Die Kleine schafft dich ganz schön, was?«, bringe ich einigermaßen locker hervor. Dabei kann ich nur daran denken, ihn zu umarmen.

»Sie hatte Bauchweh«, erklärt er und zieht sich einen Stuhl heran, auf dem er sich niederlässt. Er ist hundemüde und ich frage mich, warum er überhaupt aufgestanden ist.

»Hat nichts geholfen? Fliegergriff? Massage mit Kümmelöl?« Alle sehen mich fragend an und Tereseh kichert vor sich hin.

»Du weißt mehr über Babys als ich«, sagt sie und klopft mir auf die Schulter. Caleb zischt.

»Tereseh!« Er sieht sie alarmiert an. »Yannis hat Rückenschmerzen!«

»Oh, das tut mir leid«, haucht Tereseh. »Geht es? Hab ich dir wehgetan?«

Nein, alles in Ordnung, will ich sagen, aber Sols Blick hält mich gefangen. Irgendetwas liegt in diesen blauen Augen, das mich vergessen lässt meinen eigenen Speichel zu schlucken.

»Er hat keine Rückenschmerzen mehr«, informiert Franklin die Runde und Sols Blick gleitet von mir weg zur Tischplatte. Ich fühle mich, als hätte soeben der Blitz eingeschlagen. Direkt in mich hinein.

»Ja, ja«, stammele ich. »Alles wieder gut, keine Sorge.« Ich fange mich wieder und grinse Caleb an. »Du machst deine arme Frau fertig und hast mir gestern selbst auf die Schulter gehauen.«

»Caleb!«, brummt Tereseh. Ihr Mann verschwindet leise pfeifend in den Flur und murmelt etwas von Schuhe anziehen.

Sol

Ich verkrampfe meine Finger unter dem Tisch zu einer Faust. Berühren ist verboten. Egal was seine Stimme mit mir macht. Und diese Augen. Dieser Duft, der die ganze Küche erfüllt. Was macht er nur mit mir? Mein ganzes Leben kommt mir vor wie eine große Maske, die er immer und immer wieder runterreißt und die dadurch bereits schwere Schäden erlitten hat. Trotzdem bin ich vom Sofa hochgeschossen, als ich den Klang seiner Stimme gehört habe. Er hatte gestern Schmerzen … Wieso tut mir dieser Gedanke weh? Ich hätte sie lindern können. Seinem Rücken Wärme und Kraft geschenkt. Und er vielleicht auch mir? Immerhin war er im Pullover draußen und ich … ich friere selbst mit Jacke im Haus. Hastig atme ich durch. Ich darf ihn mir nicht so vorstellen. Gütige Mutter, hilf mir …

Yannis

Wieso wirkt er so bedrückt? Bereut er seine Entscheidung, auf der Erde geblieben zu sein? Oder ist er einfach nur müde? Das wird es sein. Ich weiß ganz genau, wie erschöpft Mutter in den ersten Wochen mit einem Neugeborenen immer war. Außerdem scheint er zu frieren, oder warum trägt er sonst Wollmütze und Jacke im Haus?

»Du brauchst ganz bald eine Frau und eigene Kinder«, sagt Tereseh. »Es ist immer so schön zu sehen, wie sehr die Kleinen dich lieben.«

»Wir nennen es den Plätzcheneffekt«, sagt Franklin, der langsam nervös wird und Ball spielen möchte.

Calebs Lache aus dem Flur dringt zu uns herüber. »Willst du sagen, unser Yannis ist ein großes Plätzchen?«, höre ich ihn rufen.

»Ja«, antworte ich. »Ein Lebkuchenmann mit Zuckergussklamotten, und jetzt mach hin, sonst schaffen wir keine Runde mehr vor der Schule.«

Ein leises Stimmchen erklingt hinter mir und mir wird klar, dass wir das Baby geweckt haben. Ich drehe mich zu Liora um. Sie öffnet die Augen und lächelt mich an.

