Emil Ertl
Meisternovellen
Du solltest aber doch auch an die Luft gehn, Papa!« sagte Frau Annie zu ihrem Mann. »Den ganzen Tag am Schreibtisch sitzen –?«
Sie nannte ihn fast immer »Papa«, obgleich er nicht ihr, sondern der Papa ihrer Kinder war; aber sie sah ja alles mit den Augen der Kinder.
»Wo geht ihr hin?« fragte der Professor, zerstreut aufblickend.
»Zum Wohltätigkeitsfest. Man ist doch wenigstens den Abend ein bissel im Grünen. Und die Kinder möchten natürlich den Jahrmarkt sehn.«
»Natürlich, ja, ja, geht nur!« sagte er wie geistesabwesend.
Minni, das neunjährige Mädchen, und der zwölfjährige Rolf öffneten die Türe und schoben sich zögernd in Vaters Arbeitszimmer herein. Draußen hörte man die gedämpfte Stimme Gretlis, die im Alter zwischen diesen beiden stand: »Nicht hineingehn! Papa hat doch zu arbeiten!«
»Tür zu, bitte, es zieht!« rief der Papa. Minni und Rolf wollten zurückprallen, aber die Mama sagte: »Also rasch herein! Papa erlaubt schon, daß ihr ihm Guten Tag sagt.«
»Aber gewiß!« sagte er und malte nervös Krakelfüße auf den Rand eines Blattes, an dem er eben geschrieben hatte. »Lebt wohl und gute Unterhaltung!«
Nun trat auch Gretli ein, das schüchterne, großäugige Kind, in ihrem Strohhut mit weißen Bändern. Der Reihe nach küßten sie ihn auf die Wange, erst Minni, dann Rolf, dann Gretli, und entfernten sich gesittet und eilfertig. Im Vorzimmer sagte Mama: »Gott, was für ein Stoß Drucksachen und Briefe! Trag sie hinein, Gretli!«
»Was gibt es denn schon wieder?« fuhr der Professor auf.
»Nur Zeitschriften und Briefe, Papa,« sagte Gretli, gleichsam sich entschuldigend.
»Danke, schon recht, leg sie hin.«
Nachdem das Kind sich entfernt hatte, riß er die Briefumschläge auf und die Schleifen von all dem bedruckten Zeug, dann zündete er sich eine Zigarre an und ließ das geübte Auge über Akten und Abhandlungen, Gedrucktes und Geschriebenes gleiten. Ein paarmal dazwischen schlug er mit der flachen Hand leicht auf den Schreibtisch. Daß es immer wieder neue Ärgernisse gab, Kontroversen, Mißverständnisse! Aber was läßt sich dagegen tun? Kämpfen heißt es eben, sich und seine Überzeugung verteidigen. Gerade das nennt man Wirken im Dienst des Geistes. Gerade das nennt man Leben.
Rechter Hand auf seinem Schreibtisch lagen nebeneinander zwölf Stück wohlgespitzte Bleistifte, Kohinoor 2 B, links ein hoher Stoß Papiere, zu Quartblättern zugeschnitten. Gretlis, seines Lieblings, Geschäft war es, diese Vorräte in Ordnung zu halten. Jeden Morgen, ehe Papa sein Zimmer betrat, zerschnitt sie das Papier und spitzte die Bleistifte, deren immer genau ein Dutzend sein mußte. Manchmal kam es vor, daß am nächsten Morgen alle zwölf abgebrochen waren. Sie setzte sie wieder in Stand und legte sie nebeneinander, daß sie aussahen wie Lanzen in einem Waffenlager für Ulanen. Den Papiervorrat aber füllte sie nach wie die Danaiden das Faß. Sie war so eine von den Stillwaltenden, die man nicht hört, verdichtete Weiblichkeit im Keim, eines von jenen Kindern, die man leise aufs Haar küssen möchte und sagen: Gesegnet, wer dich einmal heimführt!
Wenn der Professor während des Schreibens auf ein physisches Hindernis stieß, konnte es ihn rasend machen. Darum hatte er sich's so eingerichtet. Das Papier brauchte man nur herzunehmen, Blatt für Blatt, und wie die Spitze so eines Bleistiftes Kohinoor 2 B über gut geglättetes Papier hingleitet, das ist ganz einzig, unvergleichlich. Er schreibt beinahe von selbst.
Gerade jetzt, während er so allein und ungestört am Schreibtisch saß, rissen ihn wieder die Gedanken hin. Was da in einer dieser Streitschriften gedruckt stand, war schlechterdings unvereinbar mit seiner wissenschaftlichen Überzeugung. Das mußte einmal gründlich widerlegt werden. Mit bestrickender Sachlichkeit und doch zugleich heißblütig, schlagfertig, vernichtend. So ein zurechtweisender Aufsatz von ihm, an ersichtlicher Stelle in der ihm zur Verfügung stehenden Zeitschrift gebracht – das sauste wie eine damaszierte Klinge durch die Luft, klebscharf geschliffen und dabei fein und geschmeidig.
