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Die Ereignisse in diesem Buch sind größtenteils so geschehen, wie hier wiedergegeben. Für den dramatischen Effekt und aus Gründen des Personenschutzes sind jedoch einige Namen und Ereignisse so verfremdet worden, dass die darin handelnden Personen nicht erkennbar sind.

Bei der Verwendung im Unterricht ist auf dieses Buch hinzuweisen.

echtEMF ist eine Marke der Edition Michael Fischer

1. Auflage

Originalausgabe

© 2021 Edition Michael Fischer GmbH, Donnersbergstr. 7, 86859 Igling

Covergestaltung: Michaela Zander, unter Verwendung eines Motivs von © Bernd Jaworek

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur Scriptzz, www.scriptzz.de

Redaktion: Susanne Lötscher

Bildteil: alle Fotografien am Set © Benjamin Kampehl/RTL, Fotografie im Ring © ZDF, alle anderen Bilder © privat

Layout/Satz: Michaela Zander

Herstellung: Carina Ries

ISBN 978-3-7459-0513-7

www.emf-verlag.de

Über die Autoren

Timur Ülker, geboren 1989, ist Schauspieler und Musiker aus Leidenschaft. Aufgewachsen in Hamburg-Harburg, entdeckte er als Jugendlicher Rap und HipHop für sich – und veröffentlichte unter Timur TIO 2017 sein erstes Album. Seine schauspielerische Karriere begann als Darsteller der Reality-TV-Serie Köln 50667. Am renommierten Lee Strasberg Theatre and Film Institute in Los Angeles besuchte er 2017 zudem einen Schauspielkurs. Ein lohnender Invest: Seit 2018 spielt er im Hauptcast der Kult-TV-Serie Gute Zeiten, schlechte Zeiten die Rolle des Nihat. 

Saskia Hirschberg, geboren 1984 in Aschaffenburg, ist Autorin, Ghostwriterin und Texterin. Sie veröffentlicht hauptsächlich in den Bereichen Belletristik und Sachbuch und begleitet als Co-Autorin Buchprojekte aus unterschiedlichen Genres. Ihre große Leidenschaft gilt außerdem der Poesie.

Für die starken Frauen in meinem Leben:

meine Mutter, meine große Liebe Caro und meine Tochter Ileya.

Vorwort

Der Asphalt ist grau unter meinen Füßen, so trist, wie das Pflaster in Hamburg-Heimfeld eben ist. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke bis unters Kinn. Die EarPods tief in den Ohren, laufe ich durch die Straßen meines alten Viertels und komme mir ein bisschen vor wie früher, als ich mich unter großen Kopfhörern von der Welt abschottete und in Träumen von der Zukunft versank, die für mich unerreichbar waren. Ich höre einen meiner eigenen Songs und meine Atemluft hinterlässt bei jeder Zeile weiße Wolken. Manchmal reichen Sekunden, bist im Treibsand verschwunden. Der Smoke ist wieder dicht in der Stadt. An diesem Ort scheint die Zeit stillzustehen. Die Obdachlosen sitzen noch immer an der Litfaßsäule über der S-Bahn-Station Heimfeld. Manche S-Bahn-Stationen in Hamburg liegen unter der Erde. Der Rauch von Zigaretten umgibt mich so penetrant wie damals, als ich hier jeden Morgen auf dem Weg zur Schule entlanglief und mittags wieder zurück. Automatisch halte ich die Luft an – alte Gewohnheit. Ich bilde mir immer noch ein, den Gestank von Bier und Urin zu schmecken, wenn ich durch den Mund atme. All das hier war ein Teil meiner Kindheit, und manchmal, wenn ich meine Mutter in Hamburg besuche, zieht es mich dahin, wo meine Wurzeln liegen.

Auf dem Weg zu meinem ehemaligen Zuhause sieht alles unverändert aus. Eingeschlagene Scheiben an den Wartebuchten der Bushaltestellen und verkratzte Autos gehören zum Erscheinungsbild des Stadtviertels. Das Internetcafé in meiner alten Straße gibt es ebenfalls noch. Sogar die Gesichter davor sind noch dieselben, nur älter – der Drogendealer mit der Bauchtasche steht dort seit Jahren und macht immer noch denselben Job. Ich erinnere mich gut daran, wie viel Respekt ich vor ihm hatte. Alle Kids blickten zu den älteren Jugendlichen wie ihm auf. Die Jungs hatten immer Kohle und wirkten irgendwie so stark und unverwundbar, weil sie eine eingeschworene Gang waren. Die meisten kenne ich sogar noch mit Namen. Ich ziehe meine Mütze noch tiefer in die Stirn, weil ich keine Lust auf ein Gespräch habe, das beinahe immer wortlautgetreu abläuft, wenn mich einer von ihnen erkennt. „Ey, TV-Star!“ Und schon ist es passiert. Mist. Ich blicke auf: „Hey, Isi, mein Bester! Was geht?“ Wir geben uns die Hand.

„Alles beim Alten!“, sagt Ismail. „Und bei dir so, du Promi?“ Er lacht aufgedreht. „Digger, wie viel verdient man da eigentlich so?“ Die Frage überrascht mich nicht, sie kommt fast immer.