»Gütige Göttin«, freut sich Tereseh und greift meinen Arm. »Yannis, du weißt, was das heißt?«

»Bin ich der Erste?«, frage ich erstaunt. Ich war davon ausgegangen, dass sie bestimmt schon einmal Caleb oder Tereseh angelächelt hat. Auch wenn das so jung noch nicht wirklich mit Absicht geschieht, so ist es doch der Brauch, dass derjenige, den ein Kind zum ersten Mal mit offenen Augen anlächelt, sein Bewahrer wird. Das wiederum bedeutet, dass ich sie halten werde, wenn sie von den Hüterinnen in den Kreis von Gaias Kindern aufgenommen wird. Früher nannte man so etwas Taufe, wenn ich mich richtig an den Schulunterricht erinnere, und das, zu dem ich dann werde, einen Paten. Den Begriff Pate benutzen wir auch heute noch hin und wieder.

»Ja, bist du!«, freut sich Tereseh und klatscht aufgeregt in die Hände.

Caleb kommt in die Küche. »Dein wievieltes Patenkind ist sie?«, will er grinsend wissen.

»Lass mich überlegen … das neunte Kind, das ich halten darf.«

Tereseh strahlt mich freudig an, doch mein Blick wandert zu Sol.

»Ist das in Ordnung für dich?«, frage ich, woraufhin er aus einer Art Tagtraum erwacht.

»Wie bitte?«

Ich lächele ihn an und seine Augen weiten sich. Habe ich etwas falsch gemacht? Verlegen lege ich eine Hand an meinen Hals. Das ist so ein Tick von mir.

»Ich werde ihm alles erklären, wenn er etwas geschlafen hat«, kommt ihm Tereseh zu Hilfe.

Ja … er ist einfach nur müde.

»In Ordnung«, seufze ich, nehme die Hand runter und versuche das Kribbeln in meinem Bauch zu unterbinden. »Kommt, Jungs, spielen wir.«

»Jawoll ja«, meint Caleb und beginnt sich auf der Stelle warm zu joggen.

Ich schnalze mit der Zunge. »Hoffentlich bist du nach zehn Minuten auf dem Feld auch noch so motiviert«, ziehe ich ihn auf.

»Wirst schon sehen, ihr liegt längst unter dem Sauerstoffzelt, da renne ich mich gerade erst warm.«

»Stapel nicht so hoch, du bist kein Maurer«, rate ich ihm lachend.

Caleb boxt mich in die Seite und Franklin und Utah reden wild durcheinander, während wir Teresehs Heim verlassen und ich den Stich ignoriere, der mir leise zuflüstert, dass ich nicht weiß, wann ich Sol das nächste Mal sehen werde.

»Ist es nicht merkwürdig, den Sommer im Haus zu haben?«, frage ich Caleb auf dem Weg zum Platz. Vielleicht kann ich ihn auf diese Weise ein wenig über Sol aushorchen. Franklin und Utah laufen vor, reden wild durcheinander und kicken sich immer wieder den Ball zu.

»Irgendwie nicht. Es ist, als würde ich ihn schon immer kennen.« Caleb schaut von der Straße zu mir auf. »Ich weiß auch nicht, wie ich es beschreiben soll. Sol ist mir irgendwie so vertraut.«

Ich nicke, auch wenn ich es nicht ganz nachvollziehen kann.

»Man hat doch bei Ilea herausgefunden, dass es keine genetische Verwandtschaft zwischen ihr und den Laborergebnissen aus Jesiens Krankenakte gab, oder?«

»Ja, die Halbgötter sind anscheinend nur seelisch Brüder.«

»Siehst du«, sagt Caleb, geht zwei Schritte vor und dann rückwärts, um mir beim Sprechen in die Augen zu sehen. »Und meine Seele ist immer noch dieselbe. Irgendwie. Ich bin Jesien. In einem anderen Körper. Mit anderen Erfahrungen. Aber immer noch Jesien. Besonders für Sol.«

»Das macht Sinn«, gebe ich zu. »Du bist für ihn immer noch genauso sein Bruder, wie du es vor über fünfhundert Jahren warst.«

»Ja, genau.« Caleb dreht sich wieder und lässt mich aufschließen. »Es ist schwer zu erklären, aber ich erinnere mich an ihn. Aus einer anderen Zeit, einem anderen Leben. Ich fühle Jesiens Liebe für ihn.«

Ich atme tief durch. Das Gefühl, das meine Brust zusammenzieht, soll verschwinden.