Wie ihm die Worte aufs Papier strömten, aus der Überzeugung heraus! Jede Viertelstunde krachte eine Bleistiftspitze, und sofort flog der dienstuntauglich gewordene Stift beiseite und ein anderer trat für ihn ein, aus der Reserve, die in Reih und Glied wartete, gleich kampfbereiten, todesmutigen Soldaten.
Und mit den Bleistiften, die in die Schreibtischecke flogen, flog auch die Zeit hin, ohne daß er es merkte, und er wunderte sich fast, als nach und nach ein leises Zwielicht um den Schreibtisch zu weben begann und plötzlich auch schon die Seinen vom Volksfest wieder heimkehrten, die ganze Rasselbande.
Die Kinder in ihrer Ausgelassenheit schlugen die Vorschriften gänzlich in den Wind, die ihnen Mama immer einschärfte: Papas Zimmer wie ein Heiligtum zu betrachten. Glückselig stürmten sie herein, voll von Erlebnissen, umdrängten ihn, er hörte sie erzählen, berichten, schildern, und hörte sie doch wieder nicht, seine Gedanken waren – ganz anderswo. Er plauderte mit ihnen und hatte keine Ahnung von dem, was er sagte, er dachte nur immer an seine Arbeit, die er noch krönen wollte, deren letzte Gedanken, deren wirksamste Sätze in ihren Umrissen ganz deutlich vor seinem geistigen Auge standen, und die er doch nicht hatte packen und festhalten können. Durchaus wollte er sie nicht entwischen lassen. Er wäre so gerne fertig geworden vor Einbruch der Dunkelheit, das Abendessen schmeckte ihm nicht, wenn er nicht zu einem Abschluß gekommen wäre. Und darum war er froh, als die Stimme seiner Frau ertönte: »Jetzt laßt aber Papa in Frieden, er hat noch zu arbeiten!«
»Nur ein paar Minuten noch ...« sagte er dankbar.
Eine halbe Stunde später saß er ganz vergnügt mit seiner Familie beim Abendbrot. Der Aufsatz war nicht nur vollendet, sondern sogar schon im Briefkasten, mit Umschlag und Freimarke. Er war zufrieden mit dem Artikel. Der saß! Abgetan! Fertig!
Die Kinder zeigten, was sie sich gekauft hatten auf dem Jahrmarkt. Rolf Ansichtskarten. Er sammelte natürlich, und zwar vom geographischen Gesichtspunkt aus: Gegenden, nur Gegenden. Sachen, die nicht wirklich waren, freie Erfindungen von Künstlern, liebte er nicht. Das kam ihm unsolide vor. Minni hatte sich ein wunderbares Spielzeug gekauft. Das war ein Gestell mit vier Rädern und obenauf eine Kautschukblase, die sich mächtig blähte, wenn man hineinpustete. Die langsam ausströmende Luft entfesselte den Ton eines Trompetchens und setzte zugleich das kleine Fahrzeug in Bewegung, wenn man es auf den Tisch oder Fußboden stellte. Es machte einen drolligen Eindruck, wenn das Wägelchen selbsttätig dahinrollte unter dem Blasen des Trompetchens, während der aufgeblähte Sack, den es mit sich führte, allmählich einschrumpfte.
Die Kinder unterhielten sich lange mit dem schnurrigen Spielzeug, ließen es umwenden, anhalten, bergauf und bergab fahren und bliesen es immer wieder auf, sobald ihm der Atem ausgegangen war. Belustigt sahen die Eltern zu.
»Was die Leute alles erfinden!« sagte Frau Annie.
Der Professor nickte: »Ja, und wenn man denkt, daß immerhin ein bißchen Ingenium dazu gehört, so etwas auszudenken!«
Nachdem die Kinder zu Bett geschickt waren, steckte er sich eine Zigarre an und machte Miene, sich in sein Schreibzimmer zurückzuziehen.
»Schon wieder arbeiten?« seufzte Annie.
»Mein Buch muß doch endlich ein bißchen vom Fleck kommen.«
»Deine Zigarre wenigstens rauch noch hier zu Ende?« bat sie.
Er blieb sitzen. Sie nahm das Pustewägelchen, das die Kinder zurückgelassen hatten, blies es auf und ließ es über den Teppich hinlaufen. Es arbeitete sich mühsam aber beharrlich durch das rauhe Terrain. Eine ganze Zeitlang zog es an wie eine kleine Lokomotive, indem es das Trompetchen dabei blasen ließ. Dann schrumpfte die Kautschukblase ein, knüllte sich zusammen wie eine runzliche Haut, und mit einem langgezogenen seufzenden Mißton entfloh der letzte Lebensatem. Da stand es stille und kippte ein wenig zur Seite. Der Professor und seine Frau lachen. Der Professor mußte lachen, daß ihm Tränen in die Augen traten, so komisch kam das Ding ihm vor. Er verfiel in ein fast nervöses, krankhaft überreiztes Lachen.