„Ach, Digger“, antworte ich. „Du machst hier draußen bestimmt mehr Kohle als ich.“ Jetzt lachen wir beide und ich klopfe ihm kumpelhaft auf die Schulter. „Im Ernst, Alter, du warst immer so krass am Hustlen, am Organisieren, die ganze Zeit am Handy – mit deinem Geschäftssinn hättest du über die Jahre locker deine eigene Firma aufziehen können.“ 

Isi winkt ab. „Ey, Brudi, wovon träumst’n du? Als ob wir hier wirklich ‘ne Wahl hätten. Kann ja nicht jeder so ’n Playboy sein wie du.“ Ganz im Arbeitsmodus, behält er immer die Umgebung im Blick, damit er nicht von der Polizei erwischt wird. Ich hätte ihn irgendwie gerne motiviert, die Dinge nicht so pessimistisch zu sehen, frage stattdessen aber bloß, was aus den anderen geworden ist.

Ismails Miene wird ernst. „Serko wurde abgestochen und Simon wurde von den Bullen hoppgenommen.“

„Scheiße“, sage ich betroffen. 

„Tja, Bruder, Berufsrisiko.“ Isi zuckt mit den Achseln und ich nutze seine Vorlage, um mich einem weiteren Gespräch zu entziehen. „Freut mich, deinen Hintern noch an der Luft zu sehen“, sage ich aufrichtig und verabschiede mich. Auch wenn es nichts entschuldigt, weiß ich, dass er aus Armut heraus diesen Weg gewählt hat. Wenn man aus einer Gegend wie dieser kommt, steht man oft an der Gabelung und fragt sich: Rechts oder links? Das schnelle Geld oder noch mehr ackern, um aus dem Sumpf hier rauszukommen? Viele Leute – nicht nur hier – sehen keine Perspektive. Sie gehen arbeiten, machen normale Jobs, aber das Geld reicht trotzdem hinten und vorne nicht. Ich bin dankbar, dass ich heute einfach weitergehen kann – vorbei an allem, was auch meine Gegenwart hätte sein können, wenn mein Leben anders verlaufen wäre und vor allem meine Mutter nicht so hart für uns gekämpft hätte. Jeden einzelnen Tag in meiner Kindheit hat sie mir vorgemacht, dass man sich nicht unterkriegen lassen darf. Sie hat fest daran geglaubt, dass wir eines Tages nicht mehr auf das hässliche Graffiti an der Wand des Nachbarhauses starren werden, wenn wir aus dem Fenster schauen. Mach kaputt, was dich kaputtmacht!, steht in schwarzen, gesprayten Buchstaben noch heute an der Betonwand gegenüber.

Ich bleibe vor meinem ehemaligen Kinderzimmerfenster stehen und blicke hinauf in den dritten Stock. In meiner Vorstellung liegt dort immer noch mein alter Verkehrsteppich, und ein kleiner Junge mit braunem Haar und dunklen Augen kniet am Boden und spielt mit seinen Autos. Viel mehr gab es nicht in meiner Spielzeugkiste – ein paar Legosteine noch. Vielleicht wohnt dort jetzt aber auch ein kleines Mädchen? Meine Gedanken fliegen zu meinen Kindern – zu meinem braunhaarigen kleinen Jungen und meiner Prinzessin – und ich bin froh, dass sie in einem anderen Umfeld aufwachsen. Noch vor fünf Jahren hätte ich nicht für möglich gehalten, dass ich ihnen mal ein Zuhause am See bieten kann, Sonntagnachmittage auf dem Wasser, die Füße vom Bootsanlegesteg baumeln lassen. Ileya und Ilay können in Kitas und auf Schulen gehen, die wir – Caro und ich – für sie aussuchen, und es ist kein Auswahlkriterium, ob die Einrichtung zu Fuß erreichbar ist. In ihren Kinderzimmern gibt es haufenweise Spielzeug – zu viel, ich weiß. Doch ich kann mich beim Spielzeugshoppen manchmal selbst nicht bremsen, dabei erfülle ich mir auch ein bisschen meine eigenen Kindheitswünsche. Nicht jeden Cent fünfmal herumdrehen zu müssen, ist ein bedeutendes Stück Sorglosigkeit, wie ich sie mein Leben lang nicht kannte. Manchmal bin ich in Versuchung zu sagen, ich kann es kaum glauben, wie sich die Dinge für mich entwickelt haben, aber das stimmt so nicht. Denn tief in mir drin habe ich immer daran geglaubt, dass ich es schaffen kann. Ganz egal, was die Leute gesagt haben. Der Schritt hier raus aus diesem Viertel, der verzweifelte Versuch, im Hamsterrad mitzulaufen, dabei zu scheitern, von Hartz IV zu leben, die tragischen ersten Lebensmonate meiner Tochter – mein Leben hat sich in vielen Phasen angefühlt wie ein Marathon bis ans Ende der Welt. Wie sehr meine Füße unterwegs auch geschmerzt haben, ich bin einfach nicht stehen geblieben.