2. DIE BRÜCKE AM BACH

Vignette

Yannis

Die Nässe macht meine Arbeit nicht gerade einfacher. Vorsichtig balanciere ich über die Dächer, die während des Sturms Schaden genommen haben, und bin mit den Gedanken fest bei jedem Schritt, den ich mache. Leider arbeite ich heute nicht mit Caleb zusammen.

»Alles klar, Yannis?«, ruft mir Katharine Zedernholz zu. Ich sehe hinunter. Sie steht vor ihrem Haus und putzt sich die Hände an einem Spültuch ab.

»Bin gleich fertig«, versichere ich ihr.

»Fall mir da bloß nicht runter. Deine Mutter erwürgt mich!«

Ich lache über ihren Einwurf, auch wenn ich die Bitte, doch nicht vom Dach zu stürzen, gefühlt hundertmal am Tag höre. Nur die Sorge, meine Mutter könnte anfangen Hausbesitzer zu erwürgen, ist neu.

»Ich habe dir was zu essen gemacht, komm rein, bevor du gehst.«

»Danke, Katharine.« Ist es schon so spät? Mein Magen meint, ja.

Das Oberhaupt des zedernholzschen Familienclans hat ein Kartoffel-Möhren-Untereinander gemacht und für mich etwas gebratenen Speck dazugetan. Ich esse, als hätte ich seit Tagen nichts mehr bekommen, und Katharine strahlt mich dabei glücklich an.

»Danke«, sage ich und reibe über meinen Bauch. »Ich hab gar nicht bemerkt, dass ich so hungrig war.«

»Heute ist sicherlich viel zu tun, was? Das war aber auch ein Unwetter diese Nacht.«

»Ja, zwei Dächer stehen noch aus und es ist nicht auszuschließen, dass noch mehr Leute auf der Suche nach mir sind.«

»Wo gehst du jetzt hin, falls jemand fragt?«

»Ich werde mir eine Stunde Zeit nehmen und bei Paulek Nachtblüte und Nandra vorbeischauen. Danach hole ich mein Pferd und bin draußen bei den Landwirten.«

»In Ordnung.«

Ich erhebe mich und nehme meinen Teller, um ihn in die Spüle zu stellen. »Vielen Dank noch mal, Katharine.«

»Nichts zu danken, Junge. Grüß mir Nanny.«

»Mache ich.« Ich lächele sie an und versuche das Mittagstief zu überwinden, das mich am liebsten dazu überreden würde, wieder Platz zu nehmen oder irgendwo ein Nickerchen zu machen.

Auf dem Weg zu Paulek und Nanny helfe ich noch schnell der Bäckerfamilie Rothfuchs, die Säcke mit Mehl vom Karren zu laden, und klopfe dann an der Tür der Schneiderei an. Paulek öffnet und ein Lächeln stiehlt sich auf sein Gesicht.

»Der Göttin zum Gruß«, sage ich gut gelaunt.

»Yannis! Komm rein, mein Junge. Ich habe gerade eine Kundin da, aber geh ruhig hoch zu Nanny, ich komme nach.« Paulek tritt zur Seite, damit ich die Treppe nach oben nehmen kann. Nanny sitzt auf dem Sofa und liest in einem Buch. Als sie mich sieht, nimmt sie es herunter, steht auf und drückt mich ohne große Worte an ihr Herz.

»Schön dich zu sehen, mein Hübscher.« Sie gibt mir einen Kuss auf die Wange und zieht mich zu sich auf das Sofa.