»Du solltest nicht so viel arbeiten, Oskar,« sagte die Frau. »Es muß ja deine Nerven angreifen und dich schließlich noch krank machen.«
»O, ich halte etwas aus,« erwiderte er behaglich. »Das Arbeiten macht mich nicht krank. Das ist ja das größte Vergnügen, das es überhaupt gibt.«
Er stand auf und ging im Speisezimmer auf und nieder, in Gedanken ... »Siehst du,« sagte er, »was die Nerven angreift, das ist, daß man keinen Dank hat. Ich meine nicht Lohn, ich meine Dank. Überall nichts als Mißverständnisse und Mißdeutungen, von allen Seiten. Und man gibt doch sein bestes hin, quält sich ab in zweifelvollen Stunden, wie man raten, nützen, helfen könnte. Man will etwas Gutes erweisen, Liebe spenden, und die, denen es zugedacht ist, verstehen es nicht, merken es kaum. Siehst du, das ist es, was manchmal ein wenig hernimmt.«
»Ja, das ist es,« seufzte sie bekümmert.
Er trat zu ihr und küßte sie auf die Stirn. »Na, das war nur so eine kleine Anwandlung ... Ich lasse mir meine Ziele nicht verrücken, und vorderhand bin ich noch obenauf.« Und mit einem Blick auf die Uhr sagte er: »Jetzt heißt es aber fleißig sein.«
Er öffnete die Tür zu seinem Arbeitszimmer, blieb aber noch einmal stehn und fragte zurück: »Was hat sich denn eigentlich Gretli auf dem Jahrmarkt gekauft?«
»Gretli? Die Rose.«
»Welche Rose?«
»Nun die Rose, die sie dir brachte.«
»Die sie mir brachte?«
»Ja. Sie brachte dir doch eine Rose!«
»Eine Rose? Mir«?«
»Ja. Schon auf dem Hinweg fragte sie, ob man auch Rosen zu kaufen bekäme auf dem Jahrmarkt. Wahrscheinlich, sagte ich, die Damen verkaufen sie den Herren für die Wohltätigkeit. So kaufe ich eine Rose für Papa, sagte sie.«
»Aber sie gab sie mir doch nicht?«
»Ja, sie gab sie dir, als wir nach Hause kamen.«
»Und ich?«
»Du nahmst sie und rochst daran. Und dann fragte sie, ob sie die Blume in die kleine Bronzevase stecken dürfe, die auf deinem Schreibtisch steht.«
»Und ich?«
»Du sagtest: da darf man kein Wasser hineintun.«
»Und dann?«
»Dann brachte sie ihr kleines Porzellanväschen hinüber und fragte, ob sie die Rose hineintun und auf deinen Schreibtisch stellen dürfe.«
»Nun?«
»Da sagtest du: ja, gewiß! Aber ich merkte gleich, daß du gar nicht wußtest, wovon die Rede war, und daß dir andere Gedanken durch den Kopf gingen. Denn es flog ein Lächeln über dein Gesicht, und gleich darauf ergriffst du einen Bleistift und warfst ein paar Sätze aufs Papier.«
Er schüttelte den Kopf.
»Sollte man nicht glauben!« sagte er nachdenklich, drehte das Licht in seinem Arbeitszimmer an und warf durch die offenstehende Tür einen Blick auf seinen Schreibtisch. Da stand neben der Lampe eine kleine Porzellanvase mit einer schönen, großen, roten Rose. Es kam ihm vor wie ein Wunder.
Allerhand Gefühle wurden wach in ihm ... Da richtest du deinen Blick ins Weite und sorgst dich für Fernliegendes, vielleicht Unwirkliches; sehnst dich, indem du dich mit den Meinungen anderer herumschlägst, vergeblich nach einem einzigen kleinen guten Wort des Dankes – und bist blind für die unendliche Liebe, die still und schüchtern dich umgibt und die Stätte deiner Arbeit mit Rosen schmückt ...
Einen Augenblick stand er unschlüssig, dann drehte er sich um und schritt durchs Speisezimmer nach der gegenüberliegenden Tür.
»Muß doch sehen, ob sie noch wach ist?«
»Gretli? Ach ja! Gib ihr noch einen Gutnachtkuß, das macht sie überglücklich!«
Nach einer kleinen Weile kehrte er zurück, vorsichtig, auf den Fußspitzen: »Sie schläft schon.«
Bei einer Tasse Tee saßen wir nach dem Abendessen in dem holzgetäfelten, mit zahlreichen Jagdtrophäen geschmückten Speisesaal des Schlosses am Kamin und streckten unsere Füße gegen das offene Feuer. Es war Spätherbst, und draußen wehte ein eisiger Wind, daß die großen brennenden Buchenscheite unstet flackerten. Die trockene Wärme, die von ihnen ausstrahlte, tat uns wohl, wir hatten bis in den sinkenden Abend hinein einen weiten Weg gemacht und waren gehörig durchgeblasen worden. Um den mit Hirschleder überzogenen weichgepolsterten Lehnstuhl des Freiherrn lagen oder kauerten mehrere seiner Lieblingshunde, die seine steten Begleiter waren. Er war leidenschaftlicher Jäger und huldigte dem Jagdvergnügen in allen erdenklichen Formen. Er jagte im Felsgebirg und im Hochwald, in den Föhrenschonungen und am Flusse, auf freiem Feld und im sumpfigen Moor. Die Gegend war gebirgig mit dazwischengelagertem Hügelland und breiten Niederungen, sie gewährte so ziemlich alles, was ein Jäger sich wünschen konnte. Und der Freiherr war stets mit der gleichen Begeisterung bei der Sache, ob er auf Gemswild birschte oder Hasen schoß, ob er den Dachs grub oder den Auerhahn beschlich oder Wald- und Wasservögeln nachstellte und auf den Schnepfenstrich paßte.