Ich erinnere mich noch gut an den Kampf während meiner gesamten Schulzeit, an jede einzelne Absage der zig Schauspielagenturen, an die erniedrigende Frage der Sach­bearbeiterin beim Sozialamt: „Kann ich noch schnell ein Selfie mit Ihnen machen?“ und an die Stimmen der verschiedensten Ärzte, als ich mit meinem Baby vor ihnen stand: „Wir können Ihrer Tochter nicht helfen.“ In meiner Kehle formt sich ein dicker Kloß beim Gedanken an die Zeit im Krankenhaus und an all die Monate danach. So hart sie auch war, ich würde alles wieder auf mich nehmen, wenn ich noch einmal vor dieser Situation stünde. Wenn mein Bauchgefühl sagt, es lohnt sich zu kämpfen, dann gebe ich nicht auf.

Mein Blick wandert die Hausfassade wieder hinab und kommt auf dem Asphalt an. Ich setze meinen Weg fort, entferne mich von meinem alten Zuhause. An der Bushaltestelle um die Ecke habe ich früher dreimal pro Woche gesessen, wenn ich zum Boxtraining gefahren bin. Auf der vollgekritzelten Bank stehen sogar noch meine Initialen. Ich werde fast ein bisschen sentimental, wenn ich an die vielen Stunden mit Musik auf den Ohren in der letzten Reihe des Linienbusses zurückdenke, und mir wird klar, dass ich genau da bin, wo ich sein will – auf dem Weg, der für mich passt, der mich an meine Ziele führt, auch wenn ich noch nicht angekommen bin. Aber das Leben besteht ja aus vielen Schritten. Natürlich werden unterwegs mal Zweifel laut – bei mir auch –, aber ich richte meine Gedanken und Gefühle dann immer wieder auf das Positive. Diesen Ansatz will ich auch meinen Kindern vermitteln – positiv zu denken und an sich zu glauben. Wenn sich eine Entscheidung für einen selbst richtig anfühlt, dann sollte man sich nicht von anderen verunsichern lassen. Das habe ich beim Boxen gelernt – auf meine Instinkte zu hören – und das beherzige ich bis heute. Denn auch bei Castings muss ich oft riskante Entscheidungen treffen. Wie ich eine Szene interpretiere, wie ich eine Emotion darstelle, bringt mir entweder die Rolle oder die Absage. Hätte ich immer lockergelassen, wenn andere nicht meine Vision geteilt haben oder dachten, ich könnte es nicht schaffen, würde ich heute nicht als Schauspieler meinen Lebensunterhalt verdienen und meine Tochter könnte nicht sehen, wie meine Augen vor Stolz strahlen, wann immer ich sie oder ihren kleinen Bruder ansehe. Mir ist bewusst, dass neben einem unzerstörbaren Willen und harter Arbeit auch immer ein Fünkchen Glück zum Erfolg gehört. Zur richtigen Zeit an der richtigen Tür zu klopfen, lässt sich vielleicht nicht immer planen, aber ich bin immer gut vorbereitet, damit ich zugreifen kann, wenn es so weit ist. Man muss sich trauen, auch mal unkonventionelle Wege zu gehen. Das ist manchmal riskant. Ich habe auch schon die ein oder andere Entscheidung in meinem Leben getroffen, für die mich die Nachbarin im Hausflur schief angeguckt hat oder für die ich einen Platz auf der Titelseite der Bildzeitung bekommen habe. Aber an irgendeinem Punkt habe ich mich dazu entschlossen, meine Entscheidungen nicht nach der Erwartungshaltung anderer zu treffen, und ich lasse auch nicht zu, dass die Angst vor negativen Konsequenzen mich daran hindert, etwas zu versuchen. Einfach machen! Das ist mein Motto. Vielleicht geht es schief, vielleicht wird es aber auch verdammt gut. Mit diesem Gedanken verlasse ich meine alte Straße und mache mich auf den Weg in das Viertel, in dem meine Mama heute wohnt – in einem kleinen Häuschen, ohne Graffiti an der gegenüberliegenden Hauswand.

Zeit für mich zu gehen, zurück in die Gegenwart, in der meine Familie auf mich wartet. Caro hat bestimmt schon alle Koffer gepackt und die Kinder angezogen, damit wir nach Hause fahren können – nach Berlin.

Es war einmal ...

Wo komme ich her und wo will ich hin?

„Ich bin noch nicht müde!“ Ileya setzt sich wieder in ihrem Bettchen auf, kaum dass ihre Mutter das Zimmer verlassen will. Caro und ich geben uns im Türrahmen einen Kuss und ich lasse mich an ihrer Stelle auf das hellrosa Laken sinken. „Es ist schon spät, Mäuschen!“ Behutsam lege ich Ileya zurück ins kuschelige Kissen. „Schau mal, als ich noch klein war, bin ich immer ganz früh ins Bett.“ Grübelnd zieht sie die schwarzen Augenbrauen zusammen. „Warum bist du freiwillig ins Bett?“, fragt meine kleine Nachteule und ich verkneife mir ein Schmunzeln und antworte: „Weil ich vor allen anderen in der Schule sein wollte.“ Ihr Blick verrät mir, dass ihr diese Aussage noch weniger einleuchtet, weshalb ich ganz von vorne beginne: „Ich war ungefähr so alt wie du, als mein Papa von uns weggegangen ist.“ Ich streiche Ileya über ihr Köpfchen. Ihr langes dunkles offenes Haar umrandet ihr zartes Gesicht. „Wieso ist dein Papa weggegangen?“, fragt sie mit ihrer hellen Kinderstimme dazwischen. Ich überlege, wie ich einer Fünfjährigen den ganzen Erwach-senenkram am besten erkläre. „Weißt du, mein Schatz, Oma und Opa haben sich nicht mehr so gut verstanden.“