»Oh, Nanny, hier stehe ich nicht mehr auf, wenn ich zu lange sitzen bleibe.«

»Hast viel zu tun heute, was?«, vermutet sie richtig.

Ich nicke. »Ja, aber ich muss eine Pause machen, sonst verliere ich die Konzentration, und da wollte ich hier vorbeischauen. Wie geht es dir?«

Sie winkt ab. Ihre Haut ist blass und sie ist dünner geworden. »Unkraut vergeht nicht, das weißt du doch.«

Ich grinse und sie streichelt über meine Wange.

»Was macht die Liebe?«, will sie wissen und hat dabei ein merkwürdiges Funkeln in den Augen, als vermute sie, dass ich heimlich irgendwo jemanden hätte.

»Nichts Neues, die Frau für mich muss vermutlich erst geboren werden.«

»Rede keinen Unsinn, willst du tot sein, bevor die Enkelkinder geboren sind?« Nanny schüttelt den Kopf. »Alternativen?«

Wie ist das denn gemeint? Ich runzele die Stirn. Oh …

»Nein«, presse ich hervor. Das war wohl ihre Art zu fragen, ob ich einen Mann …

Nanny seufzt. »Oh-oh, das ist schlecht.«

»Nanny … du sprichst in Rätseln.« Ich sehe ihr tief in die alten Augen, doch Nanny hat es über Jahre hinweg perfektioniert, ihre Gefühle und Gedanken zu verbergen. Besser, ich wechsele das Thema. Doch leider beherrscht eine einzige Person meine Gedanken.

»Ich habe Sol heute Morgen bei Caleb gesehen«, plaudere ich, »es wird dich freuen zu hören, dass er friert. Dabei ist der Spätherbst da draußen recht mild.«

Nanny scheint kurz zu überlegen, dann lacht sie und sieht mich mit einem großmütterlichen Blick an, als ließe sie mich gerade mit irgendetwas davonkommen.

»Ihm war damals auch so kalt«, erinnert sie sich. »Kein Wunder, wenn man bedenkt, wo er herkommt.« Nanny nimmt meine Hand in ihre und streicht gedankenverloren darüber. »Was macht die Kleine?«

»Ich werde ihr Bewahrer.«

»Schon wieder?« Ihr Gesicht leuchtet auf, als sie lacht.

»Ja, Nummer neun.«

»Ich hätte Liora gerne selbst genommen, aber, na ja … ich bin so schnell aus der Puste und ein Neugeborenes …«

»Er macht das schon«, unterbreche ich sie. »Mach dir keine Vorwürfe. Tereseh schaut ihm schon auf die Finger.«

»Sie hat selbst keine Kinder.«

»Ich komme ja auch ab und an vorbei und ich habe Erfahrung mit fünf jüngeren Geschwistern.«

Nanny zieht mich an sich, um mich erneut zu küssen.

»Danke, du bist ein guter Junge.« Nanny schaut zur Küche. »Hast du Hunger?«

»Nein danke. Frau Zedernholz hat für mich gekocht. Ich soll dich übrigens grüßen.«

»Ach, diese blöde Ziege«, zischt Nanny und ich muss laut losprusten. »Die ist so eingefahren wie ein Karren im Dreck.«

»Nanny, du bist ein echtes Original«, sage ich prustend, doch sie schnaubt nur und rollt mit den Augen.

»Sag mal, Tereseh hat mir erzählt, dass das Rothfuchs-Mädchen hinter Sol her ist und jeden Tag vorbeischaut. Gibt es da was Neues?«

Was? Ich meine: Wie bitte? Moira Rothfuchs? Was will die von Sol?

»Nein, das höre ich zum ersten Mal«, versuche ich ruhig zu sagen und mir nicht anmerken zu lassen, was diese Information mit mir anstellt. »Ich habe ihren Eltern gerade noch mit dem Mehl geholfen.«

»Sie muss Sol wohl schon ein paarmal gefragt haben, ob er mit ihr zu der kleinen Brücke am Bach geht.« Nanny sieht mich verschwörerisch an.

Die Brücke … so, so.