Diesmal hatte er, während die Wetterfahne auf dem Giebel des Schlosses im wehenden Winde ächzte, von seinen Hunden gesprochen und stellte mir einige seiner Lieblinge vor, die treu und aufmerksam an seiner Seite saßen oder zu seinen Füßen lagen und sich an der strahlenden Wärme des offenen Feuers behagen ließen wie wir selbst. Da waren zwei edle, weißbraune Jagdspaniels, Tiere, die ernst und verständig dreinschauten wie kluge Menschen, dann der listige Dachshund »Steffel«, dem die Kalfakternatur auf der Nase geschrieben stand, endlich »Waldmann« und »Waldine« ein paar Prachtexemplare von roten, stichelhaarigen Hochgebirgsbracken.
»In früheren Jahren,« sagte ich, »erinnere ich mich, wiederholt eine unscheinbare, häßliche schwarze Hündin unter Ihren Begleitern gesehen zu haben. Was war das eigentlich für ein Tier? Ich gestehe, ich wunderte mich im stillen, daß Sie unter Ihren prächtigen Hunden einen Köter von so zweifelhafter Herkunft duldeten.«
Der Freiherr lachte.
»Das will ich gern glauben, daß Sie sich darüber wunderten. Aber meine »Barbana« war ein ganz ausgezeichneter Kerl, und ich vermisse sie schwer, seit sie tot ist. Wollen Sie erfahren, wie ich zu dem Tier kam?«
Er tat ein paar Züge aus der Zigarre und fuhr fort: »Das war in der Inselzone des ehemals österreichischen Küstenlandes, in der uralten Patriarchenstadt Grado, der Perle der friaulischen Lagune. Was mich oft dahin lockte, war die Jagd, die Jagd auf Wassergeflügel, die in ganz eigentümlicher Weise in den Lagunen betrieben wird. Man bedient sich nämlich dabei einer Flinte, die eigentlich eine Art Kanone ist. Sie ist doppelt so lang wie ein Mensch und besitzt ein ungewöhnlich großes Kaliber. Man legt sie der Länge nach auf das Boot, so daß dieses gewissermaßen zur Lafette wird, und rudert des nachts oder am dämmernden Morgen in die weite Lagune hinaus, um das Wassergeflügel beim ersten Frühschein zu überrumpeln.
An einem schönen, friedlichen Herbsttag kehrte ich wieder einmal von einem solchen Jagdausflug zurück, schon im sinkenden Abend. Wie wir uns langsam rudernd dem Hafen von Grado nähern, da bemerke ich von meinem Boot aus auf der Ufermauer des Städtchens eine große Menschenansammlung und auf dem Brackwasser davor viele Boote. Und von Zeit zu Zeit sah ich es hoch aufspritzen, gerade als ob schwere Gegenstände von Bootsleuten in die Flut geschleudert würden, und jedesmal, wenn es einen Plumps machte und das Wasser aufspritzte, erhob sich unter den Menschen am Ufer ein Geheul, halb wie Freudengeschrei, halb wie das Wehklagen von Weibern und Kindern.
Mein Ruderer, den ich fragte, was das zu bedeuten hätte, erzählte mir, eine Hundesteuer sei eingeführt worden in Grado, weshalb die Leute sich verschworen hätten, ihre Hunde zu ertränken. Große Steine hätte man ihnen um den Hals gehängt und würfe sie von den Booten aus ins Wasser; nicht ein einziger würde am Leben bleiben, im ganzen Ort!
Ich war empört über eine solche Grausamkeit. Wir hatten uns den Booten genähert, und ich sah jetzt ganz deutlich, wie zwei Männer einen schwarzen Hund an den Beinen in der Luft hin und her schwenkten. Dann ließen sie die Beine los, und das arme Tier platschte ins Wasser. Wieder erhob sich ein Gejohle am Ufer; es schienen die meisten, die dort standen, kein Mitleid zu kennen mit den grausam hingeopferten Tieren.
Der schwarze Hund, der soeben ins Wasser geschleudert worden, kämpfte einen verzweifelten Kampf um sein Leben. Trotzdem ihm ein kindskopfgroßer Stein am Halse hing, hielt er sich doch noch über Wasser. Mit einem Blicke, in dem die Todesangst brannte, spähte er um sich, wohin er sich retten könnte. Und ich bemerkte, daß er gerade auf mein Boot zusteuerte, um seinen Henkern zu entrinnen.