Meine Gedanken wandern in die Vergangenheit. Ich lag in meinem Bett, umringt von Kuscheltieren. Die Wände in unserer Wohnung waren dünn und hellhörig. Ich bekam oft mit, wie meine Eltern stritten. Es ging dauernd um irgendwelche Frauen. Manchmal wachte ich mitten in der Nacht auf, wenn mein Vater heimkam und es vor meiner Kinderzimmertür zu einem Wortwechsel zwischen den beiden kam, aus dem mangelnder Respekt sprach und bei dem abstrakte Begriffe wie „Existenzängste“ fielen. Selbst unter dem Kopfkissen, das ich mir fest aufs Ohr drückte, hörte ich oft, wie mein Vater davon sprach, ausziehen zu wollen. Die Vorstellung, wie Baba seine Sachen packte, machte mich traurig. Doch je öfter ich meine Mutter weinen hörte, desto mehr wünschte ich mir irgendwann, er würde wirklich gehen. Im ersten Moment war ich sogar erleichtert, als sie ihn eines Tages rauswarf. Wieso hatte sie sich das überhaupt so lange gefallen lassen – eine wunderschöne, clevere Frau wie sie? Eigentlich hatte sie mir doch immer eingebläut, dass wir uns gegenseitig gut behandeln sollen. Mama verabscheute Lügner und am Wichtigsten war ihr, einen ehrlichen, zuverlässigen Menschen aus mir zu machen, der sein Wort hält. Wie schwer ihr die Entscheidung gefallen war, ihre große Liebe zu verlassen und für sich und ihren Sohn ein Leben am Existenzminimum in Kauf zu nehmen, verstehe ich erst, seit ich selbst Vater bin. Ich habe am eigenen Leib erfahren, wie Verlustängste und finanzielle Sorgen unser Leben steuern und welche Opfer wir für die Menschen bringen, die wir lieben.

Zerbrechlich wirkt meine Mutter allenfalls äußerlich. In der Brust dieser gazellenhaften Frau schlägt das Herz einer Löwin. Meine ältere Schwester kam mit einem Herzfehler auf die Welt. Mama flog mit ihr die ersten und einzigen beiden Lebensjahre, die ihr blieben, um die halbe Welt, von Spezialist zu Spezialist, in der Hoffnung, ihr Leben retten zu können – ohne meinen Vater. „Baba musste arbeiten“, sagt sie noch heute, wenn ich frage, wieso er sie nie begleitete. Es reißt mir das Herz heraus, während ich hier sitze, am Bett meiner Tochter, und mir vorstelle, was meine Mutter damals durchmachen musste. Vielleicht hätte meine Schwester ein bisschen ausgesehen wie Ileya – wenn sie denn so alt geworden wäre.

Mein Blick auf Ileya verengt sich. Ich stiere in ein Farbgemisch aus rosa Bettwäsche und braunen Haaren. Der Kloß in meinem Hals hindert mich daran weiterzusprechen. Das ist nun wirklich keine Gutenachtgeschichte für eine Fünfjährige. Ileyas feine Antennen nehmen die veränderte Atmosphäre auf. „Papa?“ Sie wedelt mit der Hand vor meinem Gesicht herum. „Papa, träumst du?“ Sie kichert. Ob sie das aus Unsicherheit tut, weil sie mich gerade nicht lesen kann oder weil in ihrer unbescholtenen Kinderwelt kein Platz für trübe Gedanken ist, weiß ich nicht, aber sie vertreibt mit ihrem süßen Lachen auf jeden Fall die bedrückenden Erinnerungen. Nur eines stelle ich noch schnell klar: „Ich werde euch nie im Stich lassen, dich, deinen Bruder und deine Mama. Versprochen!“ Ich atme tief durch, erinnere mich an Zeiten, die auch Caro und mich schon auf die Probe gestellt hatten. Aber zurück zur Geschichte: „Anne (türk. für Mama), also deine Babaanne, hat immer ganz viel gearbeitet.“ Obwohl sie neben ihrer Vollzeitstelle noch unterschiedliche Nebenjobs hatte, reichte das Geld vorne und hinten nicht. Die vielen Telefonate, die sie mit Baba führte und in denen es um die ausstehenden Unterhaltszahlungen ging, erwähne ich Ileya gegenüber natürlich nicht. „Babaanne hat übrigens in einer Arztpraxis gearbeitet und immer nach Desinfektionsmittel gerochen, als sie mich am frühen Abend vom Kindergarten abgeholt hat. Wir waren nur noch eine Handvoll Kinder, die meisten anderen waren längst zu Hause.“ Wieder schaltet sich Ileya ein: „Wenn meine Mama mich abholt, sind noch viele Kinder da!“ Die Kleine schaut mich putzmunter an, obwohl es draußen längst dunkel ist.