Er schwamm wie ein Seehund, aber die Last am Halse zog gewaltig; keuchend, nach Luft schnappend, näherte er sich: den Blick vergesse ich nie, den er auf mich gerichtet hielt! Es war, als ob ein ertrinkender Mensch in Todesangst mir entgegenschrie: Rette mich, ich will dir dienen und es dir danken mein Leben lang!
Rasch entschlossen befahl ich meinem Bootsmann, ihm entgegenzurudern. Er sank schon unter, da glitt mein Fahrzeug an die Stelle, und mit glücklichem Griff erwischte ich den armen Kerl an einem Bein, das gerade noch einmal zum Vorschein kam, und hob ihn nicht ohne Mühe ins Boot.
Es war ein mittelgroßes schwarzes Tier ohne jede Rasse, eine Hündin. Ich schnitt ihr den schweren Feldstein vom Halse, sie lag erschöpft, triefend und leise wimmernd auf dem Boden meines Fahrzeugs und leckte meine Stiefel. Als ich ans Land stieg, folgte sie mir auf dem Fuße, gerade, als wäre ich immer ihr Herr gewesen. Zu Hause gab ich ihr zu fressen und dachte nach, was weiter geschehen sollte. Der Besitz des Tieres war für mich eine Verlegenheit. Einen so rasselosen, fast lächerlichen Köter konnte ich nicht brauchen. Aber da ich einmal sein Lebensretter geworden war, verfiel ich auf den Gedanken, die Hündin gegen reichliches Kostgeld einem Flickschuster zu übergeben, den ich als gutmütigen und rechtlichen Mann kannte. Der brave Schuster, der eine zahlreiche Familie zu ernähren hatte, ließ sich durch mein Anbot bestimmen und nahm den Hund in seine Obhut. Abgemacht!
Bald darauf hatte ich noch im Morgengrauen einen meiner Jagdausflüge angetreten. Ich befand mich bereits mitten in den Lagunen, als ich etwas Schwarzes unter der Bootsbank liegen sah. Irgendein Kleidungsstück? Ich stieß mit dem Fuße daran. Ein leises Winseln – meine Hündin war es. Im Schutze der Dunkelheit hatte sie sich in das Boot geschlichen und mich so gezwungen, sie mitzunehmen.
Mein Ärger verlor sich aber bald. Denn nun sollte ich etwas ganz Unerwartetes erleben.
Ich hatte langst darauf verzichtet, meine Vorstehhunde in den Lagunen zu verwenden, sie versagten hier völlig. Das Brackwasser war ihnen zu salzig, der Wellenschlag machte sie kopfscheu, ich nahm sie gar nicht mehr mit. Leute in hohen Wasserstiefeln suchten das erlegte Geflügel zusammen, was nicht auf trockene oder ganz seichte Stellen fiel, war verloren.
Welche Überraschung nun, wie nach dem ersten Schuß mein schwarzer Köter mit einem großen Satz über Bord springt und sich in die Fluten stürzt.
Die witternde Nase voraus, durchschnitt er die Wellen, ich war gespannt, ob er das Federwild zerbeißen oder sich sonst irgend etwas zuschulden kommen lassen würde, was nicht weidgerecht ist. Aber nichts davon; er brachte den ganzen Abschuß mit einer solchen Gewissenhaftigkeit an mein Boot, daß ein jeder meiner Bracken sich ein Beispiel daran hätte nehmen können.
Ich hob das Tier nach getaner Arbeit in das Fahrzeug, lobte es und kraute ihm den Kopf. Da sah es mit einem solchen Ausdruck von – fast möchte ich sagen – beglückter Dankbarkeit zu mir auf, daß ich schier ergriffen davon wurde. Und es stand nun fest bei mir, daß ich keinen Versuch mehr machen wollte, die Hündin wegzugeben. War sie auch nicht von adliger Geburt, so verstand sie doch ihre Sache so gut, ja besser als irgendeiner meiner Reinrassigen. Ich behielt sie also bei mir und nannte sie »Barbana« nach der Laguneninsel, an der vor Jahren die Hochflut ein absonderliches Gnadenbild sollte angeschwemmt haben, wie mir auch von denselben Wellen dies sicherlich nicht alltägliche Geschöpf zugetragen worden.
»Barbana« blieb von da ab meine stete Begleiterin auf meinen Jagdausflügen in die Lagune. Ich räumte ihr einen ebenbürtigen Platz an der Seite meiner vornehmsten Jagdhunde ein, und sie hat sich dessen durchaus würdig erwiesen, ja, ich muß gestehen, daß kaum ein andrer von meinen Hunden – ohne dem Waldmann oder gar der Waldine nahetreten zu wollen – die gleiche Fähigkeit besaß, auch meine unausgesprochenen Wünsche zu erraten und mir meine Befehle gleichsam von den Augen abzulesen.
Ich kann den Gedanken nicht los werden, daß sie ihr ganzes Leben lang jenen fürchterlichen Augenblick in der Erinnerung behalten hat, wo sie, den Stein um den Hals, mit dem Tode rang und ich ihr Retter wurde. Dankbarer als mancher Mensch, übertraf sie an Treue und Anhänglichkeit, den Kardinaltugenden des Hundegeschlechts, noch die besten Vertreter der Gattung, die ich in meinem Leben kennengelernt habe.
Wenn ich an sie zurückdenke, so ist mir fast, als erinnerte ich mich eines verstorbenen Menschen, der mir nahestand ...
Sie ist auf einem unserer Jagdzüge ums Leben gekommen ... Und auch ihr Tod war – wenn ich es aussprechen darf, fast heldenhaft zu nennen. Ich will nicht übertreiben, aber das Ende dieses Tieres hatte wirklich etwas mit dem eines Menschen gemein, der in treuer Pflichterfüllung zugrunde geht.
Ich hatte an einer langgestreckten Sandbank gejagt, zwischen Lagune und offenem Meer. In der Mitte ungefähr befand sich eine tiefergelegene Dünenstelle, über die zur Zeit der Flut die Wogen des Meeres in die Lagune hereindrangen. Und sobald Ebbe eintrat, strömte und stürzte das überschüssige Brackwasser mit großer Gewalt über dieselbe Stelle ins offene Meer zurück.
Nun war von den erlegten Wildenten unglückseligerweise eine gerade in diese Eintiefung der Düne gefallen. Ich gab sie verloren, es ebbte stark, von der Sturzwelle einmal erfaßt, mußte sie ins Meer hinausgespült und von den zurückweichenden Wogen entführt werden. »Barbana« indessen hatte die Beute erspäht, schon war sie zur Stelle und nahm den erlegten Vogel zwischen die Zähne.
Ich pfiff und rief, was ich konnte, und »Barbana« hörte mich auch, so wütig der Sturm heulte. Sie blickte zu mir herüber. Es war mir, als ob ein Mensch gesprochen hätte: »Was liegt an mir? Die Beute ist dein, sie soll dir nicht entgehen!« Im nächsten Augenblick sah ich sie mit der erlegten Ente im Maul ins zurückrollende Meer verschwinden. Und dann sah ich »Barbana« nicht wieder.
Eine neue Sturzwelle hatte sich aus der Lagune über die Düne ergossen und das treue Tier in die immer weiter zurückweichende, gleichsam saugende See hinausgespült.«
Der Freiherr schwieg, erhob sich und warf ein neues Scheit in den Kamin, daß eine Garbe glühender Funken aufstob. Dann nahm er wieder Platz und trank einen Schluck Tee. Waldine, eine der roten, stichelhaarigen Bracken, hatte ihren Kopf auf den Schenkel ihres Herrn gelegt und sah mit großen, aufmerksamen treuen Augen zu ihm empor. Der Freiherr kraute sie hinter dem Ohr.
»Man hört oft«, sagte er noch, »mit der größten Kühnheit allerhand Rassentheorien aufstellen. Aber hinsichtlich der Eigenschaften des Geistes und Herzens sollte man sie mit Vorsicht aufnehmen. Reines Blut war es gewiß nicht, das in den Adern meiner »Barbana« floß, und doch edles Blut. Seelisch war sie sicher eine hochstehende Vertreterin ihrer Gattung.«
Ein Lächeln glitt über sein Antlitz, und in völlig verändertem Tone schloß er: »Freunde haben mich manchmal aufgezogen ihretwegen und mich gefragt, was für eine Rasse das sei? Dann ließ ich sie blau anlaufen und machte ihnen weis, das sei eine Seltenheit, etwas ganz Besonderes: ein echter, reinrassiger Lagunenhund!«
Er hatte Mut, der Seiltänzer Benvenuto, oh, er war ein wahrer Held, wenn er in seinem silberglitzernden Staat hoch oben auf dem Drahtseil stand und der gaffenden Menge seine halsbrecherischen Kunststücke vorführte. Keinen Augenblick zitterte er vor dem gähnenden Abgrund da unten, die Lust am Handwerk ließ ihn jeder Gefahr vergessen, wie ein Feuer brannte in seiner Brust die künstlerische Besessenheit des Artisten, dessen Beruf es ist, lächelnd mit dem Tode ums Leben zu würfeln.
Für gewöhnlich aber, als Mansch, in seinem schäbigen, abgerissenen Alltagsanzug, da fehlte ihm so manches zum Heldentum. Da konnte er sogar kleinmütig werden und in Angst geraten, wenn seine Frau, die das Heft in der Hand hatte und die eigentliche Direktrice der wandernden Zirkusgesellschaft war, ihn mit ihren bösen Launen verfolgte, mit Eifersucht quälte, mit Vorwürfen überhäufte.
Darum erschrak er nicht wenig, als er, knapp vor Beginn der Vorstellung und bereits im Trikot, auf die Plattform des Wohnwagens hinausgerufen wurde und in einer Bauernmagd, die in der landesüblichen Tracht unten, an den Stufen des Wagens, auf ihn wartete, eine Bekanntschaft von alter Zeit her wiedererkannte.