Ich will ihr gerade sagen, dass sie langsam mal die Äuglein schließen soll, aber dann genieße ich es noch kurz, in ihre fröhlichen dunkelbraunen Augen zu schauen. Denn in ruhigen Momenten wie diesem jetzt erinnere ich mich immer daran, was wir gemeinsam durchgestanden haben, damit sie das alles hier überhaupt erkennen kann – mich, ihren Lieblingsteddy, den sie gerade an sich drückt, und das große gerahmte Bild von einer Balletttänzerin, das wir erst heute Nachmittag aufgehängt haben. Ich greife Ileyas Hand und streichle sie. Mein Blick schweift von ihrem Gesicht rüber zum Fenster und ruht auf dem sichelförmigen Mond, als ich endlich zum Ursprung meiner Geschichte zurückkomme: Wa-rum ich der Erste in der Schule sein wollte. „Deine Babaanne hat immer gesagt, wenn ich ganz viel lerne und gute Noten habe, kann ich später alles werden, was ich möchte. Und wenn ich eine gute Arbeit habe, verdiene ich auch mal mehr Geld als sie und dann könnte ich mit meiner Familie in ein Haus ziehen, das nur uns allein gehört – so wie unser Haus jetzt.“

Ein Gefühl von Dankbarkeit durchströmt mich, wenn ich mich in ihrem Kinderzimmer umsehe, in unserem wohligen Zuhause am Wannsee, das nicht nur geografisch betrachtet weit entfernt liegt von dem sozialen Brennpunkt, in dem ich aufgewachsen bin. Aus meinem Zimmer im dritten Stock konnte ich immer die Jugendlichen auf der Straße beobachten, wie sie sich prügelten. Es war laut und den ganzen Tag haben sich allerlei Gerüche aus sämtlichen Wohnungen im Hausflur vermischt – Kocharomen, Zigarettenrauch, Gras. Gleichzeitig erinnere ich mich daran, wie ich mich meist noch vor Sonnenaufgang anzog und mir die Zähne putzte, während meine Mutter bereits in Arbeitskleidung in der beengten Küche stand und mein Pausenbrot schmierte. Der Duft von Kaffee erfüllte den Raum und verlieh der Morgenroutine etwas Gemütliches. Manchmal marschierte ich schon um sechs Uhr los. „Ein Junge aus meiner Klasse hat mal gesagt, er sei schneller, weil er den kürzesten Schulweg habe“, sage ich zu Ileya. Sein Zuhause in einer Wohngegend, wo gut situierte Leute wohnten, malte ich mir beinahe jeden Morgen in allen Details aus. Wenn ich mir vorstelle, Ileya würde als Erstklässlerin im Herbst oder Winter in den stockfinsteren Morgenstunden allein 15 Minuten zur Schule gehen, läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter. Was vor 25 Jahren noch gängige Praxis war, hat in den Kopfkinos der Väter und Mütter der Generation Heli-kopter-Eltern zum Horrorfilmszenario mutiert.

„Wieso hat Babaanne dich denn nicht gefahren?“, fragt Ileya jetzt dazwischen.

„Weil wir kein Auto hatten, Schatz“, antworte ich und sie legt die glatte Kinderstirn in Falten.

„Wieso hattet ihr kein Auto? Alle haben doch ein Auto!“

Ich nehme ihre Hand. „Weißt du, ein Auto ist sehr teuer und wir hatten früher nur ganz wenig Geld.“ Mamas Einkommen reichte damals nicht mal für kleineres Spielzeug. Die wenigen Sachen, die ich besaß, teilte meine Mutter mir immer ein. Phasenweise rückte sie die Autos raus, damit ich auf dem Verkehrsteppich, der in meinem Zimmer auf dem Boden lag, spielen konnte, und nach ein paar Wochen tauschte sie sie gegen die Legosteine aus, um für Abwechslung zu sorgen. Das Zubrot, das meine Mutter an den Wochenenden oder auch mal nachts als Komparsin bei TV-Produktionen verdiente, brauchten wir für lebensnotwendige Dinge. Jede Mark zählte in meiner Kindheit. Wenn ich daran denke, dass sie sogar für Marktforschungsinstitute Zigaretten testete, obwohl sie schon viele Jahre zuvor das Rauchen aufgegeben hatte, würde ich sie gerne umarmen – länger, als sie das für gewöhnlich aushalten mag. So ist meine Mutter nun mal. Sie hat sich ein Bein für mich ausgerissen – immer im Spagat zwischen der Arbeit und mir.

„Schon in der ersten Klasse hatte ich meinen eigenen Schlüssel“, erzähle ich Ileya jetzt und denke an die vielen Nachmittage allein daheim oder bei der Nachbarin unter uns, die diese coole Spielekonsole hatte – ein Luxusartikel, den es bei uns nicht gab. „Wann krieg ich meinen eigenen Schlüssel?“, fragt Ileya gähnend und unterbricht mich gerade an der Stelle, als ich erwähnen wollte, dass ich nach der Schule auch manchmal zu Oma ging, die nur vierhundert Meter Luftlinie von uns entfernt im selben Stadtviertel wohnte. „Frühestens mit achtzehn“, sage ich zu ihr und verkneife mir nicht das Schmunzeln, das mich in den Mundwinkeln kitzelt. Ich kann von Glück reden, wenn sie sich bis dahin überhaupt noch Ansagen von mir machen lässt.

Der antiautoritäre Erziehungsstil, den unsere Generation praktiziert, fordert spätestens an dieser Stelle seinen Tribut. Caro und ich verwöhnen unsere kleine Prinzessin schon ziemlich und falls sie auch nur ein bisschen nach ihrer Urgroßmutter kommt, habe ich ohnehin schlechte Karten. Denn Büyükanne Elif wollte als junge Erwachsene nicht nur ihren eigenen Schlüssel, sie wollte gleich ein eigenes Haus. Und meine Oma Elif wäre nicht Oma Elif, hätte sie nicht einen tollkühnen Plan gehabt, wie sie ihr Vorhaben in die Tat umsetzen konnte – und das sogar ohne das Einverständnis ihres Vaters, meines Urgroßopas. Denn er hielt so gar nichts von ihrer Idee, zum Arbeiten nach Deutschland zu gehen und erst wiederzukommen, wenn sie genug Geld verdient hätte, um in der Türkei für sich, ihren Mann und die Töchter eine eigene Wohnung zu kaufen. In den Sechzigerjahren gehörte eine verheiratete Frau mit kleinen Kindern nach Hause zu ihrer Familie – und eine junge Türkin erst recht. Aber nur, weil irgendetwas gesellschaftlich festgelegt war, hieß das noch lange nicht, dass meine Oma sich danach richtete.

„Deine Uroma war eine kleine Krawallschachtel“, sage ich lachend zu Ileya. „Sie war genauso ein Sturkopf wie du.“ Ich tippe ihr mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze und Ileya kichert: „Selber Sturkopf!“ Ja, damit hat sie wohl recht. Oma Elif hat uns beiden ihren Biss vererbt. Nicht mal mein Opa hatte eine Chance gegen sie. Oma Elif beherrschte die Wenn-dann-Erpressungsmethode schon immer perfekt – wahrscheinlich, weil sie dreifache Mutter ist. Zu Opa sagte sie immer: „Wenn du mich liebst, dann ...“

Zu dem Zeitpunkt, als sie heimlich nach Istanbul reiste, um die Untersuchungen und Prüfungen für die Arbeitsvermittlung nach Deutschland zu durchlaufen, hatte sie bereits zwei Kinder. Die beiden waren gerade mal drei Jahre und neun Monate alt und das kleinste noch nicht mal abgestillt. Damit die Muttermilch nicht versiegte und ihre Brüste sich nicht entzündeten, legte Oma damals die Säuglinge der Roma im Bahnhofsviertel von Istanbul an. Mit nur einem einzigen Koffer für ein neues Leben in einem fremden Land stieg sie in den Zug, der sie über Griechenland nach Deutschland brachte – weit weg von ihren kleinen Töchtern.

Bei diesem Gedanken streichle ich ganz automatisch mit dem Daumen über Ileyas Hand. In meinen Gedanken wird die Stimme meiner Oma lebhaft. „Das war eine Scheißzeit“, sagt sie immer, um nicht zu sentimental zu klingen. Aber manchmal wird sie es doch: Wenn sie davon erzählt, wie sie sich vom ersten verdienten Geld in Berlin einen Recorder kaufte, um Kassetten für ihre Kinder aufzunehmen, und diese nach Hause schickte, damit die Mädchen wenigstens die Stimme ihrer Mutter hörten. Solch ein Opfer zu bringen, fordert verdammt viel mentale Stärke. Wenn ich es mir also recht überlege, dann wünsche ich mir sogar, dass Ileya den Mut und die Entschlossenheit ihrer Uroma geerbt hat – selbst wenn das bedeutet, dass ich ihr nächstes Jahr ihren eigenen Schlüssel überreichen muss.

„Und warst du jetzt der Erste in der Schule oder nicht?“ Ileya rüttelt ungeduldig an meiner Hand und ich grinse breit: „Klar war ich der Erste!“ An den meisten Tagen war ich noch vor sämtlichen Lehrern da, und es war so langweilig beim Warten, dass ich den Putzfrauen beim Saubermachen geholfen habe. Der Direktor sah es gar nicht gerne, wenn ich schon so früh im Schulhaus war. All die Gründe, die er mir aufgezählt hat, von wegen Versicherung, fehlender Aufsichtsperson und so weiter, habe ich als Kind nicht annähernd verstanden. Ich lasse meine Stimme jetzt extra tief klingen, als ich ihn für Ileya imitiere: „Das geht nicht, Junge!“

Ileyas Augen funkeln amüsiert. „Und was hast du dann gemacht, Papa?“

Ich halte mir die Hände wie ein Sprachrohr rechts und links an die Lippen, als würde ich ihr ein Geheimnis verraten. „Ich hab mich vor ihm versteckt.“ Ileya lacht übermütig und zieht sich die Decke über den Kopf. Dann schaut sie am Fußende wieder heraus.