»Du bist es – Anna?« staunte er, den Finger an den Lippen, um sie zu bedeuten, daß sie leise sprechen sollte. »Wie kommst du in diese Gegend?«
»Ist doch mein Dienstplatz hier, schon seit ein paar Jahren,« sagte sie. »Und jetzt sind Zettel angeschlagen, überall im Ort, da hab' ich deinen Namen gelesen: Grein. Aber es steht nicht Ferdinand dabei, Benvenuto heißt es auf den Zetteln. So komm' ich nachschaun, ob du es wirklich bist.«
»Es gibt nur eine Kunstseiltänzergruppe Grein. Benvenuto aber nenn' ich mich, weil es besser zieht als Ferdinand, die Leute wollen es einmal so, da muß man ihnen schon den Gefallen tun.«
»Und das achtjährige Wunderkind,« fragte sie gespannt, »der Cesarino, von dem es auf den Zetteln heißt, daß er die beste Nummer der ganzen Truppe sein soll?«
»Das ist natürlich der Karl. Ein Teufelsbub, sag' ich dir, aus dem wird noch einmal ein zweiter Blondin!«
»Ein zweiter – wie meinst du?«
»Der Blondin,« belehrte er sie, »das ist nämlich der großartigste Seiltänzer gewesen, den es je auf der Welt gegeben hat. Und eben so berühmt wie der hat auch der Karl alle Aussicht einmal zu werden, wenn er so fortmacht wie bisher.«
Ach, ein solcher Ruhm schien ihr nichts übermäßig Erstrebenswertes.
»Ist doch ein recht gefahrvolles Handwerk!« meinte sie, den Kopf schüttelnd. And vorsichtig tastend wagte sie endlich die Bitte: »Darf ich ihn vielleicht sehn?«
»Den Karl? Hm, ich denke ...« Der Mann im Trikot zögerte, er suchte nach Ausflüchten: »Wir haben im Augenblick wenig Zeit, die Vorstellung soll bald beginnen.«
Aber sie flehte so inständig: »Nur ein Bussel geben, gleich geh' ich dann wieder.«
In sichtlicher Verlegenheit und unschlüssig überlegte Herr Grein, daß er sie vielleicht am schnellsten wieder loswürde, wenn er ihr den Wunsch erfüllte. Also winkte er schließlich mit hastiger Hand in den Gang des Wohnwagens hinein, und als ein kleiner Junge, der noch in den schlechten, schmutzigen Kleidern des fahrenden Volkes steckte, zum Vorschein kam, hob er ihn an beiden Händen hoch und ließ ihn auf die Treppenstufen zu ihr hinunter, indem er ihm zuflüsterte: »Das ist deine richtige Mutter!«
Leidenschaftlich schlang sie die Arme um das Kind, zog es an die Brust, und während es befremdet, doch wohlig berührt, sich willenlos den ungewohnten Liebkosungen überließ, bedeckte sie unter Tränen, die ihr über die Wange herabstürzten, seine Stirn, seine Lippen, seine Hände mit inbrünstigen Küssen.
Plötzlich fuhr aus dem auf die Plattform führenden Gang ein braunes Weib mit wildflatternden Haarsträhnen ums Gesicht wie eine Furie hervor, entriß den Knaben den Armen seiner Mutter und stieß ihn schimpfend, während sie ihn mit Ohrfeigen traktierte, ins Innere des Wohnwagens zurück. Aufkreischend taumelte der Bub hinein und blieb verschwunden, sein Brüllen mischte sich mit dem kläglichen Gewimmer greinender Kleinkinderstimmen, das aus den Fenstern drang. Das Weib aber, die Faust gegen ihren Mann geballt, fing wütend zu zetern an, ihn mit Vorwürfen und Drohungen überschüttend: Nun wisse sie, warum man in diesem elenden Neste Halt gemacht, wo die Einnahme der Mühe nicht lohne und die Truppe kaum auf ihre Kosten komme. Nun gehe ihr erst ein Licht darüber auf, daß sie wieder einmal hintergangen und betrogen werden solle, sie, gut genug zum Kinderwarten, Kochen, Scheuern und Schuften von früh bis spät, während dieses Bauernmensch, deren Bankert sie hatte aufziehen müssen, um sich täglich und stündlich mit ihm zu ärgern, vornehm unter den Zuschauern sitzen und ihr nebenher auch noch ihren Mann, den Vater ihrer Kinder, abspenstig machen wolle. Aber das lasse sie sich nicht bieten, das Maß sei voll, die Vorstellung müsse abgesagt werden und dürfe auf keinen Fall stattfinden, wenigstens nicht in Gegenwart dieser unverschämt sich aufdrängenden Person, die eilen möge, nur rasch das Weite zu suchen, sonst werde sie sich noch an ihr vergreifen!