„Und hat der Mann dich gefunden?“

Gespielt setze ich eine enttäuschte Miene auf. „Einmal hat er mich gefunden.“ Seine Stimme ist mir bis heute im Ohr: „Musst du immer aus der Reihe tanzen, Timur?“

„Ich kann auch gut tanzen!“, kreischt Ileya aufgedreht und strampelt die Bettdecke zurück. Sie ist deutlich über ihren müden Punkt hinaus und ich befürchte, ich bekomme gleich eine Showeinlage. Damit das nicht passiert, decke ich sie schnell wieder zu.

„So, Mausi, jetzt wird aber geschlafen. Schau mal, Teddy ist auch schon ganz müde.“ Ich greife nach dem Bären und kuschele ihn neben sie ins Kissen. Aber Ileya lässt sich so leicht nicht ablenken.

„Bitte, nur noch kurz, Papa! Wie geht die Geschichte weiter?“ Sie legt sich brav hin, um mich zu erweichen, und ich versuche, die Nummer mit einem Satz abzuhaken.

„Ich habe immer viel gelernt und war ganz fleißig.“ Dass mein Enthusiasmus für die Schule ab der fünften Klasse mit jedem Jahr nachgelassen hat, muss ich ihr ja nicht auf die Nase binden. Sie soll nicht wissen, dass ich die Hausaufgaben schleifen ließ und den ganzen Nachmittag ferngesehen und Computer gespielt habe, während Babaanne auf der Arbeit war. Ich versinke in Erinnerungen an meine verzweifelte Mutter, die in meiner Jugend kein einfaches Los mit mir hatte. Dabei hatte ich prinzipiell nie etwas Böses im Sinn, es war einfach nur so, dass sich das ganze Schulsystem angefühlt hat wie ein zu enges Korsett, und mit jedem Schuljahr zog es sich mehr zu. Anstatt binomische Formeln und das Periodensystem auswendig zu lernen, hatte ich heimlich Kopfhörer drin und kritzelte meine ersten Lyrics in Mathebücher. Ich flüchtete mich immer mehr in meine kreative Welt, zeichnete die komplexesten Muster und schrieb Gedichte in mein Hausaufgabenheft.

Manchmal flüchtete ich aber auch im wörtlichen Sinne in den Jugendclub und bin mitten im Unterricht einfach abgehauen. Auf Unterricht hatte ich keinen Bock. Der einzige Unterricht, für den ich mich interessierte, war zu teuer. Ganz in der Nähe meiner Schule gab es eine private Musikschule und ich beobachtete die Kinder und Jugendlichen oft, wie sie mit ihren Gitarrenkoffern und Keyboardtaschen ein und aus gingen. Die Instrumente und der Gesang aus dem Inneren des Gebäudes waren bis auf die Straße zu hören. Der Laden hatte für mich etwas Magisches und ich bettelte oft bei Mama, dass sie mich dort anmeldete. Aber das konnten wir uns natürlich nicht leisten. Also machte ich mein eigenes Ding im Jugendclub, beatboxte mit den Jungs und wir hörten den Älteren beim Rappen zu. Mit der Zeit wurde ich zum Meisterfälscher für glaubwürdige Entschuldigungen.

Übermütig halte ich Ileya die Ohren zu und spreche weiter: „Die Handschrift von älteren Schülern verleiht gefälschten Entschuldigungen übrigens den Feinschliff!“

„Eyo, Papa!“, gestikuliert sie und versucht verzweifelt, sich zu befreien. Ich nehme meine Hände wieder runter und sage: „Ich musste Teddy kurz ein Geheimnis erzählen.“

Das kleine Gesicht schmollt auffällig. „Das ist aber unfair! Teddy darf es wissen und ich nicht!“ Ileya krallt sich den kleinen Stoffbären und ist in Versuchung, ihn aus dem Bett zu werfen. Ich muss schmunzeln: Ihr Temperament ähnelt meinem. Phasenweise war ich früher echt eine Spur drüber. Während bei den meisten Jugendlichen ein Verweis oder eine Ermahnung ausreichte, um für Zucht und Ordnung zu sorgen, liefen solche Konsequenzen bei mir völlig ins Leere. Psychologen hätten mein Verhalten wahrscheinlich auf die fehlende väterliche Führung geschoben, auf das Schlüsselkind, auf das südländische Temperament.

Ich meine, der Lehrplan berücksichtigt einfach zu wenig die Freigeister. Mama hat sich unzählige Maßnahmen überlegt, um mich auf Spur zu bringen, mich in sämtliche Sportvereine geschickt, damit ich meine überschüssige Energie loswerde und sie in etwas Sinnvolles investiere. Mit dem Boxen habe ich dann etwas gefunden, was mich ähnlich anfixt wie die Musik. Das war eine ganz neue Erfahrung für mich – in keinem anderen Bereich habe ich bisher die gleich Leidenschaft und den gleichen Ehrgeiz entwickelt. Dadurch habe ich zum ersten Mal erkannt, zu welchen Leistungen ich fähig bin, wenn ich einer Sache nachgehe, für die ich mich interessiere. Auf die Schule bezogen, war das leider nie der Fall, weshalb ich mir oft wie ein Versager vorkam.

Innerhalb von fünf Jahren habe ich mich zum Turniersieger bei den Hamburger Boxmeisterschaften durchgekämpft und ausnahmslos jeden Kampf gewonnen – die Hälfte davon durch K.o. Alles steuerte auf eine Profikarriere zu – weil ich mich eben zu 110 Prozent auf mein Ziel konzentriert habe. Wenn ich erst mal Feuer gefangen habe, dann neige ich zum Extrem, gebe alles, beschäftige mich ausschließlich mit dieser einen Sache. Beim Boxen war dieser Mechanismus meine Stärke und hat mich weit gebracht. Gleichzeitig war es aber auch dieselbe Charaktereigenschaft, die mir in meiner Boxkarriere das Genick gebrochen hat, und jetzt bin ich in Versuchung, wieder nur zu Teddy zu sprechen, denn meine Tochter muss nun wirklich nicht wissen, dass ich aufgrund meiner Neigung zu Extremen irgendwann vom Sportler zum Kiffer mutierte.

Vom Unterschriften­fälschen und Tagträumen ...

Außer der Reihe lässt sich's auch gut tanzen

Ein Kumpel aus der Schule hatte Hanf im Keller angebaut und so ging der Teufelskreis von Null-Bock-Einstellung und „Mir doch alles scheißegal!“ los. Den Übertritt in die nächsten Jahrgangsstufen habe ich nur noch mit viel Gaunerei geschafft. Spicken gehörte zu meinen Standardüberlebensstrategien. Mein Glück war oft, dass mich die Lehrer trotz allem gut leiden konnten. Ich war immer höflich und charmant, keiner von den aggressiven Typen. Aber nach der siebten Lehrerkonferenz – zuletzt wegen einer gefälschten Unterschrift – konnte mich mein Charme schließlich nicht mehr retten: Ich flog von der Schule. Von da an musste ich jeden Tag eine Stunde mit der S-Bahn zur neuen Schule fahren – abgetaucht unter großen Kopfhörern, flüchtete ich mich auf der einstündigen Fahrt wieder in die Musik und meine Tagträume. Ich entdeckte Beatboxen und Rap für mich, fand Vorbilder, zu denen ich aus musikalischer Perspektive aufsah, wie Kool Savas. Aber die Vorbildrollen beschränkten sich eben auf die Musik und in all den anderen Lebensbereichen vermisste ich immer eine männliche Bezugsperson. Halt fand ich zu der Zeit hauptsächlich in meinen kreativen Prozessen. Das Songwriting wurde wie das Gedichteschreiben und Zeichnen zu einer Art Alltags- und Emotionsbewältigung. Gefühlt absolvierte ich ein Google-Studium über Akustik und Schallentwicklung im Raum. Ich war 24/7 in meinem selbst gebauten „Tonstudio“. Dafür hatte ich mein Kinderzimmer mit Schallabsorbern ausgekleidet, um die Akustik zu optimieren. Alles Geld, das sich irgendwie auftreiben ließ, steckte ich in musikalisches Equipment.

Ich schaue mich in Ileyas Zimmer um, und mein Blick fällt auf das bunte Kinderkeyboard. Nicht mal dieses Plastikding hätten wir uns früher leisten können. Einmal versetzte ich die goldene Taschenuhr meiner Mutter, die ein Erbstück meines Großvaters war, um mir ein Mikrofon, ein Stativ und alles, was dazugehört, zu kaufen. Das war natürlich der Super-GAU – nichts, worauf ich sonderlich stolz bin. Aber auch Fehler zu machen, gehört zum großen Ganzen – diese Lektion werde ich Ileya allerdings irgendwann mal an einem weniger beschämenden Beispiel erklären. Meine Mutter war damals so extrem enttäuscht von mir, das hat richtig wehgetan. Ich kam mir vor wie der letzte Abschaum, und das völlig zu Recht. Die eigene Familie zu bestehlen, um mir meine Träume zu erfüllen ... Ich will nicht so salopp sagen „Das ging zu weit“, weil ich prinzipiell der Meinung bin, man sollte alles für seine Träume tun, aber man frisst nun mal nicht die Hand, die einen füttert! Und weil Mama mich nie aufgegeben hat – selbst dann nicht, als ich die schlechteste Version meiner selbst war –, verschaffte sie mir einen Nebenjob, bei dem ich meine ersten schauspielerischen Gehversuche machte.

„Weißt du, wie der Papa auf die Idee kam, im Fernsehen zu arbeiten?“, frage ich Ileya, die mich immer noch aufmerksam ansieht. Sie nickt eifrig. „Wegen der Oma!“ Ileya strahlt stolz. „Babaanne war auch schon mal im Fernsehen.“

„Richtig, mein Schatz.“