Sie schrie so laut, daß es bis auf den nahegelegenen Rummelplatz hinüberhallte, wo ein Brettergerüste mit vielen Bänken aufgeschlagen und ein Seil von den hohen Silberpappeln, unter denen der Wohnwagen stand, bis zum Dach des nahen Hirschenwirtshauses durch die Luft gespannt war. Die schaulustige Menge, die sich bereits um die Sitzreihen drängte, wurde aufmerksam, die Leute reckten die Hälse und schienen sich über das Gekeife, das von der Plattform des Wagens herüberscholl, zu belustigen, was Herrn Grein peinlich berührte. Aber er wußte aus Erfahrung, daß Widerreden nur Öl ins Feuer gegossen hätten, er schwieg und beschränkte sich darauf, der Bauernmagd mit der Hand zu winken, sie möge sich lieber entfernen.
In dieser aber bäumte sich nun ebenfalls der Zorn. Ihre Eintrittskarte vorweisend, eiferte sie, sie hätte ihren Platz so gut wie jeder andre bezahlt, niemand könne ihr verwehren, der Vorstellung beizuwohnen, und für den Karl, der nun einmal ihr und keiner andern Kind sei, brauche niemand zu sorgen, dem er lästig falle. Sie werde schon selbst für ihn aufkommen und ihn was Ordentliches lernen lassen, man möge ihn nur herausgeben und ihr auf der Stelle ausliefern, so sei sie bereit, ihn gleich mitzunehmen und ihm eine bessere Mutter zu sein als diese Bißgurren von einem Weibsbild, die den armen Buben – sie habe es soeben selbst mitangesehn – wie einen Schuhhadern behandle.
Die Seiltänzersfrau, in höhnender Bereitwilligkeit, ihr den Wunsch zu erfüllen, machte Miene, den Kleinen wieder zu holen, da begriff der Mann, daß er der Sache nicht ihren Lauf lassen dürfe. Die Angst, sein Söhnchen, seinen Liebling, seinen Karl zu verlieren, gab ihm das rechte Wort ein, das einzige, das Aussicht hatte, am Ohr dieses erbosten Weibes nicht wirkungslos abzuprallen.
»So verlieren wir halt unsern Hauptschlager, unsre zugkräftigste Sensation – meinetwegen, mir ist schon alles egal,« sagte er mit scheinbarem Gleichmut, indem er sich eine Zigarette ansteckte. »Gib ihn nur her, den Cesarino, ganz wie es dir beliebt, ich hab' nichts dagegen.«
Da stutzte das Weib und kam zur Vernunft. Der Cesarino hatte der Truppe schon viel Geld eingetragen, man schnitt sich selbst ins Fleisch, wenn man die Hand dazu bot, daß wieder ein Karl aus ihm würde. Nein! Nicht sie, die andere sollte das Nachsehen haben! Und indem sie erklärte, dieses Kind, das längst ihr eigen geworden sei, nie und nimmer freiwillig herauszugeben, stürmte sie unter unflätigen Schimpfworten, die sie noch gegen die Gegnerin schleuderte, ins Innere des Wagens zurück, um nicht wieder zum Vorschein zu kommen.
»So geh' ich halt aufs Gericht!« rief die Bauernmagd ihr nach; »dort wird sich's schon weisen, ob ich ein Recht auf den Buben habe oder nicht.«
Beschämt vor sich hinstierend blies der Seiltänzer in hastigen Zügen den Zigarettenrauch durch die Lungen.
»Da siehst du einmal, wie es mir gehl,« lamentierte er kleinlaut ... »Keine gute Stunde hab' ich mehr auf Erden!«
»Und der Karl aber auch nicht!« erwiderte sie, noch immer aufgebracht. »Den muß sie mir ausliefern, ob sie will oder nicht, ich fecht' es durch! Malträtieren laß ich mein Kind nicht!«
Da verlegte Herr Grein sich aufs Bitten. Nein, den Buben müsse sie ihm schon lassen, den dürfe sie ihm nicht wegnehmen, sei er doch das einzige, was ihn noch am Leben halte. Hätte er ihn nicht, so bliebe ihm nichts übrig, als ins Wasser zu gehn. Und auch der Karl seinerseits hänge an ihm, seinem Vater, das wisse er bestimmt. Und was für eine Freude der Bub an seinem Beruf hätte, in dem er von Tag zu Tag Fortschritte mache! Es wäre jammerschade, ihm die glänzende Laufbahn, die ihm winke, mutwillig zu verschütten. Denn es stecke wirklich ein Genie in ihm, wie man es selten unter den Artisten antreffe.
»Wenn wir miteinander arbeiten, er und ich,« sagte er, »dann vergessen wir beide unser Elend und bilden uns ein, wir wären im siebenten Himmel. Und schmieden Pläne, wie wir uns von dem Weib, das das Geld in der Hand hat, freimachen und unser eigenes Unternehmen gründen werden, wenn der Karl seine Ausbildung einmal vollendet hat. Das alles würdest du uns zerstören, Anna, unsre ganze Zukunft wäre beim Teufel, wenn du mir den Buben wegnimmst. Könntest du das wirklich übers Herz bringen?«